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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

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möchte. Wie es damit geht, ist bekannt: wie leicht können nicht einige kleine, für das Ganze aber beträchtliche Umstände weggelassen, andre hinzugesetzt, andre vergrössert seyn: denn wie Sulzer irgendwo sehr richtig und schön sagt, wunderbare Vorfälle wachsen, indem sie von Mund zu Mund gehn, wie ein Schneeball im Fortwälzen, und so kann eine Geschichte, wenn sie der zwanzigste erzählt, schon so verunstaltet seyn, daß der erste, der sie ausgab, Mühe haben würde, sie für die seinige zu erkennen.

Ueberdem ist es ein anders, einen merkwürdigen Vorfall bloß aus Neugierde untersuchen, und ein anders, ihn, als ein Faktum untersuchen, das man zur Grundlage eines philosophischen Räsonnements gebrauchen will, und diese letzte Absicht möchte denn wohl nicht jedermanns Ding seyn.

Also auch die über diesen Gegenstand gesammelten Erfahrungen sind nicht vermögend, uns von unsern Zweifeln dagegen zurückzuhalten, und vielleicht setzen uns gründlichere Beobachtungen bald in den Stand, uns von ihrer Nichtigkeit insofern zu überzeugen, daß alle die bisherigen sogenannten Ahndungsphänomene nicht aus einem Ahndungsvermögen, sondern aus ganz andern Ursachen entsprungen sind. Der Ausspruch des Horaz

Prudens futuri temporis exitum Caliginosa nocte premit Deus!

behauptet daher für jetzt immer noch sein altes Ansehn.



moͤchte. Wie es damit geht, ist bekannt: wie leicht koͤnnen nicht einige kleine, fuͤr das Ganze aber betraͤchtliche Umstaͤnde weggelassen, andre hinzugesetzt, andre vergroͤssert seyn: denn wie Sulzer irgendwo sehr richtig und schoͤn sagt, wunderbare Vorfaͤlle wachsen, indem sie von Mund zu Mund gehn, wie ein Schneeball im Fortwaͤlzen, und so kann eine Geschichte, wenn sie der zwanzigste erzaͤhlt, schon so verunstaltet seyn, daß der erste, der sie ausgab, Muͤhe haben wuͤrde, sie fuͤr die seinige zu erkennen.

Ueberdem ist es ein anders, einen merkwuͤrdigen Vorfall bloß aus Neugierde untersuchen, und ein anders, ihn, als ein Faktum untersuchen, das man zur Grundlage eines philosophischen Raͤsonnements gebrauchen will, und diese letzte Absicht moͤchte denn wohl nicht jedermanns Ding seyn.

Also auch die uͤber diesen Gegenstand gesammelten Erfahrungen sind nicht vermoͤgend, uns von unsern Zweifeln dagegen zuruͤckzuhalten, und vielleicht setzen uns gruͤndlichere Beobachtungen bald in den Stand, uns von ihrer Nichtigkeit insofern zu uͤberzeugen, daß alle die bisherigen sogenannten Ahndungsphaͤnomene nicht aus einem Ahndungsvermoͤgen, sondern aus ganz andern Ursachen entsprungen sind. Der Ausspruch des Horaz

Prudens futuri temporis exitum Caliginosa nocte premit Deus!

behauptet daher fuͤr jetzt immer noch sein altes Ansehn.


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[66/0068] moͤchte. Wie es damit geht, ist bekannt: wie leicht koͤnnen nicht einige kleine, fuͤr das Ganze aber betraͤchtliche Umstaͤnde weggelassen, andre hinzugesetzt, andre vergroͤssert seyn: denn wie Sulzer irgendwo sehr richtig und schoͤn sagt, wunderbare Vorfaͤlle wachsen, indem sie von Mund zu Mund gehn, wie ein Schneeball im Fortwaͤlzen, und so kann eine Geschichte, wenn sie der zwanzigste erzaͤhlt, schon so verunstaltet seyn, daß der erste, der sie ausgab, Muͤhe haben wuͤrde, sie fuͤr die seinige zu erkennen. Ueberdem ist es ein anders, einen merkwuͤrdigen Vorfall bloß aus Neugierde untersuchen, und ein anders, ihn, als ein Faktum untersuchen, das man zur Grundlage eines philosophischen Raͤsonnements gebrauchen will, und diese letzte Absicht moͤchte denn wohl nicht jedermanns Ding seyn. Also auch die uͤber diesen Gegenstand gesammelten Erfahrungen sind nicht vermoͤgend, uns von unsern Zweifeln dagegen zuruͤckzuhalten, und vielleicht setzen uns gruͤndlichere Beobachtungen bald in den Stand, uns von ihrer Nichtigkeit insofern zu uͤberzeugen, daß alle die bisherigen sogenannten Ahndungsphaͤnomene nicht aus einem Ahndungsvermoͤgen, sondern aus ganz andern Ursachen entsprungen sind. Der Ausspruch des Horaz Prudens futuri temporis exitum Caliginosa nocte premit Deus! behauptet daher fuͤr jetzt immer noch sein altes Ansehn.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/68>, abgerufen am 30.04.2024.