Kronhelm war lange, wie betaͤubt; Er ſah
aus dem Kutſchenſchlag hinaus, und doch
ſah er nichts, und fuͤhlte nichts von dem Reiz der Ge-
gend, uͤber der ſich nach und nach der Himmel
aufklaͤrte, und die, vom Regen erquickt, nun
in hellerm Gruͤn prangte, und den ſuͤſſen Duft
der Pflanzen und der Blumen rings umher ver-
breitete; Siegwart war auch traurig, und wollte
ſeinen Freund nicht ſtoͤren. Endlich fieng dieſer
ſelbſt zu ſprechen an, und gieng die ſchoͤnen Ta-
ge wieder durch, die ſie mit einander durchlebt
hatten. Deine Schweſter, ſagte er, uͤbertrifft
doch alle Maͤdchen, die ich noch geſehen habe!
Wenn ſie mir nur fleiſſig ſchreibt! Sonſt wird
mir der Aufenthalt in der Stadt unertraͤglich
werden. — Sie ſtiegen wieder in dem Dorf, und
vor dem Wirthshaus ab, wo ſie neulich geweſen
waren. Ein Werber ſaß drinn, der eben einen
Bauerkerl angeworben hatte. Dieſer machte
groſſen Lerm, und war betrunken; ſchimpfte auf
ſeine Mutter, die ihm ſein Maͤdchen nicht habe
laſſen wollen; dann trank er auf die Geſundheit
des Kayſers, der Kayſerin und ſeiner Kathrine,
und ſchmiß das Glas beym Fenſter hinaus. End-
lich kam ſeine Mutter mit groſſem Geſchrey:
Hanns, iſts wahr, daß du Soldat worden biſt?
Du Teufelskind, was haſt du jetzt getrieben?
Wer hat dir den verfluchten Einfall eingegeben?
Hanns. Du ſelbſt, Mutter! haͤtteſt mir
nur meine Dirne laſſen duͤrfen! Jch hab dirs
immer geſagt. Nun iſts zu ſpaͤt. Vivat der
Kayſer und die Kayſerin! Da trink auch mit!
Mutter. Geh mir weg mit dem Glas!
Mir thuts Noth, zu trinken! Du gottloſer Bub!
Laͤßt mich nun allein ſitzen und ſcharren. Wer
ſoll nun ’s Feld bauen, und mich ernaͤhren hel-
fen? Gelt! nun ſoll ich verderben und Hunger
leiden? O, ich elendes, g’ſchlagnes Weib!
Hanns. ’s Jammern hilft nun nichts
mehr, Mutter! Jch hab dir’s vorher geſagt;
Aber wollteſt immer nichts hoͤren, wenn ich von
Kathrinen anfieng! Da hatteſt du den Kopf
drauf geſetzt, und lachteſt mich nur aus, wenn ich
vom Soldatenleben ſprach! Gelt, nun bin ichs?
Mutter. Nun, ſo komm nur, Hanns!
Sollſt ſie ja haben, wenns nicht anders ſeyn
kann? Komm nur mit mir heim!
Hanns. Ja, wenns der Herr haben woll-
te, bin ichs ſchon zufrieden.
Werber. Ey, das bitt ich mir aus! Du
muſt da bleiben, Hanns, haͤtteſt du das ein paar
Stunden eher bedacht! Jetzt gehts nicht mehr an.
Mutter. Was? Jhr wollt mir meinen
Sohn nicht laſſen? Jſt das auch erlaubt? Er
muß mirs Feld bauen! Jch bin ein armes Weib!
Werber. Ja, das geht mich nichts an. Er
iſt ſelbſt zu mir gekommen, und muß mit mir
fort.
Mutter. Jch will ihm ja ſeine Kathrine
laſſen! Er ſoll ſie noch heut haben! Komm nur!
Werber. Fort! oder ich will euch was
anders ſagen! Er ſoll mit in Krieg!
Mutter. Jn den Krieg, wo man d’ Leute
todt ſchlaͤgt? Nein, das thu ich nicht! Es iſt
mein einziger Sohn. Hab ſonſt keinen Men-
ſchen auf der Welt!
Hanns. Laß ſeyn, Mutter! ’s hilft nichts.
Jch muß halt ſchon mit fort!
Mutter. Nein, du ſollſt nicht! ſag ich.
Jch will dich loskaufen. Was muß ich fuͤr ihn
geben?
Werber. Hundert Thaler, und ’n andern
Kerl dazu, von ſeiner Groͤſſe!
Mutter. Hundert Thaler? Lieber Gott!
hab keine hundert Kreuzer! wenn ich auch mein
Aeckerlein verkaufen wollte, wuͤrd ich doch keine
70 Gulden draus loͤſen. Ach lieber Herr Feld-
waibel! hab er doch Mitleiden mit einer armen
Frau! Jch will ja gerne hundert Roſenkraͤnze
fuͤr ihn beten.
Werber. Was hilft mir das? Und, wenn
ihr zweyhundert fuͤr mich betet! Wir muͤſſen Leut
haben, und da iſt uns euer Sohn eben recht. Er
gibt ’n guten Fluͤgelmann.
Mutter. Ach du lieber himmliſcher Vater!
Jſt denn gar keine Barmherzigkeit mehr auf der
Welt? — Hanns, Hanns! das wird mich noch
vor der Zeit ins Grab bringen.
HannnsHanns. Nun, Mutter, mach mir ’s
Herz nicht weich! Ein Soldat muß Kourage ha-
ben! ’s thut mir leid; aber du haſts nicht anders
haben wollen. Gruͤß mir Kathrinen! Jch werd
ſie doch nicht mehr ſehen. Das arme Ding
wird ſich wol zu todt heulen. Aber ohne ſie haͤtt
ich doch nicht im Dorf leben koͤnnen. Jetzt iſts
beſſer, ’n Kugel vor den Kopf! — So gehts,
wenn ihr Leut alles beſſer wiſſen wollt! — Da
haſt zwoͤlf Gulden von meinem Handgeld. Ver-
brauchs g’ſund!
Jndem kam Kathrine mit Heulen und
Schreyen in die Stube, und fiel ihrem Hanns
um den Hals. Hanns! Gelt, ’s iſt nicht wahr?
Wirſt nicht Soldat? Kannſt mich nicht verlaſſen? —
Was? haſt ’n Federbuſch ſchon aufm Hut? Geh!
wirf ihn zum Teufel! Du biſt mein, und ſollſt
mein bleiben! — Lieber Hanns! ſieh mich doch
an! Gelt du bleibſt hier?
Hanns. Ja, Kathrine, ich wollts gern!
Aber ’s geht nun nicht mehr an.
Kathrine. Was ſagſt? ’s geh nun nicht
mehr an? Nun, ſo geh ich mit dir, wo du hin gehſt!
Ohne dich kann ich nicht ſeyn! Wir wollen uns
mit einander todt ſchieſſen laſſen.
Werber. Das geht auch nicht an. Jhr
muͤßt hier bleiben! Macht nur bald ein End!
Wir muͤſſen weiter; muͤſſen dieſen Morgen noch
nach Guͤntzburg!
Kathrine. So? Jhr wollt mich nicht mit-
nehmen? Wollt mir meinen Hanns nicht laſ-
ſen? — Jch kann auch Soldat werden! kann auch
’n Flint tragen, und mich todt ſchlagen laſſen! Jch
muß mit! Oder ich kratz dir die Augen aus, du
alter, ſchwarzer Kerl!
Kronhelm (gieng zum Werber, und ſagte)
O, ich bitte Sie, Herr Sergeant! Seyn Sie doch
auch menſchlich! Laſſen Sie das arme Maͤd-
chen mit!
Werber. Ja, Herr! ich wollt ſchon; aber
was hilfts? Wenn wir zum Hauptmann kommen,
ſo laͤßt er ſie wieder fortjagen. Wir koͤnnen im
Feld nicht ſo viel Bagage brauchen. Unſer Haupt-
mann iſt gar ſtreng.
Kathrine. Sey ers auch! Er wird doch
ein Menſch ſeyn! Und wenn er auch ein Tyger
waͤr, ich wollt ihm ’s Herz weich machen.
Werber. Nun, meintwegen wohl! Bis
nach Guͤntzburg koͤnnt ihr ſchon mitlaufen. Moͤgt
dann ſehn, wies weiter geht!
Kathrine. Ja, ja! Das will ich ſchon
ſehn! — O, Hanns! Nun iſt mir wieder wohl.
Hoͤr! nun will ich g’ſchwind zu meinem Bauren,
und mir meinen Lohn geben laſſen, und mein Biſ-
ſel Sach’ einpacken! (Sie gieng weg.)
Werber. (ihr nachrufend) Macht nur kurz!
Jn einer Viertelſtunde muͤßt ihr wieder da ſeyn!
Wir muͤſſen fort! — Der Hauptmann wird ihrs
ſchon ſagen! —
Kronhelm. Jch kenn’ Jhren Hauptmann
auch, und komm noch heut nach Guͤntzburg; da
will ich gleich mit ihm reden.
Werber. Ja, wenn Sie ein Vorwort ein-
legen, dann kanns gehen, aber ſonſt nicht!
Hanns (zu Kronhelm) O Herr, vergeſſen
Sies ja nicht, und gehn Sie heut zum Haupt-
mann! Sie ſind auch gar zu brav! — Heh,
Mutter! ’s Weinen hilft nun nichts. Bet fleiſ-
ſig fuͤr mich! Vielleicht komm ich doch einmal
wieder! Jch hab nur auf 5 Jahr akkordirt.
Mutter. Ja, da werd ich wol im Grab
ſeyn! Das Herzeleid haͤtteſt mir nicht anthun
ſollen, Hanns! Gott verzeih dirs! Wenn das
dein Vater dacht haͤtt! — Jch war auch ver-
blendet, daß ich dir das Maͤdel mit Gewalt nicht
laſſen wollt; aber ich dacht eben nicht, daß du
gleich ſo oben ’naus ſeyn wuͤrdeſt. — Jch hab
ſchon viel Kreutz g’habt, aber das iſt ’s groͤßt, das
ich wol nicht uͤberleben werd. — Haͤtteſt ſo ruhig
in unſerm Huͤttlein leben koͤnnen! Nun muß ich
allein drinn ſchmachten! — O Hanns, Hanns!
Wenn ihr Leute daͤchtet, was ihr euren Eltern
fuͤr Kummer macht! ’s iſt ein Elend, eine Mut-
ter zu ſeyn! —
Sie jammerte noch immer ſo fort; Endlich
kam Kathrine mit einem Buͤndel Kleider. Der
Werber fuͤhrte Hanns bald darauf fort, weil er
fuͤrchtete, die Bauren moͤchten zuſammen laufen;
die Mutter hieng ſich ihrem Sohn an den Hals,
und wollte ihn nicht loslaſſen. Endlich mußte ſie;
heulte jaͤmmerlich, und ſchlug die Haͤnd uͤber dem
Kopf zuſammen. Sie wollte noch mit vors
Dorf hinaus, aber der Werber, der den Laͤrm
fuͤrchtete, gab es nicht zu. Kronhelm verſprach
es Hanns noch einmal, beym Hauptmann fuͤr ihn
und ſeine Kathrine zu ſprechen. —
Nach einer halben Stunde fuhren Kronhelm
und Siegwart auch wieder weiter. Sie ſpra-
chen viel uͤber den Rekruten, und ſeine Mutter.
Das muß ein ſchreckliches Leben fuͤr die beyden
ſeyn, ſagte Kronhelm, wenn ſie getrennt waͤren,
und das Maͤdchen keinen Augenblick wuͤßte, ob
nicht ihrem Hanns der Kopf geſpaltet, oder eine
Kugel ins Herz geſchoſſen wuͤrde? So iſt ſie doch
um ihn, und kann ihn warten, wenn er verwun-
det wird. Der Hauptmann laͤßt ſie gewiß bey-
ſammen, ich kenne ihn von meinem Vater her;
und der Kerl iſt groß; denen ſieht man ſchon nach,
wenn ſie Weiber haben; ſie gehen dann auch
weniger durch. —
Nach anderthalb Stunden trafen ſie den
Hauptmann auf einem Spatzierritt an. Kron-
helm trug ihm ſogleich ſeine Bitte wegen Hanns
vor. Jch habe den Kerl dort angetroffen, und
ſein Menſch auch, ſagte der Hauptmann. Sie
fiel mir gleich zu Fuͤſſen, und bat, daß ſie mit in
Krieg duͤrfte. Jch verſprach ihr nichts Gewiſſes,
denn man ſieht die Weibsleute im Feld nicht gern;
ſie hindern nur auf dem Marſch. Aber zuweilen
macht man wol eine Ausnahme; und weil Sie auch
fuͤr den Kerl bitten, und er ſchoͤn und groß iſt, ſo will
ichs ſo mit hingehen laſſen. Wenn ich einmal
auf Jhr Schloß komme, ſo beding’ ich mir eine
Bouteille Burgunder dafuͤr aus. Herzlich gerne,
ſagte Kronhelm, und nahm von dem Hauptmann
Abſchied. — Er war nun recht froh, daß er et-
was zur Vereinigung dieſer beyden Leute mit bey-
getragen hatte, und dachte nun mit deſto groͤſſerm
Vergnuͤgen, aber auch mit groͤßrer Wehmuth an
ſeine Thereſe. Siegwart mußte ihm tauſenderley
kleine Geſchichten von Thereſens Kindheit erzaͤh-
len; manche gefielen ihm ſo wohl, daß er ſie ſich
zwey- und dreymal erzaͤhlen ließ.
Endlich kamen ſie auf ihrer Schule wieder
an. Kronhelm gab dem Kutſcher ein paar Zei-
len mit, die an den Amtmann und an Thereſen
zugleich gerichtet waren, und blos die Nachricht
von ihrer gluͤcklichen Ankunft, und Dankſagungen
fuͤr die viele genoſſene Freundſchaft enthielten. Sie
giengen dann ſogleich zu ihrem lieben P. Philipp,
der ſich herzlich uͤber ihre Ankunft freute. Sie
mußten ihm ſehr viel von ihrer Landluſt erzaͤhlen.
Kronhelm vermied es ſorgfaͤltig, Thereſens Na-
men zu nennen, oder nur entfernt von ihr beſon-
ders zu reden, weil er ſich zu verrathen fuͤrchtete;
denn die erſte Liebe iſt mehrentheils ſehr furchtſam
und zuruͤckhaltend. Nach etlichen Tagen fiel aber
P. Philipp ſelbſt auf die Vermuthung, daß er
verliebt ſey; denn er war ſo ſtill, und verfiel oft
auf Einmal in ein tiefes Nachdenken, und ſah aus,
als ob er weinen wollte. Unſerm Kronhelm
muß was wichtiges begegnet ſeyn, ſagte er, und
wandte ſich zu Siegwart; Er iſt ſeit der Reiſe
ganz veraͤndert. Jch weis nicht, antwortete Xa-
ver; und Kronhelm ward feuerroth. — Nein,
es fehlt mir nichts, ſagte er; ich weis nicht, wie
Sie darauf kommen? Aber gewiß, es fehlt mir
nichts! — Nun, nun, ich hab auch kein Recht
zu Jhren Geheimniſſen, ſagte P. Philipp; wenns
nur nichts ſchlimmes iſt, was die Veraͤnderung
hervorbrachte. Kronhelm ward ſo verwirrt, und
entſchuldigte ſich ſo viel, daß er ſich zuletzt ſelbſt
verrieth, und mit vielen Umſtaͤnden und weit
hergeholten Wendungen dem Pater das ganze Ge-
heimnis entdeckte. Das iſt ja was gutes, und un-
ſchuldiges, ſagte Philipp, und braucht der Be-
ſchoͤnigungen gar nicht. — Ja, ich weis wohl,
ſagte Kronhelm; aber es wird mir ſo ſonderbar
zu Muth, wenn man davon ſpricht. Es iſt ge-
wiß um die Liebe die unſchuldigſte Sache, der
man ſich mehr zu ruͤhmen, als zu ſchaͤmen Urſache
hat; aber es haͤlt einen immer ſo was zuruͤck. —
Das kommt von der Erziehung her, ſagte Phi-
lipp. Nun, ich wuͤnſch ihm von Herzen Gluͤck;
denn ich hoffe, daß er nicht ſo auf Gerathewohl
gewaͤhlt hat; und was ich bisher von Thereſen
gehoͤrt habe, bringt mir die beſte Meynung von
ihr bey. Sie muß ein frommes, unſchuldiges und
liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf ſeyn, das vor Tauſen-
den den Vorrang hat. Nur Eine wohlgemeynte
Warnung kann ich nicht zuruͤckhalten, und Er
wird mir ſie nicht uͤbel nehmen! Mach Er die
Liebe nicht zur Haupttriebfeder ſeiner Handlun-
gen, und vergeß Er ſeine uͤbrige Beſtimmung nicht
druͤber! Dieß iſt der gewoͤhnliche Fehler bey jun-
gen Leuten. Sie glauben nur fuͤr ihr Maͤdchen
allein geſchaffen zu ſeyn, und gegen die uͤbrige
Welt weiter keine Pflicht zu haben. Bey Jhm
fuͤrcht ich das nun weniger. Die Liebe ſollte uns
am meiſten zur Vervollkommung unſrer ſelbſt an-
treiben. Denn je mehr Vorzuͤge und innre Voll-
kommenheiten wir haben, deſto gluͤcklicher koͤnnen
wir einſt den geliebten Gegenſtand machen. Durch
Kenntniſſe und Wiſſenſchaften bahnen wir uns
den Weg zu Ehrenſtellen, anſehnlichen Aemtern
und Beſoldungen; und dann koͤnnen wir erſt mit
gutem Gewiſſen einem Frauenzimmer unſre Hand
anbieten. Er kann zwar auch ohne Aemter le-
ben; aber es iſt doch beſſer, wenn man zu allem
geſchickt iſt. Kronhelm dankte fuͤr den Rath, und
verſprach, ihn zu beſolgen. Er fuͤhle ſich jetzt,
ſagte er, zu allem ſtaͤrker; alles ſey ihm leichter.
Er liebe die Menſchen mehr. Sein Herz ſey
weicher und mitleidiger geworden, und das Schick-
ſal eines jeden Menſchen, beſonders eines leiden-
den lieg ihm weit naͤher am Herzen, als ſonſt.
Gleich den Tag nach ſeiner Ankunft hatte
Kronhelm einen ziemlich weitlaͤuftigen Brief an
Thereſen, und auch einen an ihren Vater geſchrie-
ben, und ihn dem Bothen mitgegeben. Er war-
tete nur mit Verlangen auf den Sonnabend, da
der Bothe wieder kommen ſollte. Er zaͤhlte alle
Stunden bis dahin, und lief am Sonnabend ſo-
gleich nach dem Hauſe, wo die Briefe gewoͤhn-
lich abgegeben wurden. Der Bothe war da
geweſen, und hatte keinen Brief mitgebracht.
Der ſonſt gelaßne Kronhelm ward durch dieſe
Nachricht wie raſend, knirſchte mit den Zaͤhnen,
und ſtampfte auf den Boden. Nun ſo wollt’
ich, daß ich die Welt zertruͤmmern koͤnnte! rief
er, und alles, was drinn und drauf iſt! —
Keinen Brief? Und ſie hat mirs ſo theuer ver-
ſprochen? — Nun ſo trau mir einer mehr den
Menſchen, und zumal den Maͤdchen! — Alles,
alles iſt nichts! Jſt Tand! Jſt abſcheulicher
Betrug! — O ich Thor, daß ich ſo drauf bau-
te! Den Kopf moͤcht ich mir einrennen! — Das
verfluchte Geſchlecht!
So tobte er, und lief, ohne zu wiſſen, war-
um? vors Thor hinaus. Alles, was ihm be-
gegnete, war ihm zuwider. Die ganze Welt
kam ihm vor, wie ein Narrenhaus, und Zucht-
haus. Jeder war ihm ein Narr, oder Boͤſe-
wicht! Er kam an die Donau; ſetzte ſich ans
Ufer nieder; ſcharrte den Sand mit ſeinem
Stock auf, und ſtaͤubte ihn ins Waſſer. Gott!
dachte er, auch Thereſe untreu! Auch die,
auf die ich alles gebaut haͤtte! O, wir Maͤn-
ner ſind doch rechte Narren! — Er dach-
te hin und her, was ſie ſo ſchnell auf andre Ge-
danken koͤnnte gebracht haben? Es war ihm un-
begreiflich; und doch hielt ers fuͤr ausgemacht
gewiß. Er fand tauſend Urſachen, und verwarf
ſie wieder. Endlich hub er ſich wieder auf, und
gieng nach Haus. Siegwart war ausgegangen,
um ihn aufzuſuchen. Nach einer Stunde kam
er wieder; Da iſt ein Brief von meiner Schwe-
ſter, ſagte er. — Was? rief Kronhelm; Willſt
du mich auch fuͤr einen Narren halten? Jch
hab ſchon nach dem Bothen gefragt! Er hat
nichts! — Da lislies nur ſelber; ſagte Siegwart.
Der Bothe hat mir den Brief ſelbſt eingehaͤn-
digt, weils meine Schweſter haben wollte. Kron-
helm brach den Brief mit Zittern auf, und riß
ihn vor Ungeduld faſt entzwey. Thereſe ſchrieb
ſo:
Beſter, theureſter Freund!
Der vergnuͤgteſte Abend nach Jhrer Abreiſe
war mir der, da ich Jhren lieben Brief erhielt;
vielen, vielen herzlichen Dank dafuͤr, mein beſter
Freund! Gottlob, daß Sie gluͤcklich wieder ange-
kommen ſind! Meine beſten Wuͤnſche begleiteten
Sie auf Jhrer ganzen Reiſe; aber beſonders mach-
te mir der fatale Weg, und der ſtarke Regen viele
Sorge. Jch freute mich recht fuͤr Sie, als der
Regen wieder nachließ.
Alſo ſind Jhre Lehrer nicht boͤſe, wegen Jh-
res etwas laͤngern Ausbleibens? Nun, das iſt
mir ſehr lieb; mir war ſchon recht bange dafuͤr,
und ich dachte, Sie koͤnntens gar daruͤber bereuen,
daß Sie laͤnger hier blieben; das wollt ich doch
nicht gerne!
Ach, mein theureſter Freund! oft denk ich noch
an den traurigen Scheidetag und an die letzte trauri-
ge Nacht. Dann ſeh ich noch immer den, mit ſchwar-
zen Wolken umgebenen Mond, der uns gegenuͤber
ſtand; dann hoͤr ich noch immer den rollenden Don-
ner, und ſeh die ſchnellen Blitze. Alles war ſo feyerlich!
Erſt ſinds acht Tage, und mir duͤnkts ſchon ſo lange!
F f
Jetzt ſind wir ganz einſam, und alles iſt ſo ſtille,
nun Sie nicht mehr hier ſind!
Am Tage nach Jhrer Abreiſe ſchrieb ich ein
paar Lieder aus Kleiſt ab; hernach hab ich im
Hagedorn geleſen, den Sie mir geſchenkt haben.
Jch fand vieles drinn, was mir gefiel; aber fuͤr
mein Herz, das jetzt ſo viel verlangt, hats zu we-
nig Nahrung. Sonſt hab ich nichts geleſen.
Theils hatt’ ich nicht Zeit dazu, theils nicht Luſt;
und dann haben Sie mich ſo ganz verwoͤhnt, daß
ich faſt nichts mehr allein leſen mag.
Einmal hab ich Beſuch gegeben bey meiner
Freundin, der Poſtverwalterstochter; und den
Abend gieng ich am kleinen Bach ſpatzieren, mit
meinem Vater, der ſo ganz fuͤr Sie iſt. Wir
ſprachen recht viel von Jhnen. Vorgeſtern war
Hauptmann Northern, aber nur allein, hier.
Wir kamen oft auf Sie zu ſprechen; er haͤlt ſehr
viel auf Sie, und ich bin ihm deswegen noch ein-
mal ſo gut. Wenn er nur oft kaͤme, und von Jh-
nen ſpraͤche! Mir iſt ſo wohl dabey, und ſo bang.
Jch wuͤnſchte immer, daß man davon anfienge;
und faͤngt man an, ſo wuͤnſcht ich wieder, daß ich
weit davon waͤre! Aber nachher freu ich mich doch
immer recht druͤber.
Von unangenehmen Dingen ſpricht man
nicht gern; ſonſt koͤnnt ich Jhnen viel ſagen, von
den Spoͤttereyen und Sticheleyen, die ich von mei-
ner Schwaͤgerin anhoͤren muß; doch ſo etwas iſt
zu gering, ſich daruͤber zu aͤrgern. Jch kann Jh-
nen nicht mehr ſchreiben, weil ich recht viel wegen
der Habererndte zu thun habe; aber wenn das vor-
bey iſt, ſo werd ichs gewiß nachholen. Jch habe
Jhnen noch ſo viel zu ſagen, ſo viel! Aber ein
Brief iſt immer nur eine halbe Unterredung.
Leben Sie ſo gluͤcklich, mein Theureſter, als es
mein ſtuͤndlicher Wunſch iſt! Meine Seele iſt
oft bey Jhnen.
Th. Siegwart.
Als Kronhelm dieſen Brief geleſen hatte, gieng er
ans Fenſter, und die hellen Zaͤhren ſtuͤrzten ihm aus
den Augen. Sein Herz machte ihm tauſend Vorwuͤr-
fe. Gott! Was iſt das fuͤr ein himmliſches Maͤdchen!
dachte er; und was bin ich fuͤr ein Kerl! Lauter Zaͤrt-
lichkeit und Liebe! Und ich that dem Engel Unrecht!
That ihm teufliſches Unrecht! — O vergib,
vergib, Engel, wenn ichs werth bin! — Jch
habe vorhin recht geraſt, ſagte er zu Siegwart.
