Zur Seelenkrankheitskunde
I. Eine wahnwitzige Passionspredigt. Picht, Johann Gottlieb Gehalten vom Herrn Praͤpositus Picht, Johann GottliebPicht zu Gingst
in Schwedisch-Pommern, Freitags den 5ten Maͤrz 1784.)
Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes, sei mit uns in dieser Stunde. Amen.
Textus. Maleachi, Cap.2, v.7. (Ohne das Vater Unser zu beten, und ohne Eintheilung der Predigt.)
Der Prophet Maleachi spricht im 2ten Capitel seiner Weissagung, im 7ten Vers, also: des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche, denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth. Allein wie kann der Priester die Lehre bewahren, wenn sie zu ihm kommen und lassen sich Jungfer kuͤndigen und sind Huren? Wie kann denn der Priester die Lehre bewahren, da das Poͤbel koͤmmt und luͤgt ihm vor, sie sagen, sie sind Jungfern, und sind Huren? Muß denn der Priester nicht zum Luͤgner werden? Aber ich will noch die Huren und diebischen Weiber aus Gingst herausfegen. Jch darf ja nur an Sr. Durchlaucht schreiben, sonst muß ich ja Luͤgen an dieser Staͤtte predigen, und nicht die Wahrheit. Sie meynen, wenn sie nur dort in den verfluchten Beichtstuhl mit ihrem verdammten Groschen kommen, und mir die Beichte vorplappern; dann meynen sie, soll ich ihnen die Suͤnden vergeben, aber sie kommen mir nur, ich will sie ganz auf eine andere Art kriegen!
Eben so macht es hier der Poͤbel in Gingst, da hier nun die Pocken grassiren, so kommen sie nicht zu mir und fragen, was ihren Kindern, die die Pocken haben, gut und nuͤtzlich ist; da laͤßt das Poͤbel nur den Schaafmist von mir holen, und den Schaafkoth geben sie ihren Kindernihre Kinder zu fressen. Das soll den Kindern fuͤr die Pocken gut seyn; wenn der Gingster Poͤbel noch zu mir, oder zu sol-
chen Leuten kaͤmen, die es wuͤßten, was den Kindern bey der Pockenkrankheit gut und nuͤtzlich waͤre? Es kommt auch keiner, so sich erkundiget, wie ich es mache, daß mein Junge, mit den Pocken im Gesicht, sich auf dem Eise picken kann?
Die Gingster sollten mir nur den Schaafmist auf dem Acker lassen, denn ich kann ja den Schaafdung besser auf dem Acker brauchen, als daß der Poͤbel seinen Kindern solchen zu fressen giebt, denn sie wissen es nicht, daß es den Kindern ein Gift ist. (Nun kriegte der Herr Praͤpositus einen Bogen Papier aus der Tasche, und las davon ab folgendes:)
Weil der Kerl da, in Greifswalde, der Mammonsknecht, sich um sein Amt und um die Schulen gar nicht bekuͤmmert, so entsage ich mich hiermit gaͤnzlich der Bothmaͤßigkeit des Superintendenten in Greifswalde, eines solchen Geitzhalses, und fordre diese ganze christliche Versammlung zu Zeugen auf, daß ich mit meiner ganzen Dioͤces unter dem Befehl des Kerls in Greifswalde nicht mehr stehn will. Denn es stehet geschrieben im 132sten Psalm: Deine Priester laß sich kleiden mit Gerechtigkeit — der seinen 15jaͤhrigen Sohn zum Edelmann machen laͤßt und kauft ihm grosse Edelguͤther. Jch aber bin hier euer Praͤpositus, das heißt auf deutsch: ein Vorgesetzter, und ich will hier ein neues Leibregiment Christen anlegen, und dann will ich euer Obrister seyn, und der Durch-
lauchtigste Fuͤrst in Stralsund, der edle Mann und Fuͤrst Friedrich Willhelm von Hessenstein soll Chef seyn; und ich will einen jungen schnellen Boten, noch heute, mit dieser schriftlichen Verordnung an Sr. Durchlaucht nach Stralsund senden, und der soll diesen Brief an den Durchlauchtigsten Fuͤrsten uͤbergeben, und diese Schrift selbst uͤberreichen an Se. Durchl. den Fuͤrsten v. Hessenstein, und das soll der junge Herr Carl von Platen seyn, der diese Schrift noch heute nach Stralsund an den Durchlauchtigsten Fuͤrsten bringen soll.
Es schicket sich aber nicht allzugut, daß ein Prediger einem jungen Edelmann, der nicht seine maͤnnlichen Jahre erreicht hat, Befehl gebe; daher sollte der Hochwohlgebohrne Herr Oberforstmeister von Barneckow dem jungen Herrn Carl von Platen diese Sache auftragen, weil aber der Herr Oberforstmeister von Barneckow anjetzt nicht als Zeuge gegenwaͤrtig ist, so soll es der Herr Cornett Sesemann thun.
Denn der Koͤnig von Schweden, Gustavus der Zweite, haͤtte mir ja keine Uhr gegeben, wenn ich nicht als Obrister eines Leibregiments dienen sollte, aber die Uhr ist das Handgeld, und ich will auch, so wahr mir Gott helfen soll! dem Koͤnig Gustav dem Zweiten, bis auf den letzten Blutstropfen dienen; und denn sollte ich mir von solchem Kerl, als der in Greifswalde ist, befehlen lassen, von solchem Schurken, der seinen Sohn zum Edelmann
machen laͤßt, ich, da ich der Obriste des Leibregiments bin, woruͤber der Durchlauchtigste Fuͤrst in Stralsund Chef ist, darum so der junge schnelle Bote nicht heute reiten will, so will ich selbst reiten. Jch weiß es schon, daß die Gingster mit mir processiren wollen, aber ich will dem hiesigen Poͤbel weisen, daß ich ihr Praͤpositus und ihr Vorgesetzter bin; aber ich will nicht mit ihnen processiren, denn ich weiß wohl, daß sich hier schon Priester todt geaͤrgert haben, und nun kommen sie mit ihren verdammten Luͤgen, und ich muß mich noch vor meinem fuͤnfzigsten Jahr hier todt quaͤlen.
Jch habe nun hier schon funfzehn Jahre die Passionsandachten, so viel mir meine Kraͤfte zugelassen haben, gehalten, allein die mehreste Zeit vor ein paar alten Weibern predigen muͤssen, und die leeren Baͤnke vor mir gesehen, und dabey meine Gesundheit, Leben, Muth und Blut zugesetzet. Wer hat also wohl die Schuld, wenn der Priester Luͤgen predigen muß?
Aber ich will nun wohl bessere Ordnung halten, und so wahr wie Gott im Himmel lebt! will ich mich der Sachen besser annehmen, die Gingster koͤnnen mich nur verklagen; aber wo wollen sie mich verklagen? Bei Sr. Durchlaucht, oder bey dem Koͤnig Gustav dem Zweiten? denn nach dem Koͤniglichen Amtshauptmann koͤnnen sie nur hingehen, der ist mein guter Freund, und ich will mich doch nicht in einen Proceß geben. (Nun wandte sich
der Herr Praͤpositus mit dem Bogen Papier in der Hand gegen den Kuͤster Westgard, und fing nachfolgendes zu lesen an.)
Weil nun die Kuͤster allenthalben so viel Branntwein saufen, und der hiesige Kuͤster Carl Gustav Westgard, ein rechter aufrichtiger Lehrer und redlicher Mann, ein liebreicher Ehegatte gegen seine Frau, und ein rechtschaffener Vater gegen seine Kinder ist, so will ich ihn, den Kuͤster Westgard hiermit bey dem neuen Leibregiment Christen, zum Obristwachtmeister, verordnen. Jst er gesonnen, das Amt, redlich und getreu als Obristwachtmeister, bei dem neuen Leibregiment, wobei der Fuͤrst in Stralsund Chef ist, anzutreten? (worauf aber nicht geantwortet wurde.) Westgard hoͤrt er nicht? kennt er den Fuͤrsten nicht? antwortet er mir nicht? kennet er ihn nicht? (allein es erfolgte gar keine Antwort.)
Jch Picht, Johann GottliebPicht! bin hier Praͤpositus, und Obrister des Fuͤrsten, bey seiner Leibcompagnie, und der gute Geist Gottes redet aus mir, denn des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche, denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth. Die Zunge des Priesters ist sein Schwerdt. Meine Zunge ist ein scharfes zweischneidiges Schwerdt, und durchdringet Seel und Geist. Amen.
Jch will doch noch Priester hier bleiben, und euer Praͤpositus, und das heißt auf deutsch: ein
Vorgesetzter, und will doch noch Beicht sitzen, und predigen will ich, wenn ich auch auf die Kanzel kriechen soll. Wenn die Kinder sollen eingesegnet werden, denn will ich sie examiniren, da sollen gar keine Einfaͤltige und Unwissende hinzugelassen werden, sondern die nichts wissen, die will ich dort hinaustreiben, und die guten frommen Kinder, die will ich einseegnen, so wie ich den reichen, vornehmen Mann eingeseegnet habe, hier vor dem Altare.
Als wir mit der Leiche in der schoͤnsten Pracht waren, und in bester Majestaͤt daher zogen, die ehrlichen Bauern ritten mit schoͤnster Anstalt beiher, und die hochadelichen Herren des Gefolges waren mit ihren besten Kleidern und Zierde angethan: aber wie wir hier in Gingst in die Kirche kamen, so mußte der Poͤbel, hier im oͤffentlichen Gotteshause, solchen Spectakel und Rumor machen.
Was die vornehmen hochadelichen Herren davon wohl gedacht haben? Jch weiß, daß sie sich alle rechtschaffen geaͤrgert haben, denn ich habe mich zum wenigsten damals aufs aͤussersteausserste geaͤrgert. Aber sie moͤgen sagen, was sie wollen, der reiche, vornehme Herr, der damals beerdiget ward, daß der seelig geworden ist, dafuͤr stehe ich ein, denn ich habe ihn ja hier vor dem Altare zur seeligen Ewigkeit und zur freudigen Auferstehung von den Todten eingeseegnet; eine solche Ehre kann nur solchen frommen, reichen und vornehmen Leuten zukom-
men, denn das andere Poͤbel wird nur so um die Kirche geschleppt, aber den reichen, vornehmen Mann, der damals beerdiget ward, habe ich hier vor dem Altare zur ewigen Seeligkeit eingeseegnet, und der Durchlauchtigste Fuͤrst soll auch noch hier kommen und den Kirchhof besehen.
Auch soll noch am bevorstehenden Sonntage ein feyerliches Dankfest gehalten werden, wegen des seeligen Herrn Cammerherrn v. der Lanken, und Vormittags Gott gelobt und gedankt werden, und Nachmittags koͤnnen die Leute in ihren Haͤusern mit ihren Familien tanzen und spielen mit ihren Hausgenossen und sich lustig machen.
Also ist auch eine Sache bekannt von dem Buche des Schuster Friedrich Henning, so er betitelt hat: Reiner Krystallstrom; welches alle Gingster gelesen, und worinnen er die Priester aufs aͤrgste heruntermacht und schimpfet sie vor Schalksknechte, Baͤlge, Luͤgner und Mammonsknechte; allein sagt nicht der Prophet Maleachi: Die Lippen des Priesters sollen die Lehre bewahren, aber wie ist es moͤglich, daß die Priester die Lehre bewahren koͤnnen, wenn sie auf solche Art behandelt werden.
Es ist euch doch noch wohl bekannt, wie ich vor vier Jahren an meinem Verstande verworren war, und das Blut in mir damals so in Heftigkeit gerathen war, daß ich meine eigne Glieder nicht in meiner Macht hatte, und ich euch selbst bat, daß ihr mich binden mußtet.
Bat ich euch nicht, daß ihr mich solltet binden? Das kam damals von meinem boͤsen Gewissen her, und von den Unordnungen, die ich gemacht hatte, und von den Verwirrungen, worin ich mich zu der Zeit befand.
Jch weiß es auch wohl, daß ihr nun wieder hingeht, wenn ihr aus der Kirche kommt, und sagt: unser Priester ist nun wieder naͤrrisch worden, das weiß ich alles recht sehr wohl, aber ihr moͤgt nur hingehen und sagen, was ihr wollt, ich weiß doch wohl, daß ich ein getreuer Obrister bin unter den acht Compagnien des Leibregiments unsers Fuͤrsten und dabey will ich auch bleiben, so wahr Gott im Himmel lebt! und will dem Koͤnig dienen als ein getreuer Deutscher und Schwede zusammen, und will mich davon nichts abbringen lassen, noch mich davon abwenden, so lange ich das Leben habe, etc.
II. Beschluß des Aufsatzes: Geschichte meiner Verirrungen an Herrn Pastor W*** [Pfarrer]W*** in H***.
Anonym Unter der Hand bewarb ich mich nun wieder um Kollegien-Abschreiben. Dadurch bekam ich wieder Zutritt, und manches gute Buch geliehen. Jetzt las ich nicht mehr bloß Romane (am allerwenigsten
mehr empfindsame —) Jch las alte und neue Dichter, Lust- und Trauerspiele, besonders letztere am liebsten, so wie ich uͤberhaupt mehr Gefuͤhl fuͤrs Ernste, Ruͤhrende als fuͤrs Komische, Taͤndelnde habe. Jch suchte meine Sprache zu bilden, indem ich mir das Eigenthuͤmliche eines Verfassers dadurch deutlich machte, daß ich ihn mit andern verglich; ihre Wortfuͤgung, ihren Periodenbau bemerkte. Jch fing an, mir selbst kleine Aufsaͤtze zu machen; mir ein gewisses Thema aufzugeben, woruͤber ich schon viel gelesen. Das brachte ich nun nach meiner Art zu Papier; nur schade! daß ich keinen Freund hatte, der meine Gedanken recensirt haͤtte. Jch machte mir Auszuͤge aus Buͤchern uͤber Gegenstaͤnde der Religion, Philosophie, Naturgeschichte und Naturlehre. Besonders fand ich viel Vergnuͤgen in Buͤchern, worinnen ich Bemerkungen uͤbers menschliche Herz fand. Jn diesen habe ich viel und fleißig gelesen. Niemeiers Charakteristik der Bibel; die Faramondsche Familiengeschichte; Franz von Kronenburgs und Ernst Grato's Briefe zur Befoͤrderung der Menschenkenntniß. Wagenseils Beitraͤge zur Weisheit und Menschenkenntniß; Tagebuͤcher uͤber sich selbst u.a.m. Auch uͤber Erziehung habe ich viel gelesen, und sie wurde, da sie so genau mit der Menschenkenntniß verwandt ist, bald mein Lieblingsstudium. Auch fing ich einmal Bemerkungen uͤber mich selbst aufzusetzen; allein die anhaltenden Unruhen meiner Seele mach-
ten mich zum Beobachten unfaͤhig. — Zudem hatte ich nicht Selbstuͤberwindung genug; vielleicht fehlte es mir auch noch an Wahrheitsliebe — und so blieb es wieder liegen.
Aber diese neue Wendung meiner Faͤhigkeiten hat mich auch wieder auf Abwege geleitet. Jch kann mich von dem Zweifel nicht befreien: daß den Menschen so viel sollte zugerechnet werden koͤnnen, als man gewoͤhnlich glaubt. Wie vieles haͤngt nicht von seiner Erziehung, Umgang und andern zufaͤlligen Dingen ab, wofuͤr er gar nicht kann. Die Worte Christi: Richtet nicht! scheinen uͤberhaupt die Unzulaͤnglichkeit menschlicher Urtheile, und selbst eine aͤußerst billige Beurtheilung Gottes anzudeuten. — Mich kraͤnkts, wenn Menschen sich mit frecher Stirn hinstellen, und uͤber menschliche Handlungen urtheilen, ohne das Ganze ihres Lebens, und seiner einzelnen Theile uͤberschaut zu haben. Und manche Handlung, die in spaͤtern Jahren geschieht, hat ihren Grund oft in der vorbereitenden Bildung, in dem Umgange mit diesem und jenem; ist also oft Folge, nothwendige Folge. — Daher kommts, daß Menschenkenner auch meistens billig und gelinde urtheilen. Ja selbst auf mich hat mein bischen Lektuͤre dieser Art aͤhnliche Wirkung gehabt.
Gutes und boͤses Herz werden wohl angeboren, ob ich gleich nicht laͤugne, daß auch Erziehung seinen grossen Theil daran hat. Und wer theilte die-
ses gute und boͤse Herz aus; wer ließ solche Eraͤugnisse zu, daß der Mensch mit wenigerer Anlage des Herzens — nothwendig noch schlimmer werden mußte? Sehen Sie hier die Klippe, woran ich scheitere; die mich mit Zweifel gegen die allgemeine Guͤte Gottes erfuͤllt. »Sie gehoͤren zum Ganzen« sagt der Philosoph. Gut! so sind sie noͤthig und koͤnnen also unmoͤglich ganz verworfen werden. — Aber auch dieß ist ja schon Ungluͤck fuͤr sie, und scheint es nicht eine gewisse Partheilichkeit in der freien Willkuͤhr Gottes anzukuͤndigen? Wer befreiet mich von diesem Zweifel? Und selbst die Erfahrung scheint zu bestaͤtigen, daß das gute, so wie das boͤse Herz angeboren wird; denn wird nicht das gute Herz auch bei seinen groͤbsten Vergehungen einen Schimmer desselben blicken lassen? Wird es so tief sinken, daß es so wie das boͤse, einen wirklichen Wohlgefallen an seinen Lastern, eine gewisse Schadenfreude dabei empfinden wird? Menschen zu quaͤlen; aus Lust sie zu quaͤlen, dazu gehoͤrt der groͤßte Grad von Bosheit, deren ein gutes Herz nicht faͤhig ist. Obiger Zweifel hat vielen Einfluß in mein kuͤnftiges Leben gehabt: denn ich habe mich nie zu demjenigen Vertrauen auf die goͤttliche Guͤte und ihre allgemeine Vorsorge erheben koͤnnen, welches die Religion verlangt. Meine besondern Schicksaale, meine so vielfaͤltig fehlgeschlagenen Hofnungen, und mein anhaltendes Elend haben auch viel dazu beigetragen.
Unter diesen Beschaͤftigungen vergingen wieder zwei Jahr. Jch sahe mich uͤberall nach Huͤlfe um; nach einem zweckmaͤßigern Leben, denn ich wurde ja immer aͤlter. Durch Zufall erhielt ich eine gedruckte Nachricht von einem neu errichteten Schulmeister-Seminario zu H***. Jch las es mit innigem Vergnuͤgen: denn mein Herz wird bei jedem Schritt, welchen die Menschheit zu ihrer Vervollkommung thut, empfindlich geruͤhrt. Jn mir entstand der Wunsch, darinnen aufgenommen zu werden. Jch schrieb an den Aufseher desselben, schilderte ihm meine Lage und bat um Aufnahme. Jch erhielt bald Antwort. »Wenn Sie der sind, welchen ich aus Jhrem Briefe haben kennen lernen, so eilen Sie zu mir,« hieß es darinn. Allein mir fehlte Equipage. Das erstemal in meinem Leben uͤberwand ich mich, und schrieb an einige wuͤrdige Maͤnner meiner Vaterstadt und bat um Unterstuͤtzung bei meinem Vorhaben. Jch erhielt sie, und — duͤrfte ich sie doch nennen, diese Redlichen — aber gewisse Umstaͤnde verbieten mirs. Aber meinen heißen innigen Dank nehmt hin Jhr Edle! Jn meinem Herzen wohnt Euer Andenken und Gott wirds Euch laͤngst vergolten haben: denn durch Euch erhielt ich doch wieder auf einige Zeit, wenns weiter nichts war, die noͤthigsten Beduͤrfnisse des Lebens: Kleidung und Waͤsche.
Der Aufseher des Jnstituts schrieb mir wieder, und diesen Brief erhielt ich durch dessen Bruder;
vermuthlich in der Absicht, mich auch persoͤnlich kennen zu lernen. Er mochte nun meinen koͤrperlichen Fehler gesehen, und es seinem Bruder gemeldet haben; kurz darauf erhielt ich die Nachricht: »er koͤnne mich wegen meines koͤrperlichen Fehlers unmoͤglich annehmen; weil es die Grundsaͤtze des Jnstituts keinesweges gestatteten; er bedaure uͤbrigens, daß ich meine neue Aussicht wieder verschwinden sehen mußte.« Und so war ich wieder der Elende, Verlassene, dessen koͤrperlicher Fehler ihn nun zum zweitenmale an seinem Gluͤcke hinderte. —
Um aber das Kraͤnkende einer fehlgeschlagenen Hofnung bei einem so aͤusserst Ungluͤcklichen einigermassen zu mildern, so meldete mir der Herr Aufseher, der Hr. Domh. v. R** wuͤrde mich in meinen elenden Umstaͤnden einigermassen unterstuͤtzen. Jch erhielt kurz darauf einen Dukaten. Mir war diese Huͤlfe dazumal um so noͤthiger: da mich der Gedanke: »so nimmt doch noch Ein Mensch Antheil an deinem Leiden,« von der gaͤnzlichen Muthlosigkeit und Verzweiflung, die ich schon mit raschen Schritten sich mir naͤhern sahe, einigermaßen befreite. Denn ich habs mehr als einmal empfunden, wie leicht sich das gepreßte Herz wieder auf den reizenden Huͤgel der Hofnung erhebt, wovon es fehlgeschlagene Erwartung verdraͤngt hat. Und ich glaube, mancher Ungluͤckliche wuͤrde nicht ein Raub der Verzweiflung ge-
worden seyn, wenn seine Bruͤder nicht ihre Herzen vor ihm verschlossen gehalten, und den sanften Trieben des Mitleids Gehoͤr gegeben haͤtten, wenn sie ihm auch keinesweges thaͤtige Huͤlfe leisten koͤnnten.
Nein, nie will ich dir, du Ungluͤcklicher! der du vom Schicksaal verfolgt nirgends keine Rettung mehr siehst, wenn du mir im Gange des Lebens aufstoͤßest, (wenn ich weiter auch nichts fuͤr dich thun kann) dir mein Mitleid versagen. Und wenn ich dir auch nur auf einige Augenblicke den Standpunkt verruͤckte, aus welchem deine geschwaͤrzte Phantasie dein Loos ansieht — so hab ich schon gewonnen, und vielleicht hebt ein kuͤnftig guͤnstiger Augenblick dein niedergedruͤcktes Herz vollends wieder empor.
Kurz darauf erhielt ich wieder einen Dukaten. Dieß steigerte meine Hofnung noch hoͤher. Und da der Geber desselben (wie vielleicht jedem bekannt ist) ein Mann von dem besten Herzen und ausgebreitetsten Wirkungskreise ist, so erhielt ich denjenigen hohen Grad von Zutrauen zu ihm, welchen wir nur erhalten, wenn wir genau wissen, daß der, an welchen wir uns wenden wollen, Kraft genug hat, seinen Willen in That zu verwandeln, — und wozu noch kam, daß er selbst ein grosser Befoͤrderer der von mir einmal erwaͤhlten Laufbahn (die ich immer noch nicht aufgegeben hatte) ist. Aber ich wollte mir seine Fuͤrsorge nicht erschleichen; noch weniger ihm vorschreiben, wozu ich mich wuͤnschte emploirt zu sehen. Deswegen schrieb
ich einen ziemlich langen Brief und schilderte ihm meinen ganzen Charakter, so weit ich mich selbst kenne. Jch verschwieg keine meiner Schwaͤchen. Jch bekannte, daß ich stolz, leichtsinnig und sehr empfindlich sei. Daß ich mir einen Weg wuͤnschte angewiesen zu sehen, auf welchem ich meine guten Anlagen ausbilden, und die Fehler meines Temperaments und meiner Erziehung unschaͤdlicher machen koͤnnte. Jch schloß so, wenn er dich ganz kennt, so weiß er am besten, wozu du taugst, und wenn du sonst wozu zu gebrauchen bist, so ist in ihm so viel Willen mit That vereinigt, daß er dir helfen wird.
