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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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langen Marsch erschöpft, noch keine Krume Brot erhalten;
nur mit Mühe schaffen wir für die Soldaten selbst das
nöthige Mehl herbei, und nun kommt unerwartet Zuwachs
von mehreren hundert Hungerigen, gerade, als wir einen
neuen Transport noch erwarteten. Jch brachte gestern den
ganzen Tscharsi oder Markt an mich, aber was war da
zu holen! sechzig Ocka Rosinen und etwas Käse. Mehl
haben die Leute in den Dörfern selbst nicht, denn unsere
Pferde und Maulesel haben ihren schönen Waizen aufge-
zehrt; heute war ich so glücklich, einen Viertel-Centner Reis
aufzutreiben, von dem ich einen colossalen Pillaw bereiten
ließ. Kinder und Weiber stürzten darüber her, die Män-
ner aßen Baumblätter; glücklicherweise ist heute Mehl ge-
kommen, auch gestern spät hat man noch ein wenig Brot
aufgetrieben; die Verpflegung ist jetzt regelmäßig.

Unter solchen Umständen machen einzelne hübsche Züge
doppelte Freude. Ein Soldat des 2ten Regiments fand ein
Kind von drei oder vier Tagen hinter einem Steine; wäh-
rend die andern sich mit Beute beladen, trägt er das Würm-
chen wie eine Amme den weiten halsbrechenden Weg hier-
her. Hier angekommen, findet sich, daß das kleine Wesen
weder Vater noch Mutter mehr hat; der arme Mensch
wußte gar nicht, wie er seinen Fund wieder los werden
sollte; eine Frau nahm sich endlich des Säuglings an, und
der Soldat ging auch nicht unbelohnt davon.

Man kann über dies Unglück Hafiß-Pascha keinen
Vorwurf machen; nach den Greueln in Papur hat er nur
zu lange gezaudert, weil man ihm Unterwerfung versprach
und ihn täuschte; endlich mußte denn doch Gewalt ge-
braucht werden; und wo man solche Diener hat, wie die
Baschi-Bosuks, da kann man sich denken, daß viel Böses
geschieht, dem kein Einhalt zu thun ist. Wie soll auch
überhaupt ein Krieg mit Milde geführt werden, wo Felsen
und Dörfer erstürmt werden müssen, auf die sich Weiber
und Kinder mit ihrer Habe geflüchtet? Da ist solch Un-

langen Marſch erſchoͤpft, noch keine Krume Brot erhalten;
nur mit Muͤhe ſchaffen wir fuͤr die Soldaten ſelbſt das
noͤthige Mehl herbei, und nun kommt unerwartet Zuwachs
von mehreren hundert Hungerigen, gerade, als wir einen
neuen Transport noch erwarteten. Jch brachte geſtern den
ganzen Tſcharſi oder Markt an mich, aber was war da
zu holen! ſechzig Ocka Roſinen und etwas Kaͤſe. Mehl
haben die Leute in den Doͤrfern ſelbſt nicht, denn unſere
Pferde und Mauleſel haben ihren ſchoͤnen Waizen aufge-
zehrt; heute war ich ſo gluͤcklich, einen Viertel-Centner Reis
aufzutreiben, von dem ich einen coloſſalen Pillaw bereiten
ließ. Kinder und Weiber ſtuͤrzten daruͤber her, die Maͤn-
ner aßen Baumblaͤtter; gluͤcklicherweiſe iſt heute Mehl ge-
kommen, auch geſtern ſpaͤt hat man noch ein wenig Brot
aufgetrieben; die Verpflegung iſt jetzt regelmaͤßig.

