Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



Wenn einer nur eine Bewegung machte, so fragte
er sogleich, ob man etwas zu befehlen habe? und
verrichtete jeden Auftrag mit der geschwindesten Ge-
nauigkeit. Den folgenden Morgen schickte ihn
Kronhelm sogleich aus, ihn bey seinem Onkel zu
melden. Marx kam bald wieder mit der Nach-
richt zurück, der geheime Rath sey gegenwärtig nicht
in München. Kronhelm, der darüber sehr betrof-
fen war, gieng selbst nach seinem Hause, und er-
fuhr: sein Onkel reise schon seit acht Tagen in Chur-
fürstlichen Geschäften im Land herum, und werde
vor 14 Tagen nicht zurückkommen. Kronhelm kam
voll Unmuths wieder in den Gasthof, erzählte Sieg-
wart den verdrießlichen Umstand, und ließ sich nun
bey seinem Schwager und seiner Schwester melden.
Als er angenommen wurde, gieng Siegwart in-
dessen aus, um die Stadt zu besehen. Er erstaun-
te über die vielen schönen Häuser und Palläste, und
noch mehr über die Volksmenge, die ihm auf al-
len Straßen entgegen wimmelte. Alles, was er
sah, war ihm neu. Anfänglich gefiels ihm, bald
aber ärgerte er sich, zu sehen, wie hier immer ein
Mensch dem andern im Wege steht; |wie sich so
viele tausende zusammenthun, ein jeder in der Ab-
sicht, von dem andern zu |zehren. Eine Bauren-



Wenn einer nur eine Bewegung machte, ſo fragte
er ſogleich, ob man etwas zu befehlen habe? und
verrichtete jeden Auftrag mit der geſchwindeſten Ge-
nauigkeit. Den folgenden Morgen ſchickte ihn
Kronhelm ſogleich aus, ihn bey ſeinem Onkel zu
melden. Marx kam bald wieder mit der Nach-
richt zuruͤck, der geheime Rath ſey gegenwaͤrtig nicht
in Muͤnchen. Kronhelm, der daruͤber ſehr betrof-
fen war, gieng ſelbſt nach ſeinem Hauſe, und er-
fuhr: ſein Onkel reiſe ſchon ſeit acht Tagen in Chur-
fuͤrſtlichen Geſchaͤften im Land herum, und werde
vor 14 Tagen nicht zuruͤckkommen. Kronhelm kam
voll Unmuths wieder in den Gaſthof, erzaͤhlte Sieg-
wart den verdrießlichen Umſtand, und ließ ſich nun
bey ſeinem Schwager und ſeiner Schweſter melden.
Als er angenommen wurde, gieng Siegwart in-
deſſen aus, um die Stadt zu beſehen. Er erſtaun-
te uͤber die vielen ſchoͤnen Haͤuſer und Pallaͤſte, und
noch mehr uͤber die Volksmenge, die ihm auf al-
len Straßen entgegen wimmelte. Alles, was er
ſah, war ihm neu. Anfaͤnglich gefiels ihm, bald
aber aͤrgerte er ſich, zu ſehen, wie hier immer ein
Menſch dem andern im Wege ſteht; |wie ſich ſo
viele tauſende zuſammenthun, ein jeder in der Ab-
ſicht, von dem andern zu |zehren. Eine Bauren-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0301" n="721"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Wenn einer nur eine Bewegung machte, &#x017F;o fragte<lb/>
er &#x017F;ogleich, ob man etwas zu befehlen habe? und<lb/>
verrichtete jeden Auftrag mit der ge&#x017F;chwinde&#x017F;ten Ge-<lb/>
nauigkeit. Den folgenden Morgen &#x017F;chickte ihn<lb/>
Kronhelm &#x017F;ogleich aus, ihn bey &#x017F;einem Onkel zu<lb/>