Das iſt was Entſetzliches um die Liebe, wie ſie
mit dem Menſchen umgeht, und ſo alles aus ei-
nem macht, was ſie will! Da wollt ich dir den
Brief holen; es hieß, der Bothe hab keinen mit-
gebracht, und da wars, als ob ich auf Einmal
ein ganz andrer Menſch wurde. Jch raſte, und
haͤtt einen umbringen koͤnnen, der mir in Weg
gekommen waͤre! Jch ſah und hoͤrte nichts; oder,
was ich ſah, das war mir aͤrgerlich. Jch lief, wie
ein Unſinniger beym Thor hinaus; fluchte bey
mir ſelbſt, und haͤtte darauf geſchworen, deine
Schweſter hab mich ſchon vergeſſen! — Und nun
ſchreibt ſie mir da einen ſo herrlichen und lieben
Brief. O ich moͤchte mich vor den Kopf ſchlagen,
daß ich ſo ein Tollkopf bin, und ihr ſo Unrecht
that! — Da ſiehſt du, ſagte Siegwart, daß der
P. Philipp Recht hat: Man ſoll ſich von der Lie-
be nicht ſo ganz beherrſchen laſſen! Du biſt ſeit
der Zeit viel ungeduldiger und auffahrender. Alles
aͤrgert dich, wenns nicht immer gleich nach Wunſch
geht. — Freylich; ſagte Kronhelm; aber hab
nur Geduld mit mir, Bruder! Jch will mich war-
lich beſſern! Deine Schweſter iſt ſo ein ſanftes,
nachgiebiges Maͤdchen; ſie weis ſich in alles ſo
zu ſchicken; und ich bin ſo ein aufbrauſender Kerl,
der gleich mit dem Kopf durch die Wand will. O
ſie ſoll mich noch Gelaſſenheit und Sanftmuth leh-
ren, oder ich waͤr ihrer Liebe nicht werth! Schreib
ihr nur nichts davon! Jch muͤßt mich ſchaͤmen! —
Da kannſt du ihren Brief leſen. Es iſt der Wie-
derſchein ihrer Seele. Die Zaͤrtlichkeit hat ihr
ihn ſelbſt eingegeben. Siegwart ließ ihn auch
den Brief leſen, den ſie ihm geſchrieben hatte. —
Es iſt herrlich, wie das Maͤdchen ſchreibt! ſagte
Kronhelm; ſo natuͤrlich und ſo wahr! Man ſieht
doch gleich, was Natur iſt! —
Kronhelm und Siegwart ſchrieben nun wie-
der an Thereſen und an ihren Vater. Kronhelm
ward oft ſehr bewegt, und mußte inne halten, ſo
gegenwaͤrtig ſtellte er ſich das Maͤdchen vor. Er
konnte es nicht ganz laſſen, und ſchrieb ihr doch
einiges von ſeiner Ungeduld, in die er uͤber ihr
vermeyntes Schreiben gerathen war. Auf den
Nachmittag ſchickten ſie die Briefe fort.
Den Sonntag darauf beſuchten ſie den jungen
Gruͤnbach, und erzaͤhlten ihm von ihrer Reiſe.
Seine Schweſter Sophie kam, unter dem Vor-
wand, Muſikalien zu holen, auch aufs Zimmer,
und blieb uͤber eine Stunde da. Das arme Maͤd-
chen hieng mit ihren Augen immer an Siegwart,
und litt recht viel dabey, daß er ſo wenig auf ſie
zu achten ſchien. Die Juͤnglinge ſprachen viel von
Klopſtock, und als ſie Siegwarten mit ſolcher
Waͤrme von ihm ſprechen hoͤrte, bat ſie ſich den
Meſſias von ihrem Bruder zum Leſen aus. Jhr
Vater kam, und ſie mußte in den Laden hinab.
Der alte Gruͤnbach erkundigte ſich mit vielen Um-
ſtaͤnden bey Siegwart nach dem Befinden ſeines
Vaters und ſeiner Familie.
Die Schulſtunden wurden nun wieder angefan-
gen, und die beyden Juͤnglinge beſchaͤftigten ſich
mehrentheils mit den Buͤchern; zumal, da man bey
den unbeſtaͤndigen und rauhen Herbſttagen wenig
mehr aufs freye Feld hinaus konnte. Kronhelm
liebte zwar die Wiſſenſchaften ſehr, und brannte
vor Begierde, ſeine Kenntniſſe zu vermehren; aber
der Gedanke an Thereſen uͤberraſchte ihn alle Au-
genblicke uͤber den Buͤchern, und dann wars ihm
unmoͤglich, weiter zu leſen. Er fieng an zu phan-
taſiren, ſtellte ſich ihr Bild ganze Stunden ganz
lebendig vor, und hielt, wenn er allein war, laute
Geſpraͤche mit ihr. Sie ſchrieb ihm, wo nicht alle
8 Tage, doch wenigſtens alle 14 Tage gewiß. Sie
wurden, auch in der Entfernung, immer noch ge-
nauer mit einander verbunden. Sie lieſſen ihre
Seele in den Briefen reden; ſagten ſich ihre in-
nerſten Gedanken, und ſo entdeckte eines immer
mehr Vorzuͤge und Vollkommenheiten an dem an-
dern. Kurz, ſie waren das gluͤcklichſte Paar, weil
Tugend und Weisheit ihre Seelen an einander
kettete, und immer feſter mit einander verband. Der
alte Siegwart wurde, ohngeachtet der Verſchie-
denheit der Jahre, Kronhelms warmer und ver-
trauter Freund. Er hielt alles auf ihn, und wuͤnſch-
te nur, daß kein Ungluͤck ihn von ſeiner Tochter
trennen moͤchte! Unſre Liebende vergaſſen der Ge-
fahr, ſo bald ſie ihnen aus den Augen verſchwand;
freuten ſich nur ihrer Liebe, und ſahen nichts, als
einen heitern, unbewoͤlkten Himmel vor ſich.
Siegwart, der auf der Schule, wegen ſeines
Fleiſſes, immer weiter fortruͤckte, ließ ſich dieſe
Aufmunterung nur deſto mehr anſpornen, und
vermehrte ſeine Kenntniſſe mit jedem Tage. Ti-
bull und Properz, die man in der Schule las,
verfeinerten ſein ohnedies zartes und richtiges Ge-
fuͤhl; er las ſie ſehr fleiſſig, und ſchaͤtzte beſonders
den Properz; aber nicht, wie gemeiniglich geſchieht,
auf Koſten der Neuern. Er ſah wohl, daß die
Deutſchen eben ſo gut, und in den meiſten Faͤchern
weit beſſere Dichter aufzuſtellen haben, wie die
Roͤmer; beſonders in Dingen, die mehr die Em-
pfindung, als die Kunſt betreffen. P. Philipp
lehrte ihn auf ſeinem Zimmer aus Freundſchaft
das Griechiſche, das auf der Schule nicht getrie-
ben wurde, und las mit ihm das neue Teſtament,
die Fabeln des Aeſop und den Anakreon. Auf
den Winter, verſprach er, mit ihm den Herodot,
vielleicht auch den Homer zu leſen. Auch lieh er
ihm einen Livius, und erklaͤrte ihm die ſchweren
Stellen, uͤber die er ihn befragte. Kurz, Sieg-
wart war auf dem rechten Wege, ein vernuͤnftiger
Gelehrter zu werden.
Den Abend brachten ſie entweder allein zu,
und da muſte Xaver mit Kronhelm fleiſſig von
Thereſen ſprechen; oder ſie giengen zu P. Phi-
lipp, deſſen Umgang ihnen immer der liebſte und
lehrreichſte war; Sie laſen, oder zeichneten mit
ihm, oder ſprachen abwechſelnd uͤber ernſthafte
und muntre Gegenſtaͤnde. Oder ſie machten mit
Gruͤnbach Muſik, und kamen durch die Uebung
merklich weiter. Siegwart beſuchte auch noch oft
die L. Frauenkirche, und hoͤrte da die Nonnen ſin-
gen. Oft traf er auch Sophien da an. Die
ſchoͤne Andaͤchtige gefiel ihm wohl. Er ſchaͤtzte
ſie wegen ihrer Andacht nur noch hoͤher; aber
doch fuͤhlte er nicht das gegen ſie, was ſie gegen
ihn fuͤhlte.
Jn der Mitte des Winters, als Kronhelm
einſt an einem heitern Tage mit Siegwart ſpa-
zieren gegangen, und nach dem langen Stubenhuͤ-
ten auſſerordentlich vergnuͤgt geweſen war, fand
er, bey ſeiner Nachhauſekunft auf des P. Philipps
Zimmer einen Brief, den ſein Vater durch einen
eignen Bothen hereingeſchickt hatte, folgenden
Jnhalts:
Verfluchter Son!
Hol Dich der Teufel mit Deinem ganzen Hu-
renpack! Da haſt Du ’n rechten Hundeſtreich ge-
macht. Biſt denn gar ein Narr? Was treibſt
mit des Amtmanns Maͤdel, der unadelichen nichts-
nutzigen Kanale? Hoͤr Kerl, Du biſt keinen
Schuß Pulver wehrt — hol mich dieſer und je-
ner, Mann ſollt Dich todtſchlagen, wie einen Dags.
Jch hab mir g’aͤrgert, daß ichs Zibberlein kruͤgen
thaͤt, ſonſt waͤr ich ſelbſt komen, und haͤtt Dich
todtg’ſchlagen. Jnvamer Kerl, daß Du Dich ſo
wegwerfen thuſt, als ob Du von einer Buͤrgers-
hur herkommen thaͤteſt! Jch muß mich ja ob Dir
ſchamen wo ich hinkomm. Aber ich ſchwoͤr Dir
bei Godd, daß, wenn Du mir noch Augenblikk
an das Burgersmaͤdel denken thuſt, ſo reit ich weck,
und wenn ich keinen Fuß haͤtt, und ſchieß Dir nie-
der, und ſchlag Dich dann mitn Flintenkolben fol-
lendts tod. Laß Dirs nur nit einfallen, daß Du
noch ’n Buchſtaben an ſie ſchreibſt, oder Du biſt,
meiner Seel! des Teufels. Jch habs ’m Amt-
man dem Kerl ſchon g’ſagt, und ſeiner Dirn
auch, ’s koſtet Dir und ihm und ihr ’s Leben.
Solang ich auf Godds Erdboden bin, ſollſt Du
nicht mit ihr z’ſamen kommen, und wenns die
ganz Welt hahn wollt. Jch reiſſ euch von ein-
ander, und ſollts mit den Zaͤhnen ſein. Da haſt
Du mein Wort. So wahr ich ’n alter Edelmann,
und ſie ’n kahle Amtmansdirn iſt. Verteufelter
Son, das heiſſt ’m alten Vater Herzleid anthun.
So hats noch keiner g’macht ſeit vil dauſend Jah-
ren, ſeit ’s Kronehelm geben hat, und Du mueſt
grad anfangen, und willt doch mein Son ſein?
Ja ’n Teufelskerl biſt, und kein Gaballiers Son.
Jch ſag Dirs, wenn Du noch a Zeil ſchreiben thuſt,
ſo muſt Du ſterben, und wenn Du auch am Hi-
mel hangen thaͤteſt, Du muſt mir runter; und ’s
Maͤdel zerreiſſ ich mit den Naͤgeln, das merk Dir!
Laß mir ja kein Wort hoͤren, und wenn Du nur
Mukker gegen mir thuſt, ſo ſchick ich drey Kerl
zu Dir, die ſollen Dich lebendig oder tot zu mich
bringen. Da ſollt Du Deine liebe Not haben.
Braten will ich Dich, wie ’n Haſen, Lauskerl Du!
Jch hab meine Spijon, Einen Buochſtaben, und
Du biſt hin, und Deine Hur auch. Jch hab mir
g’aͤrgert, daß ich nicht mer ſchreiben kan. Du
weiſt noch nit, wie ich bin, wenn ich wild werd.
Schwoͤr mir heilig, daß Du nit mer an ſie den-
cken, und noch minder ſchreiben willt, ſonſt ſind
auf d’ Woch die drey Kerl bey Dir, und holen
Dich, und ich laß Dich ſchlieſſen, und beym Maͤ-
del forbey fuͤhren, und ſie mit der Kugel vor
den Kopf brennen, daß ſie verrecken muß, wie
’n ang’ſchoßnes Thier. Schreib mirs nur gleich,
oder du lebſt keine 6 Taͤg mehr, das ſchwoͤr ich dir
bey allen Teufeln.
Veit Kronehelm.
Kronhelm ſtand, wie vom Blitz getroffen da,
als er dieſen Brief geleſen hatte. Er ward blaß,
und zitterte an allen Gliedern. — Da, lies!
ſagte er zu Siegwart, gieng einigemal auf und
ab; blieb oft ploͤtzlich ſtehen, als ob er nach-
daͤchte, und konnte doch keinen Gedanken halb
ausdenken. — Haſts geleſen? Nicht wahr,
es iſt ſchoͤn? Jch bin ein rechtes Gluͤckskind! —
O ich wollte! — — der verdammte, hoͤlliſche
Adel! — Aber, ich wollte nicht nachgeben! —
Sprich! Was denkſt du denn? Stehſt ja da,
wie ein Klotz!
Siegwart. Jch weiß nicht, was ich ſagen ſoll?
Es iſt ſchrecklich! Jch bedaure dich von ganzem
Herzen.
Kronhelm. So? Weiter nichts?
Siegwart. Was kann ich ſonſt thun?
Kronhelm. Was weiß ich? Mir rathen!
Oder mich todtſchlagen, wenn du willſt.
Siegwart. Jch bitt dich um Gotteswillen,
Kronhelm! Du muſt dich maͤſſigen!
Kronhelm. Du biſt ein Narr! — Aber,
halt, Siegwart! Nicht wahr? ich thu dir Un-
recht?
Siegwart. Ja, das daͤcht ich auch.
Kronhelm. Nu, ſo verzeih mir! Du weiſt
ſchon, wie’s iſt; ich kann nicht dafuͤr. — Sag,
Bruͤderchen, was muß ich anfangen? Sags doch!
Jch weiß ja nicht —
Siegwart. Du muſt deinem Vater ſchreiben,
denk ich.
Kronhelm. Nun ja, ſchreiben! Und was
denn?
Siegwart. Daß du mit meiner Schweſter
nichts mehr —
Kronhelm. Was?
Siegwart. Daß du nichts mehr mit ihr zu
thun haben wolleſt.
Kronhelm. Biſt du vom Teufel, Kerl?
Siegwart. Beſſers weiß ich nichts.
Kronhelm. Nun, ſo pack dich zu allen Hen-
kern! — Den Rath kann mir nur mein Tod-
feind geben! Aufſetzen will ich mich, und zu mei-
nem Vater hinausreiten! Das will ich thun,
Kerl!
Siegwart. Jch kann dirs nicht rathen.
Kronhelm. Und warum nicht, Memme?
Glaubſt, er werd mich gleich niederſchießen? Laß
ihn nur! Das waͤr mir eben recht! So kaͤm
ich auf einmal von der verdammten Welt weg!
Siegwart (ſchwieg, und ſah ſeinen Freund
mitleidig an.)
Kronhelm. Gefaͤllt dir das nicht? — Was
ſoll ich denn thun?
Siegwart. Jch habs ſchon geſagt.
Kronhelm. Schreiben? — Aber denk:
Mein eignes Todesurtheil!
Siegwart. Traurig iſts genug! Du kennſt
aber deinen Vater, und haſt ſeinen Brief noch
nicht genug geleſen.
Kronhelm. Ja, ich habs! Sonſt waͤr ich
nicht ſo raſend! — Jeſus, Maria! Was ſoll
ich anfangen? — Gibts denn gar kein andres
Mittel? — Sag doch! Biſt mir ja ſonſt im-
mer gut geweſen.
Siegwart. Bins auch noch; mehr als du
glaubſt. — Aber ich weiß nichts beſſers. Be-
denks nur ſelber!
Kronhelm. Ja, was bedenken? Jch kann
nicht, ſag ich dir! — Und ſo ſollt ich meinem
Vater ſchreiben? — Sollt Thereſen aufgeben?
— Gott, wie kann ich das?
Siegwart. Es kann ſich aͤndern.
Kronhelm. Was, aͤndern! Es kann nicht,
ſag ich! — Thereſe! Thereſe! Dich aufge-
ben? — Und wie kann ſichs aͤndern? Sprich
doch!
Siegwart. Dein Vater koͤnnte ſterben; oder
ſonſt ſo etwas —
Kronhelm. Ja, der ſtirbt nicht! — Groſſer
Gott! was ich da fuͤr Gedanken habe! — Ja,
wenn er ſtuͤrbe! — Wenn er aber auch nicht
ſtuͤrbe …?
Siegwart. Du haſt doch indeſſen eine Aus-
flucht. Sonſt haſt du gar keine.
Kronhelm. Gar keine! — Das iſt ſchreck-
lich! — Bey Gott! ſchrecklich! — Kann ich
ihm denn ſonſt gar nichts ſchreiben?
Siegwart. Jch weiß nichts, wenn du ſei-
nem Zorn entgehen willſt, und wenns nicht mei-
ne Schweſter und mein Vater mit entgelten ſollen.
Kronhelm. Wie das?
Siegwart. Er droht ja, daß er ſie umbrin-
gen will. Haſts nicht geleſen?
Kronhelm. Ja, das iſt wahr! Ja, ich muß
ſchreiben; Siegwart, ich muß!
Siegwart. Aber nur behutſam, Bruder! ich
bitte dich. Wenn du trotzen willſt, ſo gehts nicht.
Jetzt muſt du nachgeben, ſo viel du kannſt.
Kronhelm. Ja, wenn man nur ſo koͤnnte.
Denk einmal, in ſo was nachgeben! — Haͤtt er
nur nicht Thereſen gedroht! Mir moͤcht er dro-
hen wie er wollte! Jch achte nichts. — Aber
ich weiß, wie er iſt; ſie waͤr nicht ſicher vor ihm.
— O ich weiß nicht, was ich noch anfange? —
Waͤrs nur nicht mein Vater! — Gott! was
wird deine Schweſter ſagen! — Jch halts nicht
aus, Bruder. Sterben, oder mein ſeyn! —
Ja, ich will ihm ſchreiben, daß ich nicht mehr an
ſie ſchreiben will. Das kann ich wohl. Sie iſt
ja doch mein; ich ja doch ihr. Ja, ich will ihm
ſchreiben. Gib nur Dinte her! Wo iſt der
Schandbrief? Gott verzeih mirs! Aber ’s iſt
ſo! Gib nur her Papier und Dinte.
Siegwart. Bruder, du kommſt mir ganz ſon-
derbar vor. Jetzt auf einmal ſo nachgiebig, und
eben vorher noch ſo heftig! Jch kann mich in
dich nicht finden.
Kronhelm. Jch mich auch nicht, gib nur her!
Siegwart. Aber du muſt mich den Brief erſt
ſehen laſſen. Nicht?
Kronhelm. Ja freylich! Gib nur her! (Er
ſchreibt) „Lieber Papa!‟ Ja, es iſt nicht wahr. —
„Jhr nicht mehr ſchreiben will.‟ Das iſt fuͤrch-
terlich! — Da! Jch kann nichts beſſers ſchrei-
ben. LisLies nur! — Nun, gefaͤllt dirs? Kann
ichs anders machen?
Siegwart. Nein; es iſt gut. Jch hoffe, das
ſoll ihn beruhigen! —
Kronhelm. Ja, ihn! Aber auch mich! Solls
auch mich beruhigen? — Gib her! Jch wills wie-
der zerreiſſen, den verdammten Wiſch!
Siegwart. Laß doch, Bruder! Du kannſt Ein-
mal nichts anders ſchreiben. Denk, daß du The-
reſen dabey ſchonſt!
Kronhelm. Nun ſo ſeys! Siegl’ es zu! Jch
mag mit dem Quark nicht laͤnger umgehn!
Siegwart ſiegelte den Brief zu, und erbot ſich,
ihn des Junker Veits Bedienten zu bringen; denn
er fuͤrchtete, Kronhelm moͤchte den Brief wieder
zerreiſſen. Dieſer blieb indeſſen allein auf dem
Zimmer, und verwuͤnſchte ſein Schickſal. Bald war
er wild und heftig, bald wieder wehmuͤthig, und
zum tiefſten Schmerz herabgebeugt, wenn er an
Thereſen dachte. Siegwart kam bald wieder, und
nun beſprachen ſie ſich uͤber die traurige Geſchichte;
Kronhelm war nun aͤuſſerſt beſorgt, was Thereſe
zu ſeinem Betragen denken, und ob ſie ihn nicht
verachten werde, wenn ſie hoͤre, daß er ſeinem Vater
verſprochen habe, ihr nicht mehr zu ſchreiben?
Siegwart beruhigte ihn aber wieder, indem er ver-
ſprach, ihr die Sache im Zuſammenhang zu ſchrei-
ben, und ſie zu uͤberzeugen, daß er, nach Erforder-
G g
niß der Umſtaͤnde ſo habe ſchreiben muͤſſen. Sie
wird es ſelber einſehen, ſagte er, da ſie nun deinen
Vater ſelbſt kennt. Und deswegen, daß du verſpro-
chen haſt, ihr nicht mehr zu ſchreiben, kannſt du
auch ziemlich unbeſorgt ſeyn, da ich ihr alle Wochen
ſchreibe; da kannſt du mir ja alles in die Feder ſa-
gen, was du an ſie geſchrieben haben willſt; und
ſo kann ſie’s wieder in den Briefen an mich ma-
chen, dieß beruhigte zwar Kronhelm etwas, aber
doch nicht viel; und er zitterte vor Thereſens naͤch-
ſtem Briefe. P. Philipp, dem ſie die Geſchichte
auch erzaͤhlten, arbeitete ſehr daran, unſerm Kron-
helm einen geſetzten Muth beyzubringen, denn er
befuͤrchtete nicht ohne Grund noch traurigere Auf-
tritte. Er hielt ihm, mit der groͤßten Ruͤhrung, die
Pflichten vor, die er ſeinem Vater, der Welt, The-
reſen und ſich ſelber ſchuldig ſey. Jch will, ſagte er,
das Verfahren ſeines Vaters nicht entſchuldigen;
aber ganz Unrecht hat er doch auch nicht, daß er ſich
einer Verbindung widerſetzt, die ohne ſein Vorwiſ-
ſen, und (wie Er vorauswiſſen konnte) ohne ſeine
Bewilligung mit einer Perſon eingegangen wor-
den iſt, die ſein Vater nicht kennt, und die von ei-
nem andern Stand iſt, als er. Zwar an ſich be-
trachtet, iſt der Stand nichts, aber in unſre jetzige
buͤrgerliche Verfaſſung hat er Einfluß, und man
kann ihn nicht ganz aus den Augen ſetzen. Mach
er ſich auf alles gefaßt, und bedenk er dieß zuerſt,
daß man durch Heftigkeit und Unbeſonnenheit im-
mer am wenigſten ausrichtet. Wenn er das gethan
hat, was ihm moͤglich war, und was er, ohne ſeine
Pflichten zu verletzen, thun konnte, dann uͤberlaß er
das Uebrige der Vorſehung, die nie ohne weiſe
Guͤte handelt, wenn man ſich ihr nicht ſelbſt wider-
ſetzt. Es kann, ſo unglaublich es ihm jetzt auch
vorkommt, ſein Gluͤck ſeyn, wenn er Thereſen nicht
kriegt. Wenn ihr Beſitz ſein wahres Gluͤck iſt, ſo
bekommt er ſie gewiß. Stell er ſich im Voraus al-
les, auch das aͤrgſte, was ihm begegnen kann, vor!
So kommt ihm nichts unerwartet, und ſein Herz
wird weniger erſchuͤttert. Jch ſage nicht, daß er die
Hofnung ganz ſinken laſſen ſoll. Hofnung naͤhrt
das Herz des Menſchen, und iſt nur dann ſchaͤdlich,
wenn wir ſie zu tief wurzeln laſſen, und Gewiß-
heit aus ihr machen wollen. — Kronhelm hoͤrte
zu; er fuͤhlte, daß der Pater Recht hatte, aber die
Wahrheiten waren ihm zu traurig; doch hielten
ſie ihn von der allzugroſſen Heftigkeit zuruͤck.
Zween Tage darauf kamen Briefe von Thereſen
und ihrem Vater. Kronhelm erbrach ſie mit Zit-
tern und dem baͤngſten Herzklopfen. Sie ſchrieb
ihm folgendes:
Theureſter Freund!
Jch ſchreib Jhnen mit dem kummervollſten Her-
zen, und mit naſſen Augen den letzten Brief in
meinem Leben. Der vergangene Montag iſt fuͤr
mich der traurigſte und fuͤrchterlichſte Tag geweſen.
Jhr Vater, den ich noch nicht kannte, kam mit
einem Edelmann und zween Jaͤgern in unſern Hof
angeſprengt. Jch hoͤrte ihn mit Ungeſtuͤm nach
meinem Vater fragen, und ſah aus dem Fenſter.
Biſt du die Hur? rief er zu mir herauf. Jch
wußte nicht, was ich aus dem Mann machen ſoll-
te? und lief zitternd zu meinem Vater. Als wir
hinunter wollten, kam Jhr Vater uns ſchon auf
der Treppe mit dem Edelmann entgegen. — Jſt Er
der Amtmann Siegwart? fragte er. Ja, mein
Herr! antwortete mein Vater, was befehlen Sie?
— Nichts befehlen! rief Jhr Vater, und kam die
Treppe vollends herauf. — Er iſt ein Schurke, daß
Ers weis! Er will meinen Sohn verfuͤhren! —
Das iſt wohl das ſaubre Menſch da, (indem er ſich
zu mir wandte) an der er den Narren gefreſſen
hat? Ein ſaubres Thierchen! Mein Seel! —
Und ſo fuhr er fort, und gab mir und meinem Va-
ter Reden, die ich mich ſchaͤmen wuͤrde, niederzu-
ſchreiben. Kurz, er begegnete uns auf die groͤbſte,
beleidigendſte Weiſe; ſprach immer vom Einſetzen,
Verfuͤhrungen, Lumpen- und Hurenpack, und droh-
te mit Mord und Todſchlag, wenn ich mir einfal-
len laſſen wollte, ſeinen Sohn ferner zu infamiren,
wie ers nannte. Jch ſtand da, und dachte, ich muͤß-
te in die Erde ſinken. Einigemal konnt ich mich
nicht enthalten, ihm grobe Reden zu geben, als er
meine Unſchuld — das einzige, worauf ich ſtolz
bin — angrif. Der Junker, der mit Jhrem Vater kam,
iſt der niedertraͤchtigſte Menſch, der mir auf die
ſchimpflichſte Art begegnete, und mich immer nur
Kanaille, und buͤrgerliche Gaſſenhure nannte. —
Mein Vater, der auch hitzig ſeyn kann, wenn man
ihn erſt aufbringt, ſagte Jhrem Vater, er moͤchte
ſich in Acht nehmen, und mit ſolchen Beſchimpfun-
gen einhalten. Er ſey ein ehrlicher Mann, und ich
ein ehrlich Maͤdchen; ich korreſpondire zwar mit
ſeinem Sohn, aber auf die erlaubteſte Art; er
koͤnn die Briefe ſelber ſehen u. ſ. w. Jhr Vater
wollte von dem allen nichts hoͤren, ſchimpfte unauf-
hoͤrlich fort, und drohte, Sie und mich, und meinen
Vater zu erſchieſſen, wenn wir nur noch eine Zeile
an einander ſchrieben, oder einen Gedanken auf ein-
ander haben wollten. Mein Vater ſagte, das woll
er wol verſprechen, daß ich nicht mehr an Sie ſchrei-
ben, und weiter keine Gemeinſchaft mit Jhnen ha-
ben ſoll; aber die uͤbrigen Beleidigungen woll er
ſich auch inskuͤnftige verbitten. Der andre Junker
ſchlug ein lautes Gelaͤchter auf. Jhr Vater aber
ſagte: Nu Jobſt, laß uns weiter! Vorjetzt hab
ich gnug; aber noch ein Brief, und — hier zog er
eine Piſtole hervor — die erſte Kugel gehoͤrt dir,
Maͤdel! und die zweyte ihm, Monſieur Amtmann!
Merk er ſichs! Mit dieſen Worten gieng er wieder
die Treppe hinunter, ſetzte ſich aufs Pferd, und ritt
mit ſeinen Jaͤgern davon.
