rendem Regen eine Hochebene überschritten, öffnete sich ge- gen Abend vor uns ein tiefes Thal, an dessen Hang wir wohl eine halbe Stunde hinabstiegen; jenseits breitete sich das hübsche Städtchen Uergyp aus, überragt von einer alten Burg auf einem senkrecht abgeschnittenen Felsen, der von Höhlen wunderbar durchwühlt ist. Die Häuser in Uergyp sind überaus zierlich aus Stein aufgeführt; aber nichts ist leichter, als hier ein Haus zu bauen. Der Sand- stein ist weich wie Kreide, er verhärtet sich an der Luft, und das Loch im Felsen, aus welchem die Steine geschnit- ten werden, ist wieder ein Haus, welches im Sommer kühl, im Winter warm, zu allen Zeiten trocken ist und in keiner Feuerversicherungsanstalt assecurirt zu werden braucht.
Die Hochebene hinter Uergyp ist mit Weinfeldern be- deckt, von tiefen Schluchten durchschnitten, an deren schrof- fen Rändern seltsame Burgen sich erheben, wie man sie auf alten Tapeten abgebildet findet: zur Rechten zieht das weite offene Thal des Kisil-Jrmak (des rothen Stroms). Wir erblickten nach einem kurzen schnellen Ritt das weiße Castell, welches die große freundliche Stadt Newschehr krönt (Newschehr heißt Neustadt, wieder ein Beispiel von der merk- würdigen Aehnlichkeit der persischen und deutschen Sprache).
Jn Newschehr machte ich die Bekanntschaft einer No- tabilität dieses Landes, welche den Titel Kara-Djehennah oder schwarze Hölle führt; dieser Mann, dessen eigentlichen Namen (ich glaube Jussuf oder Joseph) fast Niemand kennt, hatte bei der Janitscharen-Vertilgung eine so blu- tige Rolle gespielt, er hatte damals und seitdem so viel Festigkeit, Grausamkeit, Muth und Jähzorn gezeigt, daß ihm Jedermann aus dem Wege ging, seinen Namen nur mit einer gewissen Ehrfurcht und leise aussprach, und mein Ta- tar mich zweimal fragte, ob ich in Newschehr wirklich beim Müsselim absteigen wolle. -- "Mein Herr will sogleich Pfer- de." -- "Dein Herr wird warten können." -- "Du kennst meinen Bey nicht, es ist ein angesehener Mann." -- "Mein Bey ist noch ein ganz anderer Mann; hast du noch nicht
rendem Regen eine Hochebene uͤberſchritten, oͤffnete ſich ge- gen Abend vor uns ein tiefes Thal, an deſſen Hang wir wohl eine halbe Stunde hinabſtiegen; jenſeits breitete ſich das huͤbſche Staͤdtchen Uergyp aus, uͤberragt von einer alten Burg auf einem ſenkrecht abgeſchnittenen Felſen, der von Hoͤhlen wunderbar durchwuͤhlt iſt. Die Haͤuſer in Uergyp ſind uͤberaus zierlich aus Stein aufgefuͤhrt; aber nichts iſt leichter, als hier ein Haus zu bauen. Der Sand- ſtein iſt weich wie Kreide, er verhaͤrtet ſich an der Luft, und das Loch im Felſen, aus welchem die Steine geſchnit- ten werden, iſt wieder ein Haus, welches im Sommer kuͤhl, im Winter warm, zu allen Zeiten trocken iſt und in keiner Feuerverſicherungsanſtalt aſſecurirt zu werden braucht.
Die Hochebene hinter Uergyp iſt mit Weinfeldern be- deckt, von tiefen Schluchten durchſchnitten, an deren ſchrof- fen Raͤndern ſeltſame Burgen ſich erheben, wie man ſie auf alten Tapeten abgebildet findet: zur Rechten zieht das weite offene Thal des Kiſil-Jrmak (des rothen Stroms). Wir erblickten nach einem kurzen ſchnellen Ritt das weiße Caſtell, welches die große freundliche Stadt Newſchehr kroͤnt (Newſchehr heißt Neuſtadt, wieder ein Beiſpiel von der merk- wuͤrdigen Aehnlichkeit der perſiſchen und deutſchen Sprache).