Die Antwort blieb außen. Jch schrieb wieder und bat um guͤtige Antwort, und — ich erhielt sie mit einem Louisd'or und der Erklaͤrung: er verbaͤte sich fernere Correspondenz und er wuͤrde mir, sobald sich Aussichten fuͤr mich zeigten, es selbst melden.
Jch weiß es nicht, war ich zu zudringlich; hatte ihm etwas in meinem Briefe mißfallen; genug ich nahm, da ich zumal just in einer uͤblen Laune war, als ich den Brief erhielt, dieses Verbitten fernerer Correspondenz als ein Zeichen der Verachtung an. Mein Stolz fuͤhlte sich erschrecklich gedemuͤthiget. Man nehme noch dazu: wieder vereitelte Hofnung, und man wird mirs verzeihen, wenn ich schief sahe. War es denn sehr zu verwundern, daß ein Mann, wie er, der gewiß einen
sehr weitlaͤuftigen Briefwechsel hat, meine Briefe verbat? Jch glaubte Zorn in seinem Briefe zu sehen; da es doch weiter nichts als die Sprache des Wohlthaͤters gegen den Duͤrftigen war; die Sprache eines Vornehmen, der sich seiner Groͤsse bewußt ist — gegen einen stolzen Armen, den herablassender Ton von einem hoͤhern, nur Nahrung seines Stolzes wuͤrde gewesen seyn. So suchte ich mirs bei kaͤlterm Blute zu erklaͤren, und man wird sehen, daß auch hieran mein Stolz wieder grossen Antheil hatte: denn ich suchte bald den Gedanken von Verachtung wieder zu verscheuchen.
Jndessen bewieß es die Folge, daß der Herr v. R.** keinesweges zornig auf mich war. Ehe ich aber dieß beweise, muß ich mehrere Vorfaͤlle nachholen.
Jch wurde mit einem jungen B** bekannt, mit dem ich bald sehr vertraut wurde. Er beredete mich mit ihm zu seinem Vater zu reisen, der in der Altmark auf einem Dorfe Kantor war, und da ich wenig zu versaͤumen hatte, auch wirklich in meiner Lage Zerstreuung bedurfte, und auf einige Tage ohne Nahrungssorge seyn sollte, so ergrif ichs mit beiden Haͤnden — Wir hielten uns vierzehn Tage auf. Sein Vater, ein alter wuͤrdiger Mann, dem ich gefallen mochte, frug mich einst im Scherz, ob ich sein Substitut werden wollte? Jch sagte mit Freuden: Ja! Es ist keine Orgel hier, fuhr er fort, allein der Edelmann hat ein
Positiv stehen, welches er nach meinem Tode, da ich nicht musikalisch bin, oder wenn ich Alters wegen den Dienst nicht mehr versehen kann, will in die Kirche setzen lassen. Wenn Sie daher Musik verstuͤnden, so glaubte ichs wohl dahin zu bringen, daß Sie mein Nachfolger wuͤrden. Schon wieder eine neue Hofnung! dachte ich, aber wenig Aussichten dazu, (denn wo sollte ich die Kenntniß des Klaviers hernehmen) und reißte mit meinem Freund wieder ab.
Jch kehrte nun zu meinem alten Elende wieder zuruͤck. Meine Beduͤrfnisse waren zwar wenig; allein auch diese wenigen konnte ich mir nicht verschaffen. Bange Sorgen der Zukunft — Mangel an Unterhalt, keine Beschaͤftigung, nichts, das meine Seele in Thaͤtigkeit setzen konnte; mein Leben war sehr einfoͤrmig. Es wurde mir eine Jnformation angetragen bei einem hiesigen Buͤrger, der in einer angenehmen Gegend ein Gasthaus hielt. Jch hielt meine Stunde des Nachmittags, weil da immer Gesellschaft war, und ich das gesellschaftliche Leben liebe. Nach der Stunde unterhielt ich mich denn mit diesem und jenen; um auf eine Zeitlang mein Elend zu vergessen. Jch blieb da gewoͤhnlich bis 10 Uhr Abends. Jch ließ nicht leicht einen unangeredet weggehen, und da ich von allem moͤglichen sprechen konnte, so hatte ich immer Stoff zur Unterredung. Meine Lern- und Forschbegierde war beinahe zur Leidenschaft geworden.
Jch beobachtete genau die Reden und Handlungen andrer, und verglich sie oft zusammen. Da bekam ich denn manchen Aufschluß uͤbers menschliche Herz, das ich mir dann aufzeichnete, und dann nicht selten bei aͤhnlichen Eraͤugnissen wieder richtig anwenden konnte! Allein eben diese große Forschbegierde verursachte bei mir oft den Fehler der Zudringlichkeit; gute Menschen besonders ziehen mich unaufhaltsam an sich. Haben sie noch uͤberdem den Vortheil, daß sie Leidende sind, so bin ich nicht abzuhalten: ich suche mich ihnen verbindlich zu machen. Haͤtte ich denn nur Kraͤfte genug, um ihnen zu dienen; ihrer Leiden weniger zu machen, aber leider! ich bin selbst ungluͤcklich, und da ich denn doch etwas fuͤr sie thun will, so nimmt dieser Trieb eine falsche Richtung, und ich opfere dann in meiner Begeisterung grosse Pflichten kleinern auf.
Man wird diese Anmerkung, (die man mir erlauben wird, weil doch nur jeder selbst im Stande ist, die alleinigen Bewegungsgruͤnde seiner Handlungen anzugeben) in der Folge bestaͤtiget finden.
Unter andern Gaͤsten, die da hinkamen, um sich zu vergnuͤgen, zog besonders ein junges aber ganz ungleiches Paar meine ganze Aufmerksamkeit an sich. Stellen Sie sich einen Mann vor, von ungefaͤhr 28 bis 30 Jahren, mit einer bleichen Gesichtsfarbe, eingefallenen Augen und Schlaͤfen mit einem engbruͤstigen Odem, den ein nicht seltener
heftiger Husten ganz ausser aller Lebenskraft setzte. Mit langen Fingern, daran die Naͤgel blau und weit uͤber das Fleisch uͤberstunden, und Fuͤssen, die die stillen Zeugen einer uͤbel vollbrachten Jugend waren. — Kurz ein Mann, dessen Aeusseres seinem Alter die aͤrgste Satire war. Seine Frau, ein junges feuriges Weib von einigen 20 Jahren, von starken robusten Koͤrper, der von Gesundheit gluͤhte. Mit einer recht ehrlichen Miene und einem ganz huͤbschen blauen Auge, das aber etwas schwermuͤthiges und unzufriednes verrieth. Uebrigens einen guten Wuchs und einen ausserordentlich schoͤnen Fuß. Wie abstechend gegen ihren Gatten! Und wie ganz dazu geschaffen, meine ganze Aufmerksamkeit und mein Mitleid rege zu machen. Jch ließ mich mit beiden in Gespraͤch ein, und da die Gesellschaft zahlreich war, so wußte ich bald das Gespraͤch auf die Ehen zu lenken. Jch thats aus der Absicht, um zu sehen, wie sie sich dabei nehmen wuͤrde, weil ich gleich beim ersten Anblick — das Urtheil gefaͤllt hatte, daß ihre Ehe eben nicht die gluͤcklichste seyn koͤnnte. Jch sahe sie seufzen und ihren Gatten eine muͤrrische Miene annehmen — dieß war Wink genug fuͤr mich und ich brach ab. Unterdessen zerstreute sich die Gesellschaft, und ihr Gatte entfernte sich zu einer Spielparthie. Jetzt waren wir allein. Meine Neugierde, vielleicht auch eine dunkele Empfindung — und mein Mitleid, das schon rege gemacht war,
trieben mich an, sie zu fragen: was ihr fehle? Sie schlug die Augen nieder und schwieg. Dadurch noch mehr angefrischt (wars nicht unverschaͤmt?) drang ich weiter in sie. Endlich sagte sie: Sie koͤnnen mir doch nicht helfen. »Aber doch vielleicht einen guten Rath ertheilen, liebes Weibchen!« und indem ich ihre Hand ergriff, »ich sehe, Sie haben Kummer; entdecken Sie sich mir.« Sie sah mich hierauf starr an. Der Ton, mit welchem ich das sagte, mochte Eingang in ihr Herz gefunden haben. Sie wollte eben ihren Mund oͤfnen, als sie ihr Gatte hinausrief, und mir schien es, als wenn seine Augen mich durchforschten — doch die Folge bewieß, daß ich mich geirrt hatte.
Jch konnte sie nun diesen Tag nicht wieder allein sprechen, denn sie gingen kurz darauf nach Hause.
Ein gewisser H***, der sich auch immer an diesem Orte befand, und mit welchem ich eine Art von Freundschaft errichtet hatte, weil er ein offner Kopf war und kein schlechtes Herz hatte, hatte auch seine Bemerkungen uͤber dieses Paar gemacht und theilte sie mir mit. Er war ein Naturalist und hatte den Grundsatz: die Natur ließe sich nicht zwingen. Jch mochte ihm diesen Satz bestreiten, wie ich wollte, so blieb er bei seinem Kopf. »Sehen Sie nur, sagte er, dieses gute Weib ist ungluͤcklich in der Ehe; ihr Mann ist ihr zu wenig,
(Sie muͤssen sich an seine Ausdruͤcke nicht stoßen) daher entsteht ihre Traurigkeit.« Aber woher weiß er denn das so gewiß? sagte ich. »Ei nun, sehen Sie nur, fuhr er fort, seinen und ihren Koͤrper an; wie will ein solcher ausgemergelter Koͤrper (ich muß seinen Ausdruck aͤndern) dem ihrigen Freuden gewaͤhren?« Und warum, muß es denn just thierischer Trieb seyn? Koͤnnen nicht noch andere Ursachen ihrer Traurigkeit da seyn? Jhr Charakter stimmt vielleicht mit dem Seinigen nicht; sie hat vielleicht einen andern geliebt; und hat diesen aus Privatabsichten nehmen muͤssen. »Es wird sich ausweisen, sagte er, wer recht hat.«
Nun konnte ich nicht ruhen noch rasten: ich mußte ihre geheime Geschichte wissen. Und da ich einige Tage wegen anderer Abhaltungen nicht hinauskommen konnte, so schrieb ich ein Billet, gab es meinem Naturalisten, und bat ihn, er moͤchte es ihr heimlich zustellen. Dieses Billet enthielt nichts als: Bedauerungen, Anerbietung meiner Freundschaft (was konnte ihr diese in meinem eingeschraͤnkten Kreise wohl helfen!) und Angelobung voͤlliger Verschwiegenheit, im Fall sie mich zu ihrem Vertrauten machen wollte. Am Ende bat ich sie, mir einen Ort zu bestimmen, wo ich sie ohne Zeugen sprechen konnte.
Als ich wieder hinkam, so war der Brief schon den Tag vorher uͤbergeben worden. »Sie haͤtten nur sehen sollen, sagte mein Abgeordneter, wie
sie so begierig darnach griff, und mit welcher Freude sie ihn an einem unbemerkten Orte las. Tausendmal frug sie mich: ob Sie nicht selbst herauskaͤmen. Sehen Sie, daß ich recht habe.« Jch hatte genug zu thun, um ihm Einhalt zu thun, denn mir wollte es immer noch nicht recht im Kopf, daß eine Frau sich so leicht einem anderen uͤberlassen sollte, von dem sie glauben koͤnnte, daß er sie auf bloß physische Art schadlos halten wuͤrde. — Freilich ich gestehe es gern, war ich zu einer andern Zeit — wieder geneigter es zu glauben; es entstanden in mir gewisse Empfindungen, die michs wahrscheinlich vermuthen liessen: denn man schließt immer von sich gern auf Andre; — allein ich rechnete auch wirklich viel auf weibliche Schaam, und die Folge bewieß, daß dieser Schutzengel weiblicher Tugend auch durch die nachlaͤßigste Erziehung nicht, und nur durch boͤses Beispiel verdraͤngt wird.
Auf den Tag harrte ich sehnlich, wenn ich sie selbst sehen wuͤrde; denn da hofte ich auf Antwort. Der Tag erschien, und mein Herz klopfte wie ein Hammer, als ich sie sahe ankommen. Sie wurde roth, als sie mich ansahe, und da wir nicht bemerkt wurden, so lispelte sie mir zu: kommen Sie kuͤnftigen Sonntag fruͤh um acht Uhr zu mir. Ueber diese Einladung erschrack ich herzlich; denn die hatt' ich mir gar nicht vermuthet. Doch faßte ich mich; nur huͤtete ich mich, ihr in die Augen zu sehen, denn ich fuͤhlte, daß mein Gesicht
gluͤhte. — Auch sahe ich jetzt nicht mehr das leidende — sondern das willige, ausschweifende Weib. Aber diese Denkungsart verschwand bald, nachdem ich naͤher von ihrer schlimmen Lage unterrichtet war, und mein Mitleid wuchs bis zu einer erstaunenden Hoͤhe.
O wie oft ist mir aus Meißners Gedicht: Noch hab' ich nie gefunden, die meine Seele sucht, die Stelle daraus eingefallen, die so ganz fuͤr mich paßte:
Sah' manches holde Weibchen verknuͤpft mit Alberts Hand; beseufzte sie und bebte fuͤr meine Ruh und schwand. Schwand hin, wie Fruͤhlings Woͤlkchen am Himmel leis' entfliehn; denn in des Mitleids Naͤhe sah' ich die Liebe gluͤhn — Wie wahr die letzten Strophen, und wie treffend fuͤr mich. Ja, fliehn haͤtte ich sollen, aber ich blieb — und mein weiches Herz riß mich hin und jetzt seh' ichs erst ein, wie wahr Gellert geschrieben:
Oft kleiden sich des Lasters Triebe, in die Gestalt erlaubter Liebe und du erblickst nicht die Gefahr? Ein langer Umgang macht uns freier, und oft wird ein verborgnes Feuer, aus dem, was anfangs Freundschaft war.
Der Sonntag kam, und mit klopfendem Herzen ging ich hin. Sie empfing mich mit einer sehr guten Art und nach einigen gewechselten Hoͤflichkeiten fing sie ihre Erzaͤhlung an: Um das schwerfaͤllige in der Erzaͤhlung zu meiden, will ich sie selbst reden lassen:
Jch habe, fing sie an, meinen Mann bloß aus Verzweiflung geheirathet, um der uͤblen Begegnung meines schlechten Bruders zu entgehen. Jch habe viel gute Vorschlaͤge gehabt, aber mein Bruder, der lieber gesehen haͤtte, wenn ich gestorben waͤre, damit sein Erbtheil desto groͤsser geworden, wußte sie alle zu hintertreiben. Jch wurde mit meinem jetzigen Manne bei einer Hochzeit bekannt, und da seine Brust dazumal noch nicht so uͤbel war, als jetzt, so ließ ich mir seine Antraͤge, mich zu heirathen, gefallen. Jch konnte, wenn ich heirathete, auf 70 Rthlr. Rechnung machen, denn von meinen Eltern hatte ich wenig zu hoffen. Er hatte kein Vermoͤgen, und da er sich sehr gut stellte, so beschloß ich, das Geld zu seiner Etablirung und zur Erlegung der gewoͤhnlichen Gebuͤhren zu seiner Aufnahme ins Metier herzugeben. Man verwarf sein erstes Meisterstuͤck, und da ich schon 40 Rthlr. darzu geliehen hatte, so mußte ich mich zu einem zweiten entschließen. Mein Bruder wendete nun alles an, um unsere Verbindung zu hintertreiben und suchte mir ihn auf alle moͤgliche Art verhaßt zu machen; allein ich war hart-
naͤckig und setzte es durch. Schuldig war ich einmal; wie wollte ich das Geld bezahlen, wenn ich ihn nicht nahm? Jch fing also meinen Ehestand mit Schulden an. Wir lebten so einige Jahre, ohne hinlaͤngliche Arbeit zu haben; wir mußten also noch immer zusetzen, und also immer tiefer in Schulden gerathen. Unter der Zeit gerieth seine Gesundheit immer mehr in Abnahme, und er wurde von Tage zu Tage eigensinniger, so wie er es auch noch jetzt ist. Nichts kann ich ihm mehr recht machen; alles tadelt er, ist ihm verdrießlich, und da ich von meinen Eltern eben nicht zu großen Geschicklichkeiten bin angehalten worden, so hat er zwar freilich in manchen Stuͤcken recht; allein er hat ja dieß gewußt, denn ich hab' ihm kein Geheimniß daraus gemacht. Jetzt anstatt mir meine Fehler in Guͤte zu sagen, thut ers mit den haͤrtesten Worten, wirft mir meine Unwissenheit in vielen haͤußlichen Dingen des Tages zwanzigmal vor, und nie wird er wieder gut, als wenns Abend werden will. — Also liebt er mich nur, wie man eine H** liebt; so lange er seine Triebe befriedigen kann, so ist er ruhig und gelassen, und des Morgens geht meine Qual von neuem an. Am Tage verlangt er die strengste Unterwuͤrfigkeit und auch wohl Ehrerbietung — und des Nachts erzaͤhlt er mir seine vorigen Liebschaften; nennt sie alle nach der Reihe her, und hat mir sogar gestanden, daß er schon einmal sei angelaufen. — Wie
kann ich, fuhr sie fort, Liebe und Hochachtung haben, da er mich wie seine Sclavin behandelt, mir seine Ausschweifungen entdeckt, und sich damit groß macht, und ich nun die Folgen seiner ausschweifenden Lebensart durch seinen Eigensinn und muͤrrische Laune buͤssen muß? — (Hier konnte sie sich der Thraͤnen nicht mehr enthalten.) Er hat mich, fuhr sie fort, als ein reines unschuldiges Maͤdchen erhalten; denn ich bin fast zu einfaͤltig erzogen worden. Durch ihn hab' ich meine Unschuld verloren. Wenn ich jetzt an diejenigen denke, die ich geliebt habe, ordentliche, gesunde und bemittelte Leute, und denke dann an meinen Mann, koͤnnen Sie sich da wundern, wenn der Gram tief in meinem Herzen steckte. Jetzt haben wir nun zwar huͤbsche Arbeit, allein wir stecken noch tief in Schulden, und wenn wir auch einige Thaler beisammen haben und ich dringe darauf, Schulden zu bezahlen, so will er nicht daran und wirft mir bei jedem Bissen Brod, den ich genieße, vor: ich koste ihm so viel. Oft laͤßt er mich mit meinem Kinde halbe Tage allein, laͤßt mir 6 Pf. zuruͤck, und er verzehrt 3 bis 4 Gr. Dadurch hat er mich zur Diebin gemacht, weil ich mein Kind unmoͤglich Noth leiden lassen kann. Jch schlage ihm daher, wo ich es moͤglich machen kann, alles etwas hoͤher an, und wenn ich hieran Unrecht thue, so verzeihe mir's Gott! (Hier weinte sie wieder.) Kommt er denn einmal dahinter, so koͤnnen Sie sich leicht
vorstellen, wie er mit mir verfaͤhrt. Jndessen hat er mich noch nie geschlagen, weil ich ihm geschworen habe, gleich von ihm zu gehen, sobald er eine Hand an mich legt; auch mag er sich wohl vor mir fuͤrchten. Keinen Freund hab' ich, dem ich meine Noth klagen kann, und meine Blutsverwandte goͤnnen mirs. Kurz, mein Leben ist das ungluͤcklichste, was man sich nur denken kann. Jetzt schwieg sie stille.
Meine ganze Seele war erschuͤttert und mein Haß und meine Verachtung stieg in eben demselben Augenblick gegen dem Urheber ihrer Leiden so hoch, als das Mitleid gegen sie. Jch troͤstete sie so gut ich konnte; ermahnte sie zur Geduld, als ihrer vornehmsten Pflicht, und ich kann sagen, daß ich dazumal noch keinen Funken von Anspruch empfand. Mitleid war jetzt die herrschende Empfindung meiner Seele und durch meinem Kopf fuhr eine Menge Projekte, die alle fuͤr ihr Wohl abzweckten. Aber —
Vielleicht, sagte ich zu ihr, warten noch kuͤnftig Freuden auf sie. Nein, war ihre Antwort, darauf warte ich nicht, denn stirbt er uͤber lang oder kurz, so hinterlaͤßt er mir Schulden, und wer wird sich heut zu Tage an eine arme Wittwe machen, die im Ruf steht, als habe sie sich in ihrer Ehe nicht gut vertragen? Stirbt er bald (und wie kann ich ihm ein langes Leben zutrauen, da sein Blutspeien und Husten taͤglich zunimmt) so
ists mir wohl, (denn ich laͤugne es nicht, daß ich es wuͤnsche) so verkauf ich, was ich habe, bezahle meine Schulden und gehe mit meinem Kinde in die weite Welt hinein. Jch bin noch jung, stark, und wovor ich Gott vorzuͤglich danken muß, bei allen meinem Kummer und Gram immer gesund. Jch kann mich also wohl noch mit meiner Haͤnde Arbeit ernaͤhren; Jch bete dann fleißig (denn auf Gott hab' ich mein ganzes Vertrauen gesetzt) und dann gehe es, wie es will. Daß ists eben, fuhr sie fort, daß kein Seegen bei uns ist. Denn den ganzen Tag wird geflucht und gezankt! kein Buch, keine Bibel nimmt er in die Hand. Will ich vor oder nach Tische beten, so will er nicht. Bete ich Morgens und Abends, so spricht er: Bete lange, Gott wird Dir nichts vom Himmel werfen, arbeite, verdiene etwas. Sage ich dann: womit soll ich was verdienen; soll ich denen Gehoͤr geben, die mir so oft Anleitung gegeben haben, Dir untreu zu werden, so kann ich Geld verdienen — Hier schweigt er still, und ich glaube immer, er naͤhme es stillschweigend mit an, wenn ich ihm nur viel erwuͤrbe. Diese Anmerkung ist mir in der Folge auch wahrscheinlich geworden. Singe ich ein Lied, so sagt er: sing nur nicht immer, wenn ich komme oder zu Hause bin, und so geht das bestaͤndig. Wunder war es nicht, ich haͤtte schon oft verzweiflende Mittel ergriffen.
Es schlug neun Uhr, als sie mit ihrer Erzaͤhlung zu Ende war, und nun bat sie mich, mich zu entfernen. Jch that es, nachdem ich ihr noch einmal voͤllige Verschwiegenheit angelobt, und sie meiner fortdaurenden Freundschaft und nahen Antheils an ihren Schicksaalen versichert hatte. Meine Empfindungen waren verschieden, mit welchen ich mich wegbegab. Der Wunsch: die Ruhe in dieser Familie hergestellt zu sehen, war der erste, ob ich gleich die Schwierigkeiten dabei einsahe. Freilich war Dulden fuͤr sie das Beste, aber wie konnt' ichs andern anrathen, da ich selbst Zweifel dagegen hatte. — Und endlich verdraͤngte diese Empfindung bald eine andere, die wahrscheinlich aus dem hohen Grad von Abscheu herfloß, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte. Jch habe das uͤberhaupt oft bei mir bestaͤtiget gefunden, daß mich eine veruͤbte Beleidigung an andern in der Folge dann am heftigsten reute, wenn mir der Beleidigte als ein edler Mensch erschien. Je mehr ich von seiner Tugend, Unschuld und gutem Herzen uͤberzeugt war; je weniger war mir's moͤglich, ihm auf die geringste Art zu nahe zu treten, und je heftiger war dann meine Angst, wenn ichs (auch ohne Absicht) gethan hatte. Das heißt: ich mache mir mehr Gewissen, einen Rechtschaffenen als einen Niedertraͤchtigen zu beleidigen. Das ist diejenige Empfindung, die desto staͤrker ward, je mehr sich meine Seele alles das Schlechte in dem Betragen
dieses Mannes, anschaulich machte. Eine gewisse Rachbegierde, die aus dem Zorn herkam, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte — flammte die glimmende Asche zum Feuer an. Diese vergesellschaftete sich mit den sinnlichen Empfindungen, und nun war es moͤglich, daß ich mich ganz leicht uͤberredete: es wuͤrde keine so grosse Suͤnde seyn, wenn man einem Menschen ein Gut entriß, der es nicht zu schaͤtzen wuͤßte.