Sie koͤnnen ſich vorſtellen, Theurer Freund! wie
mir ſeit der Zeit zu Muthe ſeyn muß. Das ganze
Leben iſt mir verhaßt, die ganze Welt eine Einoͤde.
Jch ſchreib Jhnen dieſen Brief auf Befehl meines
Vaters, ders bey Jhrem Vater verantworten will,
wenn ers erfahren ſollte. Jch ſoll von Jhnen Ab-
ſchied nehmen auf ewig! Gott, von Jhnen! und
doch muß es ſeyn! — Jch habe Sie geliebt, Theu-
rer, aber verkennen Sie mich nicht! Nicht aus
Stolz, weil Sie von Adel ſind. Um des Adels
Jhres Herzens willen, liebt ich Sie; lieb ich Sie
noch! Das darf ich ſagen, denn ich ſags ohne Ab-
ſicht auf Jhre Hand. Jch hab auf ewig alle
Hofnung von mir weggebannt. Es muß ſeyn! —
Leben Sie gluͤcklich! Sie verdienen es. Bleiben
Sie mein Freund in Jhrem Herzen! Denken Sie
zuweilen an das Maͤdchen, das bald ſterben wird!
… Jch habe mein Herz in Thraͤnen ausgeſchuͤt-
tet, und komme nochmals, Jhnen das letzte Lebe-
wohl zu ſagen. Kuͤnftig kann ich keine Zeile mehr
von Jhnen annehmen. Jch werd Jhnen jeden
Brief unerbrochen zuruͤck ſchicken. Das hab ich
zugeſagt. Leben Sie denn wohl, auf ewig wohl,
mein Theureſter! Gott ſtaͤrke Sie, und belohne
Jhre Tugend! . . Betruͤben Sie ſich nicht zu
ſehr! Sie muͤſſen andre Menſchen, und ein beſſeres
Maͤdchen gluͤcklich machen, als ich bin… Sagen
Sie ihr einſt, daß ich edel dachte, und Sie darum
liebte… Meine Freundin kann ſie auf dieſer
Welt nicht mehr werden, denn bis dahin bin ich
todt… Jch murre nicht gegen die Vorſicht; aber
ich kann dieſe Laſt nicht tragen. Mein Herz muß
drunter brechen. — Leb wohl, Edelſter und Beß-
ter! Jm Himmel ſehen wir uns wieder, und freuen
uns, daß wir geduldet haben… Leb wohl! Siehſt
Du einſt mein Grab, ſo wein drauf! Jch ver-
diens! Der Engel der Liebe ſey Dein Schutzgeiſt!
oder ich werds… Mein Herz ſchlaͤgt gewaltiger.
Hier faͤllt eine Thraͤne hin, kuͤß die Stelle! . .
Schreib mir keine Zeile! Du wuͤrdeſt mich betruͤ-
ben… Nun das letzte Wort, das ich an Dich
ſchreibe.
Leb ewig wohl, Geliebteſter! und denk an
Deine ungluͤckliche
Thereſe.
Was Kronhelm bey Leſung dieſes Briefs em-
pfunden hat, laͤßt ſich nicht beſchreiben. Jedes
zaͤrtliche und liebevolle Herz, das auch einmal ge-
litten hat, denke ſich noch Einmal in ſein Ungluͤck
zuruͤck! Fuͤhle noch Einmal die Leiden ſeiner Liebe,
und wein’ unſerm Edeln, mit mir, eine mitleidige
Zaͤhre! . . Er lehnte ſich ans Fenſter, huͤllte ſein
Geſicht ein, und war ſprach- und thraͤnenlos.
Siegwart weinte, und hatte den Brief, den ſeine
Schweſter ihm geſchrieben hatte, in der Hand.
Kronhelm drehte ſich ſchnell um, ſah ihn mit un-
beſchreiblicher Wehmuth an; drauf warf er ſich
aufs Bette, huͤllte ſein Geſicht ins Kiſſen ein, und
blieb ſo eine Viertelſtunde unbeweglich liegen. Laß
uns vors Thor hinaus, ſagte er, ich muß Luft krie-
gen! Siegwart gieng mit ihm, ob es gleich ſtark
ſchneyte. Kronhelm waͤlzte ſich im Schnee, und
wollte da bleiben. Aber Siegwart riß ihn mit
Gewalt auf. Endlich fieng er an bitterlich zu
weinen. Siegwart ſprach kein Wort, und weinte
mit. Nun iſt mir wohl, ſagte Kronhelm, herzlich
wohl. Jch dachte, ich koͤnne nicht mehr weinen…
Bruder, Bruder! Jn mir tobt mehr, als Hoͤllen-
qual. Thereſe iſt hin fuͤr mich. Weiſt dus ſchon!
— Ja, ſie hat mirs geſchrieben, ſagte Siegwart.
— Hat ſie das? Mir hat ſies auch geſchrieben. O,
der Engel iſt verloren! Aber meynſt du, daß das
lange waͤhren ſoll? Jch kann auch ſterben, Bruder!
Bey Gott! ich kanns auch! — Jhr ſeyd rechte
Troͤſter, du und Philipp! Aber, ich brauch ja kei-
nen Troſt! Der Tod hat ſo viel Troſt; wird mir
auch wohl welchen geben! O, der Engel iſt verlo-
ren! — So ſprach er immerfort, ohne daß Sieg-
wart ihm ein Wort antworten konnte, als daß er
ihn zuweilen mit Thraͤnen und einſylbichten Woͤr-
tern bedauerte. Sie giengen wieder nach Haus.
Siegwart bat in der Stille den P. Philipp auf
ſein Zimmer, weil er ſich zu ſchwach fuͤhlte, jetzt bey ſei-
nem Freund allein zu ſeyn. Philipp wußte ihm
ſelbſt wenig zu ſeinem Troſt zu ſagen. Sein eig-
nes Herz litt zu viel bey den Qualen ſeines jungen
Freundes. Er hatte ſelbſt einmal ungluͤcklich ge-
liebt; und die Erinnerung aller ſeiner vorigen Lei-
den kehrte wieder in ſein Herz zuruͤck. Kronhelm
ſprach wenig; er ſah immer mit ſeinen Blicken
ſtarr auf Einen Ort, und ſchien gar nichts mehr
zu fuͤhlen. Zuweilen nur ward ſein Koͤrper durch
einen hervorbrechenden Seufzer ungewoͤhnlich ſtark
erſchuͤttert. Die ganze Nacht aͤchzte er, und Sieg-
wart, der nicht ſchlafen konnte, aber doch ſich ſtell-
te, als ob er ſchliefe, hoͤrte ihn oft mit ſich ſelbſt,
aber immer abgebrochen, ſprechen. Er litt bey
den Leiden ſeines Freundes, und bey den Qualen
ſeiner Schweſter, deren tieffuͤhlendes Herz er kann-
te, unendlich viel. Den andern Morgen ſaß
Kronhelm immer auf der Stube, und ſchrieb;
denn es war ein Sonntag. Siegwart ſtoͤrte ihn
nicht, und ſchrieb indeſſen an ſeine Schweſter.
Endlich gab ihm Kronhelm ein Blatt, und ſagte:
Jch will deiner Schweſter keinen Brief mehr ſchrei-
ben, ſie hat mirs verboten. Aber nur um Eine
Wohlthat fleh ich dich; die muſt du mir gewaͤh-
ren. Schreib dieſes Blatt ab, es iſt kein Brief,
was ich geſchrieben habe. Es iſt mein letztes Ver-
maͤchtnis an Thereſen. Schreib es ab, und legs
in deinen Brief, ohn ein Wort davon zu ſchrei-
ben! Verſag mir dieſe letzte traurige Wohlthat
nicht! Siegwart wagte es nicht, ſeinem Freund
zu widerſprechen, und ſchrieb folgendes ab:
Stirb nur, Engel! Jch flehe Gott darum, und
folg dir bald nach. Dieſe Welt iſt viel zu klein
fuͤr Liebende. Wenn ich die Stern’ am Himmel
funkeln ſeh, ſo denk ich: Einer von den Sternen
allen wird doch einen Wohnplatz fuͤr die Liebe ha-
ben. Du Gott, kannſt dein Kind, dein herrliches
Geſchoͤpf, nicht ganz aus deinem Weltgebaͤu ver-
bannen. Ja, ſie lachen mir lieblicher die Sterne.
Dieſer Stern dort mit dem blaͤulichen und reinen
Lichte winkt mir. … Stirb nur Engel! ſieh,
er lacht uns. … Fall in Staub dahin, du ſchwa-
che Huͤtte! denn du haſt genug geduldet. Hat dich
nicht der Sturm des Lebens gnug erſchuͤttert? …
Auf mein Geiſt! und ſchuͤttle deine Thraͤnen ab.
Auf zum Stern mit dem blaͤulichen und reinen
Lichte! … Die Natur iſt todt; ſie iſt geſtor-
ben. Willſt du laͤnger hier im Thal des Todes
weilen? — Ach, Thereſe, laß uns eilen an den
Ort, wo keine Menſchen ſind! Denn der Menſch
iſt hart und grauſam. … Weine nicht, du Theu-
re! Dieſe Nacht im Traume hab ich ihn geſehn, den
Tod. Er iſt ein hellleuchtender Engel, und hat
Palmen in der Hand zum Troſt der Liebenden…
Und du weinft noch? Sieh, ich laͤchle ja; der En-
gel mit den Palmen hat uns zugewinket, dir und
mir. … Wohlauf, ihr Menſchen, raubt mir mei-
ne Liebe! Unter Engeln wohn ich. Raubt mir
meine Liebe! . . Warum wein’ ich denn, du Theu-
re? Kann doch die Natur nicht weinen. Schau
hinaus! Sie iſt verſteinert. Auch der Bach, der
immer weinte; auch die Donau ſteht verſteinert da.
Weine doch, o Donau, daß ich einen Geſpielen ha-
be meiner Thraͤnen! . . Wenig Tage noch, ſo
ſind wir hingewandelt, ins Gefild der Liebe…
Duld, o meine Liebe! Sey getreu bis an das En-
de! Sieh! ich will getreu ſeyn, bis ans Ende!
Und du willſt mir eine Freundin geben? Duld, o
meine Liebe! ſey getreu bis an das Ende! Amen!
Kronhelms Seele verſank in die tiefſte, duͤſterſte
Melancholie; ſein ganzer Karakter bekam eine an-
dere Wendung. Er ward heftig, und auffahrend,
und uͤber alles aͤrgerlich. Sein natuͤrlich ſanftes
und gefaͤlliges Weſen verwandelte ſich in eine muͤr-
riſche, verdruͤßliche Laune. Alles, was er ſah und
hoͤrte, und die ganze Welt ward ihm zuwider. Er
verachtete das ganze Menſchengeſchlecht; nur den
P. Philipp und ſeinen Siegwart nicht. Aber der
letztere ſtand doch ſehr viel bey ihm aus. Er konn-
te ihm nichts recht machen; jede Bewegung, die er
auf dem Zimmer vornahm, konnte ſeinen Freund
verdruͤßlich machen, und er verzog die Minen dar-
uͤber. Wenn er lachte, war ihms nicht recht; wenn
er traurte, auch nicht. Siegwart trug alles mit
der groͤßten Geduld, und gab ſeinem Freund in
allem nach. Zuweilen uͤberfiel ſeinen Kronhelm
ſchnell die Wehmuth, daß er weinen konnte; dann
ſprach er von Thereſen. Siegwart konnte ihm we-
nig von ihr ſagen, denn ſie ſchrieb nichts mehr von
Kronhelm, aber immer traurig und wehmuͤthig.
Einmal ſchrieb ſie ihm: Die Urſache meiner Leiden
iſt unſre Schwaͤgerin. Sie war einmal bey uns,
als ein Brief von dir kam. Jch uͤbereilte mich,
und brach ihn auf. Ein verſiegelter Brief von
Kronhelm lag darinn. Jch ſteckte ihn ſchnell ein,
und ward roth. Das hat ſie vermuthlich gemerkt,
und an Kronhelms Vater geſchrieben; denn ſie
ſagte gleich: Sie korreſpondiren ja auch mit dem
jungen Herrn von Kronhelm? Jch konnte meine
Verwirrung nicht verbergen, noch es ganz verheh-
len. — Kronhelm fieng von neuem an zu toben;
daß eine ſolche Kleinigkeit an ſeinem Ungluͤck Schuld
haben ſollte. P. Philipp ſuchte ihn auf alle moͤg-
liche Weiſe zu zerſtreuen; aber es half wenig. Er
nahm ihn oft, mitten im Winter, mit ſpatzieren.
Das traurige Stillſchweigen der Natur naͤhrte nur
ſeine Traurigkeit. Er las in ſeinen Buͤchern nichts,
als duͤſtre, wehmuͤthige Stellen. Die Muſik er-
goͤtzte ihn auch nicht mehr. Nur zuweilen phanta-
ſirte er in lauter Diſſonanzen und wimmernden
Toͤnen. Die Einſamkeit war ihm das liebſte, und
ſie lobte er allein. Oft pries er unſern Siegwart
wegen des Entſchluſſes ſelig, die Welt zu verlaſſen,
und ſich in ein Kloſter zu verſchlieſſen. Das war
gewiß ein weiſer und ungluͤcklicher Mann, ſagte er,
der wie ich geliebt hat, der zuerſt den Einfall hatte,
in eine Einſiedeley zu ziehen, oder ſich durch Mau-
ren vom unſeligen Menſchengeſchlecht abzuſondern.
Man muß aufhoͤren, ein Menſch zu ſeyn, wenn
man gluͤcklich werden will! Jch wollte, daß ich alle
meine Leiden mit dir in einer Zelle vergraben
koͤnnte!
Dieſe Reden, und das ganze Schickſal ſeines
Freundes machte bey unſerm Siegwart den Gedan-
ken ans Kloſterleben aufs neue wieder zum allein-
herrſchenden und angenehmſten. Er ſah die Liebe
als die groͤßte Feindin des Menſchengeſchlechts an,
und glaubte, ſich nicht ſtark und fruͤh genug vor ihr
verwahren zu koͤnnen. Er dachte ſich nur ſeinen
P. Anton und die andern Paters, wie ruhig und
zufrieden die in ihren Zellen lebten. Er glaubte,
die Liebe koͤnne ſich der Kloſtereinſamkeit nicht na-
hen, und ſchmachtete recht darnach, bald in dieſem
ſichern Hafen einzuſchiffen.
Oſtern ruͤckte nun heran, an dem Kronhelm die
Schule verlaſſen, und nach Jngolſtadt ziehen ſollte.
Er waͤre gern noch laͤnger in der Nachbarſchaft
Thereſens geblieben, ob ihn dieſes gleich nichts half,
und hatte deswegen auch an ſeinen Onkel in Muͤn-
chen geſchrieben; aber dieſer fand nicht fuͤr gut, es
ihm zu erlauben; denn er hatte durch ſeinen Bru-
der Veit die Liebe ſeines Neffen erfahren. Ob er
gleich von Vorurtheilen ziemlich frey war, ſo konn-
te er doch Kronhelms Wahl nicht beguͤnſtigen, denn er
hielt ſeine Liebe fuͤr eine voruͤbergehende, aufbrau-
ſende Leidenſchaft, und kannte auch das Maͤdchen
gar nicht, das er gewaͤhlt hatte. Die Entfernung,
hoffte er, wuͤrde die beſte Arzeney fuͤr ſein krankes
Herz ſeyn, und ihm bald ſeine vorige Heiterkeit
und Ruhe wieder geben.
Kronhelm reiſte alſo an Oſtern ab. Sein Va-
ter hatte zwar gewollt, er ſollte ihn vorher noch in
Steinfeld beſuchen, aber dieß war ihm unmoͤg-
lich. Er ſah alle die Vorwuͤrfe voraus, die ihm
ſein Vater wegen Thereſen machen wuͤrde, und
wußte, daß er dazu unmoͤglich ſtill ſchweigen koͤnn-
te. Er verachtete auch ſeinen Vater wegen ſeiner
rohen, unmenſchlichen Seele, und wegen ſeines Be-
tragens gegen ihn zu ſehr, als daß er nicht ſeine
Geſellſchaft ſoviel, als moͤglich, haͤtte vermeiden ſol-
len. — Bey dem herannahenden Abſchied von ſei-
nem innigſten und erſten Freunde, von dem Bru-
der ſeiner ewiggeliebten Thereſe, erwachte ſein gan-
zer Schmerz von neuem. Die ganze Zeit uͤber,
da er die Vorbereitungen zur Abreiſe machte, war
er wie betaͤubt; alles war todt um ihn herum;
dann uͤberfiel ihn ploͤtzlich wieder eine Aengſtlichkeit;
er lief in einen Winkel, um allein zu ſeyn, und
ſeine Thraͤnen auszuſchuͤtten. Er erſchrack, wenn
er allein war, und Siegwart ungefaͤhr aufs Zim-
mer kommen ſeh, und Zaͤhren ſchoſſen ihm in die
Augen. Den Tag vor ſeiner Abreiſe gieng er zu
Gruͤnbach, um von ihm Abſchied zu nehmen. So
viel er auch auf ihn hielt; ſo fuͤhlte er doch nichts da-
bey, und ward nicht im mindeſten bewegt. Unten in
der Thuͤre ſtand Sophie, um ihm auch ihr Lebe-
wohl zu ſagen; ſie weinte, und nun weinte er auf
einmal mit, weil ihm ſeine Thereſe mit aller Leb-
haftigkeit einfiel. Er lief, ſo ſchnell er konnte,
uͤber die Straſſe. Dann nahm er von ſeinen Leh-
rern Abſchied. Beym P. Johann ward er ſehr
bewegt. Der kraͤnkliche Mann wuͤnſchte ihm mit
der herzlichſten Ruͤhrung allen Segen des Him-
mels. Kronhelm dankte ihm fuͤr ſeinen Unter-
richt. Jch wuͤnſche, ſagte Johann, daß meine Leh-
ren auch bey Jhm Frucht bringen, und Jhn, wie
mich, in Freud und Leid erquicken moͤgen. Sie
floſſen aus reinem Herzen, und nie ohne vorher-
gehendes Gebeth, daß Gott ſie ſegnen moͤge! Jch
wuͤnſchte ſo gern alle Menſchen, und beſonders
meine Schuͤler, am meiſten aber Jhn, mein lie-
ber Herr von Kronhelm gluͤcklich, weil er ſo ſitt-
ſam und rechtſchaffen iſt; und das wird man am
erſten durch Religion. Vergeß Er alſo Gottes
Wort und meine Lehren nicht! Jch werd oft an
Jhn denken, und fuͤr Jhn beten. Denk Er auch
zuweilen an mich, und bet Er, daß mich Gott fer-
ner treu und geduldig in der Leidenszeit erhalte,
die wol nicht mehr lange waͤhren wird. Leb Er
H h
wohl! Gott ſegn Jhn! Hier gab er unſerm Kron-
helm die Hand; dieſer kuͤſte ſie mit heiſſer Jnn-
brunſt, und ließ ſeine Thraͤnen drauf fallen. —
Der Abend ward auf P. Philipps Zimmer ſehr
traurig zugebracht. Kronhelm ſprach faſt gar nichts,
und Siegwart auch nur wenig, denn auf beyden
lag die Laſt der nahen Trennung ſchwer. Phi-
lipp, der nun drey Jahre ſchon unſern Kronhelm
gekannt, und ſeine Seele taͤglich unter ſeiner An-
fuͤhrung ſich hatte vervollkommen ſehen; der ihn,
ob er wol ſein Schuͤler war, wie ſeinen Freund
liebte, der jetzt alle ſeine Leiden kannte, und vor-
aus ſah, daß ſie ſich nach der Trennung von ſei-
nen Freunden noch verdoppeln wuͤrden, war ſelbſt
von allen dieſen Vorſtellungen danieder gedruͤckt,
und hatte Muͤhe, ſeinen tiefen Kummer zu ver-
bergen, um nicht ſeine jungen Freunde noch weh-
muͤthiger zu machen. Er noͤthigte ſie, etwas mehr
Wein zu trinken, um ihre Traurigkeit in etwas
zu zerſtreuen, und ſie wurden wirklich um ein gu-
tes munterer. Aber mit den Lebensgeiſtern wach-
te bey Kronhelm das Andenken an Thereſen auch
wieder lebhafter auf; er nahm ein Glas; ſtand
auf; brachte Thereſens Geſundheit aus; und trank;
und Thraͤnentropfen fielen ihm in den Wein. Alle
Hinderniſſe, ſie jemals zu erhalten, ſchwanden vor
ihm weg. Er fuͤhlte ſich zu allem ſtark, und ſagte,
kein Menſch ſolle ſie ihm rauben. P. Philipp
hatte ſich dieſer Wendung nicht verſehen; er war
geſinnt geweſen, ihm noch etwas Lehren auf den
Weg zu geben, ſich in ſein Schickſal zu finden,
und nach und nach ihr Bild aus ſeinem Herzen zu
entfernen; aber er ſah wohl, daß dieſes jetzt uͤbel
angebracht ſeyn, und ſeine Leidenſchaft mehr erhiz-
zen wuͤrde; er beſchloß alſo, ihm lieber davon zu
ſchreiben, da ohnedieß Brieſe mehr Eindruck ma-
chen, als Reden, weil man ſie oͤfter leſen, und die
darin enthaltenen Ermahnungen mehr uͤberdenken
kann. Er bat Kronhelm, ihm zuweilen zu ſchrei-
ben, und verſprach, es auch zu thun. Kronhelm
nahm dieſen Antrag mit Freuden und Dankbar-
keit an. — Um zehn Uhr nahmen ſie von einan-
der Abſchied. Beyde ſprachen wenig, weil Thraͤ-
nen ihre Reden erſtickten. Gott ſey mit dir, mein
Sohn! ſagte Philipp, und umarmte Kronhelm.
Dieſer ſah ſeinen Freund und Lehrer noch einmal
an, druͤckte ihm mit unausſprechlicher Empfindung
die Hand, und gieng mit Siegwart ſchweigend
weg. — Als er auf ſein Zimmer kam, ſtand er
ans Fenſter, ſah ſtillſchweigend den Mond, und
die Donau, die in ſeinem Glanz dahin tanzte;
und uͤberdachte alle das Gute, was er hier im
Kloſter, beſonders von ſeinem lieben P. Philipp
genoſſen hatte. Siegwart ſtand am andern Fen-
ſter, und weinte. Endlich fieng Kronhelm ſchwei-
gend an, das noch noͤthige zu packen. Siegwart
half ihm. Es lag noch ein Buch auf dem Tiſch.
Willſt du das nicht auch einpacken? ſagte Sieg-
wart. Nein, es gehoͤrt dir, ſagte Kronhelm,
nimms zum Andenken! — Siegwart ſchlug es
auf. Es waren Geßners Jdyllen. Vorne ſtand
drinn:
Denk, o Lieber! Deines armen Freundes!
Stark, und heiß, und treu, wie Geßners
Schaͤfer, hat ſein Herz geliebt;
Aber weine, Freund!
Jch werde ſterben!
Denn ich liebte ſtark, und heiß, und treu!
Ach die Zeiten ſind dahin,
Da ich gluͤcklich war, wie Geßners Schaͤfer!
Weine, Freund! und denke meiner!
K. W. Kronhelm.
Als dieß Siegwart geleſen hatte, druͤckte er ſei-
nen Freund mit heftiger Bewegung an ſein Herz,
und weinte. O es muß dir wohl gehen; ſagte
er. Bleib nur ſtandhaft, und verzag nicht! —
Dank dir, Lieber! fuͤr das Andenken! Aber ſter-
ben muſt du nicht! Schon dich, Lieber! Glaub,
es kann dir nicht ungluͤcklich gehen. — Jch will
dulden, ſagte Kronhelm, ſchreibs auch Thereſen,
daß ſie dulde! Hoͤr! Jch kann dirs nicht ver-
ſchweigen, was ich vorhab! Jch fahre durch dein
Dorf. Es iſt nur zwo Stunden Umweg. Viel-
leicht ſeh ich meinen Engel, und werd auf Jahre
lang geſtaͤrkt! Um Gottes und Maria willen,
nicht! ſagte Siegwart. Willſt du ſie und dich
ganz ungluͤcklich machen? Jhr wuͤrdet wieder dop-
pelt leiden, wenn ihr aufs neu einander ſaͤhet.
Und wenns meine Schwaͤgerin erfaͤhrt, und
ſchreibts deinem Vater? Auch meinem Vater
wuͤrd es ſehr mißfallen. Thu’s um Gottes wil-
len nicht! — Nein, ich wills nicht thun, ſag-
te Kronhelm weinend. Es war nur ſo ein Ein-
fall, der mir erſt geſtern Abend kam. Du haſt
Recht; ich kanns nicht thun. Gruͤß den Engel!
Segn’ ihn tauſendmal in meinem Namen! Schreib
ihm: Sey getreu bis an das Ende! Hier brach
ihm wieder das Herz, daß er nicht weiter ſpre-
chen konnte. — Siegwart uͤberredete hierauf
ſeinen Freund, ſich drey oder vier Stunden nie-
derzulegen; denn um fuͤnf Uhr war der Mieth-
kutſcher beſtellt, der ihn nach Jngolſtadt fuͤhren
ſollte. Anfangs wollt es Kronhelm nicht thun,
weil er doch nicht ſchlafen koͤnne; aber endlich gab
er ſeines Freundes Bitten nach. Siegwart ſah
indeſſen die vom Monde blaßerhellte Gegend, war
voll tiefer Wehmuth, und ſchrieb in ihr dieſe Ver-
ſe nieder:
An meinen Kronhelm, als Er mich verließ.
Die bange Scheideſtunde naht
Mit allen ihren Qualen;
Der Mond beleuchtet ihren Pfad
Mit blaſſen Todesſtralen.
Wo nehm’ ich Muth, zu ſcheiden, her,
Daß nicht das Herz mir breche?
Schau du, o Gott, vom Himmel her,
Und blick auf meine Schwaͤche!
Leb wohl, du Theurer! Ach, ich kann
Dir keinen Segen geben.
Geh! Leb als Chriſt, und duld’ als Mann,
Und blick ins beßre Leben!
Vielleicht, daß dir nach langer Nacht
Noch hier ein Morgen glaͤnzet;
Vielleicht daß Liebe noch dir lacht,
Und dich mit Freuden kraͤnzet.
Jetzt ſcheiden unter Seufzern wir,
Und treuen Herzenszaͤhren;
Jetzt muß ich ohne Troſt von dir,
Allein, zuruͤcke kehren.
Doch kurze Zeit, ſo werd ich dich,
Geliebter, neu umfangen;
O moͤchteſt du getroͤſtet mich
Und froher dann empfangen!
Siegwart ſchrieb das Gedicht unter Thraͤnen ab,
und legte es auf den Tiſch, hierauf las er etwas
im Geßner. Um vier Uhr wachte Kronhelm wie-
der auf. Einigemal gieng er ſchweigend im Zim-
mer auf und ab. Das Gedicht fiel ihm in die Au-
gen, er las es, und ſank an die Bruſt ſeines Freun-
des. Wie kann ich dir dafuͤr danken, Xaver?
