Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

übel aussehen. Doch richtet nicht, so werdet
ihr auch nicht gerichtet.

Ja, Bruder, unsre heilige Schrift ist jetzt
noch mein einziger Trost in meinen trüben
Jammerstunden; Du glaubst gar nicht, was für
Kraft in dem Buche steckt. Ich packte es so
sorgfältig mit in meinen Koffer ein, und ich
sitze nun oft ganze Stunden und lese so andäch-
tig, als wenn ich bald vor Gott geführt und
ein Engel aus mir gemacht werden sollte. Man
kann nicht wissen, wie schnell sich manchmal
etwas fügt; es ist noch nicht aller Tage Abend,
und sollte ich den großen Schritt thun müssen,
so denke ich in meinem Examen nicht ganz
schlecht zu bestehen.

Sage mir einmahl, lieber Bruder, warum
manche Menschen so dumm, und bei allem ih-
ren eingebildeten Verstande vor Dummheit or-
dentlich wie vor den Kopf geschlagen sind? daß
sie die große breite Heerstraße des göttlichen
Worts durchaus nicht sehn wollen, die ihnen
vor den Füßen steht, und sich lieber durch ei-
nen dichten wildverwachsenen Wald einen Weg
hauen, sich immer in dem Gesträuche reissen,
und stehen und sich weiß machen, sie haben die

uͤbel ausſehen. Doch richtet nicht, ſo werdet
ihr auch nicht gerichtet.

Ja, Bruder, unſre heilige Schrift iſt jetzt
noch mein einziger Troſt in meinen truͤben
Jammerſtunden; Du glaubſt gar nicht, was fuͤr
Kraft in dem Buche ſteckt. Ich packte es ſo
ſorgfaͤltig mit in meinen Koffer ein, und ich
ſitze nun oft ganze Stunden und leſe ſo andaͤch-
tig, als wenn ich bald vor Gott gefuͤhrt und
ein Engel aus mir gemacht werden ſollte. Man
kann nicht wiſſen, wie ſchnell ſich manchmal
etwas fuͤgt; es iſt noch nicht aller Tage Abend,
und ſollte ich den großen Schritt thun muͤſſen,
ſo denke ich in meinem Examen nicht ganz
ſchlecht zu beſtehen.

Sage mir einmahl, lieber Bruder, warum
manche Menſchen ſo dumm, und bei allem ih-
ren eingebildeten Verſtande vor Dummheit or-
dentlich wie vor den Kopf geſchlagen ſind? daß
ſie die große breite Heerſtraße des goͤttlichen
Worts durchaus nicht ſehn wollen, die ihnen
vor den Fuͤßen ſteht, und ſich lieber durch ei-
nen dichten wildverwachſenen Wald einen Weg
hauen, ſich immer in dem Geſtraͤuche reiſſen,
und ſtehen und ſich weiß machen, ſie haben die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0014" n="8"/>
u&#x0364;bel aus&#x017F;ehen. Doch richtet nicht, &#x017F;o werdet<lb/>
ihr auch nicht gerichtet.</p><lb/>
          <p>Ja, Bruder, un&#x017F;re heilige Schrift i&#x017F;t jetzt<lb/>
noch mein einziger Tro&#x017F;t in meinen tru&#x0364;ben<lb/>
Jammer&#x017F;tunden; Du glaub&#x017F;t gar nicht, was fu&#x0364;r<lb/>
Kraft in dem Buche &#x017F;teckt. Ich packte es &#x017F;o<lb/>
&#x017F;orgfa&#x0364;ltig mit in meinen Koffer ein, und ich<lb/>
&#x017F;itze nun oft ganze Stunden und le&#x017F;e &#x017F;o anda&#x0364;ch-<lb/>
tig, als wenn ich bald vor Gott gefu&#x0364;hrt und<lb/>
ein Engel aus mir gemacht werden &#x017F;ollte. Man<lb/>
kann nicht wi&#x017F;&#x017F;en, wie &#x017F;chnell &#x017F;ich manchmal<lb/>
etwas fu&#x0364;gt; es i&#x017F;t noch nicht aller Tage Abend,<lb/>
und &#x017F;ollte ich den großen Schritt thun mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;o denke ich in meinem Examen nicht ganz<lb/>
&#x017F;chlecht zu be&#x017F;tehen.</p><lb/>
          <p>Sage mir einmahl, lieber Bruder, warum<lb/>
manche Men&#x017F;chen &#x017F;o dumm, und bei allem ih-<lb/>
ren eingebildeten Ver&#x017F;tande vor Dummheit or-<lb/>
dentlich wie vor den Kopf ge&#x017F;chlagen &#x017F;ind? daß<lb/>
&#x017F;ie die große breite Heer&#x017F;traße des go&#x0364;ttlichen<lb/>
Worts durchaus nicht &#x017F;ehn wollen, die ihnen<lb/>
vor den Fu&#x0364;ßen &#x017F;teht, und &#x017F;ich lieber durch ei-<lb/>
nen dichten wildverwach&#x017F;enen Wald einen Weg<lb/>
hauen, &#x017F;ich immer in dem Ge&#x017F;tra&#x0364;uche rei&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und &#x017F;tehen und &#x017F;ich weiß machen, &#x017F;ie haben die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0014] uͤbel ausſehen. Doch richtet nicht, ſo werdet ihr auch nicht gerichtet. Ja, Bruder, unſre heilige Schrift iſt jetzt noch mein einziger Troſt in meinen truͤben Jammerſtunden; Du glaubſt gar nicht, was fuͤr Kraft in dem Buche ſteckt. Ich packte es ſo ſorgfaͤltig mit in meinen Koffer ein, und ich ſitze nun oft ganze Stunden und leſe ſo andaͤch- tig, als wenn ich bald vor Gott gefuͤhrt und ein Engel aus mir gemacht werden ſollte. Man kann nicht wiſſen, wie ſchnell ſich manchmal etwas fuͤgt; es iſt noch nicht aller Tage Abend, und ſollte ich den großen Schritt thun muͤſſen, ſo denke ich in meinem Examen nicht ganz ſchlecht zu beſtehen. Sage mir einmahl, lieber Bruder, warum manche Menſchen ſo dumm, und bei allem ih- ren eingebildeten Verſtande vor Dummheit or- dentlich wie vor den Kopf geſchlagen ſind? daß ſie die große breite Heerſtraße des goͤttlichen Worts durchaus nicht ſehn wollen, die ihnen vor den Fuͤßen ſteht, und ſich lieber durch ei- nen dichten wildverwachſenen Wald einen Weg hauen, ſich immer in dem Geſtraͤuche reiſſen, und ſtehen und ſich weiß machen, ſie haben die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/14
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/14>, abgerufen am 26.04.2024.