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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

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Es ist zwar zwischen Gott und uns ein zu ungeheurer Abstand, als daß wir im Stande wären, von seinen Eigenschaften und besonders von ihrer Wirkungsart etwas Gewisses zu sagen, und ich bin ganz der Meinung, daß unsre meisten Erkenntnisse davon nur schwache Vermuthungen sind.

Aber von diesen Vermuthungen verdienen doch die ganz natürlich den ersten Rang, die uns am begreiflichsten und der gesunden Vernunft am gemässesten sind. Welche von beiden Meinungen ist nun aber wohl die vernünftigste, die: daß Gott das Zukünftige voraussieht, indem er, als Urheber der Welt, auch das kleinste Triebrad in dieser wundervollen Maschine kennt, indem er in den ganzen Plan derselben, in den Zusammenhang aller ihrer Theile hineinschaut, und in der Vergangenheit die Ursachen der Gegenwart, und in dieser die Ursachen der Zukunft mit alles umfassendem Blick übersieht, oder die: daß er die Reihe künftiger Begebenheiten voraussehn könnte, ohne nöthig zu haben, mit ihren Ursachen bekannt zu seyn? Jeder, denk' ich, wird sich hier ohne Anstand zu der ersten Meinung bekennen, und da wir also sogar an Gott eine solche Art des Vorhersehns unbegreiflich finden, wie unendlich mehr muß dieß bei dem Menschen der Fall seyn?

Rechnet man hierzu noch, daß ein solches Ahndungsvermögen den Menschen überdem weit mehr zum Unglück, als zum Glück gereichen würde, so


Es ist zwar zwischen Gott und uns ein zu ungeheurer Abstand, als daß wir im Stande waͤren, von seinen Eigenschaften und besonders von ihrer Wirkungsart etwas Gewisses zu sagen, und ich bin ganz der Meinung, daß unsre meisten Erkenntnisse davon nur schwache Vermuthungen sind.

Aber von diesen Vermuthungen verdienen doch die ganz natuͤrlich den ersten Rang, die uns am begreiflichsten und der gesunden Vernunft am gemaͤssesten sind. Welche von beiden Meinungen ist nun aber wohl die vernuͤnftigste, die: daß Gott das Zukuͤnftige voraussieht, indem er, als Urheber der Welt, auch das kleinste Triebrad in dieser wundervollen Maschine kennt, indem er in den ganzen Plan derselben, in den Zusammenhang aller ihrer Theile hineinschaut, und in der Vergangenheit die Ursachen der Gegenwart, und in dieser die Ursachen der Zukunft mit alles umfassendem Blick uͤbersieht, oder die: daß er die Reihe kuͤnftiger Begebenheiten voraussehn koͤnnte, ohne noͤthig zu haben, mit ihren Ursachen bekannt zu seyn? Jeder, denk' ich, wird sich hier ohne Anstand zu der ersten Meinung bekennen, und da wir also sogar an Gott eine solche Art des Vorhersehns unbegreiflich finden, wie unendlich mehr muß dieß bei dem Menschen der Fall seyn?

Rechnet man hierzu noch, daß ein solches Ahndungsvermoͤgen den Menschen uͤberdem weit mehr zum Ungluͤck, als zum Gluͤck gereichen wuͤrde, so

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[64/0066] Es ist zwar zwischen Gott und uns ein zu ungeheurer Abstand, als daß wir im Stande waͤren, von seinen Eigenschaften und besonders von ihrer Wirkungsart etwas Gewisses zu sagen, und ich bin ganz der Meinung, daß unsre meisten Erkenntnisse davon nur schwache Vermuthungen sind. Aber von diesen Vermuthungen verdienen doch die ganz natuͤrlich den ersten Rang, die uns am begreiflichsten und der gesunden Vernunft am gemaͤssesten sind. Welche von beiden Meinungen ist nun aber wohl die vernuͤnftigste, die: daß Gott das Zukuͤnftige voraussieht, indem er, als Urheber der Welt, auch das kleinste Triebrad in dieser wundervollen Maschine kennt, indem er in den ganzen Plan derselben, in den Zusammenhang aller ihrer Theile hineinschaut, und in der Vergangenheit die Ursachen der Gegenwart, und in dieser die Ursachen der Zukunft mit alles umfassendem Blick uͤbersieht, oder die: daß er die Reihe kuͤnftiger Begebenheiten voraussehn koͤnnte, ohne noͤthig zu haben, mit ihren Ursachen bekannt zu seyn? Jeder, denk' ich, wird sich hier ohne Anstand zu der ersten Meinung bekennen, und da wir also sogar an Gott eine solche Art des Vorhersehns unbegreiflich finden, wie unendlich mehr muß dieß bei dem Menschen der Fall seyn? Rechnet man hierzu noch, daß ein solches Ahndungsvermoͤgen den Menschen uͤberdem weit mehr zum Ungluͤck, als zum Gluͤck gereichen wuͤrde, so

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/66>, abgerufen am 30.04.2024.