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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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opfern ihre Schiffe und ihre Seeleute, um die Flotte des
Großherrn zu zerstören. Sie öffnen Rußland den Weg in
das Herz der Türkei, und führen herbei, was sie vor allem
vermeiden wollten.

Noch hatte das Land sich nicht von so vielen Wun-
den erholt, als der egyptische Pascha durch Syrien heran-
zieht und dem letzten Enkel Osmans den Untergang droht.

Ein neu errichtetes Heer wird dem Empörer entgegen-
geschickt, aber Generale aus dem Harem richten es in kur-
zer Zeit zu Grunde. Die Pforte wendet sich an England
und Frankreich, an diejenigen, welche sich ihre ältesten und
natürlichen Verbündeten nennen, aber sie erhält nichts als
Versprechungen. Da ruft Sultan Mahmud Rußland um
Hülfe an, und sein Feind schickt ihm Schiffe, Geld und
ein Heer.

Damals erblickte die Welt das außerordentliche Schau-
spiel von 15,000 Russen, die auf den asiatischen Hügeln
vor Konstantinopel lagerten, um den Großherrn in seinem
Seraj gegen die Egypter zu schützen. Es herrschte zu jener
Zeit unter den Türken großes Mißvergnügen; die Ulema's
sahen das Abnehmen ihres Einflusses, die Neuerungen hat-
ten zahllose Jnteressen verletzt, und neue Steuern beein-
trächtigten alle Klassen. Tausende von Janitscharen, die
ihren Namen nicht mehr nennen durften, und die Ver-
wandten und Freunde von andern Tausenden, die man er-
würgt, ertränkt, oder mit Kartätschen zusammengeschossen
hatte, waren im Lande und in der Hauptstadt vertheilt.
Die Armenier konnten die Verfolgung, welche sie unlängst
betroffen, nicht vergessen haben, und die griechischen Chri-
sten, d. h. die Hälfte der ganzen Bevölkerung der ursprüng-
lichen Türkei, sahen in den Machthabern nur die Feinde,
in den Russen die Bekenner ihres eigenen Glaubens. Ein
Heer hatte die Türkei damals nicht mehr aufzustellen.

Um eben diese Zeit hatte Frankreich an seiner großen
Woche, England an seiner Schuldenlast zu schaffen, wäh-
rend Preußen sowohl als Oesterreich durch den Zustand

opfern ihre Schiffe und ihre Seeleute, um die Flotte des
Großherrn zu zerſtoͤren. Sie oͤffnen Rußland den Weg in
das Herz der Tuͤrkei, und fuͤhren herbei, was ſie vor allem
vermeiden wollten.

Noch hatte das Land ſich nicht von ſo vielen Wun-
den erholt, als der egyptiſche Paſcha durch Syrien heran-
zieht und dem letzten Enkel Osmans den Untergang droht.

Ein neu errichtetes Heer wird dem Empoͤrer entgegen-
geſchickt, aber Generale aus dem Harem richten es in kur-
zer Zeit zu Grunde. Die Pforte wendet ſich an England
und Frankreich, an diejenigen, welche ſich ihre aͤlteſten und
natuͤrlichen Verbuͤndeten nennen, aber ſie erhaͤlt nichts als
Verſprechungen. Da ruft Sultan Mahmud Rußland um
Huͤlfe an, und ſein Feind ſchickt ihm Schiffe, Geld und
ein Heer.