Jndessen kann ich auch zu meiner eignen Rechtfertigung sagen: Nie hab' ich den Zwiespalt zwischen beiden, unterhalten, genaͤhrt, zu meinem Nutzen angewendet. Nein, dieß Zeugniß giebt mir mein Herz: ich habe immer zum Frieden geredet. Jch sagte ihr oft: daß sein Eigensinn eine Folge seiner geschwaͤchten Gesundheit sei, daß er keinesweges so Herr seiner Leidenschaften seyn koͤnnte, als ein Gesunder, dessen Nerven nicht geschwaͤcht, und also nicht solcher schnellen Erschuͤtterungen faͤhig sei. Vieles muͤsse sie also uͤbersehen, und sobald sie sich gewoͤhnte, manches zuzudecken, manches gelinder zu erklaͤren, so bliebe nur noch ein kleiner Theil zu tragen uͤbrig. — Er, der es ihr aufgelegt haͤtte, wuͤrde es erleichtern helfen.
Freilich war eine vernuͤnftige Vorstellung auch ein kleines Mittel, daß er etwas besser mit ihr umgegangen waͤre, allein da ich wußte, wo der Grund lag, daß das Uebel bereits unheilbar sei, zudem
sich zwischen Eheleute zu mischen, ohne eine gewisse Verbindlichkeit zu reden zu haben, auch eine sehr delikate Sache ist, und uͤberdem von seinem Charakter wahrscheinlich urtheilen konnte, daß er wenig Widerspruch vertragen wuͤrde, so ließ ichs dabei bewenden, bloß ihr willige Ertragung ihrer Leiden anzurathen.
Man erlaube mir, ehe ich meine Geschichte weiter fortsetze, daß ich einige Zweifel gegen die allgemeine Guͤte und Vorsehung Gottes, worauf ich durch das Schicksaal dieser Ungluͤcklichen gebracht wurde, darlege. Zuerst fiel ich auf das gewoͤhnliche Sprichwort: die Ehen werden im Himmel geschlossen. Jst dieses ohne die geringste Einschraͤnkung wahr, so findet eine Vorherbestimmung statt; so mußte der Bruder just immer das Werkzeug werden, wodurch eine vielleicht gluͤckliche Verbindung nicht an sie kommen durfte; so mußte sie am Ende aus Verzweiflung diesen Menschen heirathen. Und das ist die sogenannte Freiheit des Menschen? Es scheint ja wirklich, als wenn die Freiheit zu handeln, nur so lange statt faͤnde, als sie dem Laufe des Ganzen nicht hinderlich faͤllt. Also eine Vorsehung uͤbers Ganze und nicht uͤber jeden einzeln Theil? O du Ungluͤcklicher! so ist dein Vertrauen auf Gott in den ungluͤcklichsten Lagen deines Lebens nur so lange anwendbar, als deine Huͤlfe, oder die Aendrung deines Schicksaals, das du erwartest; oft unter Gebet und Thraͤnen
von Gott zu erringen glaubstglaubt, dem Ganzen nicht hindert. — Bis denn endlich der Lauf der Dinge es zulaͤßt, daß durch Aufopferung vieler Tausende, dein Gebet erhoͤret werden kann. Ungluͤcklicher Vorzug! auf die Gluͤckstruͤmmer meiner Bruͤder, mein eignes zu gruͤnden! — Mein Herz kann sich unmoͤglich mit diesem Gedanken vertragen. Womit hatte es denn die Ungluͤckliche verschuldet, daß ihr dieses schwere Kreuz aufgelegt wurde? Ein Kreuz, daß nicht ertraͤglich gemacht werden konnte, als durch Verbrechen. — So durchkreuzen sich die Schicksaale der Menschen: die Suͤnden des Einen, ziehn Suͤnden des Andern nach sich. Auf wem liegt nun die Schuld, und wer soll sie tragen? Wo soll die Kraft herkommen, wenn sie Gott nicht giebt? »Standhaft dulden und — schweigen; keinen Fuß breit von seiner Pflicht abweichen, Gott um Unterwerfung, um Aendrung seines Schicksaals anflehen und gelassen dieselbe erwarten — Das lehrt die Religion bei schwerem Kreuz.«
Gut! aber wollen Sie noch einige meiner Zweifel anhoͤren, die selbst die Erfahrung und der Begriff von Gott und seinen Eigenschaften zu bestaͤtigen scheinen?
Dulden. Thut Gott jetzt noch Wunder? und waͤr es nicht Wunder, wenn das rasche, feurige Temperament auf einmal bis zu einer gewissen Traͤgheit, ohne vorhergegangne andere Umstaͤnde,
herabgestimmt wuͤrde? Und mich duͤnkt, zum Dulden wird ein gewisser Grad von Ruhe im Blute erfordert; folglich ist es schon physisch unmoͤglich, daß das angegebne Temperament bei den schrecklichsten Ereignissen des Lebens, gelassen seyn sollte. Hieraus folgt aber auch, daß wenn Gott keine Wunder mehr thut, — erst Jahre verstreichen muͤssen, die alles Schreckliche menschlicher Schicksaale in sich begreifen, wodurch der Ausbruch der Ungeduld, oder die Kuͤhlung des Bluts bewirkt wird, und die so lang erbetene Geduld dann eine Folge davon ist. Ein Grund, warum, sobald wir keine Wunder annehmen, die das im Augenblick bewirken, was erst die Frucht vieler Jahre ist, der Hoͤchste nicht so unbefangene Gebete erhoͤren kann. —
Jch sage nicht, daß mir diese Gedanken alle zum hoͤchsten evident sind. Es sind Zweifel; nichts mehr als Zweifel: keine ausgemachte Wahrheiten, und ich bitte auch, die folgenden so zu betrachten, denn ich bin bereit, sie abzulegen, sobald mich ein Freund der Wahrheit eines bessern belehrt.
Unterwerfung unter den Willen des Ewigen ist bei vielen oft ein Werk des Zwangs; nur bei einigen (und auch bei denen habe ich selten heftige Leidenschaften angetroffen) ein Werk der Ueberzeugung, wozu sie besonders ihr kaͤlteres Blut faͤhiger machte, als jene. —
Vertrauen auf die goͤttliche Huͤlfe ist im Grunde nichts anders, als: Hofnung der baldigen Aendrung seines Schicksaals. Diese verschwindet bald, wenn das Uebel zu lang anhaͤlt; wenn diese Hofnung zu oft taͤuscht; wenn jede Aussicht sich nur zeigt und dann — schnell wie Morgennebel verschwindet. Dadurch wird das Vertrauen zu Gott geschwaͤcht — und mich duͤnkt, wir verlangen zu viel von einem Menschen, wenn wir diese angenommene vornehmste Eigenschaft des Gebets von ihm verlangen, der in seinem ganzen Leben wenig auffallende Beweise einer besondern goͤttlichen Fuͤrsorge, einer solchen Staͤrkung seines Glaubens, aufzuweisen hat, die auch bei einem Abraham erst vorgehen mußten, ehe Gott das grosse Opfer — von ihm fordern konnte.
Jch bemerk' es jetzt deutlich, daß Jahre lang anhaltende Leiden die menschliche Seele muthlos machen.
Dieses Vertrauen wird noch durch andere Zweifel geschwaͤcht. Mir scheint es ganz unnoͤthig, und selbst der Ehre Gottes zuwider, daß ich ihn um etwas bitten soll. Weiß er, als der Allwissende, denn nicht, was mir mangelt? Oder ist er (verzeih Allbarmherziger, wenn ich irre!) zu hart, oder so ehrbegierig, daß ich ihn erst durch vieles Bitten erweichen und bewegen muß, mir seine Wohlthaten zufließen zu lassen? Und verdunkelt das nicht seine goͤttlichen Eigenschaften? Jst
der Fuͤrst nicht (menschlich davon zu reden) edler und guͤtiger, der seinen Freunden und Unterthanen mit seiner Gnade zuvorkommt, als der, der um jede Kleinigkeit erst einen Fußfall verlangt? Ehre ich daher Gott nicht mehr, wenn ich ihn fuͤr denjenigen Herrn halte, der mir ohne mein Gebet alles Gute zuwendet, und mein Gebet nicht verlanget noch erwartet, ausser den Ausbruͤchen der Dankbarkeit und des Lobes? denn diese geben wir Menschen, die uns Wohlthaten erwiesen haben; wie viel mehr sind wir sie Gott schuldig, von dem wir alles haben.
Allein hiermit ist ja noch nicht die Verheissung erklaͤrt, die das Evangelium Jesu mit dem Befehl zu beten verbindet. Dieses verspricht eine Erhoͤrung und stellt das Gebet als eine Sache vor, die den Hoͤchsten beweget, uns etwas zu geben, welches er uns sonst nicht wuͤrde gegeben haben. Und streitet das nicht geradezu mit der Unveraͤnderlichkeit der goͤttlichen Rathschluͤsse, die er gewiß schon von Ewigkeit her faßte? Denn wenn er seine Rathschluͤsse aͤndert, so kann ihn etwas gereuen; und ist er dann der vollkommene Gott, der keinen menschlichen Leidenschaften unterworfen ist? Sind aber die Rathschluͤsse Gottes unveraͤnderlich, so koͤnnen sie auch durch mein Gebet nicht veraͤndert werden; im Fall es der Ewige nicht von Ewigkeit her beschlossen hat, mir zu einer festgesetzten
Zeit zu helfen: und das ist doch immer ausser der Sphaͤre menschlichen Wissens. —
Dieß sind meine Zweifel in Ansehung einer besondern Vorsehung und des Gebets, wozu mich sowohl mein eignes als das Schicksaal dieser Ungluͤcklichen brachten. Jch konnte sie nicht uͤbergehen, weil sie zur Geschichte meines Lebens nothwendig gehoͤren. Jch lege sie mit Freuden ab, sobald sie mir gruͤndlich widerlegt werden; denn ich fuͤhle, daß ich bei allen meinen Zweifeln nicht gluͤcklich bin. — Das Vertrauen auf ein allmaͤchtiges Wesen und der Glaube an eine, auch auf die kleinsten Theile der Schoͤpfung sich erstreckende Vorsehung, hat selbst zu manchen Stunden etwas suͤsses fuͤr mein kummervolles Herz; aber wie gesagt — ohne einen recht sichtbaren Beweiß einer goͤttlichen Vorsehung auch auf mich von aller Welt Verlassenen — duͤrfte sich mein Herz wohl nie zu dem hohen Grade der zuversichtlichsten Hofnung zu dem Herrn meines Lebens erheben, wenn auch mein Verstand durch die buͤndigste Demonstration uͤberzeugt wuͤrde. Eigene Erfahrung wirkt mehr aufs Herz, als alle Vernunftschluͤsse. — Jetzt will ich in meiner Geschichte fortfahren.
Schon hegte ich gegen die Ungluͤckliche wirklich Liebe, die den Wunsch gebahr, immer um sie zu seyn. Aber wie konnte das angehen, da ich unmoͤglich immer ohne Vorwissen ihres Gatten hingehen konnte, ohne ihre und meine Ehre in Ge-
fahr zu setzen. Doch die Gelegenheit dazu bot sich bald dar. Da ich sie einst wieder beide an dem Orte traf, wo ich sie hatte kennen lernen, so suchte ich ihm Rede anzugewinnen. Jch hatte gehoͤrt, daß er gern Buͤcher von gewoͤhnlicher Art las; ich lenkte daher das Gespraͤch dahin. Er wurde bald gespraͤchig. Jch versprach ihm einige Buͤcher nach seinem Geschmack zu verschaffen, und — er bat mich zu sich.
Auf eine so leichte Art hatte ich nun meinen Zweck erreicht. Kurz darauf wurde die Witterung schlechter, das Spazierengehen wurde eingestellt; die Abende wurden laͤnger und — Langeweile blieb nicht aus. Jch bat ihn daher, daß er mir erlauben moͤchte, ihn des Abends besuchen zu duͤrfen, und er war es sehr gern zufrieden. Jch hatte neben meiner Liebe noch einen Endzweck: ich wollte sie beide in ihrem haͤuslichen Verhaͤltniß — naͤher beobachten, um wo moͤglich bei ihren Zwisten ein Wort des Friedens zu reden. Die Gelegenheit dazu blieb auch nicht lange aus, aber ich wurde auch uͤberzeugt, daß ich mich in meinem vorigen Urtheil: daß er schien, wenig Widerspruch vertragen zu koͤnnen, nicht geirrt hatte. Jch war kaum dreimal da gewesen, als sich sein hitziger ungestuͤmer Charakter schon aͤusserte. Sie schwieg mehrentheils stille, und wenn sie dann einmal sich regte, so gerieth er in eine solche Wuth, daß ich mich immer weit wegwuͤnschte.
Acht Abende hinter einander war er zu Hause; vermuthlich Wohlstandes wegen, und nun — ging er wieder in Gesellschaft und ich und seine Gattin waren mehrentheils allein. Jch blieb denn gemeiniglich da, bis er wieder kam, und kam er denn, so war er freundlich und gespraͤchig. Jch wußte nicht, was ich zu diesem Betragen denken sollte; seine Freundlichkeit schien mir zweideutig — wenigstens wars wider meinen Begrif von Ehe, einen Fremden, den ich noch nicht weiter kenne, zu ganzen Stunden bei meiner Gattin zu wissen, mit der ich so gespannt lebe. Entweder (so erklaͤrte ich mirs) Eigennuz war bei ihm staͤrker als Eifersucht, oder er hatte zu viel Eigenliebe, die ihn immer uͤberredete: ein anderer koͤnne sich nicht in den Besiz eines Herzens setzen, worinnen er (vielleicht) unumschraͤnkt herrsche. Aber er kannte das menschliche Herz nicht. Konnte denn das oͤftere Alleinsein gegruͤndet auf ein reges Mitleid, eine andere Folge haben, als Liebe? Eine junge Frau, die von Natur munter war und das gesellschaftliche Leben liebte, mußte ich der nicht nach und nach unentbehrlich werden, da ich ihr durch Vorlesen und Discuriren, durch Trost und guten Rath die Langeweile vertrieb, und sie ihr Elend auf eine Zeitlang vergessen machte? Jch war ungluͤcklich; sie auch. Sie hatte keine Freundin, gegen die sie ihren Kummer haͤtte ausschuͤtten koͤnnen; ich keinen Freund, von allen Lebendigen verlassen: wars Wun-
der, wenn uns dieß noch fester zusammenband? Nur der, der selbst so ungluͤcklich, so von allen fremden Antheilnehmen an seinem Leiden entfernt gewesen ist, als ich, und wenn er dann irgend ein menschliches Wesen findet, das ihm ohnedem nicht gleichguͤltig ist — das dann einen Theil seiner Last tragen hilft; an dessen Busen er sein Elend vergessen kann, nur der wirds mir glauben, wie mit beiden Haͤnden er nach der Gelegenheit hascht, sie fest haͤlt, und — sie so gut benutzt, als er kann. -—
Ueberdem fand ich auch an ihr eine gewisse Aehnlichkeit mit mir, in Ansehung des Herzens. Sie fand ihr groͤßtes Vergnuͤgen darinnen: dienstfertig gegen jeden und aͤusserst mitleidig gegen Arme zu seyn. Freilich war dieß nicht Tugend, es war Temperament. Bei ihren guten Handlungen war sie etwas eitel, und verrichtete sie mit einigem Geraͤusch. Allein das war Fehler der Erziehung: denn man hatte sie in ihren juͤngern Jahren oft gelobt, wenn sie irgend einem Armen etwas gab; das war ihr nun so zur Gewohnheit geworden ----------
(Hier ist durch Zufall ein Blatt Mspt. verloren
gegangen.)
Jch habe mich nicht uͤberwinden koͤnnen, meiner Freundin diese meine letzte fehlgeschlagne Hofnung zu hinterbringen. Und doch waͤr es in der Folge vielleicht besser gewesen. Nun traue ich keiner Aussicht mehr, denn ich bin zu oft getaͤuscht.
Der Winter verstrich beinahe, aber die letzte Zeit, (o koͤnnte ich diese Tage wieder zuruͤckrufen) nicht mehr so schuldlos — Erlassen Sie mir eine Beschreibung, die mich zu sehr beugt; denn ich fuͤhle jetzt die Folgen desselben. — Jch bin gestraft dafuͤr, schrecklich gestraft. Der Himmel hat sich meiner Armuth bedient, um meine Schande der Welt vor Augen zu legen. Jch wollte eine Ungluͤckliche retten, und sie wurde durch ihre Liebe gegen mich noch ungluͤcklicher. Noch waͤr sie zu retten, aber — meine bittre Armuth! O faͤnde sich doch ein Menschenfreund, der sich meiner erbarmte, und mir ein Plaͤtzchen auf Gottes grosser Welt anwieß; vielleicht koͤnnte ich meine traurigen Erfahrungen zum besten meiner Mitbruͤder nutzen. —
Das uͤbrige Detaillirte meiner Geschichte interessirt keinen, als mich — Auch muß ichs, da ich unmoͤglich mich noch kenntlicher machen kann, verschiedener anderer Personen wegen, verschweigen.
III. Ein Korbmacher, der oftmals, gleichsam in einer Betaͤubung, ausnehmend erwecklich prediget.
Varnhagen, J. A. T. L. Wetterburg den 3ten October 1784. Johann Conrad Mohk, in Buhlen, einem im Fuͤrstlich-Waldeckischen Amt Waldeck liegenden
geringen Dorfe, wohnhaft, wo er auch am Ende Novembers oder im Anfang December 1709 ehelich geboren worden*)*) Er wurde am 2ten December 1709 getauft.
, ist der Mann, mit dem ich das Publikum bekannt machen moͤchte, da er noch zur Zeit in einem 75 jaͤhrigen Alter lebet, folglich ein jeder noch im Stande ist, sich von der Wahrheit meiner Angaben weiter zu uͤberzeugen. Jch bin von 1777 bis 1780 viertehalb Jahr in der Stadt Waldeck, davon jenes Doͤrfchen nur eine halbe Stunde entfernet ist, Rektor, und zugleich Pastor zweyer nahegelegenen Doͤrfer gewesen. Dieses hat mir Gelegenheit gegeben, den Mann genau kennen zu lernen, von dem ich hier rede. Er fuͤhrt ein unbescholtenes christliches Leben, und hat in seinem niedrigen Stande ein wuͤrklich ehrwuͤrdiges Ansehen. Sein bescheidenes Wesen, sein guter natuͤrlicher Verstand, vermoͤge dessen er im gemeinen Umgange mit jedermann wohl zu reden weiß, sein offenes ehrliches Gesicht, seine im Alter noch gerade Statur, seine grauen Haare: alles dieses nimmt fuͤr ihn ein. Wahrscheinlich ist in ihm ein guter rechtschaffener Prediger der Kirche verdorben, der wohl manchen seiner Zeitgenossen an Geschicklichkeit weit uͤbertroffen haben wuͤrde. Er naͤhret sich hauptsaͤchlich vom Korbflechten und Strohdachdecken, und lebt in einer unfruchtbargebliebenen Ehe. Was ihn aber vor vielen tau-
senden seines Gleichen merkwuͤrdig macht, ist: er predigt gar oft, zuweilen innerhalb vierundzwanzig Stunden drey- und mehrmal, und zwar sowohl bei Nacht als bei Tage, sowohl zu Hause als unterwegens und an einem fremden Ort, sowohl unter dem zahlreichsten Umstande (wenn es nicht zu aͤndern ist) als wann er allein ist. Jnsonderheit wird er, und, wie es scheinet, wider seinen Willen, zum Predigen getrieben, wenn er nur ein halbes Kaͤnnchen (das ist fuͤr drei Pfennige) Brantwein, ja noch weniger, genossen hat*)*) Er ist, wie man schon hieraus abnehmen wird, dem Trunke nicht ergeben; daher kann man mit einer solchen Kleinigkeit von Brantwein ihn nach Gefallen zum Predigen bringen. Seine Nerven muͤssen aber auch sehr reizbar seyn; sonst waͤre jenes wohl nicht moͤglich.
. Kommt ihm der Trieb zum Predigen an, so merket er es kaum eine Minute vorher: es scheinet ihm angst und das Herz beklemmt zu werden, und er sucht sich alsdann eilends von menschlicher Gesellschaft, soviel als moͤglich ist, zu entfernen, und setzet sich geschwind nieder. Seine Vortraͤge, derer ich mehrere und uͤber unterschiedliche biblische Texte angehoͤret habe**)**) Daß er nicht bloß Eine, sondern mehrere Predigten haͤlt, weiß und sagt er selbst. Jch habe dieses ebenfalls bemerket. Am 25sten Mai 1779 hoͤrete ich ihn uͤber Matth. 10, v. 16. Seid klug, wie etc. predigen: und da ich am 1sten Junii dieses laufenden Jahres 1784 zu Waldeck war, vernahm ich, daß er an letztgenanntem Tage ebenfalls uͤber jenen Spruch eine Predigt, vermuthlich also auch ebendieselbige, gehalten habe. Auf meiner Stube ließ ich ihn am 24sten Mai 1780 predigen, nachdem ich ihm kaum ein halbes Kaͤnnchen Brantwein hatte reichen lassen: und er predigte damals uͤber Apost. Gesch. 20, v. 27. Jch habe euch nichts etc. Mehrmals bin ich sein Zuhoͤrer geworden, wann er schon vor einigen Minuten zu predigen angefangen hatte. Thema und kuͤnstliche Disposition habe ich niemals vernommen, sondern er haͤlt wahre paraͤnetische Vortraͤge, nur ungefaͤhr eine Viertelstunde lang, auch wohl etwas daruͤber.
, sind Bußpredigten oder Er-
mahnungen zur Besserung der Gesinnungen und des Betragens. Seine Aussprache dabei ist sehr angenehm und der Sache, die er vortraͤgt, angemessen, deutlich, mehrentheils sanft und erweichend. Er bedenket sich nicht auf das, was er sagen will; auch stottert und stocket er nicht. Wo etwas ruͤhrendes vorkommt, weinet er auf eine anstaͤndige Weise. Nachdem er die Predigt mit Amen geschlossen hat, so betet er das Vater Unser etc. und der Herr segne uns etc. Zuweilen lasset er auch den Segen weg. Waͤhrend seinem ganzen Vortrag sitzet er in einer Art von Betaͤubung; hat die Augen starr offen, ohne zu sehen, wer oder was vor ihm ist; geraͤth dabei in einen Schweiß und in Engbruͤstigkeit, ob er gleich weder sehr laut noch lange redet; und wenn alles geendiget ist, scheinet er sehr ermuͤdet, schoͤpfet tief Athem, und erholet sich nur langsam wieder. Nachdem er wieder zu
sich selber gekommen ist, bedauert er gegen die Umstehenden, daß sein schlechter Vortrag wohl von manchem moͤge verspottet werden: und bezeuget dabei zu seiner Entschuldigung, er koͤnne es nicht zuruͤckhalten.
Dieses ist das Faktum selbst. — Nun will ich aber auch zur Aufloͤsung dieser sonderbaren Erscheinung einige Data mittheilen.
