Morgen, liebe Freundinn, reise ich mit meinem Bruder von hier ab, um Sie auf einige Tage zu besuchen. Ich bin jetzt wie aus einem Ker- ker erlöst, seit ich nicht mehr so traurig bin; man fühlt nie so tief, wie wenig alle Vernunft- gründe vermögen, man bemerkt nie so sehr, wie schwach wir sind, als wenn ein recht hefti- ger Schmerz unsre Seele durchdringt. Alle unsre Freuden und Hoffnungen fliehen dann plötzlich hinweg, und bleiben in einer unkennt- lichen Ferne stehn; die Verzweiflung breitet sich in unserm ganzen Innern aus und wir kommen uns selber als Kinder vor, daß wir uns über irgend etwas freuen konnten.
Aber nach einem heftigen Schmerze, wenn die Brust sich erst durch Schluchzen freyern Athem gemacht hat, fühlen wir unser Leben dann auch mit frischem Wohlbehagen; und wie freue ich mich jetzt, Sie nach einer so langen
4. Emilie Burton an ihre Freundinn Amalie.
Bonſtreet.
Morgen, liebe Freundinn, reiſe ich mit meinem Bruder von hier ab, um Sie auf einige Tage zu beſuchen. Ich bin jetzt wie aus einem Ker- ker erloͤſt, ſeit ich nicht mehr ſo traurig bin; man fuͤhlt nie ſo tief, wie wenig alle Vernunft- gruͤnde vermoͤgen, man bemerkt nie ſo ſehr, wie ſchwach wir ſind, als wenn ein recht hefti- ger Schmerz unſre Seele durchdringt. Alle unſre Freuden und Hoffnungen fliehen dann ploͤtzlich hinweg, und bleiben in einer unkennt- lichen Ferne ſtehn; die Verzweiflung breitet ſich in unſerm ganzen Innern aus und wir kommen uns ſelber als Kinder vor, daß wir uns uͤber irgend etwas freuen konnten.
Aber nach einem heftigen Schmerze, wenn die Bruſt ſich erſt durch Schluchzen freyern Athem gemacht hat, fuͤhlen wir unſer Leben dann auch mit friſchem Wohlbehagen; und wie freue ich mich jetzt, Sie nach einer ſo langen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0385"n="379"/><divn="2"><head>4.<lb/><hirendition="#g">Emilie Burton</hi> an ihre Freundinn<lb/><hirendition="#g">Amalie</hi>.</head><lb/><dateline><placeName><hirendition="#right"><hirendition="#g">Bonſtreet</hi>.</hi></placeName></dateline><lb/><p><hirendition="#in">M</hi>orgen, liebe Freundinn, reiſe ich mit meinem<lb/>
Bruder von hier ab, um Sie auf einige Tage<lb/>
zu beſuchen. Ich bin jetzt wie aus einem Ker-<lb/>
ker erloͤſt, ſeit ich nicht mehr ſo traurig bin;<lb/>
man fuͤhlt nie ſo tief, wie wenig alle Vernunft-<lb/>
gruͤnde vermoͤgen, man bemerkt nie ſo ſehr,<lb/>
wie ſchwach wir ſind, als wenn ein recht hefti-<lb/>
ger Schmerz unſre Seele durchdringt. Alle<lb/>
unſre Freuden und Hoffnungen fliehen dann<lb/>
ploͤtzlich hinweg, und bleiben in einer unkennt-<lb/>
lichen Ferne ſtehn; die Verzweiflung breitet ſich<lb/>
in unſerm ganzen Innern aus und wir kommen<lb/>
uns ſelber als Kinder vor, daß wir uns uͤber<lb/>
irgend etwas freuen konnten.</p><lb/><p>Aber nach einem heftigen Schmerze, wenn<lb/>
die Bruſt ſich erſt durch Schluchzen freyern<lb/>
Athem gemacht hat, fuͤhlen wir unſer Leben<lb/>
dann auch mit friſchem Wohlbehagen; und wie<lb/>
freue ich mich jetzt, Sie nach einer ſo langen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[379/0385]
4.
Emilie Burton an ihre Freundinn
Amalie.
Bonſtreet.
Morgen, liebe Freundinn, reiſe ich mit meinem
Bruder von hier ab, um Sie auf einige Tage
zu beſuchen. Ich bin jetzt wie aus einem Ker-
ker erloͤſt, ſeit ich nicht mehr ſo traurig bin;
man fuͤhlt nie ſo tief, wie wenig alle Vernunft-
gruͤnde vermoͤgen, man bemerkt nie ſo ſehr,
wie ſchwach wir ſind, als wenn ein recht hefti-
ger Schmerz unſre Seele durchdringt. Alle
unſre Freuden und Hoffnungen fliehen dann
ploͤtzlich hinweg, und bleiben in einer unkennt-
lichen Ferne ſtehn; die Verzweiflung breitet ſich
in unſerm ganzen Innern aus und wir kommen
uns ſelber als Kinder vor, daß wir uns uͤber
irgend etwas freuen konnten.
Aber nach einem heftigen Schmerze, wenn
die Bruſt ſich erſt durch Schluchzen freyern
Athem gemacht hat, fuͤhlen wir unſer Leben
dann auch mit friſchem Wohlbehagen; und wie
freue ich mich jetzt, Sie nach einer ſo langen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/385>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.