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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

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der Stimme des Menschen, so lange sie nicht übertrieben, und wider ihre Natur in schreckliche Mißtöne gezwungen wird; sondern es hört sie mit einem Wohlgefallen an, das bisweilen in ein lautes Freudengeschrei ausbricht. Wie gern läßt es sich, so munter es auch ist, durch die mütterliche Stimme in den Schlaf singen: wie begierig hört es nicht den freundlichen Worten des guten Vaters zu; wie sehr wird es schon frühzeitig durch die Klagen und Thränen anderer gerührt, sonderlich derjenigen, die es lieb hat!*) -- Die Stimme der Thiere hat im Gegentheil gemeiniglich eine ganz andere Wirkung auf dasselbe. Sie hat nicht das Rührende, Einnehmende, Anziehende und Verständliche für sein Ohr, als die des Menschen, es wird da-

*) Wir haben es freilich wieder vergessen, wenn und in welchen Umständen die Leiden anderer zuerst auf unser Herz zu würken angefangen haben; aber gewiß ist dieses schon frühzeitig geschehen. Von unserer Geburt an sind wir selbst körperlichen Leiden unterworfen gewesen, der erste Ausdruck unserer Stimme war eine laute, weinende Klage über den mühseligen Anfang des menschlichen Lebens; wir scheinen eher einen Begrif vom Schmerz, als von Freude gehabt zu haben, und es war natürlich, daß, sobald wir die Leiden anderer bemerken konnten, in uns ein Gefühl des Mitleids gegen sie entstehen mußte, indem wir uns nehmlich dadurch bald auf eine schwächere, bald auf eine lebhaftere Art an das erinnerten, was wir gelitten hatten. Ohne diese Wiedererinnerung scheint unsere Natur damals keines Mitleids fähig gewesen zu seyn. Anm. d. Verf.


der Stimme des Menschen, so lange sie nicht uͤbertrieben, und wider ihre Natur in schreckliche Mißtoͤne gezwungen wird; sondern es hoͤrt sie mit einem Wohlgefallen an, das bisweilen in ein lautes Freudengeschrei ausbricht. Wie gern laͤßt es sich, so munter es auch ist, durch die muͤtterliche Stimme in den Schlaf singen: wie begierig hoͤrt es nicht den freundlichen Worten des guten Vaters zu; wie sehr wird es schon fruͤhzeitig durch die Klagen und Thraͤnen anderer geruͤhrt, sonderlich derjenigen, die es lieb hat!*) — Die Stimme der Thiere hat im Gegentheil gemeiniglich eine ganz andere Wirkung auf dasselbe. Sie hat nicht das Ruͤhrende, Einnehmende, Anziehende und Verstaͤndliche fuͤr sein Ohr, als die des Menschen, es wird da-

*) Wir haben es freilich wieder vergessen, wenn und in welchen Umstaͤnden die Leiden anderer zuerst auf unser Herz zu wuͤrken angefangen haben; aber gewiß ist dieses schon fruͤhzeitig geschehen. Von unserer Geburt an sind wir selbst koͤrperlichen Leiden unterworfen gewesen, der erste Ausdruck unserer Stimme war eine laute, weinende Klage uͤber den muͤhseligen Anfang des menschlichen Lebens; wir scheinen eher einen Begrif vom Schmerz, als von Freude gehabt zu haben, und es war natuͤrlich, daß, sobald wir die Leiden anderer bemerken konnten, in uns ein Gefuͤhl des Mitleids gegen sie entstehen mußte, indem wir uns nehmlich dadurch bald auf eine schwaͤchere, bald auf eine lebhaftere Art an das erinnerten, was wir gelitten hatten. Ohne diese Wiedererinnerung scheint unsere Natur damals keines Mitleids faͤhig gewesen zu seyn. Anm. d. Verf.
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[78/0080] der Stimme des Menschen, so lange sie nicht uͤbertrieben, und wider ihre Natur in schreckliche Mißtoͤne gezwungen wird; sondern es hoͤrt sie mit einem Wohlgefallen an, das bisweilen in ein lautes Freudengeschrei ausbricht. Wie gern laͤßt es sich, so munter es auch ist, durch die muͤtterliche Stimme in den Schlaf singen: wie begierig hoͤrt es nicht den freundlichen Worten des guten Vaters zu; wie sehr wird es schon fruͤhzeitig durch die Klagen und Thraͤnen anderer geruͤhrt, sonderlich derjenigen, die es lieb hat!*) — Die Stimme der Thiere hat im Gegentheil gemeiniglich eine ganz andere Wirkung auf dasselbe. Sie hat nicht das Ruͤhrende, Einnehmende, Anziehende und Verstaͤndliche fuͤr sein Ohr, als die des Menschen, es wird da- *) Wir haben es freilich wieder vergessen, wenn und in welchen Umstaͤnden die Leiden anderer zuerst auf unser Herz zu wuͤrken angefangen haben; aber gewiß ist dieses schon fruͤhzeitig geschehen. Von unserer Geburt an sind wir selbst koͤrperlichen Leiden unterworfen gewesen, der erste Ausdruck unserer Stimme war eine laute, weinende Klage uͤber den muͤhseligen Anfang des menschlichen Lebens; wir scheinen eher einen Begrif vom Schmerz, als von Freude gehabt zu haben, und es war natuͤrlich, daß, sobald wir die Leiden anderer bemerken konnten, in uns ein Gefuͤhl des Mitleids gegen sie entstehen mußte, indem wir uns nehmlich dadurch bald auf eine schwaͤchere, bald auf eine lebhaftere Art an das erinnerten, was wir gelitten hatten. Ohne diese Wiedererinnerung scheint unsere Natur damals keines Mitleids faͤhig gewesen zu seyn. Anm. d. Verf.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/80>, abgerufen am 30.04.2024.