Jn Newſchehr machte ich die Bekanntſchaft einer No- tabilitaͤt dieſes Landes, welche den Titel Kara-Djehennah oder ſchwarze Hoͤlle fuͤhrt; dieſer Mann, deſſen eigentlichen Namen (ich glaube Juſſuf oder Joſeph) faſt Niemand kennt, hatte bei der Janitſcharen-Vertilgung eine ſo blu- tige Rolle geſpielt, er hatte damals und ſeitdem ſo viel Feſtigkeit, Grauſamkeit, Muth und Jaͤhzorn gezeigt, daß ihm Jedermann aus dem Wege ging, ſeinen Namen nur mit einer gewiſſen Ehrfurcht und leiſe ausſprach, und mein Ta- tar mich zweimal fragte, ob ich in Newſchehr wirklich beim Muͤſſelim abſteigen wolle. — „Mein Herr will ſogleich Pfer- de.“ — „Dein Herr wird warten koͤnnen.“ — „Du kennſt meinen Bey nicht, es iſt ein angeſehener Mann.“ — „Mein Bey iſt noch ein ganz anderer Mann; haſt du noch nicht
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rendem Regen eine Hochebene uͤberſchritten, oͤffnete ſich ge-
gen Abend vor uns ein tiefes Thal, an deſſen Hang wir
wohl eine halbe Stunde hinabſtiegen; jenſeits breitete ſich
das huͤbſche Staͤdtchen Uergyp aus, uͤberragt von einer
alten Burg auf einem ſenkrecht abgeſchnittenen Felſen, der
von Hoͤhlen wunderbar durchwuͤhlt iſt. Die Haͤuſer in
Uergyp ſind uͤberaus zierlich aus Stein aufgefuͤhrt; aber
nichts iſt leichter, als hier ein Haus zu bauen. Der Sand-
ſtein iſt weich wie Kreide, er verhaͤrtet ſich an der Luft,
und das Loch im Felſen, aus welchem die Steine geſchnit-
ten werden, iſt wieder ein Haus, welches im Sommer
kuͤhl, im Winter warm, zu allen Zeiten trocken iſt und in
keiner Feuerverſicherungsanſtalt aſſecurirt zu werden braucht.
Die Hochebene hinter Uergyp iſt mit Weinfeldern be-
deckt, von tiefen Schluchten durchſchnitten, an deren ſchrof-
fen Raͤndern ſeltſame Burgen ſich erheben, wie man ſie
auf alten Tapeten abgebildet findet: zur Rechten zieht das
weite offene Thal des Kiſil-Jrmak (des rothen Stroms).
Wir erblickten nach einem kurzen ſchnellen Ritt das weiße
Caſtell, welches die große freundliche Stadt Newſchehr kroͤnt
(Newſchehr heißt Neuſtadt, wieder ein Beiſpiel von der merk-
wuͤrdigen Aehnlichkeit der perſiſchen und deutſchen Sprache).
Jn Newſchehr machte ich die Bekanntſchaft einer No-
tabilitaͤt dieſes Landes, welche den Titel Kara-Djehennah
oder ſchwarze Hoͤlle fuͤhrt; dieſer Mann, deſſen eigentlichen
Namen (ich glaube Juſſuf oder Joſeph) faſt Niemand
kennt, hatte bei der Janitſcharen-Vertilgung eine ſo blu-
tige Rolle geſpielt, er hatte damals und ſeitdem ſo viel
Feſtigkeit, Grauſamkeit, Muth und Jaͤhzorn gezeigt, daß ihm
Jedermann aus dem Wege ging, ſeinen Namen nur mit
einer gewiſſen Ehrfurcht und leiſe ausſprach, und mein Ta-
tar mich zweimal fragte, ob ich in Newſchehr wirklich beim
Muͤſſelim abſteigen wolle. — „Mein Herr will ſogleich Pfer-
de.“ — „Dein Herr wird warten koͤnnen.“ — „Du kennſt
meinen Bey nicht, es iſt ein angeſehener Mann.“ — „Mein
Bey iſt noch ein ganz anderer Mann; haſt du noch nicht
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/326>, abgerufen am 25.11.2024.
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