ſagte er. Nimms zum Andenken! antwortete
Siegwart; ich hab nichts beſſers. Sey ſtandhaft,
Lieber! Jn einem Jahr bin ich wieder bey dir.
Dann ſolls beſſer mit dir ſtehen, hoff ich. — Ach,
wie kann das? ſagte Kronhelm. Wenn du nur
gleich mit mir reiſteſt! Wie werd ich das allein aus-
halten koͤnnen? Gruͤß mir Thereſen! Segne ſie
tauſendmal! Sag ihr, daß ich ewig ihr gehoͤre,
wenn ich ſie auch niemals wiederſehe! Sprich ihr
Muth ein und Geduld! — Wie viel iſt die Glocke?
Jch werd wohl bald fort muͤſſen? Siegwart ſagte,
daß es noch eine halbe oder dreyviertel Stunden
anſtehen koͤnne. — Sie giengen mit einander auf
und ab; und ſprachen wenig. Endlich kam der
Thorwart, und ſagte, der Fuhrmann ſey da. Nun
leb wohl, Liebſter, Beſter! ſagte Kronhelm, und um-
armte Xavern. Vergiß mich nicht! Schreib mir
oft! Sie hiengen lang an einander, und ſprachen
nichts. Als ſie an P. Philipps Zimmer vorbey-
giengen, ſagte Kronhelm: Gruͤß mir den lieben
Mann tauſendmal! Segn’ ihn tauſendmal fuͤr alle
ſeine Liebe! — An der Kutſche umarmten ſie ſich
noch einmal und ſchieden.
Siegwart eilte auf ſein Zimmer zuruͤck, um ſei-
nem Schmerz freyen Lauf zu laſſen. Er konnte ſich
kaum maͤſſigen, rang die Haͤnde, ſprach und weinte
laut. Endlich warf er ſich auf ſeine Knie nieder:
Gott, du Vater aller! Segn’ ihn! Troͤſt ihn!
Staͤrk ihn! Er iſt der edelſte, der beſte Menſch.
Segn’ ihn! Staͤrk ihn! Troͤſt ihn! Jhn und mei-
ne Schweſter! Mach die beyden gluͤcklich! Ach, be-
lohn ihm alle Freundſchaft, die er mir erwieſen hat!
Vergib mir alle Kraͤnkungen, die ich ihm vielleicht,
wider Willen, anthat! Gott, vergib mir ſie, und
ſegn’ ihn! — O mein Freund, du Theurer! War-
um muſt du mich verlaſſen? Gib mir ihn bald wie-
der, Gott! Laß mich ihn bald wieder ſehen! —
Endlich warf ſich Siegwart, vom Wachen und vom
Schmerz ermuͤdet, in den Kleidern aufs Bette,
um noch ein paar Stunden zu ſchlafen.
Den andern Tag war die ganze Welt ihm oͤde,
und ein unausfuͤllbares Leere war in ſeinem Her-
zen. Er vermißte ſeinen Kronhelm immer, und
wollte alle Augenblick mit ihm reden. Des Abends
vergaß er ſich oft ſelbſt, und dachte, ſo oft er je-
mand auf dem Gang vor ſeinem Zimmer gehen
hoͤrte, ſein Freund komme nun. Dann ſah er ſei-
nen Jrrthum; es fiel ihm ein, daß er ferne ſey,
und ſeine Wehmuth erwachte ſtaͤrker. Er gieng
auf P. Philipps Zimmer, um ihm das letzte Le-
bewohl ſeines Freundes zu ſagen; die beyden bra-
chen in ſein Lob aus, erzaͤhlten alles, was an ihm
vortreflich war, mit Lebhaftigkeit nach einander her,
und bedaurten dann gemeinſchaftlich ihren Verluſt.
Siegwart zeigte dem Pater den Geßner, den ihm
ſein Freund geſchenkt, und was er vorne hinein ge-
ſchtieben hatte. — Jch bedaure den armen Kron-
helm, ſagte Philipp! Er hat von der Liebe ganz
unendlich viel gelitten. Er iſt ganz veraͤndert, und
ſo ungeſtuͤm und heftig geworden. Man ſieht, daß
er doch vieles von ſeines Vaters Temperament ha-
ben muß. Seine Einbildungskraft, die ſonſt zu
ſchlummern ſchien, iſt ſchrecklich aufgewacht. Das
traurigſte iſt, daß er alles ſo tief fuͤhlt, und ſo feſt
in ſeinem Herzen verſchlieſt. Die Liebe hat ihm
eine tiefe Wunde geſchlagen, und ich fuͤrchte, daß
ſie eher nicht, als durch den Beſitz Thereſens geheilt
werden wird; aber dieſes iſt ſo weitausſehend und
unwahrſcheinlich, daß er vorher druͤber zu Grund
gehen kann. — Ja, und meine Schweſter kanns
auch, ſagte Siegwart. Das arme Maͤdchen leidet
ſo viel. Alles, was ſie ſchreibt, iſt ſo duͤſter und
ſchwermuͤthig. Und dann ſchrieb ſie mir auch neu-
lich, daß ſie kraͤnkle und den Tod hoffe. Jch durf-
te das Kronhelm nicht ſagen; er wuͤrde mit ihr
ſterben. Ach, die Liebe iſt was fuͤrchterliches, ſagte
Philipp. Sie verzehrt die edelſten und beſten See-
len. Unter hundert Juͤnglingen und Maͤdchen,
welche ſterben, wuͤrde man immer, wenn man ihre
Krankengeſchichten wuͤßte, zehen finden, die die Lie-
be getoͤdtet, oder doch um etliche Jahre dem Grabe
naͤher gebracht hat. Huͤt er ſich, mein lieber Xa-
ver! ſo viel als moͤglich, vor dem Umgang mit
Frauenzimmern! Man muß vorher Vorſicht ge-
brauchen. Wenn man ſchon zu lieben anfaͤngt,
dann iſt alle Flucht zu ſpaͤt. Huͤt er ſich, da er,
nach ſeiner Beſtimmung, nie gluͤcklich lieben kann
und darf!
Siegwart gieng auch wirklich deswegen weniger
zu Gruͤnbach, weil Sophie allemal aufs Zimmer
kam, wenn er da war. Doch glaubte er, hier, von
ſeiner Seite ſicher genug zu ſeyn, denn er fuͤhlte
keine Neigung zu dem Maͤdchen, ob er ſie gleich
ihrer ſittſamen Beſcheidenheit, und ihrer tiefen,
richtigen Empfindung wegen, ſehr hochſchaͤtzte. Die
Einſamkeit, ſo ſehr er ſie auch liebte, war ihm doch
zuweilen unertraͤglich, weil ſie ihn oft gar zu leb-
haft und zu traurig an ſeinen Kronhelm erinner-
te; und die Liebe zur Muſik, die er jetzt allein we-
nig treiben konnte, rief ihn manchen Abend zu Gruͤn-
bach. Sophie ſaß oft ganze Stunden lang in einem
Winkel da, hoͤrte ihnen zu, und ward im Jnnerſten
bewegt. Siegwart ſchrieb das der Muſik zu, was
die Liebe bey ihr that. Doch war ſie dabey ſo
aͤngſtlich und zuruͤckhaltend, daß ſie ihm nie einen
deutlichen und redenden Beweis ihrer Liebe gab.
Sie litt in der Stille, verzehrte ſich in ſich ſelbſt,
und vertraute ihre Seufzer und Thraͤnen nur der
Einſamkeit. Sie erlaubte ſich nur ſelten einen Blick
auf Siegwart, und zog ihn gleich wieder erſchrocken
zuruͤck, wenn er ſie anſah. Er ſelbſt war in der
Liebe noch zu unerfahren, als daß ers haͤtte mer-
ken ſollen. Wenn ſie am Klavier ſpielte und ſang,
ſo bebte ihre Stimme, weil ſie ſich durch zu vielen
Ausdruck zu verrathen fuͤrchtete. Zuweilen war
ihr Ton ſo wehmuͤthig und ſchmelzend, daß Sieg-
wart innigſt dadurch geruͤhrt wurde, und da glaubte
ſie, er ſey gegen ſie nicht ganz gleichguͤltig; und
dieß naͤhrte ihre Liebe.
Acht oder zehen Tage nach Kronhelms Abreiſe
bekam Siegwart folgenden Brief von ihm:
Einziger und liebſter Freund!
Frag mich nicht, wie ich lebe? Dein eignes Herz
muß Dir antworten: bang und elend. O Lieber!
was iſt doch des Menſchen Leben? Schon ſo elend
oft im Arm des Freundes! Was iſts ohne Freund?
Wenn ich nicht eine Religion haͤtte, die mich dul-
den lehrte, weil ſie dem Dulder Kronen zeigt, ſo
ſucht’ ich einen Ausweg. — Dank Dir fuͤr Dei-
nen lieben Vers, den ich hundertmal auf dem Weg
hieher wiederholte:
Geh! Leb als Chriſt! und duld als Mann!
Und blick ins beßre Leben!
Jch wuͤrde hier in Jngolſtadt unzufrieden ſeyn,
wenn ich auch ein geſunderes Herz mitgebracht haͤt-
te. Die Lage des Orts iſt verdruͤßlich und ber-
gicht. Jn der Stadt ſind lauter Miſthaufen. Wir
ſind bisher immer in ſtinkende und ungeſunde Ne-
bel eingehuͤllt geweſen. Man ſoll leicht Krankhei-
ten davon kriegen. Das waͤre noch das beſte,
wenn mich eine ſuchen, und es enden mit mir
wollte! Aber man ſagt, der Tod ſey der Ungluͤckli-
chen Freund nicht. Die Geſellſchaften unter den
Studenten hier ſind ekel, elend und mehr als ein-
ſchlaͤfernd. Die Leute koͤnnen kaum deutſch. Er-
baͤrmliches Kuͤchenlatein wird uͤberall geſprochen.
Laß dichs ja nicht merken, wenn Du hier biſt, daß
Du deutſche Verſe, noch weniger von einem Pro-
teſtanten leſeſt. Dieß waͤre ſchon genug, Dich laͤ-
cherlich zu machen, und zum Ketzer. Jch waͤre
bald um meine deutſche Buͤcher und um meinen
Klopſtock gekommen. Ein Student, der mich be-
ſuchte, ſah, daß vorn’ auf dem Titel: Halle ſtand.
Das iſt ja wohl bey den Ketzern, ſagte er. Ja,
antwortete ich, Halle iſt ein proteſtantiſcher Ort im
Preuſſiſchen. — So laſſen Sie ja das Buch nicht
oͤffentlich ſehen! ſagte er ganz aͤngſtlich; das wuͤrd
Jhnen gleich weggenommen werden. Man iſt
hier gar ſcharf. So, ſagte ich, denket man hier ſo?
und ſchnitt das Titelblatt heraus; und ſo hab ichs
auch mit meinen andern Buͤchern gemacht. Brauch
dieſe Vorſicht auch, mein Lieber! — Du kannſt
aus dieſem wenigenſehen, wies hier ausſieht? Beym
alten und beym jungen Herrn von Jckſtatt hab ich
Aufwartung gemacht; das ſind noch Leute, die bil-
lig und vernuͤnftig denken. Aber der junge Herr
hat auch auf einer reformirten Univerſitaͤt, ich denk,
in Marpurg ſtudirt.
Wann nur Du hier waͤreſt, Lieber! dann waͤr
mir jeder Ort noch ertraͤglich; aber ſo kann ichs
kaum aushalten. Jch irre allein auf den Bergen
herum, ſpreche mit mir ſelber laut, und wein’ um
Thereſen und uͤber mein Schickſal. Was macht
der Engel? Das wollt ich Dich zuerſt fragen. Jch
hab ihren Namen in Buchen eingeſchnitten und in
Felſen geritzt an der Donau. Schreib ihr, daß ich
dulde, und getreu ſey! — Jch ſah den Himmel,
der ihr Dorf umzieht, und weinte. Damals konnt
ich beten; noch ſelten konnt ichs. — Mein Vater
hat mir geſchrieben, und mir fuͤrchterlich gedroht.
Jch lache ſeiner Drohungen. Mir kann nichts
mehr ſchaden auf der Welt. — Vor zwey Tagen
war ich etwas unpaß. Jch dachte, der Tod wuͤrde
kommen, aber er wars nicht. Jch habe Thereſen
geſehen im Traum, ſie hatte ein hellleuchtendes Ge-
wand an, und lachte. So ſeh ich ſie nun immer
vor mir. — OLieber! ich duld unausſprechlich viel; ſo
allein, und ſo elend! komm doch bald! — Nicht wahr?
Thereſe ſchreibt Dir nichts von mir? Warum thut
ſies nicht? Bin ichs nicht werth? — O Gott,
du weiſt, daß ichs bin. — Hier leg ich einen Brief
bey, an den rechtſchaffnen P. Philipp. Gruͤnbach
muſt Du gruͤſſen! Jch kann nicht ſchreiben. Jch
bin nie ſo unthaͤtig geweſen. Zu nichts kann ich
mich entſchlieſſen. — Thereſens Namen kritzl’ ich
auf jedes Papier, in jeden Tiſch, und loͤſch ihn wie-
der aus. Gruͤß den Engel tauſendmal, und ſchreib
mir von ihm! Komm bald und hilf mir meine Lei-
den tragen! Sie ſind ſchwer.
Dein
Kronhelm.
Siegwart antwortete ſeinem Freund ſogleich, und
ſuchte ihn, ſo viel als moͤglich war, zu troͤſten. We-
gen Thereſen ſchrieb er ihm wenig, und weiter
nichts, als: ſie habe ſich nach ihm erkundigt, und
ſcheine, nach Umſtaͤnden, ziemlich ruhig. Dieß
ſchrieb er nur, um ſeinen Freund zu ſchonen. Aber
im Grunde war Thereſe ſehr elend. Sie hatte
ihm kuͤrzlich, in Abſicht auf Kronhelm, folgendes
geſchrieben:
— Jch kann Jhn nicht vergeſſen. Tag und
Nacht ſchwebt er mir vor Augen: Das Andenken
an die ſeligſten von allen Tagen quaͤlt mich ganze
Naͤchte durch, und raubt mir den Schlaf, die ein-
zige Wohlthat, die der Leidende hienieden bat. Jch
fuͤhls durch mein ganzes Weſen, daß nur Er, der
Einzige, mich meiner Qual entreiſſen, und mich
wieder gluͤcklich machen koͤnnte. Aber ich kann und
will ihn nicht beſitzen! Jch wuͤrde ſeine Hand aus-
ſchlagen, wenn er ſie mir heut anboͤte, denn er ſoll
durch mich nicht auf ſein ganzes Leben ungluͤcklich
werden. Jch weis, ſein Vater und ſeine Verwand-
ten wuͤrden ihn durch Spott und Verachtung zu
Tode quaͤlen. Jch waͤr eine Schlange an ſeinem
Buſen, die er mit ſeinem eignen Leben naͤhrte.
Schreib ihm, aber nicht gerade zu, daß er alle
Hofnung aufgiebt! Jch will nie die Seinige wer-
den! Er ſoll mich vergeſſen! Gott! wie iſt das
Wort ſo hart! Aber ſchreib ihms doch! Vielleicht
thut ers, und das wollt ich, denn es wuͤrd mich
toͤdten… Unſer redlicher Vater leidet mit mir,
und zehrt ſich ab. Das iſt mein groͤſter Schmerz.
— Jch verberg ihm meine Qual, ſo viel ich kann;
Schlieſſe ſie in meinen Buſen ein, und ich fuͤhls,
daß ſie ſchon mein Herz angefreſſen hat. Es wird
bald brechen. Wuͤnſch mir Gluͤck dazu, Bruder!
Es iſt Wohlthat. — Jch leid’ jetzt doppelt. Jn-
nerlich tobt verzehrende Glut, und auſſen kalte,
ſpoͤttiſche Verhoͤhnung. Salome iſt hier, und
bringt unſre Schwaͤgerin, die wieder aus dem
Wochenbett aufgeſtanden iſt, taͤglich ins Haus.
Da hoͤr ich nichts als Spoͤttereyen und muß
dazu ſchweigen. Das kraͤnkt mehr als alles!
Und doch unterſtuͤtzt mich Gott! Jch hab oft
heitre Stunden, kann ſogar zuweilen hoffen,
aber freylich nur wie Abadonna, auf Begnadi-
gung. Klopſtock iſt auch ein Freund der Leiden-
den; er erquickt mich oft. Nun kann ich ihn erſt
ganz ſchaͤtzen. Denn im Leiden ſieht man, was
ein Freund iſt; und das iſt er uͤber alle Maaßen,
Gott und Er! — Auch Hauptmann Northern
bedauert mich, und der alte Pfarrer. Northern
meynt, Kronhelm ſoll in ſeines Koͤnigs Dienſte
treten, und mich mitnehmen. Er will ihn em-
J i
pfehlen. Aber ich wills nicht, obs gleich Troſt
waͤre. Kronhelm ſoll ganz gluͤcklich werden! Mit
mir kann ers nicht. Jch beſchwoͤre dich bey allen
Heiligen, Bruder! ſag ihm nicht ein Wort davon!
Gruͤß ihn nicht von mir! Er wuͤrde hoffen, und
betrogene Hoffnung toͤdtet. Leb wohl, theurer
Bruder! Bitt fuͤr mich um Geduld und Erloͤ-
ſung!
Siegwart folgte dem Rath ſeiner Schweſter,
und ſchrieb ſeinem Freund nur einzelne Worte von
Thereſen. Kronhelm haͤrmte ſich daruͤber ſehr ab,
und ſein innrer Gram nahm immer zu.
Der alte Gruͤnbach hatte dieſes Fruͤhjahr einen
Garten gekauft, in dem ſein Sohn und Siegwart
ſich ſehr viel aufhielten. Sie ſpielten nun auch die
Floͤte, und brachten damit manchen ſchoͤnen Fruͤh-
lingsabend hin. Sophie nahm ihre Arbeit mit
hinaus, ſaß bey ihnen im Gruͤnen, hoͤrte ihrer
Muſik zu, und ſang zuweilen eine Arie. Oft
blieben ſie des Abends noch da; ſpielten im Mond-
ſchein; die Nachtigall ſang dazwiſchen; und Sophie
weinte. Oft lud ſie auch die ſtille Nacht zu ver-
traulichen und halb melancholiſchen Geſpraͤchen ein.
Sie unterhielten ſich ſehr oft von Kronhelm. So-
phie hatte ſeine tiefe Traurigkeit vom erſten Augen-
blick an bemerkt, und ſogleich die Urſache davon er-
rathen. Denn die Liebe macht ſcharfſichtig; und
Liebende erkennen ſich, ſo wie edle Seelen, meh-
rentheils beym erſten Anblick. Sie fuͤhlte tiefes,
inniges Mitleid mit ihm; dieſes lehrt die Liebe.
Kronhelm muß recht ungluͤcklich ſeyn, fieng der
junge Gruͤnbach einmal an; ſeine Briefe ſind ſo
duͤſter. Jch moͤchte wohl wiſſen, was ihm fehlt?
— Siegwart war auſſerordentlich gewiſſenhaft in
der Freundſchaft. Er glaubte ſeinen Freund zu
beleidigen, wenn er eine Sache, um die er gefragt
wuͤrde, verſchwiege, oder ſie nicht zu wiſſen, vorgaͤ-
be. Dieß machte ihn, ſobald er mit einem Freund
allein war, ſehr offenherzig; wozu noch ſeine edle
Denkungsart kam, die ihn von den meiſten gut den-
ken, und faſt jeden nach ſich beurtheilen lehrte. Er
war alſo auch dießmal auf Gruͤnbachs Frage ziem-
lich offenherzig, und ſagte: Jch fuͤrchte, daß der ar-
me Kronhelm ungluͤcklich liebt; er ließ mich eini-
gemal etwas davon merken. — Dann bedaur ich
ihn von Herzen, ſagte Sophie, und ſuchte bey die-
ſen Worten einen Seufzer zu unterdruͤcken. —
Weichherziges Geſchoͤpf! ſagte Gruͤnbach.
Siegwart. Wie, Bruder? — Das iſt doch
kein Tadel?
Gruͤnbach. Tadel nicht. Aber es ſteht doch
auch nicht fein, gleich ſo weinerlich zu thun. —
Freylich, Maͤdchen muß man das verzeihen. —
Siegwart. Ja, wenn Mitleid Fehler iſt.
Aber ich halts fuͤr einen Vorzug des weiblichen Ge-
ſchlechts. Wir thun oft ſo hart und rauh; und
doch wuͤrden wirs einem Freund uͤbel auslegen, der
nicht Antheil dran naͤhme, wenn uns ein Ungluͤck,
oder eine Krankheit zuſtoͤßt.
Sophie. Jch will mich meines Mitleids eben
nicht ruͤhmen, denn man iſt immer etwas eigen-
nuͤtzig dabey, weil man ſelbſt Vergnuͤgen daruͤber
fuͤhlt, und ſich beym Mitleid wohlgefaͤllt; aber ich
halte dieſes Gefuͤhl fuͤr eine Wohlthat Gottes; und
einen ungluͤcklich Liebenden zu bedauren, halt ich
fuͤr die erſte Pflicht, weil ſein Leiden wirklich groß
ſeyn muß.
Siegwart. Ja, gewiß groß, Jungfer Sophie!
Jch habs bey meinem Freund erfahren. — Ach,
wenn er ſo des Abends bey mir ſaß im Mondſchein,
oder in der Daͤmmerung; mir meine Hand druͤck-
te, und dann ſchwer aufſeufzte, da fuͤhlt ichs ganz,
welche Qual in ihm toben mußte.
Gruͤnbach. Ja das ſind ſo Empfindungen, die
man zuweilen hat; aber Kronhelm ſollte ſelbſt mehr
Mann ſeyn.
Siegwart. Mann ſeyn? Haͤltſt du Liebe gar
fuͤr eine Schwachheit? Jch liebe ſelbſt nicht, Gruͤn-
bach! Wuͤnſch auch nie zu lieben; aber das weis
ich, daß die edelſten und groͤßten Menſchen auch
geliebt haben.
Gruͤnbach. Geliebt; das will ich nicht leugnen.
Nur nicht klagen ſoll man, wenns nicht gehen will!
Siegwart. Als ob man nicht ſchon uͤber koͤrperli-
che Leiden klagte! Und Seelenleiden ſind doch wohl
noch groͤſſer. Ein vollkommenes Geſchoͤpf zu ſehen,
deſſen man ſich werth fuͤhlt, und von ihm verkannt,
oder misverſtanden zu werden, das muß ſchmerzen.
Und noch groͤſſer muß der Schmerz ſeyn, wenn
man gekannt, verſtanden und geliebt wird; wenn
man fuͤhlt, daß man im Beſitz dieſes Geſchoͤpfes
das ſeligſte Leben koſten koͤnnte, und nun macht uns
Vorurtheil, oder unnatuͤrliches Verhaͤltniß in der
Welt, oder Eigenſinn der Eltern und Verwandten
den Beſitz dieſer Seligkeit unmoͤglich. Jſt es da
noch Schwachheit, wenn man leidet; ſeine Leiden
nicht ganz verbergen kann, und zuweilen in unge-
duldige Klagen ausbricht? Kronhelm hat ſonſt ge-
wiß maͤnnliches genug! Aber ich glaube, je zarter
und richtiger und tiefer einer fuͤhlt, und je mehr er
ſeinen eignen Werth kennt, deſto mehr muß ihn un-
gluͤckliche, verſchmaͤhte, oder durch Lumpenumſtaͤnde
zernichtete Liebe kraͤnken. — Nein! ich bedaure
meinen Freund im Jnnerſten der Seele, und ſchaͤtz
ihn nur noch hoͤher, ſeit ich geſehen habe, wie er
mit ſich ſelbſt ringt, und doch ſeinen Schmerz ſo
bekaͤmpft, daß er niemals ganz verzagt.
Sophie. Hat denn der Herr von Kronhelm
gar keine Hofnung, daß er in ſeiner Liebe jemals
gluͤcklich werden wird?
Siegwart. Wenig, oder keine, Jungfer Sophie!
Sophie. Das iſt traurig! Wenn ich an ſeiner
Stelle waͤr, ich gieng ins Kloſter. Ueberhaupt halt
ich viel vom Kloſterleben. Man kann da all ſein
Leid in der Stille ſo verſeufzen, und wird von Men-
ſchen nicht geſtoͤrt. Die Einſamkeit iſt des Men-
ſchen beſte Freundin, und die wohnt im Kloſter.
Siegwart. O, da haben Sie vollkommen recht,
Jungfer Sophie. Ja, das Kloſterleben geht vor
allem andern. Jch weis, wie es da ſo gut iſt, und
kanns kaum erwarten, bis ich da bin. —
Jndem ſetzte ſich eine Nachtigall nahe bey ihnen
auf einen bluͤhenden Apfelbaum, und fieng an, aus
voller Kraft zu ſchlagen. Auf Einmal ſchwiegen
die jungen Leute, horchten zu, ſahn einander oft
mit Verwunderung an, und nickten ſich laͤchelnd zu,
wenn die Saͤngerin mit ihren Toͤnen auf den hoͤch-
ſten Gipfel ſtieg, dann wieder langſam und weh-
klagend ihren Ton herabſenkte. Oft druͤckte ſie die
ganze Sehnſucht und das Schmachten aus, mit
dem Sophiens Seele an Siegwarts ſeiner hieng.
Das arme Maͤdchen mußte weggehn, und weinen,
Sie gieng einen Heckengang hinauf, und blieb alle
Augenblicke ſtehen. Siegwart kam durch einen an-
dern Weg, oben in den Gang herunter. Er ſtand
auch ſtill, und hoͤrte den Geſang der Nachtigall,
die nun nahe bey ihm auf den Zweigen ſaß. Dann
gieng er allmaͤhlig auf Sophien zu, nahm ſie in
der Entzuͤckung bey der Hand. Ach, Sophie, ſagte
er, das iſt himmliſch! Sie ſind auch bewegt. Es
geht ihnen wohl wie mir; ich denk immer an ei-
nen ſolchen Abend, wenn die Nachtigall ſo ſingt,
und die Sterne hell blinken, an Perſonen, die ich
liebe, oder an Verſtorbne. Ach das Bild mei-
ner Mutter ſchwebt halbſichtbar um mich her,
und ich preiſe ſie ſelig, daß ſie ſchon bey
Gott iſt. — Auch ich, ſagte Sophie, denk an See-
len, die ich liebe. Verzeihn ſie, daß ich ſo bewegt
bin! Ach, ich hatt einſt eine Schweſter, die iſt nun
bey Gott. Die war mein Alles, meine innigſte,
vertrauteſte Freundin. Sie ſtarb in meinem Arm;
ach, wenn ich nur ſchon bey ihr waͤre! Sie iſt
gluͤcklich, uͤber alles gluͤcklich! Und auf Erden kann
mans nicht ſeyn. — Hier ſah ſie unſern Siegwart
mit einer Wehmuth an, die ihm durchs Herz drang.
Wir werdens auch einſt; ſagte er; druͤckte ihr, ohne
daß ers wußte, die Hand, und wiſchte ſich die Augen.
Sophie blickte auf die Seite, und Thraͤnen fielen
aufs junge Gras.
