Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Ursachen zu forschen, welche den Erfolg des nämlichen Ver-
suches so durchaus ungleich gestalteten. Es müssen aber
bei dieser Betrachtung nicht bloß Personen, sondern auch
Verhältnisse ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große
mit Mahmud II., sondern die ganze Lage des damaligen
russischen und des jetzigen osmanischen Reichs mit einan-
der verglichen werden.

Jn beiden Ländern konnte die Umbildung nicht aus
dem Volke hervorgehen, sondern mußte ihm von oben her
aufgezwungen werden; in beiden waren die Völker das con-
servative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn
nur die Männer, welche am Staatsruder standen, erkann-
ten die Nothwendigkeit einer Neugestaltung an, welche selbst
gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgeführt wer-
den mußte. Aber wesentlich verschieden war die Aufgabe
des Zaaren, welcher die sprudelnde Kraft eines jungen
Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der
des Sultans, welcher den abgelebten Staatskörper Os-
mans neu beseelen sollte. Und eben so verschieden sind die
Anfangspunkte, von denen die beiden Herrscher ausgingen,
um das große Werk zu vollbringen.

Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht,
sich selbst nach Europa zu versetzen, mitten in die Länder,
von welchen er lernen wollte; gesunder Sinn und rastlose
Thätigkeit bezeichnen sein Auftreten dort. Jn Saardam
zimmert er ein Boot, weil er später in Petersburg eine
Flotte bauen will, auf englischen Hochschulen studirt er die
Wissenschaften, denen er in seine Staaten Eingang zu ver-
schaffen beabsichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit
seines Ranges mit dem gewöhnlichen Lebensverkehr ver-
tauscht, lernt er Männer kennen, deren Kenntnisse und Tüch-
tigkeit später die Stützen seiner Unternehmung werden.

Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im
Seraj zu Konstantinopel, in welches das Herkommen ihn
wie einen Gefangenen bannte, während die Religion ihm
jeden Verkehr mit Fremden untersagte. Man hat erzählt,

Urſachen zu forſchen, welche den Erfolg des naͤmlichen Ver-
ſuches ſo durchaus ungleich geſtalteten. Es muͤſſen aber
bei dieſer Betrachtung nicht bloß Perſonen, ſondern auch
Verhaͤltniſſe ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große
mit Mahmud II., ſondern die ganze Lage des damaligen
ruſſiſchen und des jetzigen osmaniſchen Reichs mit einan-
der verglichen werden.

Jn beiden Laͤndern konnte die Umbildung nicht aus
dem Volke hervorgehen, ſondern mußte ihm von oben her
aufgezwungen werden; in beiden waren die Voͤlker das con-
ſervative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn
nur die Maͤnner, welche am Staatsruder ſtanden, erkann-
ten die Nothwendigkeit einer Neugeſtaltung an, welche ſelbſt
gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgefuͤhrt wer-
den mußte. Aber weſentlich verſchieden war die Aufgabe
des Zaaren, welcher die ſprudelnde Kraft eines jungen
Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der
des Sultans, welcher den abgelebten Staatskoͤrper Os-
mans neu beſeelen ſollte. Und eben ſo verſchieden ſind die
Anfangspunkte, von denen die beiden Herrſcher ausgingen,
um das große Werk zu vollbringen.

Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht,
ſich ſelbſt nach Europa zu verſetzen, mitten in die Laͤnder,
von welchen er lernen wollte; geſunder Sinn und raſtloſe
Thaͤtigkeit bezeichnen ſein Auftreten dort. Jn Saardam
zimmert er ein Boot, weil er ſpaͤter in Petersburg eine
Flotte bauen will, auf engliſchen Hochſchulen ſtudirt er die
Wiſſenſchaften, denen er in ſeine Staaten Eingang zu ver-
ſchaffen beabſichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit
ſeines Ranges mit dem gewoͤhnlichen Lebensverkehr ver-
tauſcht, lernt er Maͤnner kennen, deren Kenntniſſe und Tuͤch-
tigkeit ſpaͤter die Stuͤtzen ſeiner Unternehmung werden.

Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im
Seraj zu Konſtantinopel, in welches das Herkommen ihn
wie einen Gefangenen bannte, waͤhrend die Religion ihm
jeden Verkehr mit Fremden unterſagte. Man hat erzaͤhlt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0418" n="408"/>
Ur&#x017F;achen zu for&#x017F;chen, welche den Erfolg des na&#x0364;mlichen Ver-<lb/>
&#x017F;uches &#x017F;o durchaus ungleich ge&#x017F;talteten. Es mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en aber<lb/>
bei die&#x017F;er Betrachtung nicht bloß Per&#x017F;onen, &#x017F;ondern auch<lb/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große<lb/>
mit Mahmud <hi rendition="#aq">II</hi>., &#x017F;ondern die ganze Lage des damaligen<lb/>
ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen und des jetzigen osmani&#x017F;chen Reichs mit einan-<lb/>
der verglichen werden.</p><lb/>
        <p>Jn beiden La&#x0364;ndern konnte die Umbildung nicht aus<lb/>
dem Volke hervorgehen, &#x017F;ondern mußte ihm von oben her<lb/>
aufgezwungen werden; in beiden waren die Vo&#x0364;lker das con-<lb/>
&#x017F;ervative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn<lb/>
nur die Ma&#x0364;nner, welche am Staatsruder &#x017F;tanden, erkann-<lb/>
ten die Nothwendigkeit einer Neuge&#x017F;taltung an, welche &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgefu&#x0364;hrt wer-<lb/>
den mußte. Aber we&#x017F;entlich ver&#x017F;chieden war die Aufgabe<lb/>
des Zaaren, welcher die &#x017F;prudelnde Kraft eines jungen<lb/>
Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der<lb/>
des Sultans, welcher den abgelebten Staatsko&#x0364;rper Os-<lb/>
mans neu be&#x017F;eelen &#x017F;ollte. Und eben &#x017F;o ver&#x017F;chieden &#x017F;ind die<lb/>
Anfangspunkte, von denen die beiden Herr&#x017F;cher ausgingen,<lb/>
um das große Werk zu vollbringen.</p><lb/>
        <p>Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht,<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nach Europa zu ver&#x017F;etzen, mitten in die La&#x0364;nder,<lb/>
von welchen er lernen wollte; ge&#x017F;under Sinn und ra&#x017F;tlo&#x017F;e<lb/>
Tha&#x0364;tigkeit bezeichnen &#x017F;ein Auftreten dort. Jn Saardam<lb/>
zimmert er ein Boot, weil er &#x017F;pa&#x0364;ter in Petersburg eine<lb/>
Flotte bauen will, auf engli&#x017F;chen Hoch&#x017F;chulen &#x017F;tudirt er die<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, denen er in &#x017F;eine Staaten Eingang zu ver-<lb/>
&#x017F;chaffen beab&#x017F;ichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit<lb/>
&#x017F;eines Ranges mit dem gewo&#x0364;hnlichen Lebensverkehr ver-<lb/>
tau&#x017F;cht, lernt er Ma&#x0364;nner kennen, deren Kenntni&#x017F;&#x017F;e und Tu&#x0364;ch-<lb/>
tigkeit &#x017F;pa&#x0364;ter die Stu&#x0364;tzen &#x017F;einer Unternehmung werden.</p><lb/>
        <p>Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im<lb/>
Seraj zu Kon&#x017F;tantinopel, in welches das Herkommen ihn<lb/>
wie einen Gefangenen bannte, wa&#x0364;hrend die Religion ihm<lb/>
jeden Verkehr mit Fremden unter&#x017F;agte. Man hat erza&#x0364;hlt,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[408/0418] Urſachen zu forſchen, welche den Erfolg des naͤmlichen Ver- ſuches ſo durchaus ungleich geſtalteten. Es muͤſſen aber bei dieſer Betrachtung nicht bloß Perſonen, ſondern auch Verhaͤltniſſe ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große mit Mahmud II., ſondern die ganze Lage des damaligen ruſſiſchen und des jetzigen osmaniſchen Reichs mit einan- der verglichen werden. Jn beiden Laͤndern konnte die Umbildung nicht aus dem Volke hervorgehen, ſondern mußte ihm von oben her aufgezwungen werden; in beiden waren die Voͤlker das con- ſervative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn nur die Maͤnner, welche am Staatsruder ſtanden, erkann- ten die Nothwendigkeit einer Neugeſtaltung an, welche ſelbſt gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgefuͤhrt wer- den mußte. Aber weſentlich verſchieden war die Aufgabe des Zaaren, welcher die ſprudelnde Kraft eines jungen Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der des Sultans, welcher den abgelebten Staatskoͤrper Os- mans neu beſeelen ſollte. Und eben ſo verſchieden ſind die Anfangspunkte, von denen die beiden Herrſcher ausgingen, um das große Werk zu vollbringen. Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht, ſich ſelbſt nach Europa zu verſetzen, mitten in die Laͤnder, von welchen er lernen wollte; geſunder Sinn und raſtloſe Thaͤtigkeit bezeichnen ſein Auftreten dort. Jn Saardam zimmert er ein Boot, weil er ſpaͤter in Petersburg eine Flotte bauen will, auf engliſchen Hochſchulen ſtudirt er die Wiſſenſchaften, denen er in ſeine Staaten Eingang zu ver- ſchaffen beabſichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit ſeines Ranges mit dem gewoͤhnlichen Lebensverkehr ver- tauſcht, lernt er Maͤnner kennen, deren Kenntniſſe und Tuͤch- tigkeit ſpaͤter die Stuͤtzen ſeiner Unternehmung werden. Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im Seraj zu Konſtantinopel, in welches das Herkommen ihn wie einen Gefangenen bannte, waͤhrend die Religion ihm jeden Verkehr mit Fremden unterſagte. Man hat erzaͤhlt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/418
Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/418>, abgerufen am 24.11.2024.