Als ich eine seiner Predigten am 25sten Mai 1779 angehoͤret, und durch nachherige freundliche Unterredung sein Zutrauen gewonnen hatte, erzaͤhlete er mir in Ausdruͤcken, die das Gepraͤge der Aufrichtigkeit hatten : der im Jahr 1740 verstorbene Conrektor Brumhard zu Niedern-Wildungen habe einstmals auf einen Sonntag fuͤr den Pastor zu Afholdern, wohin Buhlen eingepfarret ist, geprediget. Die Predigt sei besonders erwecklich und eindringend gewesen, und er durch selbige dermassen geruͤhret worden, daß er waͤhrend derselben bis zum Ausgang aus der Kirche geweinet habe. Jn der naͤchstfolgenden Nacht habe er im Schlaf die angehoͤrete Predigt mit lauter Stimme wiederholet; seine noch lebende Ehegattin*)*) Dieser Johann Conrad Mohk wurde zu Buhlen am 3ten Julii 1732 mit Maria Margarethen Rien ehelich verbunden. Der Anfang seines Paroxysmus faͤllt folglich zwischen dieses 1732ste und das 1740ste Jahr.
sei daruͤber aufgewacht, und habe sich bemuͤhet, ihn
aufzuwecken, welches aber vergeblich gewesen sei; denn er sei an Hersagung der Predigt und im Schlaf geblieben. Da alles vorbei gewesen und er wieder stille geworden sei, habe seine Gattin ihn gefragt: Wie ihm sey? Worauf er erwiedert habe: Gut! Hiernach habe sie ihm in grosser Bestuͤrzung erzaͤlet, was mit ihm vorgegangen sei. Davon habe er aber nichts gewußt. Und seitdem muͤsse er oft predigen, ohne daß er wisse, wie er dazu komme.
Man merket an ihm nichts Schwaͤrmerisches, als ob er seine Predigten fuͤr etwas Uebernatuͤrliches hielte: und eben so wenig bildet er sich darauf ein. Betrug und Verstellung kann, nach allen Umstaͤnden, hierbei, meines Erachtens, auch nicht vermuthet werden; zumalen, da er dadurch nichts zu gewinnen suchet, und in so langer Zeit nichts gewonnen hat, weder an Ehre noch Gut.
Mit Schrifterklaͤrungen giebt er sich niemals ab; sondern seine Vortraͤge sind aus den noͤthigsten und bekanntesten Religionswahrheiten und deutlichen Spruͤchen der Bibel, welche er nach dem Kapitel ordentlich citiret, leicht zusammengesetzet, und eben deswegen fuͤr jedermann sehr faßlich; gleichwohl fehlet es ihnen nicht an Zusammenhang, doch ohne ins Aengstliche zu fallen. Und in dieser Ruͤcksicht sind seine Vortraͤge wahre Muster fuͤr Dorfprediger.
Ueberdieß habe ich bemerket: Der Mann besitzet ein besonders gutes Gedaͤchtniß; denn er weiß noch ganze Stuͤcke aus den im Jahr 1728 gehaltenen Leichenpredigten auf die kurz nacheinander verstorbenen beiden Fuͤrsten von Waldeck, Friedrich Anton Ulrich und Christian Philipp. Ausserdem aber muß er auch eine sehr lebhafte Einbildungskraft haben, wie aus dem erwaͤhnten Vorgang, da er die angehoͤrte Predigt im Schlaf laut wiederholet hat, abzunehmen ist.
Varnhagen, Johann Adolph Theodor Ludwig J. A. T. L. Varnhagen, Pastor zu Wetterburg bei der Fuͤrstl. Waldecki-
schen Residenz Arolsen.
IV. Eine Ungluͤcksweissagung.
Ulrici Jch hatte einen Freund, der eine Viertelmeile von mir wohnte, mit dem ich meine angenehmen und widrigen Schicksaale theilte, einen Mann von sehr gesunden Leibeskraͤften und einer heitern und lebhaften Seele.
Wir kamen, wenn es irgend unsere Amtsgeschaͤfte verstatteten, wenigstens die Woche einmal zusammen, ja es schien uns beiden etwas zu fehlen, wenn wir uns in acht Tagen nicht gesehen hatten.
Jn den letzten vier Wochen vor seinem Ende aber sprach er bei jeder Zusammenkunft von seinem sehr nahe bevorstehenden Tode.
Den Dienstag vor Pfingsten im Jahr 1776 kam er des Morgens ganz fruͤhe zu mir und sagte: Freund, sind Sie heute von wichtigen Geschaͤften frei, so bleibe ich den ganzen Tag bei Jhnen, vielleicht ist es das letztemal, daß ich zu Jhnen komme.
Jch bringe Jhnen daher meinen Leichentext und einige Umstaͤnde von meinem Lebenslauf, die Jhnen nicht bekannt sind, Sie werden mir doch wohl der Gewohnheit nach eine Leichenpredigt halten muͤssen. Nach einigen freundschaftlichen Verweigerungen nahm ichs an.
Noch eins, sagte er: Mein Sohn wird im Feste zu mir kommen und nebst andern Freunden, die Sie schon kennen, auch seine Braut mitbringen, die muͤssen Sie sehen, und mir Jhr Urtheil sagen, ob die Person auch fuͤr ihn sei? Sie muͤssen daher den zweiten Pfingsttag, wenn wir unsere Arbeiten gethan, bei mir zu Mittage essen. Jch versprach, mit meiner Frau zu kommen.
Den ersten Feiertag schrieb er an mich: Freund! es bleibt doch bei ihrem Versprechen, Morgen Mittag zu uns zu kommen? Da ich aber noch einige Amtsverrichtungen habe und zuletzt der H.. nahe bin, meine Kinder aber gern da zu Mittage essen wollen, so habe ich ihnen dieß Vergnuͤgen nicht versagt, und unser Mittagsbrod da besorgt,
aber mit dem Beding, wenn Sie mit ihrer Frau und Sohn uns dahin folgen wollen.
Jch versprach es, und wir entschlossen uns, nach verrichteter Feiertagsarbeit dahin zu reisen.
Den zweiten Feiertag gegen Morgen traͤumt mir, ich wuͤrde von den beiden Kindern meines Freundes nach R.. gerufen, um sie bei ihrem harten Schicksal aufzurichten, da sie in Gesellschaft ihres Vaters nach der H.. gereist und jenseit der G—bruͤcke durch die scheugewordenen Pferde umgeworfen, ihr Vater mit dem Kopf an einen am Wege stehenden Fichtenbaum geschlagen, ihn zerschmettert und er ohne einen Laut von sich zu geben, todt liegen geblieben sei.
Mein Traum versetzte mich sogleich nach R.. in das Haus meines Freundes. Jch fand darin eine ziemliche Anzahl verschiedener aus seiner Gemeine, die ihren Prediger, der bei allen in so grosser Achtung stand, mit vielen Thraͤnen beklagten.
Der damals daselbst wohnende A. R. H. kam mir entgegen und sagte: Ach welcher traurige Anblick ist hier! Jhr Freund ist todt — und es ist gut, daß Sie kommen, wir wissen nicht mehr, was wir mit den Kindern unseres Freundes machen sollen, die uͤber den so ungluͤcklichen Tod ihres Vaters ganz untroͤstbar sind.
Der A. B. kam dazu und fuͤhrete mich zu meinem verungluͤckten Freund, der auf einem Tisch lag, und an dessen Kopf deutlich zu sehen war, daß er
mit dem Kinn auf einen spitzigen Zacken gefallen, der durch den ganzen Kopf gedrungen, und bei der Schlaͤfe wieder herausgekommen war.
Jch suchte die Tochter meines seeligen Freundes und fand sie auf einen Lehnstuhl ohne Trost, den Sohn aber in gleicher Lage, in dem Hause des B. A. R. Fl...
Jch kehrete zu meinem todten Freund zuruͤck, und suchte noch einige, die daruͤber heftig beunruhigt waren, aufzurichten, mir selbst aber floͤssen die Thraͤnen daruͤber aus den Augen, daß ich nicht im Stande war, weiter zu reden.
Jn dieser Lage kam meine Frau vors Bette und weckte mich. Es hat schon sechs geschlagen, sagte sie, wie schlaͤfst Du denn heute so sanft? — Du wirst aufstehen muͤssen, der Wagen wird schon zurechte gemacht, um nach der Kirche zu fahren.
Die Thraͤnen liefen mir noch haͤufig aus den Augen, und ich sagte: Ach welchen traurigen Scenen entreissest du mich! Was ist Dir denn, sagte sie, Du weinst ja? Jch antwortete ihr: ich reise heute nicht nach R... Sie bemerkte meine heftige Unruhe, trocknete mir die Thraͤnen ab, und ließ nicht nach, mich zu bitten, ihr meine Beunruhigung zu erzaͤhlen.
Ja, sagte ich, sogleich, laß mich nur erst aufstehen, und etwas erholen. Jch stand auf, und erzaͤhlete ihr beim Anziehen meinen ganzen Traum, der mir aber selbst immer trauriger wurde, je mehr ich ihn uͤberdachte.
Es blieb indeß dabei, nicht nach R.. zu reisen, und wenn ich mich dazu entschliessen wollte, so uͤberfiel mich jedesmal ein kalter Schauer.
Jch reiste nach meinem Filial und predigte. Aber das Bild meines verungluͤckten Freundes schwebte mir unablaͤssig vor den Augen. Jch kam zuruͤck und predigte auch in hiesiger Kirche, aber noch immer in derselben Unruhe.
Meine Frau, der die Gegend, wo wir zu Mittage essen sollten, so schoͤn beschrieben war, und schon lange gewuͤnscht hatte, sie zu sehen, setzte aufs neue an, mich zu bereden, mein muͤndlich und schriftlich gegebenes Wort — und noch dazu um eines Traums willen, nicht so leicht zu uͤbersehen — auch waͤre die Kuͤche schlecht besorgt, da sie nicht geglaubt, daß wir zu Hause essen wuͤrden.
Aber ich war dießmal — und vielleicht zum erstenmal in meinem Vorsatz unerbittlich und uͤberwand alle die Vorwuͤrfe, die ich mir groͤßtentheils selbst machte, mit einer Art von Hartnaͤckigkeit, in der ich dießmal nur allein einige Beruhigung fand.
Jch wollte einigemal fortschicken, um meinen Freund zu warnen und mich zu entschuldigen, ich wußte aber nicht, wo er anzutreffen seyn wuͤrde? Und ausser den schon erwaͤhnten und mir selbst gemachten Vorwuͤrfen hielt mich das Gespoͤtte eines Mannes zuruͤck, von dem ich wußte, daß er mit
in der Gesellschaft seyn wuͤrde, der mir in vielen Stuͤcken zu neu dachte, und zu alt spottete.
Meine Frau, die mich noch nie so beunruhigt gesehen hatte, vergaß beinahe unsern Freund und meinen Traum und war nur fuͤr mich besorgt, in Meinung, es wuͤrde mir selbst etwas widriges begegnen.
Sie folgte mir auf allen Tritten nach. Wir assen ein kleines Mittagsbrodt, so viel die kurze Zubereitungszeit verstattete — wenigstens beobachteten wir das aͤusserliche, und mein Sohn aß fuͤr uns beide.
Nach dem Essen bat ich meine Frau mit mir aufs Feld zu gehen und wir gingen zwei Stunden, aber doch immer mit gutem Bedacht dahin, wo sich der Weg nach R.. meinem Gesichte nicht ganz entzog. Wir gingen zu Hause und ich bat mir sobald als moͤglich Kaffee zu verschaffen.
Auf Bitte meiner Frau entkleidete ich mich, und sie fing an, einige haͤusliche Angelegenheiten zu besorgen.
Meine Unruhe aber, die ich selbst vor meiner Frau, die mir heftig daruͤber bekuͤmmert zu seyn schien, verbarg, ließ nicht nach.
Jch zog mich aufs neue an, und sie fragte mich, wo ich denn schon wieder hinwollte? Jch sagte, ich wollte einen Kranken besuchen und so-
dann mit unserm Sohn das Sommerfeld besehen, da ich heute so grosse Lust zu spatzieren haͤtte.
Sie bat mich instaͤndig, nur dießmal den Krankenbesuch einzustellen, und vielmehr fuͤr meine eigene Gesundheit zu sorgen, ins Feld wolle sie selbst mit mir gehen.
So schwer ihr dieser abermalige Spatziergang werden mußte, da sie erst von einem zwei Stunden langen, mit mir zuruͤckgekommen war, so nahm ich doch an dem Tage auch dieses Anerbieten an.
Wir gingen fort, und beim Weggehen sagte ich meinen Leuten: Wir gehen wieder ins Feld, und wenn unterdeß jemand aus R.. koͤmmt, so koͤnnt ihr uns in den Erbsen oder Gerste finden, kommt sodann sogleich und ruft uns. Wir besahen die Erbsen und die erst aufgehende Gerste.
Wir kehreten wieder zuruͤck, und wie wir beinahe das Dorf erreicht hatten, so sahe ich meine Magd kommen. Meine Seele, die mit nichts als mit meinem verungluͤckten Freund zu thun hatte, war nur begierig diese Nachricht von einem andern zu hoͤren, und es war mir, als koͤnnte ich nicht irren, daß mir die Magd nicht die Nachricht von der ganzen Erfuͤllung meines Traums braͤchte.
Da haben wirs, sagte ich zu meiner Frau — die bringt uns Nachricht aus R.. von unserm verungluͤckten Freund.
Meine Frau beantwortete mir dießmal meine ungewoͤhnliche Uebereilungen mit nichts als einem tiefen Seufzer. Gott! sagte sie endlich, was wird noch aus dem heutigen Tag werden! Jch konnte indeß die Zeit nicht erwarten, sondern rief ihr schon einige dreissig Schritte entgegen: bringst Du mir Nachricht aus R..? Ja, antwortete sie mir, Sie moͤchten doch so guͤtig seyn, und noch heute dahin kommen. Es war ihr verboten, mir den ganzen Vorfall zu sagen, und ganz umstaͤndlich wuste sie ihn auch nicht. Jch fragte: was soll ich denn heute in R.. machen? sie antwortete mir: Sie sollen fuͤr den Hrn. Pr. ein Kind taufen.
Und warum thut er das nicht selbst? fragte ich. Sie antwortete: er kann nicht. Freilich, sagte ich, kann er nicht, denn er ist todt. So, wissen Sie das schon? sagte sie, und ich solls Jhnen nicht sagen! —
Ja, sagte ich, ich weiß es — und er ist in der Heide verungluͤckt, nicht wahr? Das kann ich nicht sagen, erwiederte sie, daß er aber todt sey, sagte der Bote, verbot mir aber ausdruͤcklich, es Jhnen zu sagen, sondern einen andern Vorwand zu machen, warum Sie hinkommen sollten.
Jch stutzte bei dieser Nachricht, und meine Frau stand ganz betaͤubt. Jsts moͤglich, sagte sie, einen solchen Traum, der mir heute schon so viel Angst und Sorgen gemacht hat, schon erfuͤllet zu sehen! — Wir traͤumen heute wohl alle — und
wollte Gott! wir traͤumten, so haͤtten wir unsern Freund noch.
Jch befahl der Magd voranzugehen und dem Knecht zu sagen, daß er anspannen sollte, um uns sogleich nach R.. zu fahren. Wir fanden den Boten noch da, der uns die Nachricht von unserm verungluͤckten Freund mit den Worten brachte, als ich sie schon im Traum erhalten, und meiner Frau erzaͤhlt hatte, nur mit dem Beisatz, daß er die Zeit bestimmte, wenn dieser ungluͤckliche Fall geschehen sei, nemlich heute Nachmittag gegen fuͤnf Uhr.
Die Pferde standen vor dem Wagen, wir setzten uns, wie wir gingen, ein, und fuhren dahin. Meine praͤsagische Seele hatte mich schon mehrmals was voraussehen lassen, was genau eingetroffen, aber noch nie eine Sache, so deutlich und umstaͤndlich, als diese, in welcher so zu reden die Probe so vollkommen war, als die Tragoͤdie selbst.
Wir kamen dahin. Mir schauderte die Haut vor jedem neuen Auftritt, den ich immer schon vorher wußte, und meiner Frau aus meinem erzaͤhlten Traum auch schon bekannt waren, da nicht einmal eine Veraͤnderung des Anzugs von mehr als hundert Personen anzutreffen war, sondern jeder so erschien, als er mir schon eilf Stunden vorher erscheinen mußte. Meine Frau, die mich den ganzen Tag mit einer aͤngstlichen Unruh bei meinen vermeintlich un-
gewoͤhnlich aberglaͤubischen Phantasien, betrachtet hatte, sahe mich nun bei der traurigen Erfuͤllung alles dessen, was und wie ichs ihr vorhergesagt, fuͤr einen halben Gott an.
Kurz, mein Freund war todt, und er war um fuͤnf Uhr Nachmittag so gestorben, wie ich es fruͤh um sechs Uhr nach allen Umstaͤnden im Traum vorher sahe.
Hat nun die Seele nicht ein Vorhersehungsvermoͤgen? Hatte es nicht die Seele meines Freundes, der bei den muntersten Kraͤften seines Leibes und der Seele so viel von seinem nahen Tode sprach? Hat es wenigstens nicht meine Seele, die des Morgens um sechs Uhr etwas voraussieht, was Nachmittag um fuͤnf Uhr erfolgt, aber durch keine Muthmaßungen oder Vernunftschluͤsse herausgebracht werden konnte?
UlriciUlrici.
V. Die Nichtigkeit des Ahndungsvermoͤgens oder sonderbare Wirkungen eines melancholischen Temperaments.
Gedike, Friedrich —— Da dieser Gegenstand noch von so vielen Dunkelheiten begleitet wird, und ich Ursach zu haben glaubte, an einem solchen Ahndungsvermoͤgen der Seele zu zweifeln, so kann man leicht denken,
wie angenehm mir's seyn mußte, als sich mir vor einigen Jahren eine Gelegenheit darbot, einige Erfahrungen hieruͤber zu machen. Jch wurde nemlich mit einer Frau bekannt, die mich in der Folge durch so manche sonderbare Auftritte oft in Verwunderung gesetzt hat, und deren Bekanntschaft mir in dieser Ruͤcksicht immer merkwuͤrdig seyn wird. Sie war eine Frau im mittlern Alter, von gesetztem Charakter, gutem Verstande, und was ich immer an ihr bewunderte, ziemlich frei von Vorurtheilen und Aberglauben.
Dabei hatte sie vermoͤge ihres Temperaments einen starken Hang zur Melancholie, vertiefte sich oft stundenlang in duͤstre Betrachtungen, ohne daß sie vermogte jederzeit einen Grund von ihrer Traurigkeit anzugeben. Uebrigens war sie in Gesellschaften oft sehr munter und mittheilend, so daß man sich keinen angenehmern Umgang, als den ihrigen, wuͤnschen konnte.
Jch mogte ungefaͤhr etwas uͤber ein Vierteljahr in ihrem Hause bekannt gewesen seyn, als ich einen seltsamen Auftritt mit beiwohnte.
Ein junger sehr naher Verwandter von ihr, den sie sehr liebte, hatte sie von L... aus, wo er studirte, auf einige Wochen besucht. Den Tag vor seiner Abreise war sie ungewoͤhnlich traurig, und wurde es immer mehr, je naͤher der Abschied heranruͤckte.
Als er sich von ihr trennte, konnt' er sich nur mit Muͤhe aus ihren Armen reissen, sie weinte heftig (etwas, das ich nur sehr selten an ihr bemerkt habe) und rief zu mehrerenmalen aus, es ahndete ihr, daß ihm bald ein grosses Ungluͤck zustossen wuͤrde. Hierauf beharrte sie auch den ganzen Rest des Tages uͤber, und war trauriger, als ich sie je gefunden habe.
Da die jetzige Lage ihres Gemuͤths mir nicht dazu gemacht schien, daß ich mich haͤtte zweckmaͤßig mit ihr uͤber diesen Auftritt unterreden koͤnnen, so nahm ich mir vor, einen guͤnstigem Zeitpunkt abzuwarten.
Dieser fand sich schon den andern Tag, sie war etwas ruhiger, und wurde durch mancherlei Zerstreuungen unvermerkt ein wenig aufgeheitert. Da sie selbst von dem Auftritt des vorigen Tages zu sprechen anfing, so nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr eins und das andre, was ich auf dem Herzen hatte, daruͤber zu sagen, doch nicht in einem laͤcherlichen Ton, weil man sich dadurch bei Leuten von dieser Gemuͤthsart oft auf immer verdaͤchtig und wohl gar verhaßt machen kann.
Sie gestand mir, und ich konnte an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln, daß sie sich schon oft von ihrem jungen Vetter getrennt haͤtte, ohne nur jemals eine aͤhnliche Traurigkeit und Angst gefuͤhlt zu haben. Sobald der Gedanke, daß ihm vielleicht ein Ungluͤck zustoßen koͤnnte, in ihr aufgestiegen
waͤre, haͤtte er auch gleich solche Gewißheit fuͤr sie erlangt, daß sie sich bis jetzt seiner noch nicht entledigen koͤnnte. Jch, weit entfernt, dieß fuͤr eine wirkliche Ahndung zu halten, suchte alle Gruͤnde auf, die mir Erfahrung und Raͤsonnement an die Hand geben konnten, ihr die Nichtigkeit ihres Phantoms, wofuͤr ich es hielt, zu beweisen, aber ich richtete nicht viel mehr damit aus, als daß sie sagte: sie wollte wuͤnschen, daß sie sich getaͤuscht haͤtte. —
Ungefaͤhr nach einem Vierteljahr, da ich einmal des Nachmittags sie zu besuchen kam, fand ich sie sehr traurig, und da ich nach der Ursach fragte, gab sie mir einen Brief, den sie heute aus L... von ihrem Vetter erhalten hatte, mit den Worten: da lesen Sie die Widerlegung einer ihrer Meinungen.
Jch las und erstaunte, als es eine Nachricht von einem sehr ungluͤcklichen Vorfall war, der sich mit dem jungen Menschen zugetragen hatte, und der zugleich seiner ganzen Familie einen Schlag versetzte*)*) Man wird mir verzeihn, daß ich nicht die naͤhern Umstaͤnde davon angeben kann, weil ich sonst den dabei interessirten Personen zu nahe treten muͤßte.
. Jch war also dem Anschein nach durch den Erfolg uͤberwiesen worden, daß meine Freundin eine wirkliche Ahndung gehabt hatte. Jch gesteh' es: dieser Vorfall machte mich anfangs stutzig, ich untersuchte noch einmal aufs genaueste, ob sie nicht etwa auf irgend eine Weise wenigstens entfernt etwas von der ungluͤcklichen Begebenheit nach
einigen wahrscheinlichen Gruͤnden haͤtte vorhersehn koͤnnen, aber ich erhielt von meiner Untersuchung nur aufs Neue die Ueberzeugung, daß dieß auf keine Art moͤglich gewesen sei.
Allein vielleicht, dacht' ich, hat sie irgend einen andern verdruͤßlichen Vorfall vermuthet, und diese Vermuthung hat ihre damalige Traurigkeit und Angst verursacht, in welchem Fall denn ihre Ahndung sehr erklaͤrbar waͤre. Um auch hieruͤber etwas Zuverlaͤssiges zu erfahren, dacht' ich erst selbst hin und her, ob ich nicht dieß oder jenes auffinden koͤnnte, davon meine Freundin haͤtte vermuthen koͤnnen, daß es ihr oder ihrem Vetter zustoßen wuͤrde, aber ungeachtet ich sehr gut mit der ganzen Verfassung und fast mit allen Personen dieser Familie bekannt war, koͤnnt' ich doch nichts dergleichen ausfindig machen.
Jch befragte sie nun durch allerlei Umwege selbst darum, aber auch hier war das Resultat meiner Bemuͤhung dasselbe.
Versichert, daß ich nun das Faktum ziemlich ausser Zweifel gesetzt hatte, wußt' ich anfangs selbst nicht, was ich davon halten sollte. Alle Umstaͤnde genau erwogen, schien es, daß ich nicht anders umhin koͤnnte, ich muͤßte diese Erscheinung fuͤr eine wirkliche Ahndung halten, deren Ursprung ich in nichts andern, als in einem Ahndungsvermoͤgen der Seele zu setzen haͤtte.
