Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.auf gleiche Weise irre gingen und doch dabei auf gleich eifrige Weise die Wahrheit suchten. Ist sein Herz rein? ist sein Herz sündig? so tönte die Frage in Scholastika's Busen. Sie ist rein, sie ist sündlos; welches Urtheil fällt sie über mich? so fragte sich der Schöpfer des Bildes, indem er sie mit Augen betrachtete, die jetzt, da sie nicht beobachtet wurden, alle Mäßigung und Kälte abgelegt hatten, mit einem schwärmerischen Feuer auf den Linien des edeln Profils ruhen ließ, das sich gegen das offene Kirchenfenster im reinen Blau des Himmels scharf abzeichnete. Das dunkle Untergewand der Nonne floß in schweren Falten auf den Boden nieder, der weiße Schleier und das blaßblaue Obergewand ließen die Biegsamkeit und Fülle des schönen jungfräulichen Leibes errathen. Sie stützte den rechten Arm unters Haupt und blieb so in nachdenklicher Stellung sitzen. Endlich entflohen ihren Lippen, wie im Traume gesprochen, die Worte: Ist's erlaubt, so zu malen? Darf man solche Gestalten schaffen? Glüht dieser Abendhimmel nicht in allzu irdischem Roth? Ist dieser Ritter mit dem frommen und doch so irdisch schönen Antlitz nicht ein Sohn der Hölle? Hilft er nicht dem Drachen aus der Tiefe herauf, statt ihn hinabzustoßen? Ist dieses edle Roß, in der Kühnheit und Kraft seiner naturgemäßen stolzen Bewegung, nicht eine ungehörige Erscheinung auf frommem Gebiete? -- Sie erschrak, als sie den Ton ihrer eigenen Stimme hörte; sie wandte sich rasch um und sah zum Künstler empor, mit dem furchtsamen Ausdrucke auf gleiche Weise irre gingen und doch dabei auf gleich eifrige Weise die Wahrheit suchten. Ist sein Herz rein? ist sein Herz sündig? so tönte die Frage in Scholastika's Busen. Sie ist rein, sie ist sündlos; welches Urtheil fällt sie über mich? so fragte sich der Schöpfer des Bildes, indem er sie mit Augen betrachtete, die jetzt, da sie nicht beobachtet wurden, alle Mäßigung und Kälte abgelegt hatten, mit einem schwärmerischen Feuer auf den Linien des edeln Profils ruhen ließ, das sich gegen das offene Kirchenfenster im reinen Blau des Himmels scharf abzeichnete. Das dunkle Untergewand der Nonne floß in schweren Falten auf den Boden nieder, der weiße Schleier und das blaßblaue Obergewand ließen die Biegsamkeit und Fülle des schönen jungfräulichen Leibes errathen. Sie stützte den rechten Arm unters Haupt und blieb so in nachdenklicher Stellung sitzen. Endlich entflohen ihren Lippen, wie im Traume gesprochen, die Worte: Ist's erlaubt, so zu malen? Darf man solche Gestalten schaffen? Glüht dieser Abendhimmel nicht in allzu irdischem Roth? Ist dieser Ritter mit dem frommen und doch so irdisch schönen Antlitz nicht ein Sohn der Hölle? Hilft er nicht dem Drachen aus der Tiefe herauf, statt ihn hinabzustoßen? Ist dieses edle Roß, in der Kühnheit und Kraft seiner naturgemäßen stolzen Bewegung, nicht eine ungehörige Erscheinung auf frommem Gebiete? — Sie erschrak, als sie den Ton ihrer eigenen Stimme hörte; sie wandte sich rasch um und sah zum Künstler empor, mit dem furchtsamen Ausdrucke <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0052"/> auf gleiche Weise irre gingen und doch dabei auf gleich eifrige Weise die Wahrheit suchten. Ist sein Herz rein? ist sein Herz sündig? so tönte die Frage in Scholastika's Busen. Sie ist rein, sie ist sündlos; welches Urtheil fällt sie über mich? so fragte sich der Schöpfer des Bildes, indem er sie mit Augen betrachtete, die jetzt, da sie nicht beobachtet wurden, alle Mäßigung und Kälte abgelegt hatten, mit einem schwärmerischen Feuer auf den Linien des edeln Profils ruhen ließ, das sich gegen das offene Kirchenfenster im reinen Blau des Himmels scharf abzeichnete. Das dunkle Untergewand der Nonne floß in schweren Falten auf den Boden nieder, der weiße Schleier und das blaßblaue Obergewand ließen die Biegsamkeit und Fülle des schönen jungfräulichen Leibes errathen. Sie stützte den rechten Arm unters Haupt und blieb so in nachdenklicher Stellung sitzen. Endlich entflohen ihren Lippen, wie im Traume gesprochen, die Worte: Ist's erlaubt, so zu malen? Darf man solche Gestalten schaffen? Glüht dieser Abendhimmel nicht in allzu irdischem Roth? Ist dieser Ritter mit dem frommen und doch so irdisch schönen Antlitz nicht ein Sohn der Hölle? Hilft er nicht dem Drachen aus der Tiefe herauf, statt ihn hinabzustoßen? Ist dieses edle Roß, in der Kühnheit und Kraft seiner naturgemäßen stolzen Bewegung, nicht eine ungehörige Erscheinung auf frommem Gebiete? — Sie erschrak, als sie den Ton ihrer eigenen Stimme hörte; sie wandte sich rasch um und sah zum Künstler empor, mit dem furchtsamen Ausdrucke<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0052]
auf gleiche Weise irre gingen und doch dabei auf gleich eifrige Weise die Wahrheit suchten. Ist sein Herz rein? ist sein Herz sündig? so tönte die Frage in Scholastika's Busen. Sie ist rein, sie ist sündlos; welches Urtheil fällt sie über mich? so fragte sich der Schöpfer des Bildes, indem er sie mit Augen betrachtete, die jetzt, da sie nicht beobachtet wurden, alle Mäßigung und Kälte abgelegt hatten, mit einem schwärmerischen Feuer auf den Linien des edeln Profils ruhen ließ, das sich gegen das offene Kirchenfenster im reinen Blau des Himmels scharf abzeichnete. Das dunkle Untergewand der Nonne floß in schweren Falten auf den Boden nieder, der weiße Schleier und das blaßblaue Obergewand ließen die Biegsamkeit und Fülle des schönen jungfräulichen Leibes errathen. Sie stützte den rechten Arm unters Haupt und blieb so in nachdenklicher Stellung sitzen. Endlich entflohen ihren Lippen, wie im Traume gesprochen, die Worte: Ist's erlaubt, so zu malen? Darf man solche Gestalten schaffen? Glüht dieser Abendhimmel nicht in allzu irdischem Roth? Ist dieser Ritter mit dem frommen und doch so irdisch schönen Antlitz nicht ein Sohn der Hölle? Hilft er nicht dem Drachen aus der Tiefe herauf, statt ihn hinabzustoßen? Ist dieses edle Roß, in der Kühnheit und Kraft seiner naturgemäßen stolzen Bewegung, nicht eine ungehörige Erscheinung auf frommem Gebiete? — Sie erschrak, als sie den Ton ihrer eigenen Stimme hörte; sie wandte sich rasch um und sah zum Künstler empor, mit dem furchtsamen Ausdrucke
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Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/52>, abgerufen am 16.02.2025. |