Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sich merkbar machte, und dieses rieth ihr, auf schnelle Flucht bedacht zu sein. Sie erhob sich und stieg festen Fußes die Leiter hinab, dann flog sie mehr als sie ging durch die Hallen der einsamen Kirche und langte athemlos und erschöpft in ihrer Klause an. Die starke und ursprünglich energische Natur der jungen Nonne machte, daß dieses Ereigniß zu einem entscheidenden in ihrem ganzen Dasein wurde. Alle Spuren der Kämpfe ihrer unglücklichen und mit Glauben und Zweifel gleich schwer belasteten Stunden zeigten sich plötzlich wieder frisch in ihrem Geiste; doch kam noch ein anderes unerklärliches Gefühl hinzu. Es war durch die Person des Künstlers hervorgerufen. Sie verwechselte den Schöpfer mit seinem Werke, sie wußte nicht, ob sie diesen jungen Mann mit dem beredten Blick, mit der reinen, schönen, von dunkeln Locken beschatteten Stirn, mit dem milden Lächeln des Mundes -- ob sie ihn verehren, anbeten, oder verdammen und fliehen sollte. Am Eingang zum Allerheiligsten des Lebens und der Kunst stand er, eine räthselhaft verhüllte Gestalt, anlockend und wieder abstoßend. Er war sein Werk selber, oder vielmehr sein Werk war er. Dieselbe Kühnheit, dieselbe Widersetzlichkeit, dieselbe Freiheit und dieselbe Schönheit. Er war auf dem stolzen Pferde der Ritter St. Georg, dieser Ritter nicht der Legende, sondern des Lebens, des wunderbaren, Flammen und Farben sprühenden Lebens; und wie er so irdisch prächtig dahergezogen kam, so zog eine neue Sonne am Firmament der Einsamen aus Nacht sich merkbar machte, und dieses rieth ihr, auf schnelle Flucht bedacht zu sein. Sie erhob sich und stieg festen Fußes die Leiter hinab, dann flog sie mehr als sie ging durch die Hallen der einsamen Kirche und langte athemlos und erschöpft in ihrer Klause an. Die starke und ursprünglich energische Natur der jungen Nonne machte, daß dieses Ereigniß zu einem entscheidenden in ihrem ganzen Dasein wurde. Alle Spuren der Kämpfe ihrer unglücklichen und mit Glauben und Zweifel gleich schwer belasteten Stunden zeigten sich plötzlich wieder frisch in ihrem Geiste; doch kam noch ein anderes unerklärliches Gefühl hinzu. Es war durch die Person des Künstlers hervorgerufen. Sie verwechselte den Schöpfer mit seinem Werke, sie wußte nicht, ob sie diesen jungen Mann mit dem beredten Blick, mit der reinen, schönen, von dunkeln Locken beschatteten Stirn, mit dem milden Lächeln des Mundes — ob sie ihn verehren, anbeten, oder verdammen und fliehen sollte. Am Eingang zum Allerheiligsten des Lebens und der Kunst stand er, eine räthselhaft verhüllte Gestalt, anlockend und wieder abstoßend. Er war sein Werk selber, oder vielmehr sein Werk war er. Dieselbe Kühnheit, dieselbe Widersetzlichkeit, dieselbe Freiheit und dieselbe Schönheit. Er war auf dem stolzen Pferde der Ritter St. Georg, dieser Ritter nicht der Legende, sondern des Lebens, des wunderbaren, Flammen und Farben sprühenden Lebens; und wie er so irdisch prächtig dahergezogen kam, so zog eine neue Sonne am Firmament der Einsamen aus Nacht <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0054"/> sich merkbar machte, und dieses rieth ihr, auf schnelle Flucht bedacht zu sein. Sie erhob sich und stieg festen Fußes die Leiter hinab, dann flog sie mehr als sie ging durch die Hallen der einsamen Kirche und langte athemlos und erschöpft in ihrer Klause an.</p><lb/> <p>Die starke und ursprünglich energische Natur der jungen Nonne machte, daß dieses Ereigniß zu einem entscheidenden in ihrem ganzen Dasein wurde. Alle Spuren der Kämpfe ihrer unglücklichen und mit Glauben und Zweifel gleich schwer belasteten Stunden zeigten sich plötzlich wieder frisch in ihrem Geiste; doch kam noch ein anderes unerklärliches Gefühl hinzu. Es war durch die Person des Künstlers hervorgerufen. Sie verwechselte den Schöpfer mit seinem Werke, sie wußte nicht, ob sie diesen jungen Mann mit dem beredten Blick, mit der reinen, schönen, von dunkeln Locken beschatteten Stirn, mit dem milden Lächeln des Mundes — ob sie ihn verehren, anbeten, oder verdammen und fliehen sollte. Am Eingang zum Allerheiligsten des Lebens und der Kunst stand er, eine räthselhaft verhüllte Gestalt, anlockend und wieder abstoßend. Er war sein Werk selber, oder vielmehr sein Werk war er. Dieselbe Kühnheit, dieselbe Widersetzlichkeit, dieselbe Freiheit und dieselbe Schönheit. Er war auf dem stolzen Pferde der Ritter St. Georg, dieser Ritter nicht der Legende, sondern des Lebens, des wunderbaren, Flammen und Farben sprühenden Lebens; und wie er so irdisch prächtig dahergezogen kam, so zog eine neue Sonne am Firmament der Einsamen aus Nacht<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
sich merkbar machte, und dieses rieth ihr, auf schnelle Flucht bedacht zu sein. Sie erhob sich und stieg festen Fußes die Leiter hinab, dann flog sie mehr als sie ging durch die Hallen der einsamen Kirche und langte athemlos und erschöpft in ihrer Klause an.
Die starke und ursprünglich energische Natur der jungen Nonne machte, daß dieses Ereigniß zu einem entscheidenden in ihrem ganzen Dasein wurde. Alle Spuren der Kämpfe ihrer unglücklichen und mit Glauben und Zweifel gleich schwer belasteten Stunden zeigten sich plötzlich wieder frisch in ihrem Geiste; doch kam noch ein anderes unerklärliches Gefühl hinzu. Es war durch die Person des Künstlers hervorgerufen. Sie verwechselte den Schöpfer mit seinem Werke, sie wußte nicht, ob sie diesen jungen Mann mit dem beredten Blick, mit der reinen, schönen, von dunkeln Locken beschatteten Stirn, mit dem milden Lächeln des Mundes — ob sie ihn verehren, anbeten, oder verdammen und fliehen sollte. Am Eingang zum Allerheiligsten des Lebens und der Kunst stand er, eine räthselhaft verhüllte Gestalt, anlockend und wieder abstoßend. Er war sein Werk selber, oder vielmehr sein Werk war er. Dieselbe Kühnheit, dieselbe Widersetzlichkeit, dieselbe Freiheit und dieselbe Schönheit. Er war auf dem stolzen Pferde der Ritter St. Georg, dieser Ritter nicht der Legende, sondern des Lebens, des wunderbaren, Flammen und Farben sprühenden Lebens; und wie er so irdisch prächtig dahergezogen kam, so zog eine neue Sonne am Firmament der Einsamen aus Nacht
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/54 |
Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/54>, abgerufen am 27.07.2024. |