Allein so geschwind konnt' ich mich nicht entschliessen, eine Meinung anzunehmen, gegen die sich noch zur Zeit so viel triftige Gruͤnde anfuͤhren lassen. Denn einmal ist es doch gewiß sonderbar, daß dieß Vermoͤgen (in dem Fall, daß es ein solches geben sollte) so wenigen Menschen zu Theil geworden ist, so daß man es von jeher fuͤr eine sehr seltene Erscheinung hat halten muͤssen.
Jst dem Menschen eine solche Faͤhigkeit nuͤtzlich, und das muͤßte sie doch nach den ewigen Gesetzen der Natur seyn, wenn sie mit der Weisheit Gottes bestehn sollte, so fraͤgt sichs, warum dieß nuͤtzliche Geschenk so vielen Tausenden ganz und gar versagt worden ist?
Hier koͤnnte mir freilich mancher feindistinguirende Kopf einwerfen, daß dieß Vermoͤgen eigentlich niemanden fehlte, sondern daß es sich nur nicht bei allen wirksam bezeigte. Aber mit Erlaubniß aller der Herren, die dieser subtilen Art von Distinktionen zugethan sind, moͤgt' ich wohl fragen, durch welche Offenbarung sie denn den Unterricht von dem Daseyn eines solchen Vermoͤgens bei allen Menschen erhalten haben, weil bekanntlich die Existenz eines Dinges, das sich so geradezu mit leiblichen Augen nicht schauen laͤßt, doch nur aus seinen Wirkungen erkannt werden kann?
Meinten sie aber, daß weil es sich bei einigen Menschen findet, man folglich schliessen koͤnnte, daß es alle uͤbrigen auch haͤtten, so machen sie sich hier
der petitio principii schuldig, indem ihr Beweiß gerade das Ding ist, darum noch gestritten wird.
Wer wuͤrde wohl sagen, daß ein Wesen, das nie gedacht hat, Verstand haͤtte? Oder um noch ein besseres Beispiel zu geben, wenn einer von den besagten Herrn in einer Gesellschaft waͤre, wo es nun weder etwas zu distinguiren gaͤbe, noch daß von einer neuen Edition irgend eines alten Schriftstellers, noch von roͤmischen und griechischen Antiquitaͤten auf eine seichte Art gesprochen wuͤrde, und er sich folglich bei so bewandten Umstaͤnden entschliessen muͤßte, keinen Laut von sich hoͤren zu lassen, wuͤrde er da nicht fuͤr die Gesellschaft so gut, als nicht da seyn? Und wenn er nun durch irgend einen Talismann seine pedantische Figur noch dazu verunsichtbaren koͤnnte, wuͤrde es da nicht vollends unmoͤglich seyn, seine Gegenwart zu beweisen?
Alles sehr handgreiflich, denk' ich, allein da es nun einmal im 18ten Jahrhundert noch Gelehrte giebt, die vor uͤbermaͤßiger Gelehrsamkeit sehr oft das handgreifliche fuͤr unbegreiflich halten, so muß man sich schon darin fuͤgen, daß man sucht, ihren etwanigen nonsensikalischen Einwuͤrfen schon im voraus zu begegnen, um den werthen Herren aus christlicher Liebe Papier und Dinte zu ersparen.
Wenn es also nicht gelaͤugnet werden kann, daß man bei den mehresten Menschen auch nicht die geringste Spur von einem Ahndungsvermoͤgen an-
trift, so glaub' ich, daß man hieraus schon mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuthen kann, daß die angeblichen Ahndungen mancher Personen in ganz andern Dingen ihren Grund haben.
Es giebt fuͤr das menschliche Geschlecht, so wie fuͤr alle uͤbrigen Gattungen von Geschoͤpfen gewisse allgemeine Eigenschaften, worin jedes Jndividuum mit dem andern seiner Art uͤbereinkommt.
So haben alle Menschen Urtheils- Gedaͤchtniß- und Jmaginationskraft, obgleich die Verschiedenheit des Koͤrperbaues, feinere Nerven und Gehirnfibern, oder eine etwas andre Lage derselben und mehrere dergleichen Ursachen, nebst fortgesetzter Uebung dieser Vermoͤgen einen ausserordentlichen Unterschied in den Graden der Staͤrke und Schwaͤche derselben verursachen. Dieß findet sich aber bei dem angeblichen Ahndungsvermoͤgen anders, und folglich kann es gewiß nicht zu dieser Klasse der allgemeinen Eigenschaften gerechnet werden.
Untersucht man anderntheils die Beschaffenheit desselben, so muß es der Vernunft allerdings etwas fabelhaft scheinen, daß ein Mensch kuͤnftige Ereignisse vorhersehn koͤnne, ohne sich im geringsten ihrer Ursachen bewußt zu seyn. Jch gestehe ein, ich habe hiervon keinen Begrif, und ich glaube, daß selbst Gott auf diese Weise das Zukuͤnftige nicht vermoͤgend ist, vorauszusehn.
Es ist zwar zwischen Gott und uns ein zu ungeheurer Abstand, als daß wir im Stande waͤren, von seinen Eigenschaften und besonders von ihrer Wirkungsart etwas Gewisses zu sagen, und ich bin ganz der Meinung, daß unsre meisten Erkenntnisse davon nur schwache Vermuthungen sind.
Aber von diesen Vermuthungen verdienen doch die ganz natuͤrlich den ersten Rang, die uns am begreiflichsten und der gesunden Vernunft am gemaͤssesten sind. Welche von beiden Meinungen ist nun aber wohl die vernuͤnftigste, die: daß Gott das Zukuͤnftige voraussieht, indem er, als Urheber der Welt, auch das kleinste Triebrad in dieser wundervollen Maschine kennt, indem er in den ganzen Plan derselben, in den Zusammenhang aller ihrer Theile hineinschaut, und in der Vergangenheit die Ursachen der Gegenwart, und in dieser die Ursachen der Zukunft mit alles umfassendem Blick uͤbersieht, oder die: daß er die Reihe kuͤnftiger Begebenheiten voraussehn koͤnnte, ohne noͤthig zu haben, mit ihren Ursachen bekannt zu seyn? Jeder, denk' ich, wird sich hier ohne Anstand zu der ersten Meinung bekennen, und da wir also sogar an Gott eine solche Art des Vorhersehns unbegreiflich finden, wie unendlich mehr muß dieß bei dem Menschen der Fall seyn?
Rechnet man hierzu noch, daß ein solches Ahndungsvermoͤgen den Menschen uͤberdem weit mehr zum Ungluͤck, als zum Gluͤck gereichen wuͤrde, so
muß man vollends an seiner Existenz zweifeln. Denn da wir nur voraussaͤhn, daß uns etwas Ungluͤckliches begegnen wuͤrde, in der Beschaffenheit desselben aber unwissend blieben, so waͤren wir ausser Stand, Vorkehrungen dagegen zu machen.
Wozu koͤnnte uns also diese Kenntniß anders nuͤtzen, als uns zu martern, und uns schon eine lange Zeit vorher, ehe uns das Uebel betraͤfe, zu unsern Geschaͤften untuͤchtig zu machen, und alle die kleinen Freuden, die sich uns in der Zeit etwan darboten, entweder zu rauben, oder zu vergiften. Und wie oft trift unsre entfernten Verwandten ein Ungluͤck, das uns auf viele Tage die Ruhe stehlen wuͤrde, wenn wir es ahndeten, das uns aber nachher, wenn wir hoͤren, daß es gluͤcklich voruͤbergegangen ist, die lebhafteste Freude einfloͤßt.
So giebt es tausend Faͤlle im menschlichen Leben, wo uns ein Ahndungsvermoͤgen zur hoͤchsten Qual gereichen wuͤrde, dahingegen man nur weit weniger anfuͤhren kann, wo es uns zum Nutzen gereichte, und der Urheber der Natur sollte uns eine solche Eigenschaft gegeben haben?
Wir haben zwar einige Erfahrungen, die ihr Daseyn zu beweisen scheinen, allein davon sind die wenigsten untersucht, und die es sind, sind doch bei weitem noch nicht dergestalt ausser Zweifel gesetzt, daß man sie, als sichre Beweise gebrauchen koͤnnte.
Die meisten hingegen sind Erzaͤhlungen, fuͤr deren Wahrheit ich mich keineswegs verbuͤrgen
moͤchte. Wie es damit geht, ist bekannt: wie leicht koͤnnen nicht einige kleine, fuͤr das Ganze aber betraͤchtliche Umstaͤnde weggelassen, andre hinzugesetzt, andre vergroͤssert seyn: denn wie Sulzer irgendwo sehr richtig und schoͤn sagt, wunderbare Vorfaͤlle wachsen, indem sie von Mund zu Mund gehn, wie ein Schneeball im Fortwaͤlzen, und so kann eine Geschichte, wenn sie der zwanzigste erzaͤhlt, schon so verunstaltet seyn, daß der erste, der sie ausgab, Muͤhe haben wuͤrde, sie fuͤr die seinige zu erkennen.
Ueberdem ist es ein anders, einen merkwuͤrdigen Vorfall bloß aus Neugierde untersuchen, und ein anders, ihn, als ein Faktum untersuchen, das man zur Grundlage eines philosophischen Raͤsonnements gebrauchen will, und diese letzte Absicht moͤchte denn wohl nicht jedermanns Ding seyn.
Also auch die uͤber diesen Gegenstand gesammelten Erfahrungen sind nicht vermoͤgend, uns von unsern Zweifeln dagegen zuruͤckzuhalten, und vielleicht setzen uns gruͤndlichere Beobachtungen bald in den Stand, uns von ihrer Nichtigkeit insofern zu uͤberzeugen, daß alle die bisherigen sogenannten Ahndungsphaͤnomene nicht aus einem Ahndungsvermoͤgen, sondern aus ganz andern Ursachen entsprungen sind. Der Ausspruch des Horaz
Prudens futuri temporis exitum Caliginosa nocte premit Deus!
behauptet daher fuͤr jetzt immer noch sein altes Ansehn.
Nach einer kurzen Rekapitulation dieser Gruͤnde hielt ichs der Vorsicht gemaͤß, mein Urtheil uͤber die vermeinthliche Ahndung meiner Freundin zur Zeit noch aufzuschieben, und abzuwarten, ob ich nicht noch mehrere Erfahrungen dieser Art machen koͤnnte.
Jch nahm mir vor, das Betragen der Frau noch genauer zu beobachten, als es bisher geschehn war, um mich noch mehr von ihrer Denkungsart und besonders von den mancherlei Wirkungen ihres melancholischen Temperaments zu unterrichten, in der Hofnung, vielleicht auf diesem Wege die Quelle ihrer angeblichen Ahndung zu entdecken.
Jch war begierig, ob sich nicht etwa einmal der Fall ereignen wuͤrde, daß ihre Vorempfindung eines Ungluͤcks ohne Erfolg bliebe, alsdann glaubt ich mich im Stande zu sehn, desto gruͤndlicher von dem gehabten Auftritt urtheilen zu koͤnnen.
Es vergingen einige Monathe daruͤber, ohne daß etwas Merkwuͤrdiges vorfiel. Endlich trafs sichs, daß sie eines Tags, da sie auch sehr traurig war, und durch nichts konnte aufgeheitert werden, in meinem Beiseyn einen Brief erhielt. Ohne ihn nur angesehn zu haben, sagte sie schon im zuversichtlichsten Tone: daß er ganz gewiß ein ungluͤckliche Nachricht fuͤr sie enthalten wuͤrde, und daß dieß gewiß die Ursach ihrer den ganzen Tag uͤber gehabten Angst gewesen waͤre.
Sie erbrach den Brief, und wie wunderte ich mich, als er wirklich eine verdruͤßliche Nachricht
fuͤr sie enthielt. Jch fragte sie, ob sie vielleicht schon etwas davon gewußt, oder einen andern unangenehmen Vorfall vermuthet haͤtte, aber sie bewieß mir die Unmoͤglichkeit des erstern, aus Gruͤnden, denen ich meinen Beifall auf keine Weise versagen konnte, und von dem letztern behauptete sie, daß sie mit Wahrscheinlichkeit sich auch nicht des geringsten Widrigen hatte gewaͤrtig seyn koͤnnen.
Jch sprach nach einiger Zeit die Person, von der der Brief war, und erhielt in Ruͤcksicht des erstern dieselbe Versicherung. Jch war also auch hier uͤberzeugt, daß ich nichts versaͤumt hatte, um die wahren Umstaͤnde dieses Vorfalls auszumitteln.
Jetzt war nun dem Ansehn nach kein andrer Rath uͤbrig, als alle meine Zweifel fahren zu lassen, und geduldig die Wirklichkeit eines Ahndungsvermoͤgens zu bekennen. Zwei so merkwuͤrdige, und wie ich wohl sagen darf, mit einiger Genauigkeit untersuchte Fakta, verdienten allerdings Aufmerksamkeit, und ich gesteh' es, ob sie mich gleich nicht von allen Zweifeln gegen ein Ahndungsvermoͤgen befreyen konnten, so haͤtten sie mich doch natuͤrlicher Weise etwas wankend machen muͤssen.
Allein die mehreren Kenntnisse, die ich indessen von dem Charakter meiner Freundin eingesammelt, und eine Bemerkung, die ich bei dem letztern Vorfall zu machen Gelegenheit gehabt hatte, sicherten mich nicht nur dafuͤr, sondern brachten mich auch auf eine Vermuthung, die bald zur
Wahrscheinlichkeit, und in der Folge durch uͤberzeugende Beweise zur Gewißheit erhoben wurde.
Es ist bekannt, daß Aengstlichkeit eine von den Haupteigenschaften des melancholischen Temperaments ist; man trift sie bald in einem staͤrkern, bald in einem geringern Grade an, je nachdem die Mischung des Temperaments verschieden ist. Der Melancholiker empfindet oft ihre Wirkung in ihrer ganzen Staͤrke, er bildet sich Gefahren und Schrecknisse ein, wo entweder gar keine anzutreffen sind, oder wo sie wenigstens nur in Kleinigkeiten bestehn.
Bei geringen Anlaͤssen haͤlt er sich zuweilen schon fuͤr verloren, und wenn manchmal eine Ursach im Koͤrper, oder eine aͤussere Ursach ihn vorzuͤglich zur Traurigkeit gestimmt haben, so sieht er oft jeden, der sich ihm naht, fuͤr einen Schreckensbothen an.
Jch habe einen solchen Menschen in dieser Stimmung sogar das freundliche Laͤcheln seines Freundes fuͤr verdaͤchtig erklaͤren hoͤren, weil es sich gerade traf, daß dieser laͤchelte, als jener etwas erzaͤhlte, wo er sogleich argwoͤhnte, daß dieser etwa seine Erzaͤhlung laͤcherlich finden moͤchte.
Noch mehr Bemerkungen hieruͤber hab' ich — aber bei meiner Freundin gemacht, die, wie ich schon oben erwaͤhnt habe, sehr melancholischen Temperaments war.
Befand sich ihre Seele in dieser traurigen Stimmung, so waren alle ihre Jdeen in die schwar-
ze Farbe der duͤstern Melancholie gekleidet; alles sahe sie dann aus einem traurigen Gesichtspunkt an, sie erwartete nichts als Ungluͤck, und ihre Phantasie war alsdann uͤber alles geschaͤftig, tragische Bilder aufzuhaͤufen.
Was sie sonst entzuͤckt hatte, gab ihr jetzt Gelegenheit, sich in duͤstre Betrachtungen zu vertiefen, und so unertraͤglich dieser Zustand des uͤberspannten Truͤbsinns fuͤr sie war, so wenig war es doch in ihrer Gewalt, auch sogar in der froͤhlichsten Gesellschaft, sich davon loszumachen.
Ein Grund, wie mich duͤnkt, wie ungerecht es seyn wuͤrde, solchen Personen das Verdammungsurtheil zu sprechen, die in dergleichen, vielleicht noch durch wirkliches Elend verstaͤrkten Anfaͤllen, verzweiflungsvoll ihrer Laufbahn auf dieser Welt ein Ende machen ——
An dem Tage nun, da meine Freundin den Brief erhielt, befand sie sich gerade in einer solchen traurigen Lage, so wie auch damals, als sie sich von ihrem jungen Verwandten trennte. Allein dießmal wußt ich, waren verschiedene Ursachen vorhergegangen, die sie zu dieser melancholischen Laune herabgestimmt hatten, wozu vielleicht noch eine schlechte Verdauung, oder eine andre physische Ursach beigetragen haben mochte.
Da ich also hier die Ursachen ihrer Traurigkeit wußte, und es mir sehr widersinnig schien, diese ohne Grund fahren zu lassen, und alles auf die Rech-
nung einer unerwiesenen Ahndung zu schreiben, so gerieth ich ganz natuͤrlich auf den Gedanken, ob es nicht weit vernuͤnftiger und wahrscheinlicher sey, daß die vermeynte Ahndung vielmehr nichts anders, als die Wirkung ihrer Traurigkeit gewesen sey? Je mehr ich diese Meynung untersuchte, und mit meinen hieruͤber gesammelten Erfahrungen verglich, je mehr gewann sie an Wahrscheinlichkeit.
Jch war oft ein Zeuge gewesen, wie sehr diese Frau in einem solchen Anfall der Melancholie alles verdaͤchtig fand, und oft von den gleichguͤltigsten Dingen Ungluͤck erwartete, war es nun nicht sehr natuͤrlich, daß sie dieses von dem uͤberdieß etwas unverhoft erhaltenen Brief auch glaubte, da sie aus eigner und fremder Erfahrung wußte, daß Briefe zuweilen ungluͤckliche Nachrichten enthalten? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß dieß eben der Fall bey dem Auftritt mit ihrem Vetter war? Jhre Seele war damals in dieselbe Traurigkeit versenkt, die gewiß von nichts anderm, als von der Vorstellung des Abschiedes herruͤhrte.
Nichts ist aber gewoͤhnlicher, als daß man sich bey solcher Gelegenheit allerley Einbildungen macht, daß man vielleicht die geliebte Person nicht wiedersehe, oder daß ihr oder uns ein Ungluͤck zustoßen moͤchte u.s.w., welches bey einem duͤstern und aͤngstlichen Charakter in einem hohen Grade Statt finden muß, da man es sogar bey den heitersten Personen antrift.
Wenn also meiner Freundin bey der Trennung von ihrem Verwandten der Gedanke aufstieg, daß ihm ein Ungluͤck begegnen wuͤrde, so war dieß sowohl dem jetzigen Auftritt, als dem dießmaligen Zustande ihres Gemuͤths gemaͤß, weil sich die Seele nach einer bekannten psychologischen Beobachtung gern aller der Jdeen bemaͤchtigt, die mit ihrer jedesmaligen Lage uͤbereinstimmen. Daß aber der Gedanke soviel Lebhaftigkeit und Gewißheit bey ihr gewann, war eine natuͤrliche Folge ihres Charakters und ihres jetzt so aͤußerst lebhaften Gemuͤthszustandes.
Zwar trafen ihre beyden Vermuthungen ein, allein dieß kuͤmmert mich wenig, denn das geschahe gewiß sehr zufaͤllig. Auf einem Planeten, wie der unsrige, wo unangenehme Vorfaͤlle sogar nichts seltenes sind, darf jemand durch diese oder jene Umstaͤnde nur oft in die Lage gesetzt werden, zukuͤnftige Uebel zu vermuthen, so werden seine Vermuthungen auch gewiß sehr oft eintreffen.
Es ist damit eben, wie mit dem Argwoͤhnischen. Ein solcher Mensch, der niemand traut, und die Rechtschaffenheit eines jeden in Zweifel zieht, trift ganz natuͤrlich, da es eine so grosse Menge schlechtdenkender Menschen giebt, seinen Argwohn sehr oft gegruͤndet, aber niemand haͤlt ihn deshalb fuͤr einen Propheten, oder glaubt, daß er die Sinnesart al-
ler der Personen, bei denen sein Argwohn eingetroffen ist, wirklich gekannt habe.
Die beiden scheinbaren Ahndungsphaͤnomene meiner Freundin waren also weiter nichts, als Wirkungen ihres melancholischen Temperaments gewesen. Jch wurde hiervon in der Folge noch deutlicher uͤberzeugt, da mein fortgesetzter Umgang mit ihr mir Gelegenheit gab, noch verschiedene Erfahrungen zur Bestaͤtigung meiner Meinung zu machen.
So dachte sie zum Beispiel einmal in einer langen Zeit, wo verschiedene Familienumstaͤnde und andre Dinge sie in einer bestaͤndigen Zerstreung und Heiterkeit erhielten, an keine Ahndung eines Ungluͤcks, ohnerachtet ihr in der Zeit verschiedene verdrießliche Unfaͤlle begegneten.
Auf der andern Seite sah ich sie hernach einmal wieder in jenem Zustand der Traurigkeit, wo sie den Ausgang einer ihrer Angelegenheiten im voraus mit Gewißheit fuͤr ungluͤcklichungluͤckiich erklaͤrte, da nachher gerade das Gegentheil erfolgte.
Genug, es ist mir jetzt kein Zweifel mehr uͤbrig, daß jene Erscheinungen nur bloß von einem uͤberspannten, aus dem Temperament herruͤhrenden Truͤbsinn verursacht wurden, und auch sehr wohl
daraus hergeleitet und erklaͤrt werden koͤnnen. Jch glaube hierbei die Vermuthung wagen zu duͤrfen, daß es wahrscheinlich um die meisten Ahndungsgeschichten dieselbe, oder eine andre eben so natuͤrliche Beschaffenheit haben wuͤrde, wenn man sich nur die Muͤhe gaͤbe, sie gehoͤrig zu untersuchen.
Jn dieser Ruͤcksicht glaub' ich, daß wenn ich mir auch von meinem Aufsatz keinen andern Nutzen versprechen koͤnnte, ich mir doch wenigstens schmeicheln darf, die Wahrheit dadurch aufs neue einleuchtend gemacht zu haben, daß in dergleichen Faͤllen Vorsicht und Sorgfalt bei ihrer Untersuchung nicht leicht zu weit getrieben werden kann, weil dabei so viel betruͤglicher Schein vorhanden ist — Und diese Wahrheit allein verdiente es schon, die Feder angesetzt zu haben.
Gedike, FriedrichF. G.
Zur Seelennaturkunde.
I. Ueber den Anfang der Wortsprache in psychologischer Ruͤcksicht. Pockels, Carl Friedrich Fortsetzung. Siehe das vorhergehende Stuͤck.)
Merkwuͤrdiger und wichtiger als alle spekulative Untersuchungen uͤber den Ursprung der Sprache uͤberhaupt, ist fuͤr die Aufmerksamkeit des Seelenbeobachters der Anfang, und die Entwicklung der Kindersprache.— Hier hat er den Menschen selbst vor sich, nicht den Menschen, der, wer weiß, vor wie viel Jahrtausenden, in welchen Umstaͤnden, und auf welcher Stufe seiner Kultur, die Sprache erfunden haben mag, — und hier darf er nicht fuͤrchten, wenn er anders richtig beobachtet, daß ihn seine Bemuͤhungen hoͤchstens nur zu wahrscheinlichen Hypothesen fuͤhren duͤrften.
Wir koͤnnen es hier als eine ausgemachte Wahrheit voraussetzen, daß der neugeborne Mensch ohne menschliche Gesellschaft, und ohne eine schon vorhandene Wortsprache derselben nie wuͤrde re-
den lernen. Wortsprache ist fuͤr den einzelnen Menschen, wie Rousseau richtig bemerkt hat, kein Beduͤrfniß, auch bringt das Kind keinen Trieb fuͤr sie mit auf die Welt; sondern erst nach und nach entsteht in ihm eine Neigung dazu, indem es andere reden hoͤrt, andere es dazu auffordern, und indem uͤberhaupt sein Verlangen koͤrperliche Beduͤrfnisse sowohl, als Empfindungen seiner Seele andern deutlicher auszudruͤcken, und die Summe seiner erlangten Begriffe zu ordnen, groͤßer und dringender wird.
