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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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des westlichen Europa's sich enger als je an Rußland an-
geschlossen hatten.

Fremde Heere hatten das Reich an den Rand des
Verderbens gebracht, fremde Heere es gerettet. Man wollte
daher vor allen Dingen eine eigene Armee besitzen und mit
großer Anstrengung ist man dahin gekommen, 70,000 Mann
regulairer Truppen zu errichten. Wie wenig indessen diese
Macht ausreicht, um den ausgedehnten Länderbesitz der
Pforte zu schützen, zeigt ein Blick auf die Karte. Schon
allein die Dimensionen verhindern, die an so viele Orte
versplitterte Macht auf einen bedrohten Punkt zu vereinen,
und die Truppen von Bagdad sind von jenen zu Scodra
in Albanien 350 Meilen entfernt.

Hieraus geht hervor, von welcher hohen Wichtigkeit
die Einrichtung einer wohlgeordneten Miliz im osmanischen
Reiche sein würde. Jndeß setzt dieses natürlich voraus,
daß die Jnteressen der Regierung und der Regierten nicht
im Widerspruche stehen.

Die jetzige türkische Armee ist ein neuer Bau auf einer
alten gänzlich erschütterten Grundfeste. Die Pforte dürfte
in diesem Augenblick ihre Sicherheit mehr in Verträgen,
als in Heeren finden, und die Schlachten, welche über die
Fortdauer dieses Staates entscheiden sollen, können eben so
gut in den Ardennen oder dem Waldai-Gebirge, als am
Balkan ausgefochten werden.

Die osmanische Monarchie bedarf vor Allem einer
geregelten Administration, bei der jetzigen wird sie selbst
das schwache Heer von 70,000 Mann auf die Dauer kaum
ernähren können.

Die Verarmung des Landes hat sich in der vermin-
derten Staatseinnahme nur zu sehr kund gegeben. Um-
sonst hat man eine Menge von indirekten Abgaben einge-
führt. Eine Art von Schlacht- und Mahl-Steuer wird
auf eine freilich sehr willkührliche Weise an den Straßen-
ecken der Hauptstadt erhoben. Die Fischer zahlen 20 Pro-
cent von dem Fange ihrer Netze; Maaß und Gewicht

des weſtlichen Europa's ſich enger als je an Rußland an-
geſchloſſen hatten.

Fremde Heere hatten das Reich an den Rand des
Verderbens gebracht, fremde Heere es gerettet. Man wollte
daher vor allen Dingen eine eigene Armee beſitzen und mit
großer Anſtrengung iſt man dahin gekommen, 70,000 Mann
regulairer Truppen zu errichten. Wie wenig indeſſen dieſe
Macht ausreicht, um den ausgedehnten Laͤnderbeſitz der
Pforte zu ſchuͤtzen, zeigt ein Blick auf die Karte. Schon
allein die Dimenſionen verhindern, die an ſo viele Orte
verſplitterte Macht auf einen bedrohten Punkt zu vereinen,
und die Truppen von Bagdad ſind von jenen zu Scodra
in Albanien 350 Meilen entfernt.

Hieraus geht hervor, von welcher hohen Wichtigkeit
die Einrichtung einer wohlgeordneten Miliz im osmaniſchen
Reiche ſein wuͤrde. Jndeß ſetzt dieſes natuͤrlich voraus,
daß die Jntereſſen der Regierung und der Regierten nicht
im Widerſpruche ſtehen.

Die jetzige tuͤrkiſche Armee iſt ein neuer Bau auf einer
alten gaͤnzlich erſchuͤtterten Grundfeſte. Die Pforte duͤrfte
in dieſem Augenblick ihre Sicherheit mehr in Vertraͤgen,
als in Heeren finden, und die Schlachten, welche uͤber die
Fortdauer dieſes Staates entſcheiden ſollen, koͤnnen eben ſo
gut in den Ardennen oder dem Waldai-Gebirge, als am
Balkan ausgefochten werden.

Die osmaniſche Monarchie bedarf vor Allem einer
geregelten Adminiſtration, bei der jetzigen wird ſie ſelbſt
das ſchwache Heer von 70,000 Mann auf die Dauer kaum
ernaͤhren koͤnnen.

Die Verarmung des Landes hat ſich in der vermin-
derten Staatseinnahme nur zu ſehr kund gegeben. Um-
ſonſt hat man eine Menge von indirekten Abgaben einge-
fuͤhrt. Eine Art von Schlacht- und Mahl-Steuer wird
auf eine freilich ſehr willkuͤhrliche Weiſe an den Straßen-
ecken der Hauptſtadt erhoben. Die Fiſcher zahlen 20 Pro-
cent von dem Fange ihrer Netze; Maaß und Gewicht

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[47/0057] des weſtlichen Europa's ſich enger als je an Rußland an- geſchloſſen hatten. Fremde Heere hatten das Reich an den Rand des Verderbens gebracht, fremde Heere es gerettet. Man wollte daher vor allen Dingen eine eigene Armee beſitzen und mit großer Anſtrengung iſt man dahin gekommen, 70,000 Mann regulairer Truppen zu errichten. Wie wenig indeſſen dieſe Macht ausreicht, um den ausgedehnten Laͤnderbeſitz der Pforte zu ſchuͤtzen, zeigt ein Blick auf die Karte. Schon allein die Dimenſionen verhindern, die an ſo viele Orte verſplitterte Macht auf einen bedrohten Punkt zu vereinen, und die Truppen von Bagdad ſind von jenen zu Scodra in Albanien 350 Meilen entfernt. Hieraus geht hervor, von welcher hohen Wichtigkeit die Einrichtung einer wohlgeordneten Miliz im osmaniſchen Reiche ſein wuͤrde. Jndeß ſetzt dieſes natuͤrlich voraus, daß die Jntereſſen der Regierung und der Regierten nicht im Widerſpruche ſtehen. Die jetzige tuͤrkiſche Armee iſt ein neuer Bau auf einer alten gaͤnzlich erſchuͤtterten Grundfeſte. Die Pforte duͤrfte in dieſem Augenblick ihre Sicherheit mehr in Vertraͤgen, als in Heeren finden, und die Schlachten, welche uͤber die Fortdauer dieſes Staates entſcheiden ſollen, koͤnnen eben ſo gut in den Ardennen oder dem Waldai-Gebirge, als am Balkan ausgefochten werden. Die osmaniſche Monarchie bedarf vor Allem einer geregelten Adminiſtration, bei der jetzigen wird ſie ſelbſt das ſchwache Heer von 70,000 Mann auf die Dauer kaum ernaͤhren koͤnnen. Die Verarmung des Landes hat ſich in der vermin- derten Staatseinnahme nur zu ſehr kund gegeben. Um- ſonſt hat man eine Menge von indirekten Abgaben einge- fuͤhrt. Eine Art von Schlacht- und Mahl-Steuer wird auf eine freilich ſehr willkuͤhrliche Weiſe an den Straßen- ecken der Hauptſtadt erhoben. Die Fiſcher zahlen 20 Pro- cent von dem Fange ihrer Netze; Maaß und Gewicht

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/57>, abgerufen am 02.05.2024.