Damals erblickte die Welt das außerordentliche Schau-
ſpiel von 15,000 Ruſſen, die auf den aſiatiſchen Huͤgeln
vor Konſtantinopel lagerten, um den Großherrn in ſeinem
Seraj gegen die Egypter zu ſchuͤtzen. Es herrſchte zu jener
Zeit unter den Tuͤrken großes Mißvergnuͤgen; die Ulema's
ſahen das Abnehmen ihres Einfluſſes, die Neuerungen hat-
ten zahlloſe Jntereſſen verletzt, und neue Steuern beein-
traͤchtigten alle Klaſſen. Tauſende von Janitſcharen, die
ihren Namen nicht mehr nennen durften, und die Ver-
wandten und Freunde von andern Tauſenden, die man er-
wuͤrgt, ertraͤnkt, oder mit Kartaͤtſchen zuſammengeſchoſſen
hatte, waren im Lande und in der Hauptſtadt vertheilt.
Die Armenier konnten die Verfolgung, welche ſie unlaͤngſt
betroffen, nicht vergeſſen haben, und die griechiſchen Chri-
ſten, d. h. die Haͤlfte der ganzen Bevoͤlkerung der urſpruͤng-
lichen Tuͤrkei, ſahen in den Machthabern nur die Feinde,
in den Ruſſen die Bekenner ihres eigenen Glaubens. Ein
Heer hatte die Tuͤrkei damals nicht mehr aufzuſtellen.

Um eben dieſe Zeit hatte Frankreich an ſeiner großen
Woche, England an ſeiner Schuldenlaſt zu ſchaffen, waͤh-
rend Preußen ſowohl als Oeſterreich durch den Zuſtand

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[46/0056] opfern ihre Schiffe und ihre Seeleute, um die Flotte des Großherrn zu zerſtoͤren. Sie oͤffnen Rußland den Weg in das Herz der Tuͤrkei, und fuͤhren herbei, was ſie vor allem vermeiden wollten. Noch hatte das Land ſich nicht von ſo vielen Wun- den erholt, als der egyptiſche Paſcha durch Syrien heran- zieht und dem letzten Enkel Osmans den Untergang droht. Ein neu errichtetes Heer wird dem Empoͤrer entgegen- geſchickt, aber Generale aus dem Harem richten es in kur- zer Zeit zu Grunde. Die Pforte wendet ſich an England und Frankreich, an diejenigen, welche ſich ihre aͤlteſten und natuͤrlichen Verbuͤndeten nennen, aber ſie erhaͤlt nichts als Verſprechungen. Da ruft Sultan Mahmud Rußland um Huͤlfe an, und ſein Feind ſchickt ihm Schiffe, Geld und ein Heer. Damals erblickte die Welt das außerordentliche Schau- ſpiel von 15,000 Ruſſen, die auf den aſiatiſchen Huͤgeln vor Konſtantinopel lagerten, um den Großherrn in ſeinem Seraj gegen die Egypter zu ſchuͤtzen. Es herrſchte zu jener Zeit unter den Tuͤrken großes Mißvergnuͤgen; die Ulema's ſahen das Abnehmen ihres Einfluſſes, die Neuerungen hat- ten zahlloſe Jntereſſen verletzt, und neue Steuern beein- traͤchtigten alle Klaſſen. Tauſende von Janitſcharen, die ihren Namen nicht mehr nennen durften, und die Ver- wandten und Freunde von andern Tauſenden, die man er- wuͤrgt, ertraͤnkt, oder mit Kartaͤtſchen zuſammengeſchoſſen hatte, waren im Lande und in der Hauptſtadt vertheilt. Die Armenier konnten die Verfolgung, welche ſie unlaͤngſt betroffen, nicht vergeſſen haben, und die griechiſchen Chri- ſten, d. h. die Haͤlfte der ganzen Bevoͤlkerung der urſpruͤng- lichen Tuͤrkei, ſahen in den Machthabern nur die Feinde, in den Ruſſen die Bekenner ihres eigenen Glaubens. Ein Heer hatte die Tuͤrkei damals nicht mehr aufzuſtellen. Um eben dieſe Zeit hatte Frankreich an ſeiner großen Woche, England an ſeiner Schuldenlaſt zu ſchaffen, waͤh- rend Preußen ſowohl als Oeſterreich durch den Zuſtand

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/56>, abgerufen am 02.05.2024.