Frankreich noch schwankt, ob es das schönste dieser Länder für sich behalten soll, so blickt es dabei weit mehr nach dem Kabinette von St. James, als nach dem Divan zu Konstantinopel. Jn Arabien endlich und selbst in den hei- ligen Städten übte schon seit lange der Großherr keine wirkliche Gewalt mehr.
Aber auch in den Ländern, welche der Pforte verblei- ben, ist die oberherrliche Gewalt des Sultans vielfach be- schränkt. Die Völker am Euphrat und Tigris zeigen we- nig Anhänglichkeit; die Ayans am Schwarzen Meere und in Bosnien gehorchen ihrem Jnteresse mehr, als dem Willen des Padischah, und die größern Städte fern von Konstan- tinopel haben oligarchische Municipal-Verfassungen, welche sie fast unabhängig machen.
So ist die osmanische Monarchie heute in der That ein Aggregat von Königreichen, Fürstenthümern und Re- publiken geworden, die nichts zusammen hält, als lange Gewohnheit und die Gemeinschaft des Koran, und wenn man unter einem Despoten einen Herrscher versteht, dessen Wille alleiniges Gesetz, so ist der Sultan von Konstanti- nopel weit davon entfernt, ein Despot zu sein.
Schon lange verwickelt die europäische Diplomatie die hohe Pforte in Kriege, die ihrem Jnteresse fremd sind, oder nöthigt sie zu Friedensschlüssen, die ihr Provinzen kosten; aber der Staat kannte einen Feind an seinem eigenen Heerd, welcher furchtbarer schien, als alle Armeen und Flotten des Auslandes. Selim III. war der erste Sultan nicht, der Thron und Leben gegen die Janitscharen einbüßte, und doch wollte sein Nachfolger lieber die Gefahr einer Reform be- stehen, als dem Schutze jener Corporation vertrauen. Durch Ströme von Blut gelangt er zu seinem Ziel. Der türki- sche Sultan preist sich glücklich, das türkische Heer ver- nichtet zu haben; aber um die Empörung auf der helleni- schen Halbinsel zu dämpfen, muß er die Hülfe eines nur allzumächtigen Vasallen anrufen. Da vergessen drei christ- liche Mächte ihren alten Hader, Frankreich und England
Frankreich noch ſchwankt, ob es das ſchoͤnſte dieſer Laͤnder fuͤr ſich behalten ſoll, ſo blickt es dabei weit mehr nach dem Kabinette von St. James, als nach dem Divan zu Konſtantinopel. Jn Arabien endlich und ſelbſt in den hei- ligen Staͤdten uͤbte ſchon ſeit lange der Großherr keine wirkliche Gewalt mehr.
Aber auch in den Laͤndern, welche der Pforte verblei- ben, iſt die oberherrliche Gewalt des Sultans vielfach be- ſchraͤnkt. Die Voͤlker am Euphrat und Tigris zeigen we- nig Anhaͤnglichkeit; die Ayans am Schwarzen Meere und in Bosnien gehorchen ihrem Jntereſſe mehr, als dem Willen des Padiſchah, und die groͤßern Staͤdte fern von Konſtan- tinopel haben oligarchiſche Municipal-Verfaſſungen, welche ſie faſt unabhaͤngig machen.
So iſt die osmaniſche Monarchie heute in der That ein Aggregat von Koͤnigreichen, Fuͤrſtenthuͤmern und Re- publiken geworden, die nichts zuſammen haͤlt, als lange Gewohnheit und die Gemeinſchaft des Koran, und wenn man unter einem Despoten einen Herrſcher verſteht, deſſen Wille alleiniges Geſetz, ſo iſt der Sultan von Konſtanti- nopel weit davon entfernt, ein Despot zu ſein.
Schon lange verwickelt die europaͤiſche Diplomatie die hohe Pforte in Kriege, die ihrem Jntereſſe fremd ſind, oder noͤthigt ſie zu Friedensſchluͤſſen, die ihr Provinzen koſten; aber der Staat kannte einen Feind an ſeinem eigenen Heerd, welcher furchtbarer ſchien, als alle Armeen und Flotten des Auslandes. Selim III. war der erſte Sultan nicht, der Thron und Leben gegen die Janitſcharen einbuͤßte, und doch wollte ſein Nachfolger lieber die Gefahr einer Reform be- ſtehen, als dem Schutze jener Corporation vertrauen. Durch Stroͤme von Blut gelangt er zu ſeinem Ziel. Der tuͤrki- ſche Sultan preiſt ſich gluͤcklich, das tuͤrkiſche Heer ver- nichtet zu haben; aber um die Empoͤrung auf der helleni- ſchen Halbinſel zu daͤmpfen, muß er die Huͤlfe eines nur allzumaͤchtigen Vaſallen anrufen. Da vergeſſen drei chriſt- liche Maͤchte ihren alten Hader, Frankreich und England
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Frankreich noch ſchwankt, ob es das ſchoͤnſte dieſer Laͤnder
fuͤr ſich behalten ſoll, ſo blickt es dabei weit mehr nach
dem Kabinette von St. James, als nach dem Divan zu
Konſtantinopel. Jn Arabien endlich und ſelbſt in den hei-
ligen Staͤdten uͤbte ſchon ſeit lange der Großherr keine
wirkliche Gewalt mehr.
Aber auch in den Laͤndern, welche der Pforte verblei-
ben, iſt die oberherrliche Gewalt des Sultans vielfach be-
ſchraͤnkt. Die Voͤlker am Euphrat und Tigris zeigen we-
nig Anhaͤnglichkeit; die Ayans am Schwarzen Meere und in
Bosnien gehorchen ihrem Jntereſſe mehr, als dem Willen
des Padiſchah, und die groͤßern Staͤdte fern von Konſtan-
tinopel haben oligarchiſche Municipal-Verfaſſungen, welche
ſie faſt unabhaͤngig machen.
So iſt die osmaniſche Monarchie heute in der That
ein Aggregat von Koͤnigreichen, Fuͤrſtenthuͤmern und Re-
publiken geworden, die nichts zuſammen haͤlt, als lange
Gewohnheit und die Gemeinſchaft des Koran, und wenn
man unter einem Despoten einen Herrſcher verſteht, deſſen
Wille alleiniges Geſetz, ſo iſt der Sultan von Konſtanti-
nopel weit davon entfernt, ein Despot zu ſein.
Schon lange verwickelt die europaͤiſche Diplomatie die
hohe Pforte in Kriege, die ihrem Jntereſſe fremd ſind, oder
noͤthigt ſie zu Friedensſchluͤſſen, die ihr Provinzen koſten;
aber der Staat kannte einen Feind an ſeinem eigenen Heerd,
welcher furchtbarer ſchien, als alle Armeen und Flotten des
Auslandes. Selim III. war der erſte Sultan nicht, der
Thron und Leben gegen die Janitſcharen einbuͤßte, und doch
wollte ſein Nachfolger lieber die Gefahr einer Reform be-
ſtehen, als dem Schutze jener Corporation vertrauen. Durch
Stroͤme von Blut gelangt er zu ſeinem Ziel. Der tuͤrki-
ſche Sultan preiſt ſich gluͤcklich, das tuͤrkiſche Heer ver-
nichtet zu haben; aber um die Empoͤrung auf der helleni-
ſchen Halbinſel zu daͤmpfen, muß er die Huͤlfe eines nur
allzumaͤchtigen Vaſallen anrufen. Da vergeſſen drei chriſt-
liche Maͤchte ihren alten Hader, Frankreich und England
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/55>, abgerufen am 05.12.2024.
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