Unter ſolchen Umſtaͤnden machen einzelne huͤbſche Zuͤge
doppelte Freude. Ein Soldat des 2ten Regiments fand ein
Kind von drei oder vier Tagen hinter einem Steine; waͤh-
rend die andern ſich mit Beute beladen, traͤgt er das Wuͤrm-
chen wie eine Amme den weiten halsbrechenden Weg hier-
her. Hier angekommen, findet ſich, daß das kleine Weſen
weder Vater noch Mutter mehr hat; der arme Menſch
wußte gar nicht, wie er ſeinen Fund wieder los werden
ſollte; eine Frau nahm ſich endlich des Saͤuglings an, und
der Soldat ging auch nicht unbelohnt davon.

Man kann uͤber dies Ungluͤck Hafiß-Paſcha keinen
Vorwurf machen; nach den Greueln in Papur hat er nur
zu lange gezaudert, weil man ihm Unterwerfung verſprach
und ihn taͤuſchte; endlich mußte denn doch Gewalt ge-
braucht werden; und wo man ſolche Diener hat, wie die
Baſchi-Boſuks, da kann man ſich denken, daß viel Boͤſes
geſchieht, dem kein Einhalt zu thun iſt. Wie ſoll auch
uͤberhaupt ein Krieg mit Milde gefuͤhrt werden, wo Felſen
und Doͤrfer erſtuͤrmt werden muͤſſen, auf die ſich Weiber
und Kinder mit ihrer Habe gefluͤchtet? Da iſt ſolch Un-

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[285/0295] langen Marſch erſchoͤpft, noch keine Krume Brot erhalten; nur mit Muͤhe ſchaffen wir fuͤr die Soldaten ſelbſt das noͤthige Mehl herbei, und nun kommt unerwartet Zuwachs von mehreren hundert Hungerigen, gerade, als wir einen neuen Transport noch erwarteten. Jch brachte geſtern den ganzen Tſcharſi oder Markt an mich, aber was war da zu holen! ſechzig Ocka Roſinen und etwas Kaͤſe. Mehl haben die Leute in den Doͤrfern ſelbſt nicht, denn unſere Pferde und Mauleſel haben ihren ſchoͤnen Waizen aufge- zehrt; heute war ich ſo gluͤcklich, einen Viertel-Centner Reis aufzutreiben, von dem ich einen coloſſalen Pillaw bereiten ließ. Kinder und Weiber ſtuͤrzten daruͤber her, die Maͤn- ner aßen Baumblaͤtter; gluͤcklicherweiſe iſt heute Mehl ge- kommen, auch geſtern ſpaͤt hat man noch ein wenig Brot aufgetrieben; die Verpflegung iſt jetzt regelmaͤßig. Unter ſolchen Umſtaͤnden machen einzelne huͤbſche Zuͤge doppelte Freude. Ein Soldat des 2ten Regiments fand ein Kind von drei oder vier Tagen hinter einem Steine; waͤh- rend die andern ſich mit Beute beladen, traͤgt er das Wuͤrm- chen wie eine Amme den weiten halsbrechenden Weg hier- her. Hier angekommen, findet ſich, daß das kleine Weſen weder Vater noch Mutter mehr hat; der arme Menſch wußte gar nicht, wie er ſeinen Fund wieder los werden ſollte; eine Frau nahm ſich endlich des Saͤuglings an, und der Soldat ging auch nicht unbelohnt davon. Man kann uͤber dies Ungluͤck Hafiß-Paſcha keinen Vorwurf machen; nach den Greueln in Papur hat er nur zu lange gezaudert, weil man ihm Unterwerfung verſprach und ihn taͤuſchte; endlich mußte denn doch Gewalt ge- braucht werden; und wo man ſolche Diener hat, wie die Baſchi-Boſuks, da kann man ſich denken, daß viel Boͤſes geſchieht, dem kein Einhalt zu thun iſt. Wie ſoll auch uͤberhaupt ein Krieg mit Milde gefuͤhrt werden, wo Felſen und Doͤrfer erſtuͤrmt werden muͤſſen, auf die ſich Weiber und Kinder mit ihrer Habe gefluͤchtet? Da iſt ſolch Un-

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/295>, abgerufen am 23.11.2024.