Die ersten Sprachausdruͤcke des Kindes, wenn wir die unwillkuͤrlichen Laute seiner Stimme schon so nennen duͤrfen, sind entweder ein thierisches unartikulirtes Geschrei, wenn es bald einen koͤrperlichen Schmerz, ein dringendes Beduͤrfniß fuͤhlt, bald auch von einem fuͤrchterlichen, unerwarteten Gegenstande in Schrecken gesetzt wird; — oder ein lebhaftes Jauchzen der Freude, wenn es ein gewisses Wohlbehagen in sich empfindet; ein Gefuͤhl, das in ihm leicht durch neue glaͤnzende Gegenstaͤnde, durch den Anblick der zaͤrtlichen Mutter, oder auch, wie ich oft bemerkt habe, schon dadurch hervorgebracht wird, wenn man es aus einem dunkeln Orte schnell in einen hellen bringt.
Das Lachen der Kinder, welches Hippokrates, wohl etwas zu fruͤh, gleich nach ihrer Geburt an ihnen beobachtet haben wollte, gehoͤrt mit unter
die ersten Aeußerungen der menschlichen Natursprache, und ich moͤchte noch hinzusetzen, der Vernunft. Das Bisarre und Kontrastirende in aͤußern Formen sowohl als in Toͤnen faͤngt fruͤhzeitig auf sie zu wuͤrken an, und sie lachen daruͤber, ehe sie noch reden koͤnnen; eigentlichaber lachen sie mehr aus einer in sich gefuͤhlten starken Freude, die zunaͤchst das Wohlbehagen ihres Koͤrpers betriff, und bloß thierischer Art ist.*)*) Es ist nicht zu leugnen, daß Thiere, wenigstens die, welche naͤher an den Menschen angraͤnzen, zuweilen ein aͤhnliches Gefuͤhl der Freude haben, indem sie es deutlich genug durch ihre aͤußern Handlungen an den Tag legen; aber eigentlich lachen sie doch nie, so wie der Mensch, und der Grund davon liegt wohl darin, daß sie aus Mangel lebhafter und deutlicher Vorstellungen dessen, was wir laͤcherlich nennen, und einer feinern Einbildungskraft den hohen Grad der Freude nicht fuͤhlen, dessen der Mensch faͤhig ist. Ueberdem scheint auch ihr groͤberes, mit einer haarigten Haut umgebenes Gesicht, nicht einmahl zum sichtbaren Ausdruck des Lachens gebaut zu seyn. Doch bemerkt man an verschiedenen Thieren, z.B. an Hunden, wenn sie sich sehr freuen, eine Verzerrung ihrer Gesichtsmuskeln, die einem sichtbaren Lachen aͤhnlich sieht; so wie eine gewisse feine Modulation ihrer Stimme, die wohl nichts anders, als ein Ausdruck ihrer Freude seyn kann. Anm. d. Verf.
Zwischen dem Gehoͤr des Kindes und der menschlichen Stimme herrscht gleich vom Anfange seines Lebens an die feinste Harmonie, oder wenn ich mich so ausdruͤcken darf, das freundschaftlichste Verstaͤndniß. Das Kind erschrickt nie vor
der Stimme des Menschen, so lange sie nicht uͤbertrieben, und wider ihre Natur in schreckliche Mißtoͤne gezwungen wird; sondern es hoͤrt sie mit einem Wohlgefallen an, das bisweilen in ein lautes Freudengeschrei ausbricht. Wie gern laͤßt es sich, so munter es auch ist, durch die muͤtterliche Stimme in den Schlaf singen: wie begierig hoͤrt es nicht den freundlichen Worten des guten Vaters zu; wie sehr wird es schon fruͤhzeitig durch die Klagen und Thraͤnen anderer geruͤhrt, sonderlich derjenigen, die es lieb hat!*)*) Wir haben es freilich wieder vergessen, wenn und in welchen Umstaͤnden die Leiden anderer zuerst auf unser Herz zu wuͤrken angefangen haben; aber gewiß ist dieses schon fruͤhzeitig geschehen. Von unserer Geburt an sind wir selbst koͤrperlichen Leiden unterworfen gewesen, der erste Ausdruck unserer Stimme war eine laute, weinende Klage uͤber den muͤhseligen Anfang des menschlichen Lebens; wir scheinen eher einen Begrif vom Schmerz, als von Freude gehabt zu haben, und es war natuͤrlich, daß, sobald wir die Leiden anderer bemerken konnten, in uns ein Gefuͤhl des Mitleids gegen sie entstehen mußte, indem wir uns nehmlich dadurch bald auf eine schwaͤchere, bald auf eine lebhaftere Art an das erinnerten, was wir gelitten hatten. Ohne diese Wiedererinnerung scheint unsere Natur damals keines Mitleids faͤhig gewesen zu seyn. Anm. d. Verf.
— Die Stimme der Thiere hat im Gegentheil gemeiniglich eine ganz andere Wirkung auf dasselbe. Sie hat nicht das Ruͤhrende, Einnehmende, Anziehende und Verstaͤndliche fuͤr sein Ohr, als die des Menschen, es wird da-
durch leicht in Schrecken gesetzt, und es gehoͤrt schon einige Zeit dazu, ehe es sich in der Naͤhe daran gewoͤhnt. Jch habe Kinder aͤngstlich weinen sehen, wenn in der Naͤhe ein Laͤmmchen bloͤkte, oder ein Hahn kraͤhete, — und wahrscheinlich fuͤrchten sich Kinder auch wohl deswegen gemeiniglich so sehr vor Thieren, weil sie anfangs die Stimme derselben nicht vertragen koͤnnen. Daß sich uͤbrigens diese dem Gehirne des Kindes tief eindruͤckt, ist daraus sichtbar, daß es anfangs immer das Thier so benennet, wie es schreit.
So viel von den Ausdruͤcken des Kindes uͤberhaupt, ehe es noch eine wuͤrkliche Wortsprache gelernt hat! — Aber wie gelangt es nun zu dieser; mit welchen Woͤrtern faͤngt es seine Sprache an; wie vermeidet es die Verwirrung seiner Begriffe, die durch Erlernung so vieler Sprachwoͤrter, die ihm theils geflissentlich vorgesagt werden, theils durch den Zufall zu seinen Ohren gelangen, so leicht entstehen konnte — kurz wie lernt es sich ordentlich und verstaͤndlich ausdruͤcken? — Fragen, die allerdings beantwortet zu werden verdienen, ob ich mich gleich hier nur im Allgemeinen damit beschaͤftigen kann.
Wenn wir darauf Acht geben, wie sich Kinder nach und nach durch Worte ausdruͤcken lernen, so werden wir finden, daß ihre Sprache nichts anders, als eine Nachahmung der Sprache derjenigen ist, die mit ihnen umgehen; selbst diejenigen
Woͤrter, die in keinem Lexiko der Sprache stehen, und die sie oft zu unserer Bewunderung selbst erfunden haben, muͤssen sie irgend einmal von einem mißverstandenen Tone, abkopirt, oder durch Verwechselung und Vermischung einiger Sprachsilben, vielleicht nach einer unwillkuͤrlichen Bewegung ihrer Zunge, zusammengesetzt haben; — aber auch jene Nachahmung der Sprache faͤngt selten vor dem ersten Jahre ihres Lebens an, nicht aus Mangel der Begriffe; sondern wegen einer noch vorhandenen Ungelenkigkeit ihrer Sprachorganen.
Ueber die Art und Weise nun, wie sie jene Nachahmung anstellen, und nach und nach zu dem Besitz einer wuͤrklichen Wortsprache gelangen, will ich nur folgende Bemerkungen hiehersetzen.
1) Kinder fangen zufoͤrderst allemal an, koͤrperliche Jndividuen auszudruͤcken; aber anfangs ohne Flexion, Verbindungswoͤrter und Artikel. Von jenen Jndividuen haben sich von dem Gebrauche ihrer Sinnen, sonderlich der Augen an, lange vor der Erlernung einer Sprache, lebhafte Bilder in ihrer Seele abgedruͤckt, sie haben sich davon durch langes Betrachten, durch Vergleichung ihrer aͤußern Formen miteinander, und wo es anging, selbst durch das Gefuͤhl klare Begriffe zu schaffen gesucht, und diese Begriffe wurden nun die Grundlage aller ihrer konkreten, wie hernach ihrer abstrakten Erkenntniß. — Es war natuͤrlich, daß sie von jenen Jndividuen diejenigen am ersten aus-
druͤcken mußten, die ihnen am naͤchsten lagen; deren besondere Gestalten die Aufmerksamkeit erregen konnten; oder die sie auch mit einem gewissen Wohlgefallen betrachteten. Eltern haben daher immer das suͤße Vergnuͤgen, worauf sie mit Recht Anspruͤche machen koͤnnen, daß ihre Namen zuerst von den kleinen Lieblingen ihrer Herzen ausgesprochen werden. Ueberhaupt lernen Kinder das gemeiniglich am ersten ausdruͤcken, was eine genaue Beziehung auf die Beduͤrfnisse ihres Koͤrpers hat, aber sie verfahren dabei ohne alle Ordnung. —
Es ist in der That zu bewundern, wie wenig sich Kinder bei einem Geschaͤfte, das ihnen doch anfangs nichts weniger als leicht seyn kann, bei Erlernung so vieler unzusammenhaͤngender Sprachwoͤrter, verwirren, womit ihr Gedaͤchtniß, bei ohnehin noch so vielen verworrenen, halbreifen und ungeordneten Begriffen derselben, uͤberladen wird; — allein es kommen ihnen, wie mich duͤnkt, hier gewisse vortheilhafte Umstaͤnde zu Huͤlfe, die jene Verwirrung verhindern, und hierher rechne ich vornehmlich die schon vorhandenen Bezeichnungen der Abstrakten, der Geschlechter und Arten; (wodurch zugleich ihre Sprache einen weit schnellern Fortgang, als die der ersten Menschen erhalten mußte) die natuͤrliche den Menschen vermoͤge einer Vernunft angeborne Faͤhigkeit, Aehnlichkeiten zu bemerken, und denn auch vornehmlich den Unterschied, welchen die Natur in die Be-
schaffenheit unserer Begriffe selbst gelegt hat, indem sie jedem Sinne sein eigenes Gebiet von Begriffen anwieß, die, so nahe sie auch oft aneinander zu graͤnzen scheinen, doch sich nicht leicht miteinander verwirren lassen.
2) Das Kind weiß gemeiniglich schon eine große Anzahl von Substantiven auszudruͤcken, ehe es Verben auszusprechen pflegt, und unter diesen lernt es wiederum die am ersten, welche eine starke in die Sinne fallende Handlung, oder ein nahes Beduͤrfniß anzeigen, z.B. reiten, schlagen, fahren, fallen, gehen, donnern, essen, trinken u.s.w. Zuerst druͤcken Kinder nur immer den Jnfinitiv solcher Verben aus; ihr Verbum wird anfangs gar nicht conjugirt, und die Personen bezeichnen sie gemeiniglich auf eine erfinderische Art durch Gesten. Nach und nach lernen sie das Vergangene; am spaͤtesten aber das Zukuͤnftige ausdruͤcken; wahrscheinlich weil in ihnen die Jdee davon immer noch etwas dunkel ist. — Wir bilden offenbar diesen Begrif erst durch einiges Nachdenken, und durch eine wiederhohlte Erfahrung, daß etwas Vorhergehendes etwas Nachfolgendes nach sich ziehen mußte, oder nach sich zu ziehen pflegte; oder daß eine gewisse Ursache unter den nehmlichen Umstaͤnden immer wieder die nehmliche Wirkung nach einer gewissen Zeitfolge hervorbringt. Durch solche wiederhohlte Beobachtungen bilden wir uns den Begrif von Zeit uͤberhaupt,
und folglich auch von kuͤnftiger Zeit insbesondere; ein Begrif, den wir als klaren Begrif, wohl allein durch Huͤlfe der Vernunft besitzen, und der mehr als thierischer Jnstinkt ist. Denn je mehr sich der Mensch der thierischen Natur naͤhert, deren Gefuͤhle sich nicht, oder gewiß nicht weit, uͤber das Gegenwaͤrtige hinaus erstrecken; je weniger seine koͤrperlichen und geistigen Beduͤrfnisse werden; je mehr sich sein Nachdenken uͤber seine eigne Existenz und mithin auch die Wißbegierde, seine kuͤnftigen Schicksale und Entwickelungen voraus zu erforschen, verliert, desto duͤsterer und verworrener muß auch nothwendig die Vorstellung von etwas Zukuͤnftigen in ihm werden.
3) Die Kindersprache besteht anfangs nur aus einsilbigten Woͤrtern, wahrscheinlich deswegen, weil es ohne eine schon laͤngere Uebung den Organen des Kindes schwerer wird, mehrsilbigte auszusprechen. Es pflegt daher auch gewoͤhnlich diese in einsilbigte zu verwandeln, oder ein solches mehrsilbigtes Wort in zwei oder mehrern Zeitintervallen auszusprechen, so wie es auch nachher bei ganzen Perioden mehrere Ruhepunkte des Redens annimmt, und sich gleichsam die Begriffe nach und nach zuzaͤhlt. Ueberhaupt bemerkt man leicht, daß ihm das Reden anfangs aͤußerst schwer ankommt — ein Beweis, daß Sprache eine erst zu erlangende Fertigkeit, und nichts Angebornes ist; — daß es sich oft martert, ein Wort grade wieder so
auszusprechen, als es dasselbe gehoͤrt hat, und daß ihm eben deswegen diejenigen Woͤrter am willkommensten sind, die eine weiche Aussprache haben. Kinder reden daher am liebsten in Diminutiven, und ihre Waͤrterinnen ergreifen durch dergleichen weiche Sprachwoͤrter einen bequemen Weg, sie ans Reden zu gewoͤhnen, ob sie wohl gleich niemals uͤber diese gute Methode philosophirt haben moͤgen.
4) Unsere Vorstellungen, und die Art und Neigung, sie durch Worte auszudruͤcken, haben bei ihrer Entstehung in den Jahren der Kindheit eine, wie mich duͤnkt, merkwuͤrdige Beziehung auf die Groͤße unseres Koͤrpers. Dieser ist gleichsam unser erster Maasstab der Gegenstaͤnde, die wir um uns her wahrnehmen, was ihn nicht angeht, was fuͤr ihn zu groß, zu ungeheuer ist, damit beschaͤftigt sich auch die Seele des Kindes nicht. Man sieht es taͤglich, daß Kinder am liebsten ihre Aufmerksamkeit auf solche Sachen richten, und zunaͤchst fuͤr sie Ausdruͤcke suchen, deren Groͤße nicht weit uͤber die ihres Koͤrpers hinausragt.
Wir haben die sonderbare Empfindung — so wie uͤberhaupt die ganze erste Entstehungsart unserer Jdeen — vergessen, nach welcher uns alle Gegenstaͤnde um uns her, wegen der Kleinheit unseres Koͤrpers wahrscheinlich viel groͤßer und ungestalteter vorkommen mußten, als sie uns jetzt erscheinen; wie Erwachsene noch ungeheure Riesen gegen uns, die Haͤuser noch eine Art hoher Gebuͤrge in unsern
Augen seyn mußten; aber etwas Unangenehmes mußte wohl immer diese Empfindung fuͤr uns haben, ehe wir uns an die vielen großen Gestalten um uns her gewoͤhnten. Nichts konnte uns daher damals willkommen seyn, als Gegenstaͤnde, die uns an Groͤße gleich, oder noch kleiner als unser Koͤrper waren; daher mit jene große Neigung der Kinder zu Kindern, und die unermuͤdete Liebe fuͤr ihr Spielzeug. Sie moͤgen gern Gegenstaͤnde um sich haben, deren Kleinheit sie zu sich einladet, an denen sie ihre Kraͤfte und Thaͤtigkeit uͤben, und woruͤber sie gewissermaßen herrschen koͤnnen —.
Jch breche diese wenigen unvollstaͤndigen Bemerkungen uͤber den Anfang der Wortsprache der Kinder, die ich einandermal weiter auszufuͤhren gedenke, und zu denen gewiß ein jeder aufmerksamer Beobachter des Menschen noch sehr viel neue hinzusetzen kann, mit einigen Gedanken ab, welche die ersten Fortschritte menschlicher Kenntniß durch Huͤlfe der Sprache betreffen, und in sofern noch hierher gehoͤren.
Wir machen durch Huͤlfe der guͤtigen Natur, die uns auf eine muͤtterliche Art bald aus dem Schlummer unsrer Kindheit zu wecken weiß; durch den wichtigen Beistand der Sprache, und der fuͤr uns so wohlthätigen Gesellschaft der Menschen, schon fruͤhzeitig einen nichts weniger als kleinen Fortschritt unsrer Erkenntniß. Sobald das Kind zu reden anfaͤngt, oder im eigentlichen Ver-
stande ein Mensch wird, hebt es sich auch gar bald uͤber die mechanische Einfoͤrmigkeit der Handlungen hinweg, die wir bei aller Verschiedenheit der Jnstinkte und der Himmelsstriche, durch das ganze Thierreich, von der Muschel bis zum Orangutang herrschen sehen. Durch die Sprache wird es ein Wesen hoͤherer Art, eine Gottheit der Erde, ein Herr der Schoͤpfung, indem es alle andern vernunftlosen Geschoͤpfe durch den Besitz jenes vorzuͤglichen goͤttlichen Geschenks weit hinter sich zuruͤk laͤßt, und die große Laufbahn des menschlichen Denkens fruͤhzeitig beginnt, gleichsam noch in der Wiege beginnt, wenn jene maschinenaͤhnliche Thiere oft schon halbe Jahrhunderte hindurch auf einer und eben derselben Stufe ihrer einfoͤrmigen Entwickelung stehen geblieben sind. Man erstaunt mit Recht, welch einen wichtigen Zuwachs von Kenntnissen wir schon in den ersten sechs bis acht Jahren unseres Lebens erhalten. Jn keiner folgenden Epoche desselben sammeln wir eigentlich wieder so viel neue Jdeen, als in jener, denn in ihr lernen wir eine Sprache mit etliche tausend verschiedenen Woͤrtern, und deren Verbindungen, Versetzungen und Wendungen, und zwar eine Sprache, welche zugleich die weitlaͤuftige Grundlage unsrer gesamten Kenntnisse ist, und an die sich gleichsam eine ganze Welt von neuen Gegenstaͤnden anschloß; anstatt daß wir durch Erlernung jeder andern Sprache nachher nicht neue Begriffe son-
dern groͤßtentheils nur neue Woͤrter fuͤr schon vorhandene Begriffe bekennen. — Schade! daß wir nur alle gar zu zeitig vergessen haben, wie viel damals die Entwickelung unsrer Jdeen; durch die Entwickelung unserer Sprache, und diese umgekehrt durch jene gewonnen hat; denn beide sind in einander gegruͤndet, und ihr beiderseitiger großer Einfluß auf einander zeigt sich nachher sehr deutlich in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens und Empfindens.
Es ist leicht zu begreifen, daß Kinder von den unzaͤhlichen Sprachwoͤrtern, womit gleich vom Anfang an ihr Ohr uͤberladen wird, oft nur den kleinsten Theil verstehen. Sie koͤnnen nicht eher bestimmte Begriffe von einer Sache haben, bis sie ihnen gezeigt wird, bis sie selbst Erfahrungen uͤber ihre Beschaffenheiten angestellt haben. Jst aber die Menge von Woͤrtern womit ihr Gedaͤchtniß fruͤhzeitig angefuͤllt wird dem Fortkommen ihrer Begriffe nicht mehr hoͤchst schaͤdlich, als nuͤzlich? — Mir ist das Erstere nicht ganz wahrscheinlich. Jn einem gesunden Zustande unserer Seele ist uns ein dunkeler Begrif immer etwas Unangenehmes. Schon an dem Kinde sehen wir eine starke Begierde sich deutliche Vorstellungen zu verschaffen, und bemerken eine innere Unruhe an ihm, wenn es nicht zu seinem Zwecke kommen konnte. Der Trieb der menschlichen Seele, ihre Vorstellungen zu erweitern, ist ein maͤchtiger Trieb (und man kann
ihn mit Recht die einzige Grundkraft derselben nennen.) Darauf gruͤndete Lessing sein Urtheil uͤber das in unsern Zeiten so sehr verschriene Vokabel lernen, »wenn ich Jugend haͤtte, sagte er mir einst als wir auf die neuen spielenden Methoden zu reden kamen, wodurch man Kinder auf eine leichte Art zu großen Lateinern machen wollte, so sollten sie Vokabeln lernen, wie ich in meiner Jugend habe Vokabeln lernen muͤssen; es ist wahr! sie wuͤrden manches Wort nicht verstehen; aber eben das wuͤrde die Thaͤtigkeit ihrer Seele zu neuen Begriffen mehr reizen, als unterdruͤcken — gesezt, daß es auch nur mittelmaͤßige Koͤpfe waͤren.«
Pockels, Carl FriedrichC. F. Pockels.
II. Ein Dichter im Schlaf.
Anonym [uͤber Waͤhner] Der ehemalige Professor Waͤhner zu Goͤttingen hat oft von sich erzaͤhlt, daß ihm in juͤngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei griechischen Versen auszudrucken.
Er beschaͤftigt sich ein paar Tage damit, er kann aber den aufgegebnen Gedanken ohne Nachtheil seiner Staͤrke nicht in zwei Verse zwingen.
Er schlaͤft an einem Abend unter der Bemuͤhung, diese zwei Verse heraus zu bringen, ein.
Jn der Nacht klingelt er seiner Aufwaͤrtrin, lasset sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt die im Schlafe noch gesuchten und gefundnen zwei Verse auf, und laͤßt sie auf seinem Schreibtische liegen und schlaͤft bis an den Morgen.
Da er aufwacht, weiß er von demjenigen nichts, was in der Nacht geschehen und faͤngt von neuem an, sich Gewalt anzuthun, um die beiden verlangten Verse zu finden; es will ihm aber nicht gelingen. Er steht mit Verdruß daruͤber auf, geht an seinen Schreibtisch und findet die beiden in der Nacht verfertigten und sehr wohl gerathnen Verse, und zwar mit seiner eignen Hand geschrieben. Er ruft die Aufwaͤrterin und erkundigt sich, woher das Blatt mit den zwei geschriebnen Reihen gekommen. Diese erzaͤhlt ihm dann, was in der Nacht geschehen. Er hat sich aber dessen nie erinnern koͤnnen. Er versicherte dabei, daß er den Abend vorher nichts von starkem Getraͤnke genossen, und mit dem nuͤchtersten Muthe zu Bette gegangen sey.
III. Psychologische Bemerkungen uͤber das Lachen, und insbesondere uͤber eine Art des unwillkuͤhrlichen Lachens.
Pockels, C. F. Der Mensch, welcher vermoͤge der ganzen Anlage seiner Natur, in so vieler Absicht, weit uͤber
das Thier erhaben ist, hat auch so gar sein Eigentuͤmliches im Ausdrucke seiner Freude, und seiner Schmerzen; was wir eigentlich bei keinem Thiere bemerken, — der Mensch lacht, wenn er sich lebhaft woruͤber freut, welches selbst im Traume geschehen kann — und er weint, wenn er entweder selbst einen koͤrperlichen Schmerz, einen Kummer seines Herzens fuͤhlt; oder durch die Leiden anderer sehr geruͤhrt wird, indem er sich durch eine schnelle, bald schwaͤchere bald lebhaftere Zuruͤkerinnerung an aͤhnlich gehabte Leiden, in die Stelle des andern sezt, und dessen Schmerz zu empfinden glaubt. Hier fehlt offenbar den Thieren das Vermoͤgen einer vernuͤnftigen Vergleichung ihrer eigenen, und anderer Schmerzen, und des deutlichen Ausdrucks derselben, durch eine Sprache, wodurch der Mensch so leicht Mitleid gegen sich erregt, und ohne die daher das Thier wohl eigentlich keiner Empfindungen des Mitleids, wenigstens keiner solchen, als der Mensch, faͤhig ist. —
Wenn gleich beim Lachen immer ein inneres Wohlbehagen, eine lebhafte Freude uͤber eine Handlung, oder einen sichtbaren Gegenstand zum Grunde liegen muß; so lehrt uns doch die Erfahrung, daß nicht jede Freude Lachen erregt; ja in gewissen Faͤllen wuͤrden wir, um mich so auszudruͤcken, jene Empfindung der Freude zu beleidigen, und zu beschimpfen glauben, wenn wir sie durch ein Lachen an den Tag legen wollten.
