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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

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muß man vollends an seiner Existenz zweifeln. Denn da wir nur voraussähn, daß uns etwas Unglückliches begegnen würde, in der Beschaffenheit desselben aber unwissend blieben, so wären wir ausser Stand, Vorkehrungen dagegen zu machen.

Wozu könnte uns also diese Kenntniß anders nützen, als uns zu martern, und uns schon eine lange Zeit vorher, ehe uns das Uebel beträfe, zu unsern Geschäften untüchtig zu machen, und alle die kleinen Freuden, die sich uns in der Zeit etwan darboten, entweder zu rauben, oder zu vergiften. Und wie oft trift unsre entfernten Verwandten ein Unglück, das uns auf viele Tage die Ruhe stehlen würde, wenn wir es ahndeten, das uns aber nachher, wenn wir hören, daß es glücklich vorübergegangen ist, die lebhafteste Freude einflößt.

So giebt es tausend Fälle im menschlichen Leben, wo uns ein Ahndungsvermögen zur höchsten Qual gereichen würde, dahingegen man nur weit weniger anführen kann, wo es uns zum Nutzen gereichte, und der Urheber der Natur sollte uns eine solche Eigenschaft gegeben haben?

Wir haben zwar einige Erfahrungen, die ihr Daseyn zu beweisen scheinen, allein davon sind die wenigsten untersucht, und die es sind, sind doch bei weitem noch nicht dergestalt ausser Zweifel gesetzt, daß man sie, als sichre Beweise gebrauchen könnte.

Die meisten hingegen sind Erzählungen, für deren Wahrheit ich mich keineswegs verbürgen


muß man vollends an seiner Existenz zweifeln. Denn da wir nur voraussaͤhn, daß uns etwas Ungluͤckliches begegnen wuͤrde, in der Beschaffenheit desselben aber unwissend blieben, so waͤren wir ausser Stand, Vorkehrungen dagegen zu machen.

Wozu koͤnnte uns also diese Kenntniß anders nuͤtzen, als uns zu martern, und uns schon eine lange Zeit vorher, ehe uns das Uebel betraͤfe, zu unsern Geschaͤften untuͤchtig zu machen, und alle die kleinen Freuden, die sich uns in der Zeit etwan darboten, entweder zu rauben, oder zu vergiften. Und wie oft trift unsre entfernten Verwandten ein Ungluͤck, das uns auf viele Tage die Ruhe stehlen wuͤrde, wenn wir es ahndeten, das uns aber nachher, wenn wir hoͤren, daß es gluͤcklich voruͤbergegangen ist, die lebhafteste Freude einfloͤßt.

So giebt es tausend Faͤlle im menschlichen Leben, wo uns ein Ahndungsvermoͤgen zur hoͤchsten Qual gereichen wuͤrde, dahingegen man nur weit weniger anfuͤhren kann, wo es uns zum Nutzen gereichte, und der Urheber der Natur sollte uns eine solche Eigenschaft gegeben haben?

Wir haben zwar einige Erfahrungen, die ihr Daseyn zu beweisen scheinen, allein davon sind die wenigsten untersucht, und die es sind, sind doch bei weitem noch nicht dergestalt ausser Zweifel gesetzt, daß man sie, als sichre Beweise gebrauchen koͤnnte.

Die meisten hingegen sind Erzaͤhlungen, fuͤr deren Wahrheit ich mich keineswegs verbuͤrgen

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[65/0067] muß man vollends an seiner Existenz zweifeln. Denn da wir nur voraussaͤhn, daß uns etwas Ungluͤckliches begegnen wuͤrde, in der Beschaffenheit desselben aber unwissend blieben, so waͤren wir ausser Stand, Vorkehrungen dagegen zu machen. Wozu koͤnnte uns also diese Kenntniß anders nuͤtzen, als uns zu martern, und uns schon eine lange Zeit vorher, ehe uns das Uebel betraͤfe, zu unsern Geschaͤften untuͤchtig zu machen, und alle die kleinen Freuden, die sich uns in der Zeit etwan darboten, entweder zu rauben, oder zu vergiften. Und wie oft trift unsre entfernten Verwandten ein Ungluͤck, das uns auf viele Tage die Ruhe stehlen wuͤrde, wenn wir es ahndeten, das uns aber nachher, wenn wir hoͤren, daß es gluͤcklich voruͤbergegangen ist, die lebhafteste Freude einfloͤßt. So giebt es tausend Faͤlle im menschlichen Leben, wo uns ein Ahndungsvermoͤgen zur hoͤchsten Qual gereichen wuͤrde, dahingegen man nur weit weniger anfuͤhren kann, wo es uns zum Nutzen gereichte, und der Urheber der Natur sollte uns eine solche Eigenschaft gegeben haben? Wir haben zwar einige Erfahrungen, die ihr Daseyn zu beweisen scheinen, allein davon sind die wenigsten untersucht, und die es sind, sind doch bei weitem noch nicht dergestalt ausser Zweifel gesetzt, daß man sie, als sichre Beweise gebrauchen koͤnnte. Die meisten hingegen sind Erzaͤhlungen, fuͤr deren Wahrheit ich mich keineswegs verbuͤrgen

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/67>, abgerufen am 23.11.2024.