Seit dieſem Abend ward Sophie immer duͤſtrer
und ſchwermuͤthiger. Die Worte Siegwarts: Jch
liebe ſelbſt nicht; wuͤnſch auch nie zu lieben waren
wie ein Dolch in ihre Seele gedrungen. Sie hatt’
es bisher nur halb geglaubt, daß er in ein Kloſter
gehen wolle; nun hatte ſie’s aus ſeinem eignen Mun-
de gehoͤrt. — Alle Hofnung war nunmehr fuͤr ſie
verſchwunden; ſie gab ſie ſelbſt auf, und nahm ſich
ſehr in Acht, ihn zu ſehen. Ganze Tage lang war
ſie auf ihrem Zimmer eingeſchloſſen, ſeufzte, betete,
ſtickte traurige Geſchichten auf die Leinwand, oder
verlohr ſich in wehmuͤthigen und ſchwaͤrmeriſchen
Phantaſien am Klavier. Oft ſchrieb ſie auf ein
Papier, das ſie ſorgfaͤltig verſchloß. Alle Morgen
gieng ſie ins Frauenkloſter in die Fruͤhmeſſe, und
naͤhrte da ihre Phantaſie, bey der feyerlichen Mu-
ſik, die die Nonnen machten, mit Bildern von uͤber-
irrdiſcher Liebe und himmliſcher Seelenfreundſchaft.
Seit ſie gewiß wußte; daß Siegwart ins Kloſter
gehen wuͤrde, war es auch bey ihr feſtgeſetzt, ſich
einkleiden zu laſſen. Der Gedanke hatte tauſend
Reiz fuͤr ſie, ſich eben ſo wie der, den ihre Seele
liebte, ganz dem Himmel zu weihen; eben ſo, wie
er, in der Stille, und von der Welt abgeſondert,
ſich mit dem Heiland zu vermaͤhlen; und einſt als
eine keuſche Braut dem, den ſie hier umſonſt liebte,
als ihrem Braͤutigam entgegen zu gehen. Sie er-
hitzte ihre Einbildungskraft noch mehr durch das
Leſen einiger myſtiſchen und andaͤchtigſchwaͤrmeri-
ſchen Buͤcher. Jhr Herz ward mit einer anſchei-
nenden Verachtung der Welt erfuͤllt, die an ſich
mehr Ueberdruß zu leben war, und allein von be-
trogner Hofnung herruͤhrte. Wenn ſie Siegwart
Einmal wieder ſah, ſo war ihre Seele wieder ganz aus
ihrer Faſſung gebracht; die Welt zog ſie wieder an
ſich, und ſie hatte Tage lang zu thun, bis die arbei-
tende Phantaſie ſie aufs neu in den taͤuſchenden
Schlummer wiegte. Oft glaubte ſie, ganz ruhig und
ganz gluͤcklich zu ſeyn; aber der innre Gram ver-
ſchmaͤhter Liebe nagte unſichtbar an ihrem Leben;
ihre Kraͤfte verzehrten ſich allmaͤhlig: ihre Wangen
bleichten ab; ihre Augen verlohren das lebhafte
Feuer, und die zarte Pflanze welkte hin. Jhr Va-
ter und ihre Mutter merkten endlich die Veraͤnde-
rung, und wurden ſehr bekuͤmmert druͤber. Sie
drangen oft mit Bitten in ſie, ihnen die Urſache
ihres Kummers zu entdecken, aber Sophie ant-
wortete nur mit Thraͤnen, gab die Urſach ihrer
Krankheit fuͤr eine natuͤrliche Auszehrung aus, und
entdeckte ihren Eltern den Wunſch, den Reſt ih-
res Lebens im Kloſter zubringen zu koͤnnen. Die
Eltern wollten lange nicht daran, weil dadurch alle
die ſchoͤnen Hofnungen vereitelt wurden, die ſie ſich
einſt von ihrer Tochter verſprachen, aber endlich
gaben ſie nach, weil ihr Beichtvater, dem Sophie
ihren Wunſch anvertraut hatte, auch ſehr daran ar-
beitete, und es ihnen zur Gewiſſensſache machte,
wenn ſie ihre Tochter von einem ſo heilſamen Ent-
ſchluß abhielten, und Gott und dem Himmel eine
Seele zu ſtehlen ſuchten. Sophie erhielt endlich
die Erlaubnis von ihren Eltern, auf Michaelis das
Noviziat bey den Nonnen anzutreten.
Siegwart erzaͤhlte das alles ſeinem P. Phi-
lipp, der ſogleich die Urſache von Sophiens trau-
rigem Zuſtand errieth. Er ſuchte daher Xavern
ſo viel als moͤglich abzuhalten, daß er nicht viel in
Gruͤnbachs Haus oder Garten gieng, weil er ver-
muthete, Sophie wuͤrde mehr leiden, je oͤfter ſie
ihn ſaͤhe. Daher lud er den jungen Gruͤnbach oͤf-
ters zu ſich, oder gieng mit den beyden Juͤnglingen
ſpatzieren, und machte Anſtalt, daß der junge Pa-
ter oft im Kloſter ein Konzert anſtellte, damit ſie
doch die Muſik forttreiben koͤnnten. — Um dieſe
Zeit ſtarb P. Johann ploͤtzlich. Man traf ihn Mor-
gens mit gefalteten Haͤnden in ſeinem Bette todt an.
Der gute Mann ward allgemein bedauert; am mei-
ſten aber von P. Philipp und von Siegwart. Bey-
de giengen mit ſeiner Leiche auf den Kirchhof, ſahn
den Redlichen in die Ruheſtaͤtte legen, und ſegne-
ten ſein Andenken mit tauſend Thraͤnen. P. Hya-
cinth ward nun an ſeine Stelle zum Lehrer der The-
ologie ernannt, und nun ſah Siegwart den Unter-
ſchied erſt recht zwiſchen einem redlichen Mann, der
die Lehren der Religion aus Ueberzeugung und mit
Waͤrme, weil er ihre Kraft ſelbſt ſo oft an ſich
gefuͤhlt hat, andern vortraͤgt; und zwiſchen einem
Eiferer, der den Religionsunterricht als Handwerk
anſieht, und ſein Gedaͤchtnis blos mit Worten oh-
ne Saft und Kraft, und mit der Geſchichte von
nichtswuͤrdigen Streitigkeiten und Zaͤnkereyen an-
gefuͤllt hat. Dieſer trockne und muͤrriſche Mann
entleidete unſerm Siegwart, der nur Leben und
Waͤrme, beſonders in der Religion ſuchte, den Auf-
enthalt auf dem Kloſter ziemlich. Er ſehnte ſich
nach ſeinem lieben Kronhelm, der ihm viele, aber
immer die klaͤglichſten und ſchwermuͤthigſten Brie-
fe ſchrieb, und ihn aufs herzlichſte bat, ja recht
bald nach Jngolſtadt zu kommen!
Thereſe ſchrieb ihm auch noch immer traurig,
aber doch gelaſſen. Jhr Schmerz daurte zwar be-
ſtaͤndig fort, aber ſie gewoͤhnte ſich nach und nach
daran, und klagte weniger. Ungefaͤhr in der Mit-
te des Sommers ließ ſie ihren Bruder einmal drey
Wochen lang auf Briefe warten. Er ward ver-
druͤßlich druͤber, und konnte ſich die Urſache ihres
Schweigens nicht erklaͤren. Als er an einem
Sonnabend wieder einmal vergeblich gewartet hat-
te, ſo ſchlug ihm P. Philipp auf den Nachmittag
einen Spatziergang vor. Sie giengen zwiſchen den
Kornfeldern hin, und ein Bettelbube bat ſie wei-
nend um ein Allmoſen. Ach, liebe geiſtliche Herren,
ſagt’ er, mir iſt ſo gar uͤbel g’fehlt! Vor drey Ta-
gen iſt mein Vater g’ſtorben, und nun hab ich kei-
nen Menſchen auf der Welt mehr. Siegwart griff
hurtig in die Taſchen, gab ihm reichlich, und ſag-
te dann zu P. Philipp: Lieber Gott! was iſt das
traurig, wenn man ſich an gar keinen Menſchen
auf der Welt halten kann!
P. Philipp. Ja wohl hat man Gott zu danken,
wenn man ſeine Eltern und Verwandte hat; man
kann nie genug thun, um ihnen das Leben ange-
nehm zu machen und ſie nicht zu kraͤnken.
Siegwart. Das hab ich auch immer bey mei-
nem Vater gedacht. Ach, ich wuͤſte nicht, was ich
anfangen ſollte, wenn er ſtuͤrbe.
P. Philipp. Und doch muͤſt Er Gott danken,
daß er ihn Jhm ſo lang erhalten hat. Er hat doch
ſeine Erziehung ganz genoſſen, und kann ſich ſchon
eher ſich ſelbſt auf der Welt fort bringen.
Siegwart. Das wohl, Gottlob! Aber es waͤr
doch fuͤr mich das groͤſte Ungluͤck!
P. Philipp. Und doch muß Ers mit Gelaſſen-
heit annehmen, die Nachricht moͤchte heut oder
morgen kommen. Sein Herr Vater kann doch nicht
ſo jung mehr ſeyn?
Siegwart. Neun und funfzig, glaub ich, wird
er auf den Herbſt alt werden.
P. Philipp. Sieht Er, das iſt doch ſchon ein Al-
ter, bey dem man ein bischen Sorge haben kann.
Mach Er ſich auf alle Faͤlle gefaßt! Es koͤnnte bald
eine ſchlimme Nachricht einlaufen.
Siegwart. (Sah den Pater aͤngſtlich an) Herr
Profeſſor … ich fuͤrchte …
P. Philipp. Ach, mein lieber Siegwart! Es
thut mir leid . . aber ich muß ihms ſagen …
Siegwart. Was! Jſt er todt? Gott im
Himmel! —
P. Philipp. Todt nicht, mein Lieber! Aber …
Siegwart. Aber krank! … Ja, ſagen Sies
nur! Jch ſehs Jhnen an.
P. Philipp. Nur gelaſſen! Und bedenk Er,
daß Er ein Chriſt iſt! Jch hab wuͤrklich heute Nach-
richt bekommen, daß ſein Vater gar nicht wohl iſt.
Siegwart. Lieber, lieber Gott! — Ach das
iſt ja ſchroͤcklich! Wie wird mirs gehn?
P. Philipp. Jch hab ihn ſchon gebeten, etwas
gelaſſener zu ſeyn. Vielleicht iſt noch Hofnung da.
Siegwart. Ja damit wirds wohl vorbey ſeyn!
P. Philipp. Das weiß er ja noch nicht. Er weiß
noch keine Umſtaͤnde. Wenn er ſich erſt etwas ge-
ſaßt hat, ſo will ich ihm einen Brief geben.
Siegwart. O ich bin ſchon gefaßt! Lieber Herr
Pater! Geben Sie mir nur den Brief her!
P. Philipp. Er iſt ſchon gefaßt? — Hoͤr er
mich erſt an! Seine Schweſter hat mir geſchrieben,
und mich himmelhoch gebeten, ihm erſt Muth ein-
zuſprechen. Jch glaub, er iſt nun vorbereitet. Sieht
er, ſein Vater iſt ſchnell krank geworden; es ſieht
mislich mit ihm aus; aber man kann noch nichts
gewiſſes wiſſen; der Arzt iſt erſt aus der Stadt ge-
holt worden. Halt Er ſich an Gott; es mag gehen,
wie es will! Bedenk er, daß es Gott noch nie boͤs
mit ihm gemeynt hat! — Da kann er nun den
Brief ſelber leſen.
Siegwart las ein kleines Briefchen von There-
ſen hurtig und zitternd durch; die Thraͤnen ſtuͤrzten
ihm aus den Augen; er ſteckte es ſchweigend ein. —
Das iſt fuͤrchterlich! ſagte er nach einer langen Pau-
ſe; Gott ſteh mir bey, und helf mirs tragen! Jch
hab mir tauſendmal gewuͤnſcht, eher zu ſterben, als
mein Vater, um den Schmerz nicht zu erleben; und
nun kommts doch —
P. Philipp. Seiner Zaͤrtlichkeit und kindlichen
Liebe macht das ſehr viel Ehre, mein lieber, bra-
ver Xaver! Aber denk er nur, wenn all unſre
Wuͤnſche erſuͤllt wuͤrden, zumal ſolche …
Siegwart. Jſt der Wunſch etwa ungerecht? —
P. Philipp. Mir deuchts ſo. Wenn alle Soͤh-
ne vor den Vaͤtern ſtuͤrben, wo kaͤm eine Nachwelt
her? Der Menſch muß ſich in einer Welt, die der
Veraͤnderung ſo unterworfen iſt, im Voraus und
in frohen Tagen auf alles Widrige gefaßt machen.
Jch fuͤrchte, daß ihm bey ſeinem gefuͤhlvollen Her-
zen noch groͤſſere Pruͤfungen und Leiden bevor-
ſtehen.
Siegwart. Groͤßre Leiden kanns nicht geben,
wie dieſes iſt! …
P. Philipp. So muß er jezt auch denken. Aber
alles kommt auf die Lage an, in der uns ein Lei-
den trift; je, nachdem wir geſtimmt ſind; nach-
dem’s eine Saite unſers Herzens trift. Jch tadl’
ihn gar nicht, daß er jezt ſo niedergeſchlagen iſt.
Der Tod ſeines Vaters bleibt fuͤr ihn immer ein
Ungluͤck.
Siegwart. Ja wohl! und das groͤſte, denk
ich! — Groſſer Gott! Einen ſolchen Vater zu
verlieren! … Und wenns auch moͤglich waͤr, mich
dabey zu vergeſſen, wie wirds meiner Schweſter,
meiner armen Schweſter gehen? (Hier weinte er
heftiger.)
P. Philipp (weinte auch mit) Seiner Schwe-
ſter … Auch dieſer wird Gott ſich erbarmen;
Wird fuͤr ſie auch Troſt haben. Wir wollen fuͤr ſie
beten… Ach, ich weis, wies mir gieng! Jch war
in Freyburg, als mein Vater ſtarb; wir waren
ſieben Waiſen. — Aber Gott hat keins von uns
verlaſſen; keins! und mich am wenigſten… Faß
er ſich, mein lieber Siegwart! Vielleicht hilft Gott
noch… Hoff ers zu dem Vater aller Waiſen! —
Sie kehrten nun wieder nach der Stadt zuruͤck.
Siegwart ſprach wenig, und ſchluchzte nur zuweilen.
Der Betteljunge ſtand wieder am Wege. Da haſt
du noch was, ſagte Siegwart, und gab ihm einen
Sechsbaͤtzner. Jn der Stadt lief er ſogleich zum
Arzt, um ſich nach ſeines Vaters Umſtaͤnden zu er-
kundigen. Der Arzt zuckte die Achſeln. Es iſt
ſo ſo, ſagte er. Jch ward aus dem Haus ihres
Vaters auf ein andres Dorf geholt zu einem Predi-
ger, und konnte die Kriſin nicht abwarten. Wir
muͤſſen ſehen. Uebermorgen komm ich wieder hin-
aus. O lieber Herr Doktor, ſagte Siegwart, Mor-
gen! Jch bitte Sie bey allem, was heilig iſt, reiten
Sie doch Morgen hinaus! Thun Sie, was ſie koͤnnen!
Retten Sie, retten Sie meinen Vater! Der Doktor
machte Entſchuldigungen, daß er Morgen viel zu thun
habe; verſprach aber doch, gegen Abend hinaus zu rei-
K k
ten. — Siegwart verſchloß ſich nun auf ſein Zim-
mer; gieng auf und ab; rang die Haͤnde; fieng zu-
weilen ein Gebeth an; ward vom Schmerz wieder
vom Gebeth ab, in Labyrinthe hineingeriſſen, wo
er keinen Ausweg ſah; nahm ein Buch; wollte le-
ſen; warf es wieder weg; ſank auf die Knie; ſprang
wieder auf, und fand nirgends keine Ruhe. Er
gieng in den kleinen Garten am Kloſter; da erblick-
te er eine hohe Sonnenroſe, die von einem Wurm
angefreſſen war, und zu welken anfieng. Gott! rief
er, und Thraͤnen ſchoſſen ihm in die Augen; denn
er dachte ſich ſeinen Vater. Alles erinnerte ihn jetzt
an den Tod; jede Blume ward fuͤr ihn ein Bild
der Verweſung. — Zuweilen dachte er ſich alles
Gute, was er ſeinem Vater zu verdanken hatte,
und nun ſchauerte er zuruͤck, und wollte vergehen.
— Die ganze Nacht ward von ihm durchweint;
ſeine kurzen Schlummer waren aͤngſtlich; oft war
ihms, als ob ſein Vater ihm zuliſpelte und Abſchied
naͤhme, und dann fuhr er auf und aͤchzte. — Den
andern Tag war er wie betaͤubt; er gieng noch ein-
mal zum Doktor, und bat ihn, ja gewiß zu ſeinem
Vater hinaus zu reiten. Er gab ihm ein kleines
Briefchen mit an ſeinen Vater, und ein kleines an
Thereſen, das er mit der heftigſten Bewegung ge-
ſchrieben hatte; worinn er ſeinem Vater fuͤr alle ſei-
ne Wohlthaten dankte, und halb Abſchied von ihm
nahm. Seine Schweſter ſuchte er zu troͤſten, ob
er gleich ſelbſt troſtlos war. P. Philipp gieng den
Nachmittag mit ihm ſpatzieren, und floͤßte ihm
durch ſeine ſanfte liebreiche Lehren, die immer mit
dem zaͤrtlichſten Mitleid untermiſcht waren, eine
ziemliche Gelaſſenheit und Ergebung in den goͤttli-
chen Willen ein. Vorher hatte es in Siegwarts
Seele ungeſtuͤm geſtuͤrmt, jetzt folgte dem Sturm
ein ſanfter Regen, und ſein Schmerz goß ſich in
Thraͤnen aus. Der Doktor kam den andern Tag
wieder zuruͤck. Siegwart war wohl zehnmal in
ſeinem Hauſe geweſen; und nun dachte er gewiß,
ſein Vater ſey geſtorben, oder in den letzten Zuͤgen.
Er beweinte ihn als todt. Sein Schmerz war
unendlich groß, aber doch gemaͤſſigter und ruhiger,
wie vorher. Die Angſt, ein theures Gut zu verlie-
ren, erſchuͤttert mehr, und ſchlaͤgt die Seele ſchreck-
licher danieder, als der wirkliche Verluſt des Gutes.
— Der Doktor war den folgenden Morgen wie-
der in die Stadt gekommen; muſte aber nach einer
Stunde gleich wieder fort, eh ihn Siegwart ſpre-
chen konnte. Er hatte nur die Nachricht fuͤr ihn
hinterlaſſen: Er moͤchte ſich auf alles gefaßt ma-
chen! Nun zweifelte Siegwart gar nicht mehr am
Tode ſeines Vaters. P. Philipp zuckte auch die
Achſeln, und hielt es fuͤr wahrſcheinlich, oder gar
gewiß.
Siegwart ſetzte ſich in ſeinem ganzen Schmerz
nieder, um ſeinem Kronhelm zu ſchreiben. Unter
anderm ſchrieb er: Sag mehr, du ſeyſt allein un-
gluͤcklich auf der Welt! Jch bins auch, mehr als
du. Mein Vater — o wie kann ichs ſchreiben?
— mein Vater iſt geſtorben. — Schreckliches,
banges Wort! ich ſchreibe dir zum erſtenmal und
mit Zittern: Jch bin — ein Vater- und Mut-
terloſer Waiſe. Gott! ein Waiſe! Aber du biſt
noch mein Vater! Wenn ich dich nicht haͤtte, o
was waͤr ich! — Sieh, Kronhelm, ſo kanns Men-
ſchen gehen. Biſt du nun allein elend? — Noch
iſt der Todesbote nicht gekommen; aber Thorheit
waͤr es, noch zu hoffen. Alle Umſtaͤnde predigen
mir Tod. — Tod! — O du ſuͤſſes Wort. Wenns
von mir auch gaͤlte! — u. ſ. w.
Den folgenden Morgen ſchrieb er wieder an eben
dieſem Briefe. Man klopfte an die Thuͤr, und
ein Bauer aus ſeinem Dorfe trat herein. Sieg-
wart wagte es nicht, ihn zu fragen; er nahm den
Brief an, gieng auf die Seite, brach ihn zitternd
auf, konnt ihn kaum halten, und las ihn durch. —
Wie erſchrack er! Es war die Handſchrift ſeines
todtgeglaubten Vaters:
Liebſter Sohn!
Du wirſt in tauſend Aengſten meinethalben ſeyn,
und du hatteſt es auch Urſach. Jch war dem To-
de nah, aber Gott rief mich noch einmal zuruͤck.
Der Arzt verſichert mich, ich ſey jetzt auſſer aller
Gefahr. Wir koͤnnen Gott nicht genug dafuͤr lo-
ben; denn es waͤr mir ſchwer geweſen, unverſorgte
Kinder zu verlaſſen, beſonders Dich und Thereſen.
Das arme Maͤdchen hat unendlich viel an mir ge-
than, und unendlich viel gelitten. Gott belohn es
ihr! Sie gruͤßt Dich herzlich. Bin noch matt, und
kann nicht allzuviel ſchreiben. Muß nun eine
Brunnenkur brauchen. Laß Dir dieſen Zufall
zur Warnung dienen, Dich nicht zu ſehr auf Men-
ſchen zu verlaſſen! So lang ich lebe, thu ich fuͤr
Dich, was ich kann, wenn Du brav biſt. Aber
nach meinem Tode muſt Du Dir groͤſtentheils
ſelbſt helfen. Leb wohl, mein liebſter Sohn!
Jch bin
Dein getreuer Vater,
Johann Maria Siegwart.
Nun Gott Lob und Dank! ſagte Siegwart, und
wandte ſich zu dem Bauren. Ja, Herr, das war
ein Schrecken, den wir hatten; ſagte dieſer. Das
ganze Dorf war in Aengſten; habs mein Lebetag
nicht ſo geſehen, und bin doch ſchon ein alter Mann.
Alle Leut liefen in die Kirche. Wenns der Lands-
herr waͤre, koͤnnts nicht aͤrger ſeyn. Aber ſo ’n
Herrn kriegen wir halt nicht wieder; das ſagen
alle Leut, alt und jung; wenn ſchon der junge Herr
auch ein braver Herr iſt. Euer Vater hat ’s prae
vor allen, das iſt nur gewiß. Wenn ich denk, was
die arme Leut, und Wittwen, und Waiſen an ihm
verlohren haͤtten, d’ Augen gehen mir uͤber. ’s
iſt halt ’ne ſchoͤne Sach um ’n braven Mann!
— und hier wiſchte ſich der ehrliche Bauer die
Augen. —
Siegwart ſchrieb ein kleines Briefchen an ſeinen
Vater, und gab dem Bauer ſechs Batzen. Der
gutherzige Schwabe wollt’ es lang nicht nehmen.
Nein, Herr! ſagte er, mit ſo einer Nachricht waͤr
ich Euch bis Wien umſonſt gelaufen. ’s haͤtt mir
weh gethan, wenn man’s einem andern auftragen
haͤtt. Bin ſchon zwanzig Jahr ’n Tagwerker in ’s
Vaters Haus; darfs nicht nehmen, warlich
nicht! — Siegwart aber ließ nicht nach, bis
er’s nahm.
Er warf ſich nun auf ſeine Knie, dankte Gott;
ſchrieb etliche Worte an Kronhelm, daß ſein Vater
noch lebe; und lief dann in ſeiner Freude auf P.
Philipps Zimmer, der an ſeiner Freude herzlichen
Antheil nahm. Thereſe ſchrieb ihm acht Tage dar-
auf wieder, daß ihr Vater ſich taͤglich mehr beßre,
und ſchon eine halbe Stunde in den Garten habe
gehn koͤnnen. Siegwart war nun wieder wie neu-
gebohren, und nahm aufs neu an allem Antheil,
was um ihn vorgieng. Einmal gieng er mit
Gruͤnbach in ſeinen Garten; Sophie war auch da,
um ſich bey der ſchoͤnen Witterung etwas zu erho-
len, weil ſie ſchon etliche Wochen ſich zu Haus auf-
gehalten hatte. Sie erſchrack, als ſie unſern Sieg-
wart eroͤlickte. Er erſchrack auch, denn das ſchoͤne
bluͤhende Maͤdchen ſah blaß und eingefallen aus.
Jn ihren Augen ſaß eine tiefe ſchweigende Schwer-
muth. — Jch werd Jhnen noch zuvor kommen,
ſagte ſie; auf Michaelis geh ich ſchon ins Kloſter.
Werden Sie wohl auch zuweilen noch an mich den-
ken? Jch werd es oft thun. — Jch warlich auch,
ſagte Siegwart. Der guten Seelen ſind doch ſo
wenig. Ja, ich werd oft an die Stunden denken,
die wir am Klavier, und hier in der Daͤmmerung
zubrachten. Sie waren ſo heilig und ſo ſuͤß! —
Ja wohl, ſuͤß und heilig! ſagte Sophie ſeufzend.
Werden Sie aber auch noch an mich denken wenn
ich todt bin? — Auch da noch oft! antwortete
Xaver. Jch werde dann an die Zeit denken, da
wir uns begluͤckter wieder ſehen werden, an die
Zeit im Himmel. O, das iſt ſuͤß und troͤſtend!
ſagte das Maͤdchen. Jch werd bald im Himmel
ſeyn; folgen Sie mir bald nach! — Jhr Auge
glaͤnzte, als ſies ſprach, und Siegwart war auch
tief bewegt.
Nun wurden wieder die Rollen zu dem kuͤnfti-
gen Schuldrama ausgetheilt. Der Pater, der es
machte, waͤhlte den Thomas Aquinas zum Hel-
den ſeines Singſpiels, und zwar den Theil ſeines
Lebens, da Thomas, wider den Wunſch ſeiner An-
verwandten, und beſonders ſeiner Mutter, zu Nea-
pel unter die Dominikaner geht. Der Kampf des
Juͤnglings war nicht uͤbel geſchildert; da er auf
der Einen Seite die zaͤrtlichen Bitten ſeiner Anver-
wandten, die Thraͤnen ſeiner Mutter, die Lockſpei-
ſen, die man ihm vorhaͤlt, in der Welt zu bleiben,
beſonders ein ſchoͤnes junges Maͤdchen, gegen das
ſein Herz nicht ganz gleichguͤltig iſt, ſieht; und auf
der andern Seite den Ruf ins Kloſter, den er fuͤr
goͤttlich haͤlt, den Traum von Verdienſtlichkeit und
Heiligkeit, und alles, was eine lebhafte Einbildungs-
kraft, von einem guten Herzen unterſtuͤtzt, reizendes
am Kloſterleben findet. Dieſe Rolle war nun
ganz fuͤr unſern Siegwart gemacht, und er bekam
ſie auch, weil ſie die ſtaͤrkſte und ſchwerſte zum
Singen war. Er war davon ganz bezaubert, und
dachte ſich, ohne viele Muͤhe, ganz in die Rolle,
und die Lage des h. Thomas hinein. Er uͤbte ſich
Tag und Nacht im Singen, und taͤuſchte ſich oft
dabey ſo ſehr, daß er nicht mehr Siegwart, ſondern
der h. Thomas ſelbſt zu ſeyn glaubte. Unter The-
reſen, die ihm auch einmal vom Kloſter abgerathen
hatte, dachte er ſich die Mutter ſeines Helden, und
wendete alle Umſtaͤnde genau auf ſich an. Dieſer
Umſtand feſſelte ſein Herz aufs neue wieder ſo feſt
ans Kloſter, daß ihm die ganze Welt zuwider und
ekelhaft wurde. Oft ward er dem jungen Gruͤn-
bach, der die Rolle der Mutter hatte, ganz im Ernſt
boͤſe, wenn ſie ihre Arien zuſammen probirten.