Hierher kann man alle die Faͤlle rechnen, wo wir uns, — auch wohl in einem sehr hohen Grade, und bei der staͤrksten Ueberraschung, uͤber ernsthafte Gegenstaͤnde, z.B. uͤber den reizenden Anblik der Natur, uͤber ein Meisterstuͤck der Kunst, uͤber Handlungen eines edeldenkenden Herzens, uͤber Entdeckungen neuer Wahrheiten, u.s.w. freuen. —
Auf der andern Seite erregt wiederum nicht jeder Schmerz Thraͤnen, wenn er nehmlich nicht stark genug ist, wenn er durch eine Menge Nebenempfindungen, durch Vorstellungen, die uns leicht zerstreuen, gleichsam in seinem Wege nach dem Auge hin, aufgehalten wird; — oder wenn er auch zu stark ist, daß er unsere Seele betaͤubt. Der stumme Schmerz, der sich nicht ausdruͤcken kann, der noch keine wohlthaͤtige Thraͤne in unsre Augen kommen laͤßt, der Schmerz der gleichsam an dem Jnnern unsrer Seele nagt, ist auch der qualvollste, — wir seufzen alsdann nach dem Ergusse unsrer Thraͤnen, und wenn diese sich erst ergießen; so scheint auch seine moͤrderische Wuth an uns nachzulassen.
Lachen und Weinen, duͤnkt mich, sind beides Erscheinungen an den Menschen, welche gar sehr die Aufmerksamkeit des Psychologen verdienen, indem sie dem Menschen allein zukommen, und ehe er noch reden kann, schon die deutliche Sprache seiner Leidenschaften, Schmerzen und Beduͤrfnisse sind, und gewiß aus sehr guten Absichten des Schoͤpfers
dazu gemacht wurden. Mehrere Schriftsteller haben ihren Ursprung zu erklaͤren gesucht; allein sie scheinen mit ihren Untersuchungen daruͤber noch nicht ganz zu Ende gekommen zu seyn, wenn wir darunter nicht sowohl die Untersuchungen verstehen, welche Gelegenheiten in diesen und jenen Gemuͤthszustaͤnden, Lachen und Weinen erzeugen; sondern wie, und warum diese PhaͤnomenePhoͤnomene grade unter gewissen Umstaͤnden und keinen andern, so und nicht anders entstehen, und wie vielen Antheil daran bald der Koͤrper, bald die Seele des Menschen hat. Der unerklaͤrbaren Erscheinungen der menschlichen Natur, besonders in dem Gebiete der Freude und des Schmerzes; der dunkeln in uns liegenden Vorstellungen die uns oft ganz unwillkuͤrlich zu Empfindungen beider Art reizen; der verschiedenen Modifikationen unsrer Vorstellungen, die sich bei heftigen Leidenschaften alle Augenblicke durch den gegenseitigen Einfluß des Leibes und der Seele auf einander, veraͤndern, sind so unendlich viele, daß es uns allerdings schwer werden muß in Absicht des Ursprungs jener Erscheinungen, etwas mit vollkommner Gewißheit zu bestimmen, — und mehr duͤrfen wir doch daruͤber nicht bestimmen, als was uns unser Gefuͤhl sagt, und was sich aus einer richtig angestellten Vergleichung mehrerer Gefuͤhle analogisch schließen laͤßt; wobei uns aber immer noch die innere Natur und Entstehungsart derselben unbekannt seyn kann.
Was das Lachen insbesondere betriff, so lehrt uns die Erfahrung, daß dabei vornehmlich folgende Ursachen zum Grunde liegen muͤssen; wir muͤssen entweder durch das Witzige, Sonderbare und Unerwartete eines launigen Gedankens auf eine angenehme Art geruͤhrt werdenworden; oder es muͤssen uns ungewoͤhnliche, bizarre Gegenstaͤnde vermoͤge ihrer laͤcherlichen Gestalt; oder auch ihrer unregelmaͤßigen Verbindung, in welcher sie sich mit entgegenstehenden Objekten wuͤrklich, oder auch nur unsrer Einbildung nach befinden; — aber auch wegen des Unerwarteten ihrer Handlungen, sehr auffallen. Das Lachen welches durch einen Kitzel des Koͤrpers hervorgebracht wird, oder das sogenannte animalische Lachen, rechne ich nicht hierher, weil unsre Seele daran keinen Antheil zu haben scheint; auch nicht das erzwungne und verstellte Lachen, weil ihm das Angenehme und Erquickende fehlt, welches die andern Arten des Lachens seiner Natur nach allemal begleitet.
Zu den vorher angegebenen Ursachen des Lachens rechne ich noch die Schadenfreude. Ohne mich auf eine genauere Untersuchung der Moralitaͤt dieser Art des Lachens einzulassen, die ohnedem hier gerade am unrechten Orte stehen wuͤrde, bemerke ich nur, daß dieses Lachen in den allermeisten Faͤllen, vorausgesezt, daß wir an dem Ungluͤck des andern nicht Schuld sind, nichts boͤses ist, ob es gleich allerdings sehr unanstaͤndig seyn kann.
Jn dem Augenblicke, wenn wir davon unwillkuͤrlich uͤberrascht werden, z.B. wenn jemand auf eine laͤcherliche Art hinfaͤllt, ist es uns nicht leicht moͤglich, die bizarren Jdeen, die sich uns zudraͤngen, und die schnell auf einander folgenden Bilder unsrer spielenden Phantasie, wegzuschaffen, welches gemeiniglich nicht eher geschieht, als bis wir ausgelacht haben, und die Vorstellungen von dem Schaden des andern, und das daher entstehende Mitleid, mehr Staͤrke in uns erhalten. — Ausserdem sind oft die Leiden andrer von einer so besondern Art, das Betragen der Leidenden selbst so albern, und ihre Denkungsart von der unsrigen, die wir nach unsrer Meinung in gleichen Faͤllen an den Tag legen wuͤrden, so verschieden, daß wir oft mit Muͤhe, oft auch gar nicht an ihren Schiksalen Theil nehmen koͤnnen. Wer einen Don Quixote wuͤrklich leiden saͤhe, wuͤrde sich eben so wenig des Lachens enthalten koͤnnen, als wenn er die Geschichte seiner laͤcherlichen Ungluͤcksfaͤlle in dem meisterhaften Romane des Cervantes lieset.
Es ist nicht zu laͤugnen, daß sich alle jene verschiednen Arten des Lachens aus einer einzigen Quelle, nehmlich aus einer lebhaften Stimmung der Freude uͤber das Neue und Auffallende gewisser Dinge, und Ausdruͤcke erklaͤren lassen, obgleich die individuellen Veranlassungen dazu unendlich verschieden seyn koͤnnen, und sich ohnmoͤglich alle angeben lassen. Wir haben noch keinen
Maasstab, den Grad dieser Stimmung anzugeben, der zur Hervorbringung des Lachens vorhanden seyn muß, und der nach den so sehr verschiedenen, bald feinern, bald groͤbern Empfindungsfaͤhigkeiten der Menschen, und ihrenihrern eben so verschiedenen Anlagen des Geistes, Aehnlichkeiten mit einander schnell zu vergleichen, so wie auch nach den jedesmaligen Gemuͤthszustaͤnden derselben, nicht anders als sehr verschieden ausfallen kann. Manche Menschen koͤnnen aus Mangel eines feinern Gefuͤhls durchaus nicht das Witzige eines Gedankens empfinden, woruͤber andre sich nicht satt lachen koͤnnen; andre scheinen nur fuͤr eine einzige Art des Laͤcherlichen einen Sinn zu haben; einige, besonders Kinder, und kindischwerdende Alte, lachen uͤber jede Kleinigkeit; wieder andre behalten den ewigen kalten Ernst auf ihre Stirne. — Man zeigte uns in der Geschichte eine Menge von Maͤnnern, die in ihrem Leben kein einzigesmal gelacht haben sollen, und man hat unsern Erloͤser, um ihm wahrscheinlich eine große Ehre dadurch zu erweisen, mit darunter gesezt.*)*) Laͤcherlich genug war der Gedanke eines bekannten Theologen dieses Jahrhunderts, der allenfalls zugestand, daß unser Erloͤser habe lachen koͤnnen; — aber uͤber nichts anders, als uͤber die — Bekehrung eines busfertigen Suͤnders. Sieh. d. Art. Lachen in Walchs Philos. Woͤrterb. Anmerk. d. Verf.
So viel duͤnkt mich ist gewiß, daß wir, sey es nun von einem aͤussern Gegenstande, oder Gedanken, der mit einem andern in einem auffallenden Kontrast steht — uͤberrascht werden muͤssen, wenn wir daruͤber lachen sollen. Das Laͤcherliche bleibt zwar seiner Natur nach immer laͤcherlich, aber es bleibts nicht immer fuͤr jeden einzelnen Menschen, und fuͤr jeden Zustand unserer Empfindungen. — Es kann den Wiz seiner Neuheit verliehren; es kann nach und nach Jdeen in uns aufwecken, die unsre Seele zu einem gewissen Mismuth stimmen, der die folgende Wirkung des Laͤcherlichen auf uns hindert. Wir koͤnnen das oft nach einiger Zeit mit unveraͤndertem Gesichte hoͤren, und betrachten, woruͤber wir sonst in ein lautes Lachen ausbrachen — ja der nehmliche Scherz zu oft, und noch dazu von einem elenden Kopfe gesagt, — oder der auch nur sonst etwas Unangenehmes fuͤr uns hat, — kann uns endlich gar zum Ekel werden, der mit einem Aerger uͤber diejenigen verbunden ist, die daran noch Geschmak finden koͤnnen. Allerdings kommt es bei dem Gefuͤhl des Laͤcherlichen mit sehr viel auf die jedesmalige Disposition unsers Koͤrpers an. Es giebt Tage und Stunden, wo wir froheres Muths als sonst sind, ohne daß wir gerade den hinreichenden Grund davon in ein vorhergehendes Nachdenken uͤber angenehme Gegenstaͤn-
de, und die dadurch hervorgebrachte Heiterkeit unsres Geistes setzen koͤnnten. Alle Gegenstaͤnde haben fuͤr uns in solchen unwillkuͤrlich entstandenen frohen Augenblicken ein lachendes Ansehn; unsre Vorstellungen folgen mit einer ungewoͤhnlichen Leichtigkeit und Zufriedenheit auf einander; schluͤpfen gleichsam vor verdruͤßlichen Gegenstaͤnden voruͤber, und machen uns geneigt, selbst das, was uns sonst Kummer macht; von seiner laͤcherlichen Seite anzusehn. —
Eben so wird jeder die Erfahrung an sich selbst gemacht haben, daß wir oft eine Neigung zum Lachen in uns wahrnehmen, ohne daß wir die eigentliche Ursache davon bestimmt anzugeben im Stande sind; zumal da diese Neigung oft schnell wie ein Bliz verschwindet. Wahrscheinlich waren es einige dunkle Vorstellungen, und Erinnerungen an gewisse laͤcherliche Scenen unsres Lebens, die vor der Seele schnell voruͤbergingen, (wie wir auch oft im Schlafe haben) die jene Neigung einige Augenblicke in uns erzeugten; — eben so lacht man gemeiniglich wenn andre lachen, ohne daß man den Grund davon weiß; — oder auch wenn in einer lauten Gesellschaft auf einmal eine feierliche Stille entsteht. Verschiedne meiner Freunde haben mich versichert, daß sie wegen einer solchen entstandnen Stille sich gemeiniglich zwingen muͤßten, um nicht waͤhrend des Tischgebets in ein lautes Lachen auszubrechen, und daß sie in ihrer Kindheit, weil sie sich beim Gebete durchaus nicht des Lachens erwehren
konnten, oft vergebens von ihren Eltern gezuͤchtigt worden waͤren.
Am ungewoͤhnlichsten, und sonderbarsten scheint aber die Neigung zum Lachen zu seyn, die manche Menschen, auch wohl ernsthafte Leute, denen man gewiß keine Leichtsinnigkeit Schuld geben kann, alsdann in sich empfinden, wenn ihnen andre ihre gehabten, oder gegenwaͤrtigen Leiden schildern. — Es ist uns freilich nicht immer leicht, uns sogleich in die Stelle eines Elenden zu versetzen, der uns seine Leiden klagt, und natuͤrlich eine schnelle Theilnehmung von uns verlangt. Wir koͤnnen grade zu der Zeit, daß uns ein Ungluͤcklicher aufstoͤßt, zu froher Laune seyn, als daß wir uns sogleich fuͤr ihn umstimmen koͤnnten; der Leidende kann auch uns nicht besonders angehen; er kann zu viel Schuld an seinem Ungluͤcke haben, seine Art zu klagen, und sich auszudruͤcken kann unartig, ungesittet seyn; er kann Leidenschaften verrathen, die mit unsern moralischen Begriffen nicht zusammenpassen; oder wir koͤnnen auch glauben, daß der groͤßte Theil seines Uebels nur eingebildet ist, diese und mehrere Umstaͤnde koͤnnen zusammenkommen, welche unser Mitleid zuruͤckhalten, und uns wohl gar in eine Art Gleichguͤltigkeit gegen den Leidenden versetzen. — Aber unsre Natur scheint uns doch dabey, um mich so auszudruͤcken, einen unanstaͤndigen Streich zu spielen, wenn sie uns da ein Lachen abzwingen will, wo andre einen mitleidsvollen Eindruck auf unser
Herz machen sollten. Mich haben viele Leute, auf deren Aussage ich mich verlassen kann, versichert, daß sie sich oft gezwungen saͤhen, bey den Klagen andrer das Gesicht von ihnen wegzuwenden; oder sich geschwind einen Schmerz auf der Zunge zu verursachen, um nicht in ein lautes Lachen auszubrechen; — oder auch sich sogleich eines Ausdrucks, einer Wendung ihrer Gedanken zu bedienen, die in dem Augenblick, ohne den Elenden auf einen Verdacht von Gefuͤhllosigkeit zu bringen, mit einer lachenden Miene gesagt werden konnte; ein Lachen wodurch sie nach ihrem Gestaͤndnisse, das durch den Leidenden unwillkuͤrlich verursachte, gleichsam bemaͤnteln wollten.
Woher nun diese unwillkuͤrliche Erscheinung an den Menschen, und zwar grade alsdann, wenn wir uns selbst ihre Leiden vorstellen, und sie sogar vor uns leiden sehen? — Mich duͤnkt, man koͤnne die Sache ohngefaͤhr so erklaͤren.
Wir moͤgen entweder von einem koͤrperlichen Schmerz, oder von irgend einem Kummer unsrer Seele angegriffen werden, so aͤndern sich auch sogleich an den meisten Menschen hundert Dinge, die nun wegen ihrer veraͤnderten Gestalt einen ganz andern Eindruk auf uns, als sonst machen muͤssen.
Die Sprache, Geberden, der Gang, oft die ganze Denkungsart des Menschen wird gemeiniglich anders wenn er leidet, und diese schnelle Veraͤnderung des Menschen, die oft den angesehnsten
Mann zum laͤcherlichen Betragen eines Kindes herabsezt, diese weinerliche Stimme, diese ernsthafte zusammengezogene Stirne, dieser schleichende furchtsame Gang, und dann auch vornehmlich das Bizarre, Auffahrende, Ungeduldige, was viele Menschen in ihrem Ungluͤcke an den Tag legen, hat etwas sehr auffallendes und Kontrastirendes an sich, und dieses Sonderbare kann denn leicht, zumal wenn wir uns das Elend des andern noch nicht deutlich genug vorstellen, uns eine Neigung zum Lachen einfloͤssen, wozu noch der besondere Umstand kommt:
Das Gesicht des Traurigen hat in Absicht der Verzerrung seiner Muskeln, eine Aehnlichkeit mit dem Gesichte des Lachenden, durch dieß letztere werden wir auf eine mechanische Art selbst zum Lachen gestimmt. Das Verzerrte und Verzogene unsrer Mienen erregt es schon ohne Begleitung witziger Gedanken. — Etwas aͤhnlich Verzerrtes sehen wir im Gesichte des Klagenden, zumal wenn sein Schmerz koͤrperlich ist, und diese verschobene Gesichtsform, die sonst gewoͤhnlich uns zum Lachen geneigt macht, wenn der andre keinen Schmerz fuͤhlt, ist es, nach meiner Meinung, welche uns auch denn laͤcherlich vorkoͤmmt, wenn der andre leidet. Eben so kann es leicht geschehen, daß uns ein Lachen auch alsdann anwandelt, wenn wir andern unsre Leiden zu schildern anfangen wollen, indem die, welche uns anhoͤren, entweder aus wuͤrk-
lichem Mitleid, oder aus einer verstellten Theilnehmung ihr Gesicht in ernsthafte Falten zu legen suchen, was uns oft nicht anders als laͤcherlich vorkommen kann.
Zur Erlaͤuterung des Vorhergehenden will ich nur noch folgende Bemerkungen hinzusetzen, die sich von allen Menschen, doch nach den verschiednen Graden ihrer Empfindungsfaͤhigkeiten, und Organisation verschieden abstrahiren lassen. Wenn wir auf uns genau Acht geben, sonderlich wenn wir uns in dem Zustande gemischter Empfindungen befinden, — (und wahrscheinlich befinden wir uns immer darin, ob wir uns dieses Zustandes gleich nicht allemal deutlich bewust seyn koͤnnen; — ) so kann es uns nicht schwer werden zu bemerken, daß die Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen gar leicht in der Seele mit einander abwechseln, unbegreiflich schnell in einander uͤbergehen, und sich in einander aufloͤsen lassen — und zwar nicht immer nach einer Folge vorhergegangener deutlicher Vorstellungen daruͤber, sondern sehr oft durch einen ploͤtzlichen Tausch unsrer Gefuͤhle, um den wir uns keine Muͤhe gegeben hatten. Unzaͤhlig oft sind wir uns der Gruͤnde nicht ganz bewußt, wie und durch welche Mittelwege sie aus einem angenehmen Zustande in einen unangenehmen, und umgekehrt, uͤbergehen. Nach einem langen heftigen Schmerz unsrer Seele fuͤhlen wir oft auf einmal ein inneres Wohlbehagen; obgleich
die Ursach des Schmerzes noch nicht aufgehoͤrt hat, und wir durch keine vorhergehenden Vorstellungen zu dieser wohlthaͤtigen Empfindung gestimmt wurden. Freilich dauert dieser Zustand selten lange; der Schmerz faͤngt bald wieder von neuem zu wuͤthen an, hoͤrt auch verschiednemal wieder auf, bis wir ihn nach und nach ertraͤglicher finden. Jn dieser schwankenden Bewegung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, sehen wir sehr oft, vornehmlich lebhafte Geister, und die noch weiche Seele junger Kinder, die man oft in einer Minute weinen und lachen sieht.
Noch ein andrer hierher gehoͤriger Erfahrungssatz ist der, daß ein solcher Wechsel zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen gemeiniglich leichter erfolgt, wenn die Seele irgend auf eine Art entweder durch lebhafte Freuden, oder Leiden sehr erschuͤttert ist, als wenn sie sich, um mich so auszudruͤcken, in einem Gleichgewicht ihrer Empfindungen und Vorstellungen befindet, und sich also mehr in ihrer Gewalt hat. Fuͤr die meisten Menschen sind sehr froh durchlebte Stunden gefaͤhrliche Vorboten truͤber Gedanken und Empfindungen, von denen sie nicht selten mitten im Genuß der Freude unwillkuͤrlich uͤberrascht werden, und wodurch sich auf einmal alle Kanaͤle des Frohseins in ihren Herzen verstopfen. — Umgekehrt zerreissen oft die Bande womit uns ein heftiger Schmerz gefangen hielt, ehe wir's uns versehn, — und
ohne daß vorher die staͤrksten Gruͤnde der Vernunft etwas zu unsrer Beruhigung beitragen konnten, ist es oft ein einiger aͤusserer kleiner Umstand, der uns auf einmal froh machte, und eine ganz neue angenehme Folge von Vorstellungen in uns erweckt.
Es entsteht hier die Frage, nach welchem Gesetze dieser unwillkuͤrliche Wechsel unsrer Empfindungen, der so sichtbar von unserm Koͤrper abhaͤngt, erfolgt? — mich duͤnkt, um die Sache sinnlich auszudruͤcken, nach einer bald staͤrkern, bald schwaͤchern Nervenerschuͤtterung als der vornehmsten Werkzeuge unsrer Empfindungen*).*) Der menschliche Beobachtungsgeist und Scharfsinn wird es wohl schwerlich dahin bringen, daß man die Bewegungen unsrer Nerven, die noͤthig sind um Schmerz und Vergnuͤgen in dem menschlichen Koͤrper hervorzubringen so wie die verschiednen Erschuͤtterungen einer Saite angeben, und berechnen koͤnnte. Ein Calkulus unsrer Empfindungen beider Art wuͤrde uns aber gewiß sehr tiefe Blicke in die Natur der menschlichen Seele thun lassen. — Wir wuͤrden alsdenn nicht mehr nach dem Gesicht allein, sondern nach Gruͤnden der Vernunft, die Grenzen bestimmen koͤnnen, wo sich eigentlich Schmerz und Vergnuͤgen, ob sie gleich in einem Organ vereinigt sind, von einander trennen; wir wuͤrden richtigere Begriffe von der Natur gemischter Empfindungen bekommen, und der Ursprung aller unsrer Jdeen und ihrer unendlichen Abwechselungen, sonderlich ob wir durch ganz freie Willkuͤhr von einem Gedanken zu dem andern uͤbergehen; wie Gedanken auf unsern Willen wuͤrken, und wie weit wir eigentlich frei, oder nicht frei handelnde Wesen genennt werden koͤnnen — wuͤrde uns alsdenn viel einleuchtender als jezt seyn, da wir um mich so auszudruͤcken, das innere Raͤderwerk unsrer Empfindungen und Vorstellungen nur nach seinen Aussenwerken kennen, und uns mit einem Unterschiede quaͤlen, den die Schule zwischen zwei einander entgegengesezten Substanzen — nicht ohne Grund; aber auch ohne Vortheil fuͤr die sogenannte Seelenlehre gemacht hat. Anm. d. Verf.
