Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Vervollkommnung seiner Kunstproductionen seit Jahrhunderten immer derselbe geblieben und ist es noch an dem heutigen Tage. Ohne Zweifel ist die altbyzantinische Kunst, wie sie nach Italien überwanderte und noch den Bildern des Giotto und Cimabue kenntlich ihren Stempel aufdrückte, der Typus der russischen Heiligenbilder. Es ist die gänzliche Entfernung aller freien Bewegung, aller Individualisirung der Hauptcharakter dieser frühen Epoche. Ein langes, schmales, blasses Antlitz, stets von vorne aufgefaßt, mit hellbraunen Augen, langer, dünnrückiger Nase, schmalem und geschlossenem Munde und einem von einem zierlich gekräuselten, in hergebrachter Form bald in zwei, bald in Eine Spitze auslaufenden Barte umgebenen Kinne, langem, lichtbraunem, gescheiteltem Haar -- ist ein Christusbild. Eine schmale, langfingerige Hand, deren drei Finger erhoben, zwei in den Ballen der Hand niedergedrückt sind, gehört ebenfalls unerläßlich zum Bilde, ebenso wie das rothe Leibgewand und der blaue Ueberwurf. Ein langes, schmales, weibliches Antlitz, mit eben solch hellbraunen, ausdruckslosen Augen, derselben langen und dünnen Nase, demselben dünnlippigen, geschlossenen Munde ist die Madonna. Sie trägt das Kind, das mager und unkindlich geformt ist und nach altkirchlichem Stil die Hand nach oben beschriebener Weise emporhebt. In dieser Weise folgen die Heiligen und Martyrerinnen, genau in demselben Charakter, wenn man die völlige Charakterlosigkeit Charakter nennen kann, aufgefaßt. Nur der Name und eine dazu

Vervollkommnung seiner Kunstproductionen seit Jahrhunderten immer derselbe geblieben und ist es noch an dem heutigen Tage. Ohne Zweifel ist die altbyzantinische Kunst, wie sie nach Italien überwanderte und noch den Bildern des Giotto und Cimabue kenntlich ihren Stempel aufdrückte, der Typus der russischen Heiligenbilder. Es ist die gänzliche Entfernung aller freien Bewegung, aller Individualisirung der Hauptcharakter dieser frühen Epoche. Ein langes, schmales, blasses Antlitz, stets von vorne aufgefaßt, mit hellbraunen Augen, langer, dünnrückiger Nase, schmalem und geschlossenem Munde und einem von einem zierlich gekräuselten, in hergebrachter Form bald in zwei, bald in Eine Spitze auslaufenden Barte umgebenen Kinne, langem, lichtbraunem, gescheiteltem Haar — ist ein Christusbild. Eine schmale, langfingerige Hand, deren drei Finger erhoben, zwei in den Ballen der Hand niedergedrückt sind, gehört ebenfalls unerläßlich zum Bilde, ebenso wie das rothe Leibgewand und der blaue Ueberwurf. Ein langes, schmales, weibliches Antlitz, mit eben solch hellbraunen, ausdruckslosen Augen, derselben langen und dünnen Nase, demselben dünnlippigen, geschlossenen Munde ist die Madonna. Sie trägt das Kind, das mager und unkindlich geformt ist und nach altkirchlichem Stil die Hand nach oben beschriebener Weise emporhebt. In dieser Weise folgen die Heiligen und Martyrerinnen, genau in demselben Charakter, wenn man die völlige Charakterlosigkeit Charakter nennen kann, aufgefaßt. Nur der Name und eine dazu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014"/>
Vervollkommnung                seiner Kunstproductionen seit Jahrhunderten immer derselbe geblieben und ist es noch                an dem heutigen Tage. Ohne Zweifel ist die altbyzantinische Kunst, wie sie nach                Italien überwanderte und noch den Bildern des Giotto und Cimabue kenntlich ihren                Stempel aufdrückte, der Typus der russischen Heiligenbilder. Es ist die gänzliche                Entfernung aller freien Bewegung, aller Individualisirung der Hauptcharakter dieser                frühen Epoche. Ein langes, schmales, blasses Antlitz, stets von vorne aufgefaßt, mit                hellbraunen Augen, langer, dünnrückiger Nase, schmalem und geschlossenem Munde und                einem von einem zierlich gekräuselten, in hergebrachter Form bald in zwei, bald in                Eine Spitze auslaufenden Barte umgebenen Kinne, langem, lichtbraunem, gescheiteltem                Haar &#x2014; ist ein Christusbild. Eine schmale, langfingerige Hand, deren drei Finger                erhoben, zwei in den Ballen der Hand niedergedrückt sind, gehört ebenfalls                unerläßlich zum Bilde, ebenso wie das rothe Leibgewand und der blaue Ueberwurf. Ein                langes, schmales, weibliches Antlitz, mit eben solch hellbraunen, ausdruckslosen                Augen, derselben langen und dünnen Nase, demselben dünnlippigen, geschlossenen Munde                ist die Madonna. Sie trägt das Kind, das mager und unkindlich geformt ist und nach                altkirchlichem Stil die Hand nach oben beschriebener Weise emporhebt. In dieser Weise                folgen die Heiligen und Martyrerinnen, genau in demselben Charakter, wenn man die                völlige Charakterlosigkeit Charakter nennen kann, aufgefaßt. Nur der Name und eine                dazu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] Vervollkommnung seiner Kunstproductionen seit Jahrhunderten immer derselbe geblieben und ist es noch an dem heutigen Tage. Ohne Zweifel ist die altbyzantinische Kunst, wie sie nach Italien überwanderte und noch den Bildern des Giotto und Cimabue kenntlich ihren Stempel aufdrückte, der Typus der russischen Heiligenbilder. Es ist die gänzliche Entfernung aller freien Bewegung, aller Individualisirung der Hauptcharakter dieser frühen Epoche. Ein langes, schmales, blasses Antlitz, stets von vorne aufgefaßt, mit hellbraunen Augen, langer, dünnrückiger Nase, schmalem und geschlossenem Munde und einem von einem zierlich gekräuselten, in hergebrachter Form bald in zwei, bald in Eine Spitze auslaufenden Barte umgebenen Kinne, langem, lichtbraunem, gescheiteltem Haar — ist ein Christusbild. Eine schmale, langfingerige Hand, deren drei Finger erhoben, zwei in den Ballen der Hand niedergedrückt sind, gehört ebenfalls unerläßlich zum Bilde, ebenso wie das rothe Leibgewand und der blaue Ueberwurf. Ein langes, schmales, weibliches Antlitz, mit eben solch hellbraunen, ausdruckslosen Augen, derselben langen und dünnen Nase, demselben dünnlippigen, geschlossenen Munde ist die Madonna. Sie trägt das Kind, das mager und unkindlich geformt ist und nach altkirchlichem Stil die Hand nach oben beschriebener Weise emporhebt. In dieser Weise folgen die Heiligen und Martyrerinnen, genau in demselben Charakter, wenn man die völlige Charakterlosigkeit Charakter nennen kann, aufgefaßt. Nur der Name und eine dazu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:43:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:43:38Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/14
Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/14>, abgerufen am 16.04.2024.