Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

aber sie fühlte, daß es ihr unmöglich sei, diesen schwankenden Steg jetzt zu betreten; ein Nebel schwamm vor ihren Augen, ihre Kniee zitterten. Sie sah, wie ein Mann, in einen groben Leinewandkittel gehüllt, die Leiter hinaufstieg und sie zum Sessel vor der Staffelei zurückführte, seine Worte vernahm sie nicht. Als sie aus der Betäubung erwachte, fühlte sie einen warmen Hauch ihre Wange berühren, und der Blick eines dunkeln Auges war auf sie gerichtet. Sie erkannte jene Gestalt in der Kirche wieder. Der Gedanke, daß es der Maler des Bildes sei, daß er durch Farben und Gestalten bereits vernehmlich und eindringlich zu ihr gesprochen, machte, daß ihr Geist sich rascher aus dem Taumel emporraffte und ihren Sinnen die Sicherheit und Ruhe gab, um das Ungewöhnliche der Erscheinung mit Besonnenheit zu prüfen. Sie stammelte, noch mit bewegter Stimme, einen Gruß und einen Dank. Der Künstler nahm Beides mit einem freundlichen Lächeln auf. Er schwieg, und sein Schweigen, seine eigene sichtliche Befangenheit gab ihr Muth. Eine Pause verging, während Beide das Bild betrachteten; dann wandte sich der Blick des Künstlers mit leiser, unbemerkbarer Wendung vom Bilde weg auf die Züge der Beschauerin, und er suchte in dieser klaren, vom göttlichen Geiste der Reinheit und des religiösen Empfängnisses durchwehten Schrift das Urtheil über sich und sein Werk zu lesen. Die Kunst hatte noch nie ihre Aufgabe würdiger erfüllt, sie vermittelte hier das Verständniß zwischen zwei Seelen, die vielleicht

aber sie fühlte, daß es ihr unmöglich sei, diesen schwankenden Steg jetzt zu betreten; ein Nebel schwamm vor ihren Augen, ihre Kniee zitterten. Sie sah, wie ein Mann, in einen groben Leinewandkittel gehüllt, die Leiter hinaufstieg und sie zum Sessel vor der Staffelei zurückführte, seine Worte vernahm sie nicht. Als sie aus der Betäubung erwachte, fühlte sie einen warmen Hauch ihre Wange berühren, und der Blick eines dunkeln Auges war auf sie gerichtet. Sie erkannte jene Gestalt in der Kirche wieder. Der Gedanke, daß es der Maler des Bildes sei, daß er durch Farben und Gestalten bereits vernehmlich und eindringlich zu ihr gesprochen, machte, daß ihr Geist sich rascher aus dem Taumel emporraffte und ihren Sinnen die Sicherheit und Ruhe gab, um das Ungewöhnliche der Erscheinung mit Besonnenheit zu prüfen. Sie stammelte, noch mit bewegter Stimme, einen Gruß und einen Dank. Der Künstler nahm Beides mit einem freundlichen Lächeln auf. Er schwieg, und sein Schweigen, seine eigene sichtliche Befangenheit gab ihr Muth. Eine Pause verging, während Beide das Bild betrachteten; dann wandte sich der Blick des Künstlers mit leiser, unbemerkbarer Wendung vom Bilde weg auf die Züge der Beschauerin, und er suchte in dieser klaren, vom göttlichen Geiste der Reinheit und des religiösen Empfängnisses durchwehten Schrift das Urtheil über sich und sein Werk zu lesen. Die Kunst hatte noch nie ihre Aufgabe würdiger erfüllt, sie vermittelte hier das Verständniß zwischen zwei Seelen, die vielleicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0051"/>
aber sie fühlte, daß es ihr                unmöglich sei, diesen schwankenden Steg jetzt zu betreten; ein Nebel schwamm vor                ihren Augen, ihre Kniee zitterten. Sie sah, wie ein Mann, in einen groben                Leinewandkittel gehüllt, die Leiter hinaufstieg und sie zum Sessel vor der Staffelei                zurückführte, seine Worte vernahm sie nicht. Als sie aus der Betäubung erwachte,                fühlte sie einen warmen Hauch ihre Wange berühren, und der Blick eines dunkeln Auges                war auf sie gerichtet. Sie erkannte jene Gestalt in der Kirche wieder. Der Gedanke,                daß es der Maler des Bildes sei, daß er durch Farben und Gestalten bereits                vernehmlich und eindringlich zu ihr gesprochen, machte, daß ihr Geist sich rascher                aus dem Taumel emporraffte und ihren Sinnen die Sicherheit und Ruhe gab, um das                Ungewöhnliche der Erscheinung mit Besonnenheit zu prüfen. Sie stammelte, noch mit                bewegter Stimme, einen Gruß und einen Dank. Der Künstler nahm Beides mit einem                freundlichen Lächeln auf. Er schwieg, und sein Schweigen, seine eigene sichtliche                Befangenheit gab ihr Muth. Eine Pause verging, während Beide das Bild betrachteten;                dann wandte sich der Blick des Künstlers mit leiser, unbemerkbarer Wendung vom Bilde                weg auf die Züge der Beschauerin, und er suchte in dieser klaren, vom göttlichen                Geiste der Reinheit und des religiösen Empfängnisses durchwehten Schrift das Urtheil                über sich und sein Werk zu lesen. Die Kunst hatte noch nie ihre Aufgabe würdiger                erfüllt, sie vermittelte hier das Verständniß zwischen zwei Seelen, die vielleicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0051] aber sie fühlte, daß es ihr unmöglich sei, diesen schwankenden Steg jetzt zu betreten; ein Nebel schwamm vor ihren Augen, ihre Kniee zitterten. Sie sah, wie ein Mann, in einen groben Leinewandkittel gehüllt, die Leiter hinaufstieg und sie zum Sessel vor der Staffelei zurückführte, seine Worte vernahm sie nicht. Als sie aus der Betäubung erwachte, fühlte sie einen warmen Hauch ihre Wange berühren, und der Blick eines dunkeln Auges war auf sie gerichtet. Sie erkannte jene Gestalt in der Kirche wieder. Der Gedanke, daß es der Maler des Bildes sei, daß er durch Farben und Gestalten bereits vernehmlich und eindringlich zu ihr gesprochen, machte, daß ihr Geist sich rascher aus dem Taumel emporraffte und ihren Sinnen die Sicherheit und Ruhe gab, um das Ungewöhnliche der Erscheinung mit Besonnenheit zu prüfen. Sie stammelte, noch mit bewegter Stimme, einen Gruß und einen Dank. Der Künstler nahm Beides mit einem freundlichen Lächeln auf. Er schwieg, und sein Schweigen, seine eigene sichtliche Befangenheit gab ihr Muth. Eine Pause verging, während Beide das Bild betrachteten; dann wandte sich der Blick des Künstlers mit leiser, unbemerkbarer Wendung vom Bilde weg auf die Züge der Beschauerin, und er suchte in dieser klaren, vom göttlichen Geiste der Reinheit und des religiösen Empfängnisses durchwehten Schrift das Urtheil über sich und sein Werk zu lesen. Die Kunst hatte noch nie ihre Aufgabe würdiger erfüllt, sie vermittelte hier das Verständniß zwischen zwei Seelen, die vielleicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:43:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:43:38Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/51
Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/51>, abgerufen am 09.11.2024.