Als das Stuͤck ſelbſt wirklich aufgefuͤhrt wurde,
ruͤhrte er durch ſein empfindungsvolles Spiel, und
ſeinen ausdruͤckenden, herzlichen Geſang faſt alle
Zuſchauer, und beſonders alle Maͤdchen, bis zu Thraͤ-
nen. Jn allen jungen Herzen ſtieg der Wunſch
auf, auch ins Kloſter zu gehen. Sophie ſaß, im
Jnnerſten bewegt, da; jeder Ton drang ihr ans
Herz; ſie war auf dem Scheideweg zwiſchen Him-
mel und Erde; hier das Kloſter, das ihr lieber
Juͤngling mit aller Staͤrke der Beredſamkeit, und
dem Zauber des Geſangs abſchilderte — dort
die Welt und Er, der reizende und ſanfte Juͤngling
ſelbſt. Jhr Herz ward zerriſſen; endlich hub die
Staͤrke der Muſik ſie uͤber alles weg; und als
Thomas uͤber alle Ueberredungen und Hinderniſſe
ſiegte, riß auch ſie ſich von allem los, und flog in
ihrem Geiſt dem Kloſter und dem Himmel zu.
Drey oder vier Wochen darauf gieng ſie, ungeach-
tet aller Bitten ihrer Eltern als Novize ins Klo-
ſter. Den Tag vorher nahm ſie noch von Sieg-
wart Abſchied. Sie hatte ein ſchneeweiſſes Kleid
mit ſchwarzen Schleifen an. Jch bin eine Braut
des Himmels und des Todes, ſagte ſie. Jch habe
Freuden von der Welt gehofft, und ſie gab mir
Thraͤnen. Leben Sie wohl, mein Theurer, ewig theu-
rer Freund! Ach, Sie wiſſen nicht, wie theuer ſie
mir ſind; aber, wenn ich todt bin, ſollen Sies er-
fahren. Siegwart war ſehr geruͤhrt bey ihrem
Abſchied; er beweinte ſie und ihr Geſchick, ohne zu
wiſſen, daß er ſelbſt die Urſache davon ſey. Keine
Seele wußte ſie, als P. Philipp, der aber weiter
nichts, als muthmaßte. Das ungluͤckliche Maͤd-
chen ſchloß ſich und ihren Gram in die Zelle. Jh-
re Tage waren zwiſchen Thraͤnen und Gebeth ge-
theilt. Der Tod war ihr einziger Freund, und die
Gedanken an ihn waren ihr die ſuͤſſeſten. Sie
wurde taͤglich mit ihm vertrauter, und fuͤhlte ſeine
nahe Ankunft taͤglich mehr. Jhre Kloſterpflichten
beobachtete ſie genau; man ſah ſie vor Anbruch
des Tages immer zuerſt im Chor; oft kniete ſie
mit blaſſem, abgehaͤrmtem Geſicht allein am Al-
tar; ihre Thraͤnen floſſen hinter dem Schleyer an
den Fuß des Altars nieder; ſie betete laut und bruͤn-
ſtig, und war oft durch gluͤhende Andacht ſo ermuͤ-
det, daß ſie kaum allein wieder aufſtehen konnte.
Beym Eſſen ſprach ſie gar nichts, und ſah blos ihre
Schweſtern, eine nach der andern an, und bemerk-
te in ihren Geſichtern den verſchiednen Ausdruck
des mannigfachen Kummers, der in ihren Seelen
wohnte. Sie hatte keine ganz vertraute Freundin;
nur Caͤcilia, ein zwanzigjaͤhriges Maͤdchen, ſaß
oft bey ihr auf der Zelle, denn ſie hatte auch Gram
im Herzen, und das Ungluͤck ſucht Geſellſchaft. Es
ſchien, daß die beyden Seelen einen gemeinſchaftli-
chen Kummer hatten, aber ſie wagten’s nicht, ihn
einander zu entdecken. Oft ſahn ſie ſich Stunden-
lang ſtillſchweigend an; druͤckten ſich die Haͤnde,
kuͤßten ſich, und blickten dann weg, um ihre Thraͤ-
nen zu verbergen. Wenn Sophie allein war, ſo
kniete ſie vor ihrem Krucifix, bat um ihren Tod,
und ſetzte ſich dann hin, um Stickereyen, oder
Agnus Dei zu machen. Sie ſtickte Blumen, aber
immer nur mit blaſſen Farben, oder halbverwelkte.
Oft zeichnete ſie einen Grabhuͤgel aufs Papier,
und Cypreſſen drum herum. Auf den Grab-
ſtein ſchrieb ſie ihren Namen; dann weinte ſie
aufs Papier, und zerriß es wieder. Sieg-
warts Bildnis ſchwebte unter tauſenderley verſchie-
denen Vorſtellungen immer ihr vor Augen; der Ge-
danke an ihn miſchte ſich in ihre Andacht, und in
alles, was ſie vornahm. Oft betruͤbte ſie ſich dar-
uͤber, und machte ſich ein Gewiſſen draus, an ihn
zu denken. Sie wollte ihn vergeſſen; aber alles,
alles erinnerte ſie wieder an den theuren Juͤngling.
Jn dem Augenblick, da ſie Gott um Vergebung
bat, daß ſie noch ſo ſehr an der Welt haͤnge, und
ſo viel an Siegwart denke, in dem Augenblick ſtellte
ihr die Liebe ſein Bild wieder dar, und ſie hieng
ſich ihm in Gedanken an ſeinen Arm. Unter die-
ſen fortwaͤhrenden Kaͤmpfen, und der unaufhoͤrli-
chen Arbeit ihrer Seele zehrte ſich ihr Leben ab;
ihre Saͤfte vertrockneten, wie ein Quell in der
Sonnenhitze; ſie ward taͤglich ſchwaͤcher, und muß-
te oft auf ihrer Zelle bleiben. Oft ſchrieb ſie gan-
ze Stunden lang, muſte dann, wegen ihrer haͤufig
flieſſenden Thraͤnen aufhoͤren, und ſchloß das Pa-
pier ein. Alle Wochen ſprach ſie zweymal mit ih-
rer Mutter und andern Verwandten am Sprach-
gitter. Jhre Mutter ſuchte ſie mit Thraͤnen zu
bereden, wieder in die Welt zuruͤckzukehren, aber
alle Thraͤnen und Bitten halfen nichts. Endlich
ward ſie ganz bettlaͤgerig; Caͤcilia war beſtaͤndig
um ſie. Einſt, in einer ſchlafloſen Nacht, erzaͤhlte
ihr Sophie ihre ganze Geſchichte, und die Liebe zu
Siegwart. Aber, ſagte ſie, verſchleuß mein Ver-
trauen in dich, und nimms ins Grab mit! Belei-
dige deine todte Freundin nicht durch Untreue!
Sonſt koͤnnen wir uns im Himmel nicht mit Freu-
den entgegen gehn. Hier hab ich ein verſiegeltes
Packet an Siegwart. Gibs meiner Mutter, wenn
ich todt bin, daß ſies ihm einhaͤndige! Dank ihr
in meinem Namen tauſendmal fuͤr ihre Liebe, und
meinem Vater auch! Kuͤß ihre Hand, wie ich die
deinige kuͤſſe; eben ſo heiß und bruͤnſtig! Sag ihr,
daß ich gluͤcklich werde! Sie ſoll ſich nicht zu ſehr
betruͤben! Noch wenig Schritte — denn was ſind
Jahre in dieſem Leben anders? — ſo werden wir
uns widerſehn, und ohne Seufzer, ohne Thraͤnen
wiederſehn. — Auch du haſt groſſe Leiden, liebe
Schweſter! Trag ſie mit Geduld! Jhre Frucht
wird Freude ſeyn. Folg mir bald nach! — Caͤ-
cilia weinte; ſie erzaͤhlte Sophien auch ihre Ge-
ſchichte. Sie war traurig; ungluͤckliche Liebe war
ihr Jnhalt. Sophie weinte viel, legte ſich auf die
Seite; huͤllte ihr Geſicht ins Bett, ſchlummerte
ein, und wachte den andern Morgen kraftlos auf.
Jhre Stimme war gebrochen; man konnte ſie kaum
mehr verſtehen. Ein Kapuziner gab ihr die letzte
Oelung. Gegen Abend ward ſie noch einmal mun-
ter; betete eine halbe Stunde laut, und mit der
groͤſten Jnbrunſt; dann entgieng ihr die Sprache
wieder; ein paarmal ſah ſie Caͤcilien an, machte
einen Zug mit ihrem Finger auf das Bette, der ein
S, vermuthlich Siegwarts Namen, vorſtellte; dann
ſtarb ſie.
Caͤcilia gab den andern Tag ihrer troſtloſen
Mutter das Packet, auf welchem Siegwarts Na-
me ſtand. Er brach es mit Zittern auf. Es ent-
hielt eine Art von Tagebuch, das an ihn gerichtet
war. Einige Stuͤcke daraus wollen wir denen, die
es fuͤhlen koͤnnen, mittheilen. Erſt die Einleitung:
An den lieben frommen Siegwart.
Wenn das Grab mich deckt; wenn meine Seel’
in Gottes Hand iſt; wenn ich unter Engeln wand-
le, und der Leiden dieſer Zeit vergeſſe: dann, mein
Auserwaͤhlter, wirſt Du dieſe Blaͤtter leſen, und
weinen. Laß ſie Dir erzaͤhlen, was mein Herz ge-
litten hat, um deinetwillen, weils mein Mund nie
durfte! Wein’ in meine Leiden! Das Bild der
Thraͤnen, die Du mir vergieſſen wirſt, troͤſtet mich
in truͤben Stunden. — Betruͤb Dich nicht zu ſehr,
Juͤngling! und mach Dir keine Vorwuͤrfe! Nicht
Du bift die Urſache meines Jammers; mein zu
fuͤhlendes, zu weiches Herz iſts. Jch will Deinem
Auge keine Thraͤnen erpreſſen, als Thraͤnen des
Mitleids, und auch die ſollen ſuͤß ſeyn. Denk, daß
meine Leiden, wenn Du ſie erfaͤhrſt, voruͤber; daß
alle Thraͤnen, die die Liebe weinte, abgetrocknet ſind;
daß ich ausgerungen habe jeden Kampf, und geklei-
det bin ins glaͤnzende Gewand des Glaubens, und
geſchmuͤckt mit Siegerpalmen. O Du Theurer!
Weine nicht! Blick auf! Jch bin bey Gott, und
bey der hochgelobten Jungſrau. Sieh, ſie nennt
mich Schweſter und Tochter, weil ich ausgeduldet
habe meinen ſchweren Kampf; weil mein Mund
nicht murrte, da die Laſt mir ſchwer ward. Troͤ-
ſte Dich, mein Auserwaͤhlter! Jch will um Dich
ſeyn bey Deinen Thraͤnen, will Dir Ruhe herab-
liſpeln aus den Luͤften, wenn Dirs truͤbe wird im
Herzen; will im Traume Dir erſcheinen, und Dir
ſagen, daß ich nicht mehr leide.
Vergib mir, daß ich Dich geliebt habe! Gott
vergibt mirs auch. Jch kaͤmpfte lang, aber Du
biſt gar zu fromm und lieb. Waͤrſt Du wild und
leichtſinnig, wie die Jugend, ich haͤtte Dich nicht
geliebt; aber Du biſt gut, und fromm, und ſanft.
Mein Herz iſt keuſch, und rein, und kennt keine
wilde Flamme. Vergib, daß ich Dich geliebt habe!
Vergib, daß ich an Dich ſchreibe! Jch habe
lang gelitten, und meinen Mund nicht aufgethan.
Laß mich nach dem Tode zu Dir reden! — Gott
weis, daß ich Dich nicht kraͤnken wollte; wie koͤnnt
ich Dich kraͤnken, Du Geliebter? LisLies und lerne
Troſt aus meinem Schreiben! Lerne dulden, wie
einſt ich that, wenn das Ungluͤck einbricht! Lerne,
Gott Dich widmen, wie ich Jhm mich widme! Blick
auf zu den Sternen, und zu mir, wenn die Welt,
dir oͤd und ekel wird! Lern aus meinem Schick-
ſal, und du wirſt mich ſegnen.
Vom dritten May (als ſie Abends im Garten zu-
ſammen geweſen waren).
Jch liebe ſelbſt nicht; wuͤnſch auch nie zu lie-
ben! So haſt du ſelbſt geſagt, du Theurer, den
ich uͤber alles liebe. Faſſe dich, meine Seele! Er
liebt nicht, wuͤnſcht auch nie zu lieben. Alſo ſind
die Hofnungen geſunken, die die Liebe baute. Alſo
wirſt du nie geliebt werden, armes, liebekrankes
Herz! O ihr Heiligen, erbarmet euch mein, und
troͤſtet mich! Nicht geliebt werden, und lieben,
ach ſo heiß und innig lieben — iſt ein harter Kampf,
den ein armes ſchwaches Maͤdchen ohne Gott nicht
kaͤmpfen kann; Gott, du wirſt mich nicht verlaſ-
ſen! — Komm, Gedanke des Todes! Komm,
und kuͤſſe mich ſtatt ſeiner! Hauche mich kalt an,
daß ich hinſink und ſterbe! — Ach, du liebſt
mich nicht, Erwaͤhlter, und ich liebe dich doch uͤber
alles. — Singt mir ein Todtenlied, ihr Geſpie-
linnen der Jugend! Jhr Vertraute meiner Kin-
derjahre, kommt und haͤngt den Flor um, und
ſingt: Sie liebte, wurde nicht geliebt, und ſtarb. —
L l
Horch! das Kaͤuzlein ruft herab vom Kirchthurm!
Hu! ich zittre. — Schoͤn war der Abend, mein
Erwaͤhlter! Deine Floͤte klang ſuͤß, wie das Lied
der Liebe. Hell ſchien der Mond, aber traurig.
Ach, ich ſah ihn wohl, wie er hinter eine Wolke
trat und weinte. Aber du haſts nicht geſehen, wie
ich mit ihm weinte. Lieblich ſang die Nachtigall,
aber traurig. Jch hoͤrt es wohl, und dachte, der
arme Vogel liebt wie ich; aber, du Erwaͤhlter, dach-
teſt’s nicht. Wehmuͤtig warſt du, wie ein Lieben-
der, und liebteſt nicht. Thraͤnen floſſen dir vom
Aug, und Liebe hieß ſie nicht flieſſen. — Sagen
wollt ichs dir, daß ich dich liebe. Meine Stimme
zitterte und ward ein Seufzer. O ein Engel Got-
tes hielt das Wort zuruͤck, das dich betruͤbt, mich
nichts geholfen haͤtte, denn du liebſt nicht; wuͤn-
ſcheſt nie zu lieben. —
Jns Kloſter willſt du gehn, mein Auserwaͤhl-
ter, willſt ein Heiliger werden, und biſt ſchon ſo
heilig. Aber ich bins nicht; Liebe flammt in mei-
nem Herzen. Gott du weiſt es, fromme Liebe;
aber dennoch Liebe, und er liebt nicht. Nun ſo
will ich dann hingehn, wo mein Auserwaͤhlter hin-
geht! will vor Gott treten, und mich heiligen.
Nimm mich an um ſeinetwillen, weil er heilig iſt,
o Gott! Suͤſſer Troſt des Kloſters und der Ein-
ſamkeit! traͤufle herab in mein Herz; erfuͤll es
ganz! — O wie will ich ſitzen in der Einſamkeit
und weinen, bis der Tag kommt der Erloͤſung! —
Du biſt heilig; ich will heilig werden, daß ich dei-
ne Braut ſey, wenn der Tag kommt der Erloͤſung.
Jm Auguſt.
Lang hab ich dich ſchon nicht geſehen, mein Er-
waͤhlter, und doch biſt du ſchoͤn, wie die Liebe, und
mein Herz haͤngt feſt an dir, und ewig. Aber
ich will dulden in der Stille, und dich Gott nicht
rauben, dem du dienen willſt im Kloſter. Jm Him-
mel will ich deine Braut ſeyn, und mich heiligen
auf Erden. — Schoͤn biſt du, mein Geliebter;
bluͤhſt wie die Roſe, die am Morgen aufwacht im
Thau. Blaß bin ich, und welke, wie die Roſe,
die des Abends hin ſinkt in der Sonnenhitze, und
ihre Blaͤtter flattern aus einander, wenn der Sturm
kommt. Moͤcht’ er bald aufſtehn, und meinen
Staub zerſtreuen! Aber noch nicht ganz reif iſt
die Frucht; noch nicht gnug getroffen vom heiſſen
Stral der Liebe. —
Schoͤn biſt du, mein Braͤutigam! Deine Wan-
gen ſind roſenroth; blau dein Auge, wie der Mit-
tagshimmel; mild dein Laͤcheln, wie die Abendſon-
ne; golden ſind deine Locken, wie die goldbeſaͤum-
ten Wolken, wenn die Sonne ſinkt. Der du jezt
ſchon ſo lieblich biſt, wie wirſt du einſt geſchmuͤckt
ſeyn in den Tagen der Belohnung! Wie einher-
gehn unter Engeln und Gerechten!
Jch bin blaß geworden wie die Lilie des Gar-
tens, und mein Haupt ſenkt ſich zur Erde. Meine
Mutter weint und traurt: Ach meine Tochter, war-
um biſt du blaß geworden, wie die Lilie des Gar-
tens? Warum ſenket ſich dein Haupt zur Erden? —
Ach meine Mutter, laß mich ſchweigen, und mein
Leid nicht kund thun! Ach, ich kann nicht reden;
laß mich ſchweigen, Mutter! Bringt die welke
Blum’ in Schatten, daß ſie wieder aufleb in der
kuͤhlen Daͤmmerung des Kloſters! Warum willſt
du trauren, meine Tochter, in der Einſamkeit des
Kloſters? Warum ſoll ich einſam ſeyn mit deinem
Vater, und nicht bluͤhen ſehen deine Schoͤnheit,
daß ſich unſer Herz daran ergoͤtze!
Ach, mein Vater, meine Mutter trauren, und
ich darf nicht reden. Meine Schoͤnheit kann nicht
bluͤhen vor euren Augen. Seht ihr nie die Roſe,
wie ſie welkte, weil ein Wurm in ihrem Buſen
nagte? Meine Schoͤnheit kann nicht bluͤhn vor
euren Augen.
Jch will eine Braut des Himmels werden, und
flehen meinen Braͤutigam, daß er Ruhe ſende mei-
nem Vater, und dem Herzen meiner Mutter! Ger-
ne will ich leiden, wenn nur ſie getroͤſtet werden.
Aber, Mutter, ich kann nicht reden!
Jm September.
Geſegnet ſeyſt du, mein Erwaͤhlter, daß du heu-
te freundlich geſprochen haſt mit meiner Seele; daß
du wahrgenommen meine bleichen Wangen, und
geſeufzt haſt uͤber meine Blaͤſſe! O, wie war mir
ſo wohl, als ich an deiner Seite gieng im Garten,
als ich dacht’ ans Paradies, wo ich auch einſt mit
dir gehen, und dir ſagen werde, daß ich dein war
auf der Welt, und um deinetwillen duldete. Du
lobteſt mich, Geliebter, daß ich auch ins Kloſter
geh, wie du. Ach, dein Lob iſt mir ſo lieb, du
Auserwaͤhlter, und ich durft es dir nicht ſagen. Al-
les, alles will ich dir im Paradieſe ſagen. Dann
wird meine Stimme nicht mehr beben; meine
Wange nicht mehr gluͤhen. Meine Seele wird dir
ſagen, daß ſie dein iſt; daß ſie Gott zur Freundin
ſchuf, fuͤr dich.
Am 26ſten September.
Jch habe deinen Freund geſehn im Traume, den
beſcheidnen Kronhelm. Blaß war ſeine Wange,
gleich der meinigen, und truͤb ſein Auge. Er klagte,
daß ein Maͤdchen untreu ſey, daß er ſo heiß und
treu geliebt hat; daß ſie ſich durch Menſchen len-
ken laſſe, von ihm ab; daß ſie wanke von der Lie-
be, die ihm ſtark ſchien, wie der Tod. — Jſt
das moͤglich, mein Erwaͤhlter, daß man weiche
von der Liebe? Koͤnnt ich weichen von dir, du
mein Braͤutigam? — Alle Maͤdchen, ſagt’ er,
waͤren ſchwach und unbeſtaͤndig; waͤren allzubieg-
ſam; lieſſen ſich von jedem Winde lenken. Jſt das
wahr, mein Lieber? Sind die Maͤdchen ſo? Bin
ich nur allein treu bis ans Ende? — O ſo will
ich meine Schweſtern haſſen, wenn ſie falſch ſind;
wenn ſie den betriegen koͤnnen, der ihr Herz liebt. —
Als er klagte, ſtand ein Maͤdchen in der Ferne,
hatte Zuͤge faſt wie du, aber traurig wars, wie ich.
Und dieß Maͤdchen, das ſo gut ſchien, dir ſo aͤhn-
lich war, mein Theurer, koͤnnte falſch ſeyn? —
Sag ihr, daß ich treu ſey, ohne Hofnung!
Jm Anfang des Oktobers.
Bald werd ich hingehn ins Kloſter, eher noch
als du. Die hochgelobte Jungfrau hat mir zuge-
winkt, und einen Perlenkranz geflochten fuͤr mein
Haupt. Als ich durch die goldnen Pforten ein-
gieng, kamſt du, mein Erwaͤhlter, mir entgegen;
wareſt angethan mit einem glaͤnzenden Gewand. —
Hier iſt gut ſeyn, mein Erwaͤhlter, laß uns Lau-
ben flechten von den Lebensbaͤumen, und in ihrem
Schatten wohnen!
Meine Mutter weint; mein Vater klagt. Trock-
net eure Thraͤnen, ihr Geliebten! Denn ich wer-
de wohnen bey dem Mann, den meine Seele liebt;
werde mit ihm Huͤtten bauen, daß ihr wohnen
moͤget an der Seite eurer Kinder!
Am 25ſten Oktober. (als das Schuldrama auf-
gefuͤhrt worden)
Meine Seele dankt dir, o du Heiliger und Aus-
erwaͤhlter, daß du mich verachten lehrteſt dieſe Welt
mit ihren Freuden! Eine Braut des Himmels will
ich werden, wie du wirſt ein Braͤutigam des Him-
mels. Ach, wie haſt du heut mein Herz erſchuͤt-
tert, als du da ſtandſt in aller deiner Lieblichkeit;
als die Welt dich feſſeln wollte; als die Mutter
weinte, und dir zeigte alle Reize dieſes Lebens;
als Hilaria dich binden wollte mit dem Band der
Liebe — wie du da, du mehr als Thomas, nie-
derſahſt mit hohem Aug auf alle goldne Feſſeln;
wie du blickteſt nach dem Palmenzweig im Him-
mel; ihn ergriffeſt mit entſchloſſener Hand! durch
alle Reizungen hinweggiengſt nach dem Sitz des
Friedens und der Ruhe!
Oefne dich, o Zelle, daß ich eingeh, wie mein
Auserwaͤhlter, an den Ort der Stille, wo gerei-
nigt wird das Herz, und geheiliget zur Braut des
Himmels! Folg mir nach, o Bild des Auser-
waͤhlten, den ich bald zum letztenmal erblicke, bis
wir uns begegnen in den Thaͤlern Edens! — Hei-
liger Thomas, deſſen Bild mein Auserwaͤhlter iſt,
bald erblick ich dich mit ihm, und ſinge Siegeslie-
der! — Wenig Tage noch, mein Braͤutigam, ſo
wirſt du meinem Aug entriſſen, denn die Zelle hat
ſich aufgethan; aber meine Seele ſoll dich ſehen,
bis ich lieg’ und ſchlaf im Grabe.
Am 12ten November. (als ſie ins Kloſter ge-
treten war.)
Jch bin eingegangen in den Ort der Ruhe; aber
noch iſt keine Ruh in meinem Herzen. Geſtern
hab ich dich zum letztenmal geſehn, mein Braͤuti-
gam! Ach, zum letztenmal! Schoͤner warſt du
mir, als jemals, weil du traurig warſt und wein-
teſt. — Heilig iſt der Ort, den ich bewohne.
Heilig ſoll mein Herz ſeyn, und entfernt vom Jrr-
diſchen. Aber ſollt ich dein nicht mehr gedenken,
du Erwaͤhlter? Du biſt heilig, wie ein Tempel
Gottes; ich gedenke deiner. — Still und oͤd iſts
um mich her; meine Schweſtern ſchlafen, aber mei-
ne Seele wacht noch, und beſpricht ſich mit der
deinigen. Moͤchteſt du zuweilen noch der Abge-
ſchiedenen gedenken, die ſo heiß und heilig dich ge-
liebt hat! Aber in dein Herz drang nie der Stral
der Liebe; mich allein hat er entzuͤndet, daß ich
brenne ſonder Nahrung.
Jch murre nicht, Geliebter! Wohl dir, daß
du Ruhe haſt im Herzen, und den Sturm der
Leidenſchaft nicht hoͤreſt! Doppelt wuͤrd ich lei-
den, wenn auch deine Seele litte. Geh im Frie-
den ein in deine Zelle! Schlummre ſanft, wie ich
einſt ſchlummern konnte, eh ich dich erblickte!
Wandle ruhig auf dem Pfad des Lebens, bis am
Ziel du biſt, wo das Maͤdchen wartet, das gedul-
det hat bis an ihr Ende!
Am 30ſten November.
Meine Kraft nimmt ab; mein Leben welkt da-
hin; aber meine Liebe gruͤnt und waͤchſt. Ewig
iſt ſie, wie das ewige Licht, das in der Lampe
brennt im Chor. Der Hauch des Todes wird ſie
nicht ausloͤſchen, oder meine Seele ſtuͤrbe mit.
Wenn die Glocke mich erweckt zum Beten, ſo
iſts, als ob mir deine Stimme rufte, du Erwaͤhl-
ter. Du befeuerſt meine Andacht, und hebſt hoch
mein Herz. — Oft zittert meine Seele, daß ſie
dich erblickt am Altar, wenn ſie betet; aber du biſt
ja heilig, und darfſt wohl vor Gott erſcheinen. —
Meine Schweſtern fragen mich, warum ich blaß
ſey? Sie bedauren mich, und weinen, daß ich
nahe ſey dem Grabe. O, ſie wiſſen nicht, wie ſuͤß
das Grab iſt; und ſehn doch ſo blaß aus; oder gibts
noch andre Leiden, als den Schmerz troſtloſer
Liebe?