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Wird ein Theil unseres Nervengebaͤudes so afficirt, daß dessen Erschuͤtterungen in einer gleichmaͤßigen, der Gesundheit der Maschine vortheilhaften Bewegung erfolgen, wodurch der Zusammenhang der Theile nicht getrennt, sondern in der natuͤrlichen Ordnung des Gebrauchs jener Theile gelassen wird; so stellen wir uns vor, daß die Empfindung eine koͤrperlich angenehme Empfindung seyn muͤsse; aber unsre Nerven koͤnnen auch unregelmaͤßig, mit zu vieler Anstrengung, und wider die Regeln der Gesundheit der Maschine erschuͤttert werden; alsdenn glauben wir, daß die Empfindung unangenehm sey. Wie nahe grenzt nicht Vergnuͤgen und Schmerz bei dem Reiben einer Wunde zusammen! — jenes wird durch ein sanftes Beruͤhren, dieser durch ein staͤrkeres hervorgebracht; das Licht der Sonne, wenn wir es von andern Koͤrpern und sonderlich durch die Farben zuruͤckgeworfen, erhalten, ist angenehm und wohlthaͤtig, da es uns hingegen Schmerzen in den Augen verursacht, wenn wir sie selbst nach der Sonne richten. — Das Sanfte und Harmonische einer Musik theilt sich un-
serm Ohre auf die angenehmste Art mit, es dringt in die Seele, und erregt Leidenschaften, die nur sonst die edle Sprache der Zunge, und die Gruͤnde einer nachdenkenden Vernunft erzeugen koͤnnen; allein wir verstopfen die Ohren, wenn wir Dissonanzen hoͤren muͤssen, oder wenn auch die Harmonie der Toͤne zu laut und schreiend wird. Jn allen diesen, und noch hundert andern Faͤllen, ist es sichtbar, daß die Verschiedenheit unsrer Empfindungen von den verschiedenen Graden der Nervenerschuͤtterung abhaͤngt, und daß, weil diese bald staͤrker bald schwaͤcher werden kann, jene Empfindungen selbst unendlich leicht, als koͤrperliche Bewegungen unsrer Maschine betrachtet, in einander uͤbergehen, und sich in einander aufloͤsen koͤnnen. Aber noch mehr. — Nicht nur der Wechsel solcher Empfindungen, die sich unmittelbar auf unsere Sinne, und die feinern Werkzeuge derselben, nemlich auf den Bau und die Bewegung unsrer Nerven beziehen, haͤngt von ihrer bald staͤrkern bald schwaͤchern Erschuͤtterung ab; — sondern das ganze Geschaͤfte unsres Denkens, und die Empfindungen, welche sich zunaͤchst allein auf den Einfluß eines einfachen Wesens auf unsre sinnliche Natur, oder sogenannter abstrakter Vorstellungen auf dieselbe zu gruͤnden scheinen, werden nicht selten nach obigen großen mechanischen Empfindungsgesetze bestimmt, und wechseln so leicht mit einander ab, als die blos thierischen Gefuͤhle von Schmerz und Lust es nur
immer thun koͤnnen; langes fortgeseztes Nachdenken erregt nicht selten Unlust der Seele, so viel Vergnuͤgen es auch anfangs gewaͤhrte; die zu lebhafte Vorstellung eines nahen Gluͤcks ist nicht selten in den nehmlichen Augenblicken mit einer heftigen ahnenden Unruh verbunden, die wir uns nicht erklaͤren koͤnnen, und wer kennt nicht Leute, die sich selbst bei einem gegenwaͤrtigen Gluͤcke nicht so wie sie wuͤnschen, freuen, weil sie nicht uͤber den unwillkuͤrlich, immer von neuem aufsteigenden Gedanken hinwegkommen koͤnnen, daß ihr Gluͤck von kurzer Dauer seyn werde; ob sie gleich keine Gruͤnde zu dieser Furcht haben. Das Weinen aus Freude kann man sich gleichfalls nicht anders, als aus solch einem schnellen Uebergange einer frohen in eine unangenehme traurigmachende Empfindung erklaͤren, die uns zu einer Wehmuth reizt, welche Thraͤnen aus unsern Augen lokt, und die wir denn durch eine Taͤuschung unsrer Empfindungen, fuͤr Wuͤrkungen der Freude allein halten.
Pockels, Carl FriedrichC. F. Pockels.
Zur Seelenheilkunde.
I. <Brief aus Guͤstrow> K., J. H. (Der folgende Brief enthaͤlt, ohngeachtet des Schwaͤrmerischen und Einfaͤltigen im Ausdruck, sehr vernuͤnftige Gedanken, und ist um so merkwuͤrdiger, weil er von einem Unstudirten zu kommen scheint, der bloß nach seinem richtigen Gefuͤhl, ohne vorgefaßte Meinungen, urtheilt.)
Guͤstrow im Mecklenb. 1783 Nov. den 9ten. Sagen moͤchte ich Jhnen gern mehres, als ich durch Briefe zu Jhnen tragen lassen kann. Sie zu besuchen, wollen meine Umstaͤnde nicht zulassen, also uͤbersende ich Jhnen diesen Brief.
October den 27sten kam mir unvermuthet das erste Stuͤck des ersten Bandes von dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde zu Haͤnden, was darinnen von der Seelenkrankheitskunde und von der Seelenheilkunde gesagt wird, ist mir vorzuͤglich wichtig, weil ich selbst seit kurzer Zeit, von einer neunjaͤhrigen Seelenkrankheit, durch meines guͤtigen Schoͤpfers und Erhalters Beystand, (bis auf kleine Anfaͤlle) gesund geworden bin.
Der ein, die Seelenkrankheit der Menschen, heilender Arzt seyn will, (ich meine, Einer, der die unsaubern mit Faͤusten schlagende Satans-En-
gel, aus Seelenkranken Menschen heraustreiben will,) muß nothwendig die Seelenkrankheit erst selbst uͤberstanden haben, das heißt — Er muß mit seinem guͤtigen Schoͤpfer und Erhalter, und mit sich selbst im festen Frieden stehn, er muß daneben vielfaͤltige Menschenkenntniß haben, und ein scharfsichtiger Beobachter der Menschen seyn.
Seelenkranke Menschen, bei denen entweder uͤbertriebne Liebebegierde oder uͤbertriebne Ehrbegierde (eine Begierde, fuͤr der andern starke Macht hat,) die muͤssen entweder von der Liebebegierde zur Ehrbegierde, oder umgekehrt, durch Kunst des Arztes uͤbergelocket werden.
Bei denen also, wo Liebebegierde und Ehrbegierde ohngefaͤhr mit gleicher Macht herrschen, denen muß der Arzt durch scherzhafte Erzaͤhlungen und lustige Begebenheiten, die Seelen in Bewegung bringen, und durch wohlthaͤtige Erzaͤhlungen und lobenswuͤrdige Begebenheiten, die Seelen erweichen, (er muß die Gedanken bei ihnen vervielfaͤltigen,) sie zum Umgange mit allerley Menschen wieder gewoͤhnen, und sie zu bestaͤndigen Geschaͤften anweisen, er muß sie uͤberfuͤhren, daß auf der Welt nichts ist, das eine uͤbertriebne Liebe werth sey, daß uͤbertriebene Ehrbegierde Unsinn, und Laufen zum Nachruhm — Raserey sey, er muß sie oft an die kurze Dauer des zeitlichen Lebens erinnern.
Alle Seelenkranke Menschen hegen unzufriedne Gedanken gegen ihren guͤtigen Schoͤpfer und Er-
halter, und gegen sich selbst. Als uͤberfluͤsig will ich nur erinnern, daß der Arzt, auch nicht mal den Schein des Arztes von sich blicken lassen darf. Jch wuͤnsche von ganzer Seele — und hoffe, daß viele Menschenkenner die Kunst — Seelenkranke Menschen zu heilen, gruͤndlich zu erforschen suchen, und der Welt bekannt machen werden.
K., J. H.J. H. K.
II.
<Ein unseliger Hang zum Theater> Moritz, Karl Philipp Paulmann, Johann LudwigEiner meiner Freunde hat einen Paulmann, Johann Ernst LudwigSohn, den, bei dem besten Herzen, ein unseeliger Hang zum Theater beinahe um die ganze Gluͤckseeligkeit seines Lebens gebracht haͤtte.
Schon im 19ten Jahr hatte er nach einem zu sehr angestrengten Fleiß in der Geschichte einen Anfall von Hypochondrie gehabt, der einige Monathe dauerte, und worauf eine uͤbertriebene Heiterkeit des Gemuͤths folgte, die ihn eine Zeitlang zu allen ernsthaften Beschaͤftigungen unfaͤhig machte.
Er fing nun an, Komoͤdien zu lesen, und gewann diese Lektuͤre bald so lieb, daß seine ganze Seele von Jdeen aus der theatralischen Welt angefuͤllt wurde. Nun fuͤgte es sich, daß eine herumwandernde Schauspielergesellschaft gerade zu der Zeit in seine Vaterstadt kam, wo er nun das, womit sein Geist sich schon immer bei Tage beschaͤfti-
get, und wovon er des Nachts getraͤumt hatte, vor seinen Augen wirklich dargestellt sahe. —
Jetzt war er seiner nicht mehr maͤchtig. Die wirkliche Welt war vor ihm verschwunden, und er lebte und webte bloß in der Theaterwelt.
Sobald er auf seiner Stube allein war, deklamirte er sich die Rollen wieder vor, welche den meisten Eindruck auf ihn gemacht hatten, und schonte dabei seine Stimme und seine Haͤnde nicht.
Sein Vater traf ihn einmal in einer dieser Attituͤden an, und bestrafte ihn durch einem Blick, welcher unsern Roscius, der ihn anfaͤnglich nicht bemerkt hatte, in die groͤßte Verwirrung und Beschaͤmung versetzte. — Sein Vater laͤchelte, und ließ es gut seyn. — Haͤtte er damals die sehr ernsthaften Folgen dieses Uebungsspiels bei seinem Sohne voraussehen koͤnnen; er wuͤrde wahrscheinlich nicht gelaͤchelt haben.
Der Paulmann, Johann Ernst LudwigSohn meines Freundes, den wir D*** nennen wollen, bezog nun die Universitaͤt mit dem besten Vorsatze, fleißig zu seyn, aber mit der schlechtesten Anlage, diesen Vorsatz auszufuͤhren, der gar nicht recht mit dem Jdeal uͤbereinstimmen wollte, was sich seine Phantasie von seinem kuͤnftigen Leben entworfen hatte.
Uebrigens kam ihm das zu statten, daß er Theologie studieren sollte. — Denn nun fing er bald an zu predigen, und konnte doch auf die Weise
seinen unwiderstehlichen Hang zum theatralischen Deklamiren in etwas befriedigen.
Ein Grund, der mehr junge Leute zum Studium der Theologie antreibt, als man glauben sollte. — Die Neigungen der Juͤnglinge werden immer mehr durch die Zeichen der Sache, als durch die Sache selbst gelenkt. Der zierliche Husarenpelz, und der weiße Kragen machen mehr Proselyten, als der Degen und die Bibel.
Paulmann, Johann Ernst LudwigD*** hatte seine Universitaͤtsjahre vollendet, und sollte sich nun in seiner Vaterstadt zu irgend einem geistlichen Amte tuͤchtig zu machen suchen. Ungluͤcklicher Weise mußte daselbst gerade zu gleicher Zeit mit ihm wieder eine Schauspielergesellschaft eintreffen. — Jn mehrern Jahren hatte er nicht Gelegenheit gehabt, ein Schauspiel zu besuchen. — Auf einmal erwachten nun die lange erstickten Vorstellungen und Traͤume wieder. Die Theaterwelt stand aufs neue in ihrem hoͤchsten Glanze vor seiner Seele da.
Alles uͤbrige wurde ihm verhaßt, die Freuden aus der wirklichen Welt wurden ihm schaal und abgeschmackt. Er sahe keine Aussicht, seinen Wunsch zu erfuͤllen, ohne seinen Vater zu kraͤnken und zu hintergehen. Auch lag bei ihm selbst die zu schwache Vernunft, mit der staͤrkern Phantasie, in immerwaͤhrendem Kampfe.
Waͤhrend daß er es versaͤumte, sich auf der ihm vorgeschriebenen Laufbahn des Lebens weiter zu
bringen, hatte er doch auch noch nicht den Muth fuͤr sich selbst eine andre anzutreten, die fuͤr ihn unendlich viel mehrere Reize hatte.
Verschiedene seiner Freunde, die mit ihm im gleichen Alter waren, und gleiche Aussichten hatten, machten in kurzem ihr Gluͤck. Dieß schmerzte ihn, ohne daß er sich ein aͤhnliches Gluͤck gewuͤnscht haben wuͤrde. Und doch machte er auch keine Anstalt dazu, auf seine eigne Weise gluͤcklich zu seyn.
Weil er nun kein Ziel hatte, worauf die einzelnen kleinen Handlungen seines Lebens, im Ganzen genommen, abzwecken konnten, so ging es ihm, wie einem Wanderer, der einen Scheideweg vor sich sieht, wo er nicht weiß, welchen er waͤhlen soll, und ehe er, weil er schon muͤde ist, einen Schritt vergeblich thun will, lieber ganz still steht, bis er erst mit Gewißheit erfahren kann, wohin er seinen Fuß lenken soll. — Er wurde gaͤnzlich unthaͤtig, mißmuͤthig, traurig, schloß sich Tage lang auf seiner Stube ein, scheute sich, Menschen zu sehen, mochte keine Hand bewegen — die entschließende Kraft seiner Seele war gelaͤhmt.
Jnnigst betruͤbt uͤber diesen Zustand drang Paulmann, Johann Ludwigsein Vater einmal auf das heftigste in ihn, und brachte das lange verhaltne Gestaͤndniß von ihm heraus, er habe eine unuͤberwindliche Neigung aufs Theater zu gehen, und diese mache ihn ungluͤcklich.——
Jn dem Zustande reiste er zu mir, um sich einige Monathe bei mir aufzuhalten. — Jch war erstaunt, als ich ihn sahe, uͤber die Niedergeschlagenheit seines Gemuͤths, und die Unentschlossenheit seiner Seele. Manche Stunden war kaum ein Wort aus ihm zu bringen.
Wir bezogen zusammen einen Garten, aus welchem wir nicht weit aufs freie Feld hatten. Kein Morgen wurde versaͤumt, wo wir nicht spatzieren gingen, und kein Abend, wo er nicht die Komoͤdie besuchte.
Er fand allmaͤlig wieder Geschmack an den Schoͤnheiten der Natur, und so wie wir aus der heitern freien Luft zuruͤckkehrten, hatte sich auch seine Seele wieder etwas ermannet, und es war wieder einige Elasticitaͤt und Festigkeit in seinen Entschließungen, sie mochte nun die theatralische oder gelehrte Laufbahn zum Augenmerk haben. — Da erwachten auch oft die Regungen der kindlichen Liebe in ihrer ganzen Staͤrke wieder, und er vergoß oft Thraͤnen der Wehmuth uͤber die Kraͤnkung, welche er seinen Eltern verursachte.
Jch that dabei nichts weniger, als daß ich ihn von dem Entschluß, sich dem Theater zu widmen, oder von dem taͤglichen Besuch der Komoͤdie haͤtte abrathen sollen.
Oft war er am Morgen, wenn wir aus der großen, und wahren Natur zuruͤckkehrten, fest entschlossen, seine alte Phantasie ganz fahren zu
lassen, sich einem thaͤtigen und gemeinnuͤtzigen Leben zu widmen, und seinen Eltern ihren Kummer, den sie seinetwegen erlitten hatten, auf die Weise wieder zu verguͤten —— und am Abend, wenn er aus der Komoͤdie, aus der so oft laͤppisch uͤberspannten, oder winzig entstellten Natur auf dem Theater, und besonders etwa aus einem Stuͤck, wie die Raͤuber, zuruͤckkehrte, so war alles wieder verschwunden, die innere Unruhe, die Unentschlossenheit in seiner Seele war wieder da, sein edleres Selbst war aufs neue verdraͤngt.
Es kam nun darauf an, was bei ihm den Sieg behalten wuͤrde. — Denn irgend ein Entschluß mußte doch einmal gefaßt werden.
Auch durften beide Gewichte nicht zu leicht gegeneinander seyn, wenn das Uebergewicht sich bleibend auf irgend eine Seite lenken sollte. —
Sein Vergnuͤgen an dem reinen und edlen Genuß der Natur nahm taͤglich zu — und seine Seele wurde nun ruhiger, da er von seinem Vater die Erlaubniß erhielt, aufs Theater zu gehn, wenn seine Neigung dazu schlechterdings unuͤberwindlich waͤre.
Es hing also nun voͤllig von ihm ab, seinem sehnlichen Wunsch vollkommen ein Gnuͤge zu leisten. — Er schrieb wegen seines Engagements an die Direktion einer Schauspielergesellschaft, und waͤhrend daß er die Antwort auf diesen Brief erwarte-
te, wurden die Spaziergaͤnge des Morgens und der Komoͤdienbesuch des Abends immer fortgesezt.
Die Beruhigung, welche durch seine jetzige Lage in seiner Seele entstand, schloß sein Herz immer bessern Gefuͤhlen auf; und da ihn nichts mehr abhielt, seine Wuͤnsche zu erfuͤllen, so fing er allmaͤlig an, nicht mehr hin und hergezogen zu werden, sondern selbst die erneuerte Elasticitaͤt seiner thaͤtigen Kraft zuweilen zu versuchen.
Allein ich traute diesem betruͤglichen Anschein nicht, sondern suchte nun aus allen Kraͤften seinem Entschluß zum Theater das Uebergewicht zu geben, um am Ende entweder einen vollkommnen oder gar keinen Sieg zu erhalten, da er uͤberdem in keinen schlimmern Zustand, als diesen einer ewigen Unentschlossenheit gerathen konnte.
Die Antwort der Schauspieldirektion kam an, mit dem Anerbieten eines sehr vortheilhaften Engagements, welches aber binnen vierzehn Tagen sollte angetreten werden.
Paulmann, Johann Ernst LudwigD*** war zwar vergnuͤgt hieruͤber, aber seine Freude war lange nicht so ausgelassen, wie ich erwartet hatte, da dieser Brief doch nun alle seine Wuͤnsche kroͤnte.
Auf unsern Spaziergaͤngen, die bis zum Tage seiner Abreise fortgesezt wurden, unterhielten wir uns nun bestaͤndig von seiner kuͤnftigen Lebensart, und der Laufbahn, die er nun antreten sollte; und ich
merkte bestaͤndig, daß er immer aufmerksamer und nachdenkender wurde, jemehr ich ihm die angenehme Seite davon zu schildern suchte. — Seine Denkkraft war wieder thaͤtig geworden — er uͤberlegte, er verglich —.
Wir sprachen dabei von seinen Eltern — ich stellte ihm vor, wie gut es sey, daß er doch auch nun die Erlaubniß Paulmann, Johann Ludwigseines Vaters zu diesem Schritte habe — auch das machte ihn nachdenkend — die reinen, die edlen Empfindungen der kindlichen Liebe waren kraͤftiger in seiner Seele erwacht — er entschloß sich, die sanften Charaktere, wozu ich ihm gerathen hatte, kuͤnftig zu seinen Lieblingsrollen zu machen, statt daß er sonst immer fuͤr das fuͤrchterlich Tragische und Schreckliche gestimmt war.
Er fing an, auf das Solide, auf den Unterhalt, auf das Fortkommen im Alter bei seinem kuͤnftigen Stande zu denken.
Er kam mit Abscheu und Widerwillen zuruͤck, da er eines Abends die Raͤuber hatte auffuͤhren sehn, und fand mehr Geschmack an den ruͤhrenden und sanften Stuͤcken, und allem was der Natur naͤher kam, aus derer Betrachtung seine Seele am Morgen des Tages neue Kraft und Nahrung gesogen hatte.
Der Tag seiner Abreise kam heran. Waͤhrend diesen Spaziergaͤngen am lezten Morgen war er erst still und nachdenkend, dann leuchtete auf einmal eine ungewoͤhnliche Heiterkeit aus seinem Gesicht hervor; mit dem Ausbruch der innigsten Freu-
de fiel er mir um den Hals und sagte: Jch gehe nicht aufs Theater, ich reise zu meinen Eltern. — Jch traute noch nicht, sondern suchte ihn durch die staͤrksten Gegengruͤnde wieder zu seinem ersten Entschluß zuruͤckzubringen. Allein er reiste denselben Tag noch zu seinen Eltern ab, die ihren Sohn, der nun gaͤnzlich von seiner Phantasie geheilt war, mit ofnen Armen empfingen.
Moritz, Karl PhilippM.
III. Einfluß der Dogmatik auf die Ruhe und Heiterkeit der Seele. Anonym [Hypochondrist] Reflexionen eines ehemaligen Hypochondristen.
Die meisten Hypochondristen wird man, wo ich nicht sehr irre, unter den Gottesgelehrten antreffen. Die schwere und ernsthafte Natur ihrer Beschaͤftigungen, ich will noch, mit Erlaubniß, hinzusetzen, die Ungewißheit mancher Theile ihrer Wissenschaft, die uͤberhaupt sehr oft mehr wissen will und soll, als dem Menschen uͤberhaupt gegeben ist; — daß vielen ihrer Saͤtze eine ungleich hoͤhere Wichtigkeit, als den Saͤtzen anderer Wissenschaften, entweder mit Recht, oder aus wirklicher Uebertreibung, beigelegt wird, die Gefahr, innerliche oder doch groͤßtentheils aͤusserliche von den innungsmaͤßigen Vorstellungen abzuweichen, oder die Geissel
der Ketzermacherei; endlich, daß manche Vergnuͤgungen oder wenigstens Zerstreuungen, die andere Staͤnde aufheitern, fuͤr sie entweder geradezu suͤndlich, oder doch nicht schicklich seyn muͤssen; dies alles traͤgt zur Erweckung oder Vermehrung der Hypochondrie bei, die auch in der That an vieler Schwaͤrmerei und Sonderlichkeit schuld ist, welche man ihnen, mit Grund oder Ungrund, zur Last zu legen Gelegenheit hat. Die leichtsinnigen, gefuͤhllosen, oder dummen Koͤpfe fahren hiebei am besten.
Sie kommen entweder niemals an solche Scheidewege, wo die Gleise durch den Regen, oder uͤbergewachsenes Gras unkenntlich werden; oder bekuͤmmern sich doch nicht um die Erforschung des rechten Weges, und tappen wohlgemuth und mit rothen fetten Backen hinter dem grossen Haufen ihrer Partei her.
Die arbeitsamen, denkenden, untersuchenden, gegen Wahrheit und menschliche Gluͤckseligkeit gefuͤhlvollen Geister kommen aber hier oft ins Gedraͤnge. Es ist bekannt, je mehr Einsichten, je mehr Schuͤchternheit. Wer die Welt lange kennen gelernt hat, wird je mehr und mehr, und im Alter am meisten, wo die Erfahrungen die hoͤchste Stufe erreicht haben, mistrauisch.
Die groͤßten Gelehrten naͤhern sich endlich dem Pyrrhonismus. Wenn nun in solchen Faͤllen die Gutherzigkeit und Furchtsamkeit des Hypochondristen dazu kommt, so giebt es oͤftere innerliche Kaͤm-
pfe. Man will auf der einen Seite an keiner einzigen Seele Verwirrung gern schuld seyn, auf der andern aber auch nicht ein Schaͤrflein seines erhaltnen Pfundes vergraben, und auf der dritten stellet man sich durch die alles vergroͤssernde Einbildungskraft und Furchtsamkeit, die allenfalls aus Abweichungen entspringen — die aͤusserlichen Uebel viel groͤsser vor, als sie sind. Dies muß diese Schwachheiten des Koͤrpers erregen und unterhalten.
Wir haben seit zwanzig Jahren unglaublich viel Hypochondristen, vorzuͤglich unter den jungen Gottesgelehrten erhalten. Sollte nicht die, seitdem einreissende, aut si mavis, aufkeimende Heterodoxie vorzuͤglich daran schuld seyn? Der Lehrer schwur sonst ernstlich auf seine symbolischen Buͤcher. Man durfte durchaus nicht anders sprechen, ohne zu verhungern. Wer thut das gern, wer einen Magen hat?
Hieruͤber vergaß man um so leichter das Denken, und hielt also mit Bequemlichkeit seinen Schwur. — Der Student schwur auf seinen Lehrer, und wann er, mit der Ladung von einer hinlaͤnglichen Partie Weisheit und sauber geschriebenen Kollegienheften, nach Hause kam, so wuste er, was er predigen, wie er dem Patron, dem Konsistorium gefallen sollte. Aber das ist denn jetzt so ganz anders, — und ist wahrlich zu unzaͤhliger Hypochondrie Anlas; wenn mans nicht so machen will, als jener Kandidat, der nun freilich auch mehrere seines gleichen unter großen und kleinen haben mag.
Er wurde von einem Superior gefragt, halten Sie Christum fuͤr den Sohn Gottes, oder nicht? Mit der gefaͤlligsten Verbindung und Dienstfertigkeit erwiederte er: wie Ew. ——— befehlen. —