Ursachen zu forschen, welche den Erfolg des nämlichen Ver- suches so durchaus ungleich gestalteten. Es müssen aber bei dieser Betrachtung nicht bloß Personen, sondern auch Verhältnisse ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große mit Mahmud II., sondern die ganze Lage des damaligen russischen und des jetzigen osmanischen Reichs mit einan- der verglichen werden.
Jn beiden Ländern konnte die Umbildung nicht aus dem Volke hervorgehen, sondern mußte ihm von oben her aufgezwungen werden; in beiden waren die Völker das con- servative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn nur die Männer, welche am Staatsruder standen, erkann- ten die Nothwendigkeit einer Neugestaltung an, welche selbst gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgeführt wer- den mußte. Aber wesentlich verschieden war die Aufgabe des Zaaren, welcher die sprudelnde Kraft eines jungen Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der des Sultans, welcher den abgelebten Staatskörper Os- mans neu beseelen sollte. Und eben so verschieden sind die Anfangspunkte, von denen die beiden Herrscher ausgingen, um das große Werk zu vollbringen.
Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht, sich selbst nach Europa zu versetzen, mitten in die Länder, von welchen er lernen wollte; gesunder Sinn und rastlose Thätigkeit bezeichnen sein Auftreten dort. Jn Saardam zimmert er ein Boot, weil er später in Petersburg eine Flotte bauen will, auf englischen Hochschulen studirt er die Wissenschaften, denen er in seine Staaten Eingang zu ver- schaffen beabsichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit seines Ranges mit dem gewöhnlichen Lebensverkehr ver- tauscht, lernt er Männer kennen, deren Kenntnisse und Tüch- tigkeit später die Stützen seiner Unternehmung werden.
Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im Seraj zu Konstantinopel, in welches das Herkommen ihn wie einen Gefangenen bannte, während die Religion ihm jeden Verkehr mit Fremden untersagte. Man hat erzählt,
Urſachen zu forſchen, welche den Erfolg des naͤmlichen Ver- ſuches ſo durchaus ungleich geſtalteten. Es muͤſſen aber bei dieſer Betrachtung nicht bloß Perſonen, ſondern auch Verhaͤltniſſe ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große mit Mahmud II., ſondern die ganze Lage des damaligen ruſſiſchen und des jetzigen osmaniſchen Reichs mit einan- der verglichen werden.
Jn beiden Laͤndern konnte die Umbildung nicht aus dem Volke hervorgehen, ſondern mußte ihm von oben her aufgezwungen werden; in beiden waren die Voͤlker das con- ſervative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn nur die Maͤnner, welche am Staatsruder ſtanden, erkann- ten die Nothwendigkeit einer Neugeſtaltung an, welche ſelbſt gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgefuͤhrt wer- den mußte. Aber weſentlich verſchieden war die Aufgabe des Zaaren, welcher die ſprudelnde Kraft eines jungen Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der des Sultans, welcher den abgelebten Staatskoͤrper Os- mans neu beſeelen ſollte. Und eben ſo verſchieden ſind die Anfangspunkte, von denen die beiden Herrſcher ausgingen, um das große Werk zu vollbringen.
Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht, ſich ſelbſt nach Europa zu verſetzen, mitten in die Laͤnder, von welchen er lernen wollte; geſunder Sinn und raſtloſe Thaͤtigkeit bezeichnen ſein Auftreten dort. Jn Saardam zimmert er ein Boot, weil er ſpaͤter in Petersburg eine Flotte bauen will, auf engliſchen Hochſchulen ſtudirt er die Wiſſenſchaften, denen er in ſeine Staaten Eingang zu ver- ſchaffen beabſichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit ſeines Ranges mit dem gewoͤhnlichen Lebensverkehr ver- tauſcht, lernt er Maͤnner kennen, deren Kenntniſſe und Tuͤch- tigkeit ſpaͤter die Stuͤtzen ſeiner Unternehmung werden.
Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im Seraj zu Konſtantinopel, in welches das Herkommen ihn wie einen Gefangenen bannte, waͤhrend die Religion ihm jeden Verkehr mit Fremden unterſagte. Man hat erzaͤhlt,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0418"n="408"/>
Urſachen zu forſchen, welche den Erfolg des naͤmlichen Ver-<lb/>ſuches ſo durchaus ungleich geſtalteten. Es muͤſſen aber<lb/>
bei dieſer Betrachtung nicht bloß Perſonen, ſondern auch<lb/>
Verhaͤltniſſe ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große<lb/>
mit Mahmud <hirendition="#aq">II</hi>., ſondern die ganze Lage des damaligen<lb/>
ruſſiſchen und des jetzigen osmaniſchen Reichs mit einan-<lb/>
der verglichen werden.</p><lb/><p>Jn beiden Laͤndern konnte die Umbildung nicht aus<lb/>
dem Volke hervorgehen, ſondern mußte ihm von oben her<lb/>
aufgezwungen werden; in beiden waren die Voͤlker das con-<lb/>ſervative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn<lb/>
nur die Maͤnner, welche am Staatsruder ſtanden, erkann-<lb/>
ten die Nothwendigkeit einer Neugeſtaltung an, welche ſelbſt<lb/>
gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgefuͤhrt wer-<lb/>
den mußte. Aber weſentlich verſchieden war die Aufgabe<lb/>
des Zaaren, welcher die ſprudelnde Kraft eines jungen<lb/>
Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der<lb/>
des Sultans, welcher den abgelebten Staatskoͤrper Os-<lb/>
mans neu beſeelen ſollte. Und eben ſo verſchieden ſind die<lb/>
Anfangspunkte, von denen die beiden Herrſcher ausgingen,<lb/>
um das große Werk zu vollbringen.</p><lb/><p>Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht,<lb/>ſich ſelbſt nach Europa zu verſetzen, mitten in die Laͤnder,<lb/>
von welchen er lernen wollte; geſunder Sinn und raſtloſe<lb/>
Thaͤtigkeit bezeichnen ſein Auftreten dort. Jn Saardam<lb/>
zimmert er ein Boot, weil er ſpaͤter in Petersburg eine<lb/>
Flotte bauen will, auf engliſchen Hochſchulen ſtudirt er die<lb/>
Wiſſenſchaften, denen er in ſeine Staaten Eingang zu ver-<lb/>ſchaffen beabſichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit<lb/>ſeines Ranges mit dem gewoͤhnlichen Lebensverkehr ver-<lb/>
tauſcht, lernt er Maͤnner kennen, deren Kenntniſſe und Tuͤch-<lb/>
tigkeit ſpaͤter die Stuͤtzen ſeiner Unternehmung werden.</p><lb/><p>Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im<lb/>
Seraj zu Konſtantinopel, in welches das Herkommen ihn<lb/>
wie einen Gefangenen bannte, waͤhrend die Religion ihm<lb/>
jeden Verkehr mit Fremden unterſagte. Man hat erzaͤhlt,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[408/0418]
Urſachen zu forſchen, welche den Erfolg des naͤmlichen Ver-
ſuches ſo durchaus ungleich geſtalteten. Es muͤſſen aber
bei dieſer Betrachtung nicht bloß Perſonen, ſondern auch
Verhaͤltniſſe ins Auge gefaßt, nicht bloß Peter der Große
mit Mahmud II., ſondern die ganze Lage des damaligen
ruſſiſchen und des jetzigen osmaniſchen Reichs mit einan-
der verglichen werden.
Jn beiden Laͤndern konnte die Umbildung nicht aus
dem Volke hervorgehen, ſondern mußte ihm von oben her
aufgezwungen werden; in beiden waren die Voͤlker das con-
ſervative, die Regierungen das revolutionaire Element, denn
nur die Maͤnner, welche am Staatsruder ſtanden, erkann-
ten die Nothwendigkeit einer Neugeſtaltung an, welche ſelbſt
gegen den Willen der dabei Betheiligten durchgefuͤhrt wer-
den mußte. Aber weſentlich verſchieden war die Aufgabe
des Zaaren, welcher die ſprudelnde Kraft eines jungen
Reiches in die rechten Bahnen zu leiten hatte, von der
des Sultans, welcher den abgelebten Staatskoͤrper Os-
mans neu beſeelen ſollte. Und eben ſo verſchieden ſind die
Anfangspunkte, von denen die beiden Herrſcher ausgingen,
um das große Werk zu vollbringen.
Religion und Sitte verboten dem jungen Zaaren nicht,
ſich ſelbſt nach Europa zu verſetzen, mitten in die Laͤnder,
von welchen er lernen wollte; geſunder Sinn und raſtloſe
Thaͤtigkeit bezeichnen ſein Auftreten dort. Jn Saardam
zimmert er ein Boot, weil er ſpaͤter in Petersburg eine
Flotte bauen will, auf engliſchen Hochſchulen ſtudirt er die
Wiſſenſchaften, denen er in ſeine Staaten Eingang zu ver-
ſchaffen beabſichtigt; und indem er die Pracht und Hoheit
ſeines Ranges mit dem gewoͤhnlichen Lebensverkehr ver-
tauſcht, lernt er Maͤnner kennen, deren Kenntniſſe und Tuͤch-
tigkeit ſpaͤter die Stuͤtzen ſeiner Unternehmung werden.
Wie ganz anders verfloß die Jugend des Sultans im
Seraj zu Konſtantinopel, in welches das Herkommen ihn
wie einen Gefangenen bannte, waͤhrend die Religion ihm
jeden Verkehr mit Fremden unterſagte. Man hat erzaͤhlt,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/418>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.