Am erſten Jenner.
Jhr fangt in der Welt ein nenes Jahr an.
Das alte gab mir Thraͤnen; wird das neue mir
den Tod geben? Ja, ich hoff ihn, Lieber; denn
mein Auge wird truͤb und matt; meine Kraͤfte
ſchwinden, daß ich kaum mehr gehen kann ins
Chor, fuͤr dich zu beten, und fuͤr mich. Meine
Hand zittert, wenn ich an dich ſchreibe; meine
Thraͤnen ſind vertrocknet. — Sey mir willkom-
men, Jahr des Friedens und des Todes! Sende
Segen meinem Braͤutigam, daß er Freuden ernd-
te an jedem deiner Tage! O du Lieber, Auser-
waͤhlter, warum bin ich heut ſo traurig, da ich
doch den Tod erwarte, meinen Freund?
Jm Februar. (zween Tage vor ihrem Tode.)
Endlich, endlich! Lieber, Theurer, auserwaͤhl-
ter Braͤutigam, o du, den meine Seele liebet, wie
iſt mir ſo wohl! Der Tod, mein Freund, mein
Retter, der einſt dir mich wieder geben ſoll, iſt
vor der Thuͤr, und hat ſchon angeklopft. Jch fuͤhls,
in wenig Tagen werd ich ſchlummern in der Gruft
der Todten. — Leb wohl du Theurer! Ach, nun
wird mirs ſchwer, die Welt zu laſſen, welche du
bewohnſt! — Aber deine Huͤtte wird einſt ſin-
ken, und du wirſt hinuͤbergehen in die Wohnung
der Gerechten, wo ich dich erwarte im Gewand des
Lichts. — Verſchweig, ich beſchwoͤre dich bey
Gott, zu dem ich uͤbergehe, verſchweig meine Zaͤrt-
lichkeit, und alles, was ich dir geſchrieben habe!
Jch ſchaͤme mich nicht meiner Liebe; aber meine
Mutter und mein Vater wuͤrden noch mehr trau-
ren, wenn ſies wuͤſten, und dir minder gut ſeyn. —
Ach, du Theurer, nimm den letzten, letzten Se-
gen, den mein Herz dir gibt! Lebe fromm, und
folg mir bald nach! — Mein Herz hat dich rein
geliebt, und keuſch; ich kann ruhig ſterben, denn
ich ſeh dich bald, und weine nicht mehr. — Mei-
ne Hand wird matt … ich kann nicht mehr
ſchreiben. …
Leb wohl, komm bald! … ich
erwarte dich … Bin deine Braut
Sophie.
Siegwart blieb einen halben Tag eingeſchloſſen,
um das Tagebuch, von dem dieſes nur einige ab-
gerißne Stuͤcke ſind, zu leſen. Er las es mit un-
unterbrochner Ruͤhrung durch, und hoͤrte faſt nie-
mals auf zu weinen. Nun klaͤrte ſich ihm auf Ein-
mal ſo vieles auf, was ihm in Sophiens Betra-
gen ſo ſonderbar und unbegreiflich vorgekommen
war, denn er dachte zu beſcheiden von ſich ſelbſt,
als daß er Liebe gegen ihn fuͤr die Urſache davon
haͤtte halten ſollen. Anfangs machte ihm ſein zar-
tes Herz Vorwuͤrfe, daß ſie ſeinetwillen ſo viel aus-
geſtanden hatte; als er aber uͤber ſein Betragen
nachdachte, fand er nichts, daß er ſich vorzuwer-
fen haͤtte, und beruhigte ſich von dieſer Seite. Doch
beſchaͤftigte ſich ſeine Seele lange mit den traurig-
ſten Gedanken. Das Bild der leidenden Sophie
begleitete ihn aller Orten hin, und erſchien ihm
manche Nacht im Traum. Er bekam aufs neue
die ſtaͤrkſte Abneigung vor der Liebe, die ſo vieles
Ungluͤck auf der Welt anrichtet. Er vermied ſorg-
faͤltig, viel in Gruͤnbachs Haus zu gehen, weil
ihn da alles, beſonders die ſchwarze Kleidung ih-
rer Eltern, zu lebhaft an Sophien erinnerte. Die
Mutter wollte wiſſen, was das Packet ihrer Toch-
ter an ihn enthalten habe? Er kam uͤber die Fra-
ge in Verlegenheit, und ſagte: Es ſeyen ein paar
Buͤcher drinn geweſen, die er Sophien geliehen
habe.
Seine meiſte Zeit brachte er nun in der Einſamkeit
auf ſeinem Zimmer, oder bey P. Philipp zu, mit
dem er aber ſo wenig, als moͤglich, von Sophien
ſprach. Kronhelm ſchrieb ihm fleißig, aber trau-
rig, und erwartete mit aller Sehnſucht ſeine An-
kunft in Jngolſtadt. Thereſe und ſein Vater ſchrie-
ben ihm auch, daß er auf Oſtern dahin abreiſen
koͤnne, welches ihm ſehr lieb war, da ihm die
Einſamkeit immer trauriger und unertraͤglicher
wurde.
Acht Tage vor Oſtern bekam er von ſeinem Va-
ter einen Wechſel, Reiſegeld, und einen Brief an
den Hofrath Fiſcher in Jngolſtadt, dem er, als
ſeinem alten Freunde, ſeinen Sohn empfahl. Sieg-
wart brachte ſeine Sachen in Ordnung, um gleich
nach Oſtern abgehen zu koͤnnen. Er ſchrieb auch
ſeinem Kronhelm, daß er ihm, wo moͤglich, ein
paar Stunden weit entgegen kommen moͤchte. Der
Abſchied wurd ihm blos um des P. Philipps,
und einigermaſſen um der Gruͤnbachiſchen Fami-
lie willen ſchwer. Ein paar Tage vor der Reiſe
gieng er noch in das Nonnenkloſter, wo Sophie
geſtorben war. Er beſuchte ihr Grab, und weihte
dem Andenken des ungluͤcklichen Maͤdchens ſeine
Zaͤhren. Leb wohl, theurer Staub, ſagte er bey
ſich, beym Weggehn! Leb wohl, Ueberreſt So-
phiens! Jhr Beyſpiel ſoll mich dulden lehren,
wenn ich leiden muß. Jch will dir treu ſeyn,
und dein Braͤutigam im Himmel werden. Hier-
auf gieng er nach Haus, und las ihr Tagebuch
wieder mit zwiefacher Ruͤhrung durch. Den an-
dern Tag nahm er von ihren Eltern, und von
ihrem Bruder Abſchied. Sein Herz ward ſehr
bewegt, und er muſte eilen, um die armen El-
tern nicht zu weich zu machen. Der junge Gruͤn-
bach verſprach ihm, in einem Jahr nach Jngol-
ſtadt nachzukommen.
Den lezten Abend brachte er bey ſeinem lieben
P. Philipp zu. Dieſer theilte ihm noch viel gu-
te Lehren mit, und zeigte ihm alle die Behutſam-
keit, die ein Neuling auf einer hohen Schule zu
beobachten hat, wo Verfuͤhrung, Reizung und
Betruͤgereyen ſo gewoͤhnlich ſind. Wegen Kron-
helms ſagte er ihm auch verſchiedenes, wie er glaub-
te, daß ſein krankes Herz am beſten geheilt wer-
den koͤnnte. Er rieth ihm, ihn ſo viel als moͤg-
lich zu zerſtreuen; Thereſens Briefe vor ihm ge-
heim zu halten, und wenig, oder nichts mit ihm
von ihr zu ſprechen! Er wird mir doch zuweilen
Nachricht von ſich geben, und mich nicht ganz
vergeſſen? ſagte er. Ach Gott! Wie koͤnnt ich
Sie vergeſſen? antwortete Siegwart, und wein-
te. Wenn ich Jhnen nur ſchreiben darf, ich
werds gewiß oft thun. Jhnen hab ich ja alles
zu verdanken. — Nichts zu verdanken, lieber
Xaver! Was ich that, geſchah aus willigem und
gutem Herzen; weil ich wuſte, daß es bey ihm
wohl angewendet iſt. Siegwart wollte ihm hier
die Hand kuͤſſen, aber P. Philipp gab ihm einen
Kuß auf den Mund. — Da will ich ihm ein
kleines Andenken auf den Weg geben, ſagte er,
und gab ihm die Berliner Ausgabe vom Virgil.
Siegwart wuſte nicht, was er vor Ruͤhrung und
Dankbarkeit ſagen ſollte? Vorn hatte P. Philipp
ſeinen Namen eingeſchrieben. Der Famulus
brachte unſerm Siegwart ein ſehr guͤnſtiges Teſti-
monium, das alle ſeine Lehrer unterſchrieben hat-
ten. Als ers las, gingen ihm die Augen uͤber.
Das iſt zu viel! ſagte er. Nein, mein Lieber!
antwortete P. Philipp; er verdients; er hat ſich
brav gehalten; bleib er ferner brav, ſo wird ihms
wohl gehen. Als es zehn Uhr ſchlug, ſtund Sieg-
wart auf, ohne ein Wort zu ſagen; gieng ans
Fenſter, und weinte, und ſagte endlich: ja, nun
muß ich gehen. Weiter ließ ihn der Schmerz nicht
reden. Philipp gab ihm ſeinen Segen, kuͤßte
ihn, und ſie ſchieden.
Siegwart weinte auf ſeinem Zimmer noch ei-
ne Stunde lang. Den Virgil packte er nicht ins
Koffre, ſondern ſteckte ihn zu ſich. Das Ge-
ſchenk war ihm gar zu lieb. Endlich, als er ſich
ganz muͤde geweint hatte, warf er ſich aufs Bette,
um noch einige Stunden zu ſchlafen.
Des Morgens um halb ſechs Uhr kam der Thor-
wart, um ihn aufzuwecken. Der Mann war
ſehr geſchaͤftig, ihm das noch uͤbrige einpacken zu
helfen. Als Siegwart eben gehen wollte, ſtand
er in einer Ecke des Zimmers, ſah zur Erde hin,
und auf Einmal ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen aus
den Augen. Er druͤckte unſerm Siegwart die
Hand mit der groͤſten Treuherzigkeit, und kuͤſte
ſie. Ja, Sie ſind ſo gar ein braver Herr, ſagte
er, und es geht mir recht nah, daß Sie fortreiſen.
Es muß Jhnen gewiß wohl gehen! Siegwart war
daruͤber ſehr geruͤhrt, gab ihm noch ein Trinkgeld;
der Mann wollte es nicht nehmen. Sie haben
mir ſchon ſo viel Guts gethan, und Sie brauchens
jezt auf Jhrer Reiſe, ſagte er in ſeiner Einfalt.
Siegwart legte das Geld aufs Geſimſe, und gieng
mit ſchwerem Herzen weg.
Nach ſieben Uhr gieng der Poſtwagen ab. Die
Reiſenden waren ein junger baierſcher Offizier,
ein Jude, und der Kondukteur, ein dicker, ſtar-
ker Mann, dem ſeine grobe baieriſche Ausſprache
recht drollicht ließ. Siegwart war die erſte Stun-
de ganz betaͤubt. Er dachte an den P. Philipp,
und an alles, was er ihm, und dem ganzen Klo-
M m
ſter zu verdanken hatte. Der Offizier, und der
Kondukteur fiengen an, den armen Juden auf alle
Art zu necken. Keine halbe Stunde durfte er auf
ſeiner Stelle ſitzen bleiben. Bald fiels dem Offizier
ein, vorwaͤrts, bald wieder ruͤckwaͤrts zu fahren.
Der Jude ließ ſich alles gefallen, und ſetzte ſich
ſtillſchweigend hin, wohin mans wollte. Endlich
fiel dem Kondukteur ein, daß er ein wildes Schwein
auf dem Wagen habe. Er ſagte dem Juden, er
ſoll ſich weiter hinten hin im Poſtwagen ſetzen. Der
Jude thats. Hierauf fieng der Kondukteur mit
dem Offizier ein lautes Gelaͤchter an. Mauſchel,
Mauſchel, haſt du Geluſt zu Schweinefleiſch?
Seht mir doch, da ſetzt er ſich neben die Bache
hin! Jndem zog der Kondukteur die Decke weg,
unter der das Schwein lag. Der Jude ſprang
mit groſſem Geſchrey aus dem Poſtwagen: O weh,
o weh! Jch bin verunreinigt! Bin ein armer
Mann! Unſerm Siegwart that das in der Seele
weh. Man ſollt’ ihn doch in Ruhe laſſen! ſagte
er, und wurde feuerroth im Geſicht, weil er noch
ziemlich erſchreckt war. Ey was! junger Herr,
ſagte der Offizier. Er verſteht das nicht! Das
iſt Poſtwagenrecht. Siegwart ſchwieg, weil er
das grimmige Geſicht des Offiziers fuͤr Tapferkeit
hielt. Der Jude war nicht mehr zu bewegen, in
die Kutſche zu ſitzen. Er ſetzte ſich von auſſen hin,
ungeachtet es heftig regnete. Auf der Station aß
der Jude nichts als trockenes ungeſaͤuertes Brod,
das er bey ſich hatte, weil der Jude nichts
von Chriſten Zubereitetes genieſſen darf. Sieg-
wart bedaurte recht von Herzen das Schickſal die-
ſer armen Leute, und ſah den Juden oft mitleidig
von der Seite an, der zuweilen bey ſich ſelbſt
ſeufzte. Der Offizier, mit dem Siegwart aß,
ſprach ihm immer zu, brav zu trinken, vermuth-
lich in der Abſicht, ihn betrunken zu machen; aber
unſer Xaver nahm ſich ſehr vor ihm in Acht.
Eh der Poſtwagen abgieng, kam ein Amtmann
mit ſeinem Sohn, und der ganzen Familie, die
den jungen Herrn begleitete, der auch auf die Uni-
verſitaͤt nach Jngolſtadt gehen ſollte. Die
Mutter, und zwo Schweſtern ſtanden unaufhoͤrlich
um den jungen Menſchen herum, und weinten,
als ob ſie auf ewig von einander Abſchied nehmen
ſollten. Sie ſteckten ihm die Taſchen voll mit Le-
kerbißchen, und Arzneyglaͤſern. Der Amtmann,
der gehoͤrt hatte, daß Siegwart auch nach Jngol-
ſtadt gehe, ſetzte ſich zu ihm; ließ eine Bouteille
Burgunder kommen; trank tapfer drauf los, ſetz-
te unſerm Siegwart auch brav zu, und empfahl ihm
ſeinen Sohn mit tauſend Fluͤchen und Betheurun-
gen, daß er ein rechtſchaffener Kerl werden muͤſſe,
weil er ſchon dreyhundert Gulden an ihn gewen-
det habe. Mitmachen darf mein Kaſpar alles!
ſagte er. Es will mir gar nicht eingehn, daß
meine Amtmaͤnnin ſo ein Ammenſoͤhnchen aus
ihm ziehen will. Sakrebleu! ich hab ihm einen
Degen angeſchafft, mit dem er ſich herum hauen kann,
daß es eine Luſt iſt. Er ſoll mir kein Hundsfott
werden! Eine Schramme im Geſicht mehr oder
weniger! Mit Maͤdels mag ers auch zu thun
haben! Nur vor liederlichen Nickeln ſoll er ſich in
Acht nehmen! Da koͤmmt nichts Gutes hinterher.
He! Kaſpar! was greinſt wieder, wie eine alte
Hure? Komm her! trink! Vivat die Univerſitaͤt!
Jch ſag dirs; werd mir ein braver Kerl!
Laß dir keinen zu nah kommen! Oder ſtich ihn
nieder! Hoͤr ich einen ſchlechten Streich von dir;
ſo ſollſt du deine liebe Noth haben. Da, das iſt
ein rechter Herr, (auf Siegwart deutend) der
ſticht jeden uͤbern Haufen, der ihm auf die Zaͤhne
fuͤhlen will. Siehſt, was er fuͤr einen Schlaͤger
an hat? Der hat gewiß ſchon Blut geſehen. Nicht
wahr, Herr? Siegwart ſagte, daß er ihn erſt vor
zwey Tagen neu gekauft habe. — Ja, ja, ſo ſagt
man! antwortete der Amtmann; indem bließ der
Poſtillion zum Abfahren. Die Amtmaͤnnin er-
ſchrack, ward todtblaß, und eilte mit ihren Toͤch-
tern herzu, ihrem Knaben Filzſchuhe, ein dickes
Halstuch, und einen Ueberrock anzulegen. Der
Amtmann trank hurtig ſeine Bouteille aus, und
ſprang mit den uͤbrigen an den Wagen. Die
Amtmaͤnnin herzte und druͤckte ihren Sohn; hub
ihn in den Wagen, fieng ein groſſes Geheul an,
und wollte den Schlag, der ſchon zu war, wieder
aufreiſſen, um ihren Sohn noch einmal zu umar-
men. — Fahr zu, Schwager! ſchrie der Amt-
mann, und ſchlug mit ſeinem Stock auf die Pfer-
de zu. Der Wagen fuhr fort.
Siegwart ſaß bey dem Officier. Jhm gegen-
uͤber der junge Kaſpar, neben dem Juden. Er
weinte wie ein Kind, und wollte immer aus dem
Schlag gucken, um ſeine Mutter noch einmal zu
ſehen; aber der Wagen gieng zu ſchnell, und
ſchmiß ihn immer wieder zuruͤck, wenn er auf-
ſtehen wollte. Der Jude, der die Geſchwaͤtzigkeit
mit ſeiner ganzen Nation im hohen Grad gemein
hatte, plauderte beſtaͤndig mit dem jungen Kaſpar;
erzaͤhlte ihm alle ſeine Familienumſtaͤnde, daß er ei-
nen Sohn habe, der ſo alt ſey, wie er; daß ihm
ſeine Rebekka vor zwey Jahren geſtorben ſey u. ſ. w.
Seine Neugierde wollte aus Kaſpar eine gleiche
Vertraulichkeit herauslocken; aber dieſer ſagte immer
nur: So! und Ja, und Nein. Der Offizier und
der Kondukteur ſpotteten beſtaͤndig uͤber den Ju-
den, fragten ihn verſchiedenes; und wenn er zu
erzaͤhlen anfieng, lachten ſie uͤber ihn. Der Offi-
zier rief alle Maͤdchen an, die den Wagen vorbey
giengen, und rief ihnen Zoten zu. Wenn ein
Bettler an den Wagen kam, ſo ſtellte er ſich, als
ob er etwas Muͤnze herauswuͤrfe; die armen Leu-
te ſuchten lang umſonſt im Koth herum, und der
Offizier lachte recht aus vollem Halſe uͤber ſeinen,
wie er glaubte, gluͤcklichen Einfall. Als ſie auf
die naͤchſte Station kamen, und den Poſtillion be-
zahlen ſollten, kannte Kaſpar keine Muͤnze, und
wollte dem Schwager ſtatt ſechs Kreuzern einen
Sechsbaͤzner geben. Siegwart nahm ſich ſeiner
an, und zahlte fuͤr ihn aus, ſonſt waͤr er in kurzer
Zeit um all ſein Geld gekommen. Nun ſetzte ſich
auch ein junges Maͤdchen von Donauwerth in den
Poſtwagen, an das ſich der Offizier ſogleich mach-
te. Er brachte ſo grobe Zoten und Zweydeutigkei-
ten vor, daß Siegwart die Augen zuthat, als ob
er ſchliefe, ſo aͤrgerlich war ihm das Geſchwaͤtz.
Er wurde durch ein groſſes Geplapper aufgeweckt,
indem eine Wallfahrt, die ein halbes Dorf ausmach-
te, und nach Koͤniginbild im Burgauiſchen gieng,
am Wagen vorbey kam. Der Offizier rief ihnen
zu: Sie moͤchten doch auch fuͤr ihn beten! denn
er ſey ein groſſer Suͤnder. Hieruͤber ſchlug er ein
lautes Gelaͤchter auf. Gegen Abend wurde der
Jude, der ſein Abendgebeth verrichten wollte, von
dem Offizier unaufhoͤrlich ſo geneckt, daß er ſich end-
lich, ungeachtet des aͤrgſten Regens, aus dem
Wagen hinausſetzte, und die ganze Nacht da ſitzen
blieb. — Jn Donauwerth giengen alle vom
Poſtwagen ab, ausgenommen der junge Kaspar
und der Kondukteur. Dagegen traten drey Stu-
denten von Jngolſtadt ein, die auf der Vakanz ge-
weſen waren. Sie ſprachen mehrentheils lateiniſch,
und Siegwart miſchte ſich in ihr Geſpraͤch. Kas-
par aber konnte mit dem Lateiniſchen nicht fort-
kommen. Er beklagte ſich ſehr uͤber die Kaͤlte, un-
geachtet die Witterung ziemlich gelinde war; zog
ſeine Leckerbißchen hervor, und zehrte eins nach dem
andern auf. Sie fuhren auf eine Anhoͤhe, und
ſahn unten eine Ueberſchwemmung, die die Do-
nau machte. Es ſah traurig aus. Die Felder la-
gen unter Waſſer; nur zuweilen ragte eine Anhoͤ-
he, oder ein Geſtraͤuch hervor. Tannen und Ei-
chen hiengen halb ausgewurzelt uͤber’s Waſſer.
Oben, wo ſie fuhren, ſtand ein gutgeſatteltes Pferd,
ohne Reuter, das der Poſtillion mitnahm. Gan-
ze Doͤrfer waren vom Waſſer, das wild und laut
unten hinrauſchte, umzingelt. Halbe Scheunen
und Haͤuſer, oder losgeriſſene Balken nahm die
Flut mit fort. Die Bauren ſtanden, zum Theil
nur halb gekleidet, mit Weib und Kindern, und
ihrem Vieh auf der Hoͤhe; ſahen ſtillſchweigend
ins Thal hinab; oder ſtreckten die Haͤnde aus, und
fiengen ein lautes Wehklagen an, wenn ihre Huͤt-
ten einſtuͤrzten. Siegwart uͤberſah die Scene mit
Thraͤnen; einer von den Studenten kramte witzi-
ge Einfaͤlle aus. Auf Einmal ward er blaß, und
ſchwieg. Es erhub ſich ein groſſes Geſchrey. Der
Wagen, der ſich bisher immer auf der Hoͤhe gehal-
ten hatte, muſte nach dem Dorf, wo die Station
war, ins Thal hinabfahren. Du kannſt hier nicht
durch, riefen alle Bauren dem Poſtillion zu. Jch
muß durch! ſagte dieſer, und peitſchte auf die Pfer-
de los. Ploͤtzlich blieb der Wagen ſtecken, und das
Waſſer ſtroͤmte wild drum herum. Zween Bau-
ren ſprangen, ungeachtet ſie, wegen des Feyertags,
gut gekleidet waren, ins Waſſer, und huben die
Raͤder in die Hoͤhe, daß der Wagen wieder fort
konnte. Drauſſen rief ein altes Weib ihrem Sohn
aͤngſtlich zu, der faſt unter’s Rad kam, als es ſich
zu drehen anfieng. Der Poſtillion fluchte, und
lachte die Bauren aus, als er aus dem Waſſer
heraus war. Siegwart warf ihnen zween Drey-
baͤzner zu. —
Herr Gott! Das iſt unſers Herrn Gaul! rief
eine Magd; und gleich drauf ſprang die Verwal-
terin aus ihrem Haus heraus, und rief: halt,
Schwager, halt! Wo iſt mein Mann? Das
iſt ſein Schimmel. Schwager, Schwager, ſag
um Gottes willen, wo er iſt? Das weis ich nicht,
ſagte der Poſtillion ganz kalt. Da habt ihr den
Gaul, wenn er euer iſt. Jndem ließ er das Pferd
gehen, das ſogleich ſeinem Stall zulief. Die Ver-
walterin lief dem Wagen nach ins Poſthaus; zwey
Kinder ſprangen heulend hintennach. Sie wand-
te ſich an Siegwart, um zu fragen, wo ihr Mann
ſey? Auf ſeine Antwort: Daß ſie das Pferd,
zwo Stunden vor dem Dorf drauſſen, ohne Reu-
ter angetroffen haben, fiel ſie in eine Ohnmacht,
und ward in ihr Haus getragen. — Nach zwey
Stunden fuhr der Wagen weiter, nachdem die
Reiſenden erſt verſichert worden waren, daß ſie
von der Ueberſchwemmung nichts mehr zu befuͤrch-
ten haͤtten, weil man immer auf der Hoͤhe fah-
ren koͤnne. Als die drey Studenten drauf von Jngol-
ſtadt ſprachen, ward Siegwart ſehr aufmerkſam. Sie
muſterten die Jngolſtadter Maͤdchen. Die Korn-
feldin iſt eben ein fideles Menſch, ſagte der Eine,
mit der man einen wahren Jokus haben kann.
Sapperluft, ſie ſieht ſo friſch aus, wie ein Bor-
ſtorferapfel, und das Beſt’ iſt, daß ſie einem nichts
uͤbel nimmt. Weiſt du, Kirner, wie wir letzt bey
ihr waren, als wir die Muſikanten hatten? Narr,
warum wirſt roth druͤber? Man ſieht dir noch
recht den Fuchs an; darfſt dich ja nicht ſchaͤmen;
Man weis wohl. — Auf dem Billard gehts auch
noch an; die Franzel macht noch wohl ſo was mit;
aber um das andre Geſchmeiß geb ich all zuſam-
men keinen Heller! — Was verziehſt das Maul
ſo, Gutfried? ſteckt dir wieder deine Fiſcherin im
Kopf, der Zieraffe? — Jhr moͤcht ſagen, was ihr
wollt, antwortete Gutfried; die Fiſcherin iſt ein
trefliches Frauenzimmer; aber ſie iſt euch zu gut;
ihr wollt nur leichte Waare, wo man wenig Um-
ſtaͤnde machen darf. — Das iſts eben, ſagte Bo-
ling; die Fiſcherin iſt ein ſtolzes Menſch, die ſo
juͤngferlich thut, als ob ſie nicht fuͤnfe zaͤhlen koͤnn-
te, und einen ehrlichen Kerl uͤber die Achſel an-
ſieht. Schoͤn iſt ſie, das kann man ihr nicht neh-
men; aber eben deswegen ſollte ſie mehr mit unſer
einem umgehn. Narr! ſie hat doch auch Fleiſch und
Blut! Aber du ſiehſt ſie immer als einen Engel
an. Wenn ein Maͤdel nicht mit Studenten um-
geht, ſo wird ihr Lebetag nichts rechts aus ihr! —
Schoͤne Moral! ſagte Gutfried. — Moral hin,
Moral her! verſetzte Kirner, um der Moral wil-
len bin ich nicht nach Jngolſtadt gegangen. Das
kanſt du doch nicht leugnen, Gutfried, daß die
Fiſcherin mit all ihrem glatten runden Geſicht ein
dummes, hoffaͤrtiges Ding iſt! Jch wollte letzt-
hin mit ihr im Schlitten fahren; da zog ſie die
Naſe in die Hoͤhe, und ſagte, ſie muͤſſ’ es ſich ver-
bitten. — Verbitt du den Henker und ſeine Groß-
mutter! Gelt, wenn der feine Herr von Kronhelm
kommt, da reicht ſie gleich ihr Pfoͤtchen her, weil
er eine goldbeſchlagene Jack’ an hat. Das ſind
mir die rechten Menſcher! Jch bekuͤmmre mich
viel um ihre feine Haut.