melden. Marx kam bald wieder mit der Nach-<lb/>
richt zuru&#x0364;ck, der geheime Rath &#x017F;ey gegenwa&#x0364;rtig nicht<lb/>
in Mu&#x0364;nchen. Kronhelm, der daru&#x0364;ber &#x017F;ehr betrof-<lb/>
fen war, gieng &#x017F;elb&#x017F;t nach &#x017F;einem Hau&#x017F;e, und er-<lb/>
fuhr: &#x017F;ein Onkel rei&#x017F;e &#x017F;chon &#x017F;eit acht Tagen in Chur-<lb/>
fu&#x0364;r&#x017F;tlichen Ge&#x017F;cha&#x0364;ften im Land herum, und werde<lb/>
vor 14 Tagen nicht zuru&#x0364;ckkommen. Kronhelm kam<lb/>
voll Unmuths wieder in den Ga&#x017F;thof, erza&#x0364;hlte Sieg-<lb/>
wart den verdrießlichen Um&#x017F;tand, und ließ &#x017F;ich nun<lb/>
bey &#x017F;einem Schwager und &#x017F;einer Schwe&#x017F;ter melden.<lb/>
Als er angenommen wurde, gieng Siegwart in-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en aus, um die Stadt zu be&#x017F;ehen. Er er&#x017F;taun-<lb/>
te u&#x0364;ber die vielen &#x017F;cho&#x0364;nen Ha&#x0364;u&#x017F;er und Palla&#x0364;&#x017F;te, und<lb/>
noch mehr u&#x0364;ber die Volksmenge, die ihm auf al-<lb/>
len Straßen entgegen wimmelte. Alles, was er<lb/>
&#x017F;ah, war ihm neu. Anfa&#x0364;nglich gefiels ihm, bald<lb/>
aber a&#x0364;rgerte er &#x017F;ich, zu &#x017F;ehen, wie hier immer ein<lb/>
Men&#x017F;ch dem andern im Wege &#x017F;teht; |wie &#x017F;ich &#x017F;o<lb/>
viele tau&#x017F;ende zu&#x017F;ammenthun, ein jeder in der Ab-<lb/>
&#x017F;icht, von dem andern zu |zehren. Eine Bauren-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[721/0301] Wenn einer nur eine Bewegung machte, ſo fragte er ſogleich, ob man etwas zu befehlen habe? und verrichtete jeden Auftrag mit der geſchwindeſten Ge- nauigkeit. Den folgenden Morgen ſchickte ihn Kronhelm ſogleich aus, ihn bey ſeinem Onkel zu melden. Marx kam bald wieder mit der Nach- richt zuruͤck, der geheime Rath ſey gegenwaͤrtig nicht in Muͤnchen. Kronhelm, der daruͤber ſehr betrof- fen war, gieng ſelbſt nach ſeinem Hauſe, und er- fuhr: ſein Onkel reiſe ſchon ſeit acht Tagen in Chur- fuͤrſtlichen Geſchaͤften im Land herum, und werde vor 14 Tagen nicht zuruͤckkommen. Kronhelm kam voll Unmuths wieder in den Gaſthof, erzaͤhlte Sieg- wart den verdrießlichen Umſtand, und ließ ſich nun bey ſeinem Schwager und ſeiner Schweſter melden. Als er angenommen wurde, gieng Siegwart in- deſſen aus, um die Stadt zu beſehen. Er erſtaun- te uͤber die vielen ſchoͤnen Haͤuſer und Pallaͤſte, und noch mehr uͤber die Volksmenge, die ihm auf al- len Straßen entgegen wimmelte. Alles, was er ſah, war ihm neu. Anfaͤnglich gefiels ihm, bald aber aͤrgerte er ſich, zu ſehen, wie hier immer ein Menſch dem andern im Wege ſteht; |wie ſich ſo viele tauſende zuſammenthun, ein jeder in der Ab- ſicht, von dem andern zu |zehren. Eine Bauren-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/301
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/301>, abgerufen am 22.11.2024.