Das Maͤdel lob ich mir allein,
Das Leib und Seele kann erfreun:
Dem Tag und Nacht zu jeder Friſt
Der Purſche fein willkommen iſt!
Als die beyden Herren ausgeſungen hatten —
denn Gutfried ſang nicht mit — ſo fragte Sieg-
wart, ob ſie den Herrn von Kronhelm kennen?
O ja! ſagte Boling, er hoͤrt mit mir das Ius Ca-
nonicum. Es iſt ein trocknes eingebildetes Buͤrſch-
chen, das immer ausſieht, als obs weinen wollte.
Der Kerl iſt mir recht fatal, weil er immer allein
auf der Stube ſitzt, und ſich viel zu gut duͤnkt,
mit andern ehrlichen Kerls umzugehen. — Er iſt
doch ſehr artig in Geſellſchaft, ſagte Gutfried; ich
hab ihn ein paarmal im Konzert beym Hofrath
Fiſcher geſprochen. Er iſt nichts weniger als ſtolz.
Ein Bißchen ſchwermuͤthig ſcheint er wol zu ſeyn.
Es muß ihm etwas fehlen. Sonſt aber iſt er ſehr
artig, und hat viele Lebensart. — Er iſt mein
vertrauter Freund, ſagte Siegwart zu Gutfried;
ich habe zwey Jahre auf der Schule mit ihm zu-
ſammen gelebt; wir wurden Ein Herz und Eine
Seele. Jch glaube, daß er mir entgegen kom-
men wird. — Das ſoll mir lieb ſeyn, antworte-
te Gutfried; ich habe ſchon laͤngſt gewuͤnſcht, ge-
nauer mit ihm bekannt zu werden; aber es wollte
ſich nicht ſchicken: vielleicht geſchiehts jetzt. Ein
paar Buͤcher hab ich durch die dritte Hand von ihm
zu leſen bekommen, die ſehr ſchoͤn waren. Das
Eine hieß der Meſſias, und im andern ſtund ein
groſſes Gedicht, der Fruͤhling. — O, die kenn ich
wohl, die hab ich ſelbſt auch, ſagte Siegwart. Sie
leſen wol gern ſolche Buͤcher, mein Herr Gutfried?
Auſſerordentlich gern! antwortete dieſer; wenn
man nur in Jngolſtadt dergleichen auch bekommen
koͤnnte! — Die beyden Juͤnglinge fiengen nun ein
vertrauteres Geſpraͤch uͤber dieſe Materie an; denn
nichts macht vertrauter, als die gemeinſchaftliche
Liebe zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften. Sie beſchaͤf-
tigt ſich mit der Empfindung, und da begegnet
man ſich alle Augenblick auf Einem Wege. — Da
hat er nun einmal den rechten Mann gefunden,
ſagte Boling zu Kirner, vor dem er ſein Herz
ausſchuͤtten kann. Wir muͤſſen immer hoͤren, daß
wir von nichts, als Studentenmaͤhrchen reden koͤn-
nen. — Es iſt auch wahr, fiel ihm Gutfried ein,
ihr bekuͤmmert euch um nichts, was geſchrieben
wird. — Um Vergebung! ſagte Boling; wir le-
ſen doch den Triller und den Guͤnther. Das iſt
wol ein herrlich Lied im Guͤnther: Jhr Schoͤnen
hoͤret an ꝛc.
Jndem kam ein Kapuziner an den Poſtwagen,
und bat den Schwager, ihn doch einzunehmen,
weil er ſehr ermuͤdet, und von der langen Reiſe
halb krank ſey. Meinetwegen wol, ſagte der Poſt-
knecht, wenns die Herren da zufrieden ſind. So-
gleich machte Siegwart den Schlag auf, und ließ
den Kapuziner ein. Er ſetzte ſich neben Kaſpar,
der ſich aͤngſtlich vor ihm zuruͤck zog. Bleib er ſitzen,
junger Herr! ſagte Siegwart, und ſchlag er ſei-
nen Mantel mit um den Ehrwuͤrdigen Herrn her-
um! Er ſieht ja, daß er halb erfroren iſt. Kas-
par thats halb unwillig, und der Kapuziner ſah
unſern Siegwart dankbar an. — Wo geht denn
die Reiſe bey den jungen Herren hin? fragte er. —
Nach Jngolſtadt, war die Antwort. — So? da-
hin will ich auch. Will Gott recht danken, wenn
ich da bin; denn nun marſchir ich ſchon ſeit fuͤnf
Tagen aus dem Frankenland heraus. Jch glaubt’
oft, ich koͤnnt’s kaum mehr aushalten. — War-
um gehn Sie denn bey dieſer veraͤnderlichen Jahrs-
zeit ſo weit, Herr Pater? fragte Siegwart. —
Ach, was thut man nicht um des lieben Gehor-
ſams willen! antwortete er. Jch habe Geſchaͤfte
fuͤr meinen Provinzial gehabt. Freylich kommt
michs hart an, da ich ſchon ſeit Jahr und Tag
nicht recht geſund bin. Jch hoffte aber auch, mei-
ne Leut’ im Aichſtaͤttiſchen noch einmal zu ſehen.
Lieber Gott! wie ich da vor meines Vaters Haus
komm, und denk, ich will dem alten Mann eine
Freude machen, daß er mich nach 20 Jahren wieder
einmal ſieht; da find’ ich alles ganz und gar ver-
aͤndert; lauter fremde Geſichter; und als ich frag,
da weis kein Menſch nichts von meinen Leuten.
Die ſind ſeit zehen Jahren weg, und geſtorben,
hieß es — das drang mir durch Mark und Bein,
daß ich nicht mehr wuſte, wo ich war? — Hei-
lige Mutter Gottes! ſagt ich; ſind ſie alle geſtor-
ben? — Hier ſtuͤrzten dem ehrlichen Kapuziner
die Thraͤnen aus den Augen. Siegwart und Gut-
fried weinten mit. — Was iſt denn das fuͤr ein
Kerl da? rief Kirner zum Poſtillion, als ſie bey
einem Rad vorbey fuhren, auf dem ein kuͤrzlich
hingerichteter Menſch lag. Ja, das war ein feiner
Geſelle! Herr! antwortete der Schwager. Er iſt
auf der Muͤhle dort Knecht geweſen. Der hat
ſeinem Herrn die Kaſten aufgebrochen, und das
Geld herausgenommen, und dann ſeine Tochter
mit dem Beil umgebracht, weil ſies ſah, und ih-
rem Vater ſagen wollte. Meynen Sie, er habe
gebetet, als man ihn raͤderte? Geflucht und ge-
ſungen hat er, bis man ihn aufs Rad legte. Jch
ſtand nah dabey, dort auf dem Huͤgel, und hab
alles recht mit angeſehen. Das war ein Teufels-
kerl! Aber er hat auch ſein Lebtag nichts ge-
than, als geſoffen und geſpielt, und mit Menſchern
ganze Naͤchte zugebracht. Jch hab ihm oft geſagt:
Hans, ſo wirſt dus nicht weit bringen. — Das
iſt mir doch ganz unbegreiflich, ſagte der Kapuzi-
ner, wie ein Menſch die Bosheit ſo weit treiben,
und ſich vom Teufel ſo verblenden laſſen kann!
Jch wuͤrds nicht glauben, wenns der Schwager
da nicht ſelbſt ſagte. Daß man einem etwas
nimmt, wenn man ſich nicht mehr zu helfen weis,
und Hungers ſterben muͤſte, das laͤſt ſich wohl noch
denken, obs gleich auch grauſig iſt; aber wie man
einen umbringt, das geht uͤber meinen Verſtand
hinaus. — Ueber meinen auch, ſagte Siegwart;
ich haͤtte nie geglaubt, daß es ſo verdorbne Men-
ſchen gibt. — Wohl euch, edle, unſchuldsvolle
Seelen, denen das Laſter unbegreiflich, und der
Gang einer boshaften Seele unerforſchlich iſt!
Moͤchtet ihr immer bey eurer unwiſſenden Einfalt
bleiben!
Der Kapuziner unterhielt ſich noch viel mit
Siegwart, und erzaͤhlte ihm von ſeiner eigenen
Geſchichte, und vom Kloſter; zuweilen ſeufzte er,
aber nur verſtohlen, und furchtſam, uͤber die Stren-
ge ſeines Ordens. Die liebenswuͤrdige Einfalt, und
die faſt kindiſche Unerfahrenheit im Lauf der Welt,
beſonders in der Bosheit der Menſchen, die
der Pater alle Augenblick aͤuſſerte, nahm un-
ſern Siegwart, der ſeine idealiſche Vorſtellungen
hier ſo lebendig vor ſich ſah, ſehr fuͤr ihn ein.
Mit Gutfried, an dem er ſehr viel edles fand:
ward er auch bald Freund.
Den andern Tag, als ſie noch drittehalb Stun-
den weit von Jngolſtadt entfernt waren, kam
Kronhelm hergeritten. Seine, und Siegwarts
Freude war unbeſchreiblich. Jeder fuͤhle ſie mit
mir, der ſeinen Freund, den er ſo zaͤrtlich liebt,
wie Siegwart ſeinen Kronhelm, nach einer Jahr-
langen Trennung wieder umarmt, und nun wie-
der ganz ſein iſt! Boling erbot ſich, zu reiten,
und Kronhelm ſetzte ſich in den Wagen. Anfangs
ſprachen ſie wenig, und hielten ſich nur bey der
Hand feſt. Sie fragten ſich tauſend Dinge, be-
antworteten die Fragen nur halb, und fiengen ſo-
gleich wieder eine neue an. Als ſie einander ſteif,
und mit dem ſeelenvollſten Ausdruck anſahen,
N n
erſchrack Siegwart auf Einmal, weil er jetzt erſt
wahrnahm, wie blaß und mager Kronhelm ausſah.
Du biſt doch geſund? ſagte er. So ziemlich; war die
Antwort. Und nun ſtunden dem armen Kronhelm
die Thraͤnen in den Augen, denn er dachte ſich ſei-
ne Thereſe lebhaft, und erkannte ſie in den Zuͤgen
ihres Bruders ganz wieder. Haſt du mir nichts
mitgebracht? ſagte er. — Nichts als Gruͤſſe von
dort her, und vom P. Philipp. Kronhelm ſchwieg
eine Zeitlang, und verſank in tiefe Wehmuth.
Gutfried miſchte ſich nun auch ins Geſpraͤch.
Kronhelm wunderte ſich, daß ſie ſich nicht ſchon
fruͤher haͤtten genauer kennen lernen, da er ſo viel
Gleichheit in ihrer Denkungsart wahrnahm, und
da dieſes Siegwart noch mehr beſtaͤtigte. Er bat
ihn zu ſich, und verſprach, ihn oͤfters zu beſuchen,
und ihm alle Buͤcher zu leihen, die er haͤtte. Kir-
ner haͤnſelte indeſſen den jungen Kaſpar, der ſich
alles gefallen ließ, und nun froh war, daß er das
Ende der Reiſe vor ſich ſah. Der Kapuziner freu-
te ſich innerlich recht herzlich uͤber die Freundſchaft
der beyden Juͤnglinge, und uͤber die Freude, die
ſie an einander hatten. Das iſt ſchoͤn, ſagte er, wenn
man einander ſo recht gut iſt. Jch weis, daß
mein P. Jgnatz auch viel Freude haben wird,
wenn ich wieder komme. Wir ſind Herzensfreun-
de zuſammen. Eine Viertelſtunde vor der Stadt
gieng der ehrliche Pater vom Poſtwagen ab, und
dankte Siegwart noch beſonders, daß er ſich ſeiner
ſo angenommen, und fuͤr ihn geſorgt habe. —
Sieh, dort an dem mittlern Thurm, ſagte Kron-
helm zu Siegwart, indem er nach der Stadt wies,
iſt mein Zimmer, gleich in dem Hauſe rechter Hand.
Du kannſt erſt bey mir ſeyn, bis wir um eine
Wohnung fuͤr dich ſehen; ich glaub, daß in mei-
nem Haus noch ein Zimmer ledig wird. Das waͤr
herrlich, ſagte Siegwart; aber koͤnnten wir nicht
auf Einem Zimmer beyſammen wohnen, wie im
Kloſter? Nein, Bruder, antwortete Kronhelm;
aber ich kann dir jetzt nicht ſagen, warum?
Endlich kamen ſie in der Stadt an, und giengen
gleich auf Kronhelms Zimmer. Hier umarmten
ſie ſich erſt mit herzlicher, bruͤderlicher Liebe. Sieg-
wart bemerkte gleich beym Eintritt in die Stube
ein unter dem Spiegel haͤngendes Portrait, das
ihm ſehr bekannt deuchte. Wen ſoll das vorſtel-
len? fragte er. Kennſt du das nicht! antwortete
Kronhelm. Es iſt Thereſe. — Ja wahrhaftig!
Recht gut und aͤhnlich! Fiel mirs doch nicht gleich
ein. Aber, wo haſt du’s denn her? Wer hats
gemacht? — Aus mir ſelber hab ichs; ich habs ge-
macht. Das war dir eine Freude, als ichs fertig
hatte. O Bruder, ich kann nichts anders thun und
denken! — Du daurſt mich, armer Junge! Jch
hoffte, die Zeit wuͤrd es aͤndern. — Da kennſt
du die Liebe recht. Wer einmal liebt, liebt ewig. —
Hierauf erkundigte er ſich mit Aengſtlichkeit nach
Thereſen. Siegwart wich ſeinen Fragen aus, ſo
gut er konnte, und antwortete immer nur ins
Allgemeine. Bey Kronhelm wachte der ganze,
etwas eingeſchlummerte Schmerz wieder auf.
Alles war ihm wieder neu. Es kam ihm vor,
als ob er Thereſen erſt geſtern geſehen, und ver-
lohren haͤtte. Alle Bilder der Vergangenheit ſtell-
ten ſich ihm wieder dar. Er betrachtete ſeinen
Siegwart genau, eilte dann zum Portrait hin,
und brachte ſogleich einen Zug drinn an, den The-
reſe mit ihrem Bruder gemein hatte. Das hat
noch gefehlt, ſagte er, das konnt ich nicht treffen;
nun iſts noch aͤhnlicher. Und wirklich hatte die
Aehnlichkeit des Bildes durch dieſe Aenderung ſehr
gewonnen.
Sieh, das Zimmer waͤre groß genug, ſagte
Kronhelm, daß wir bey einander wohnen koͤnnten.
Aber ich habs beſſer uͤberlegt. Du haſt in der letz-
ten Zeit im Kloſter ſehr viel von mir ausgeſtanden;
ich war ſo wunderlich und verdruͤßlich. Seit der
Zeit bin ichs noch mehr geworden. Oft iſt mirs
ſo zu Muthe, daß ich keinen Menſchen, nicht ein-
mal meinen beſten Freund um mich leiden kann.
Wenn du hier im Hauſe wohnſt, ſo kannſt du doch
immer bey mir auf dem Zimmer ſeyn; aber wenn
ichs zu arg mache, kannſt du ausweichen. Mir
iſts leid, daß ich ſo bin; aber ich kanns nicht aͤn-
dern. Siegwart machte erſt Einwendungen, aber
endlich ließ er ſichs gefallen.
Den andern Tag beſahen ſie die Stadt mit ein-
ander. Sie gefiel unſerm Siegwart beſſer, als
ſeinem Freunde, der, bey ſeinem Eintritt, alles in
die Farbe der Melancholie gekleidet geſehen hatte.
Siegwart erkundigte ſich bey ihm nach dem Hof-
rath Fiſcher, und erfuhr, daß es eben der ſey, von
dem die Studenten auf dem Poſtwagen geſprochen
hatten. Er wird dir nicht ſehr gefallen, ſagte
Kronhelm, denn er iſt ziemlich ſtolz; aber ſeine
Tochter, denk ich, wird dir mehr gefallen; es iſt
ein herrliches Maͤdchen. Mir wirſt du dieſes Lob
um ſo mehr glauben, da ich ſo ganz unpartheyiſch
bin, und nur fuͤr Thereſen allein lebe. Meinetwe-
gen mag ſie ſeyn, wie ſie will! verſetzte Sieg-
wart, was gehen mich die Maͤdchen an? Jch
bring einmal dem Hofrath meines Vaters Brief,
und damit aus! Wenn er ſtolz iſt, ſo bin ichs
auch! — Nun, wir wollen ſehen, ſagte Kron-
helm laͤchelnd. Den Nachmittag waren ſie zu
Gutfried gebeten, der ihnen ſehr gefiel, und mit
dem ſie Freundſchaft errichteten, und eine woͤchent-
liche Zuſammenkunft ausmachten, weil er die Floͤte
recht gut ſpielte. Es war auch ein Sohn vom
Hofrath Fiſcher da, dem Gutfried gegenuͤber wohn-
te. Dieſer junge Menſch ſtudierte, und war un-
baͤndig ſtolz. Er gab ſich mit Kronhelm etwas,
und mit Siegwart gar nicht ab, ob ihm dieſer
gleich ſagte, ſein Vater habe ehedem das Gluͤck
gehabt, ein Freund des ſeinigen zu ſeyn. Alle
Augenblicke beſah er ſich im Spiegel, und bewun-
derte ſein glattes, karmeſinrothes Geſicht. Den
andern Tag gieng Siegwart zum Kanzler, der
ihm hoͤflich begegnete, und von da zum Hofrath
Fiſcher, dem er ſeines Vaters Brief brachte. Der
Hofrath empfieng ihn in ſeinem damaſtenen Schlaf-
rock ſehr kalt und ſtolz, und noͤthigte ihn nicht ein-
mal zum Sitzen. Als er den Brief durchgeleſen
hatte, ſagte er: Alſo lebt ſein Vater noch? Jch
dachte, er waͤre ſchon laͤngſt geſtorben. Nun, Nun!
Wenn ich ihm gelegentlich worinn dienen kann,
ſo komm er wieder zu mir! Er kann auch ſeinen
Vater von mir gruͤſſen, wenn er an ihn ſchreibt.
Siegwart buͤckte ſich, und nahm ſeinen Abſchied.
Der Hofrath gieng bis an die Thuͤre mit, und
klingelte dem Bedienten, der ihn die Treppe hinab
begleitete. Voll Unmuths gieng nun Siegwart zu
Hauſe, und ſchimpfte unterwegs bey ſich ſelbſt auf den
kalten Weltton, und das ſtolze, veraͤnderliche,
menſchliche Herz. Der kriegt mich gewiß nicht
wieder! ſagte er zu Kronhelm; das iſt ein rechter
Hofmann. Haͤtt ich das gewuſt, er haͤtte weder
mich, noch den Brief geſehen! Meinem Vater
darf ich das nicht ſchreiben, der wuͤrde ſich zu
ſehr druͤber aͤrgern. O Kronhelm, wenn ich denke,
daß einer von uns einmal ſo werden koͤnnte, ich
moͤchte toll werden! — Wie kannſt du auch ſo
was denken? ſagte Kronhelm, Haſt du aber ſeine
Tochter nicht geſehen? — Nein! antwortete
Siegwart halb unwillig; was willſt du nur im-
mer mit ſeiner Tochter? Jch mag ſie gar nicht
ſehen! —
Nach ein paar Tagen ward in dem Haus ein
Zimmer leer, das Siegwart ſogleich miethete und
bezog, ob er gleich ſeine meiſte Zeit auf Kronhelms
Zimmer zubrachte. Dieſer ſprach beſtaͤndig nur
von Thereſen. Siegwart muſte ganze Abende durch
mit ihm von ihr reden, ohngeachtet er jetzt ſelbſt
wenig von ihr wuſte; denn ſie ſchrieb ſeltener, als
ſonſt, vermuthlich um Kronhelms willen. Sieg-
wart haͤtte ſo gern ſeinem Freund eine Neigung
ausgeredet, die allem Anſchein nach nie einen gluͤck-
lichen Ausgang nehmen konnte; aber wenn er ſich
nur von fern etwas dergleichen merken ließ, ſo
ward Kronhelm boͤſe oder traurig, und argwohn-
te, daß er nicht ſein Freund mehr ſey. Zerſtreuen
ließ er ſich auch wenig, denn er ſaß bey den ſchoͤn-
ſten Fruͤhlingstagen faſt immer zu Hauſe, und
wollte nicht einmal gern Muſik machen, wenn
Gutfried kam. Gieng Siegwart einmal allein aus,
und kam er nicht ſogleich wieder heim, ſo ward er
druͤber unruhig und unzufrieden. Er wollte den
Bruder ſeiner Thereſe beſtaͤndig um ſich haben, und
ſagte ihm oft, daß die Freundſchaft ſo wohl eifer-
ſuͤchtig ſey, als die Liebe. Siegwart, der ihn
ſo unausſprechlich liebte, fuͤgte ſich ganz in ſeine
Laune, bedaurte ihn in der Stille, und that ihm
alles zu Gefallen.
Nun giengen auch die Kollegia an: Siegwart,
der auf der Schule durch ſeinen Fleiß ſchon ſo weit
gekommen war, hoͤrte die Philoſophie, und die
Phyſik. Der junge Jckſtatt, der die Wolfiſche
Philoſophie inne hatte, und uͤberhaupt ſehr aufge-
klaͤrt dachte, gefiel ihm vorzuͤglich, und machte ihm
das philoſophiſche Studium ſehr angenehm. Sei-
ne andern Lehrer, die groͤſtentheils Jeſuiten waren,
gefielen ihm ſchon weniger. Kronhelm hatte blos
eine Stunde bey Jckſtatt, und eine andre auf der
Reitbahn. Die ganze uͤbrige Zeit brachte er zu
Haus in der Einſamkeit zu. Gutfried war faſt ihr
einziger Geſellſchafter. So gieng der Fruͤhling
und der Sommer hin, ohne daß Siegwart Ein-
mal in eine eigentliche Studentengeſellſchaft kam,
wobey er freylich blutwenig verlohr. Sein Ver-
ſtand ward durch die Wiſſenſchaften und den Vor-
trag ſeiner Lehrer immer mehr aufgeklaͤrt; ſein
Herz durch das Leſen der Alten, und beſonders
der Geſchichtſchreiber, immer maͤnnlicher und fe-
ſter; und ſeine Empfindung durch das Leſen der
alten und neuen Dichter, durch fleiſſige Uebung
in der Muſik, und genaue Beobachtung der Natur
immer feiner, richtiger, und reizbarer. Oft fuͤhlte
er in ſich ein gewiſſes Leere, und ein Verlangen,
wovon er den Gegenſtand nicht kannte. Sein Herz
war oft, beſonders in der Daͤmmerung, ungewoͤhn-
lich weich; oft floſſen ihm Thraͤnen aus den Au-
gen, ohne daß er wuſte, warum? Er hielts fuͤr
eine Sehnſucht nach dem Kloſter, und fuͤr einen
goͤttlichen Aufruf, ſich zu dieſem Stande recht vor-
zubereiten; daher ſtudierte er auch unaufhoͤrlich,
oft bis in die tiefe Nacht hinein. Wenn ſein Herz
recht weich, und er allein war, ſo erhub ſich ſeine
Seele zu hoher Andacht; er betete mit groſſer
Jnbrunſt, und heiligte ſich Gott ganz. Das Le-
ſen der Bibel machte ihn taͤglich vollkommener und
beſſer, und jeder groſſen Handlung ſaͤhig. Seine
Liebe zur Tugend, und ſeine Gewiſſenhaftigkeit
ward beynahe ſchwaͤrmeriſch. Ein paarmal traf er
von ungefaͤhr bey Gutfried andre Studenten an,
beſonders Boling und Kirner, welche ziemlich frey
und leichtſinnig ſprachen. Dieß that ihm ſo weh,
und brachte ihn ſo auf, daß er ganz freymuͤthig
ſein Misfallen druͤber an den Tag legte, und faſt
in Ungelegenheit und Streit kam. Das rohe und
verderbte Weſen, das er unter den Studenten
wahrnahm, machte ihn beynah zum Einſiedler und
zum Menſchenfeind, ſo daß er bey keinem Men-
ſchen gern war, als bey Kronhelm und Gutfried.
Das Andenken an Sophien, und ihr Tagebuch,
worinn er fleiſſig las, erhoͤhten ſeine Schwaͤrmerey
noch mehr. Thereſens traurige Briefe, und ſei-
nes Kronhelms duͤſtre Denkungsart lehrten ihn die
Welt, die den beſten Seelen ſo wenig Freude ge-
waͤhrt, und ſie in ſo tiefen Kummer ſtuͤrzt, immer
mehr gering ſchaͤtzen. Dabey war ihm bey ſeiner
halbfanatiſchen Denkungsart ſo wohl, daß er ſich in
keine andre Lage wuͤnſchte.
Die Kirchen, und beſonders die Frauenkloſter-
kirche beſuchte er alle Sonn- und Feyertage, und
naͤhrte da ſeine Phantaſie noch mehr durch das
heilige Gepraͤnge, und die feyerliche Muſik. Ein-
mal ſah er ein Maͤdchen neben ſich knien, uͤber
deſſen Anblick er erſchrack. Es hatte die Augen
andachtsvoll gen Himmel gerichtet, und warf,
als er es anblickte, einen Blick auf ihn, der ſein
Jnnerſtes umkehrte. Er war auf einmal aus aller
Faſſung, und konnte, ohngeachtet aller Bemuͤhung,
ſeine Andacht nicht mehr ſammeln. Es uͤberfiel
ihn ein ſolches Zittern und Beben, daß er ſich kaum
mehr auf den Knien halten konnte. Noch Einmal
blickte er hinuͤber; ſie ließ eben ein Kuͤgelchen an
ihrem Noſenkranz fallen, ſah ihn wieder an, und
ſein Blick fuhr wie der Blitz zuruͤck. Nach etli-
chen Minuten ſtand ſie auf; er hoͤrte ihr Gewand
rauſchen, wagte es aber nicht, nach ihr hinum zu
blicken. Er wollte wieder beten, aber er konnte
nicht vier Worte zuſammen bringen. Drauf mach-
te er ein Kreuz, ſchlug ſich auf die Bruſt, ſtund
auf, und, indem er ſich umwendete, ſah er das
ſchlanke Geſchoͤpf mit langſamem, majeſtaͤtiſchem
Gang der Kirchenthuͤre zugehn, ſich mit Wieh-
waſſer beſprengen, und aus ſeinen Augen verſchwin-
den. Er kam aus der Kirche, ohne ſelbſt zu
wiſſen, wie? Gutfried ſtand in einem Seiten-
ſtuhle, und gruͤſte ihn; aber er nahm ihn nicht wahr.
Als er vor die Kirche kam, ſah er das Maͤdchen
nicht mehr, und wuſte nicht, wo er ſich hin
wenden ſollte? — Gott! Was iſt das? dachte er.
War das ein Engel, oder wars Maria? Seine
ganze Empfindung war ihm unerklaͤrlich. Es war
ihm nicht wohl, und auch nicht weh! Seine See-
le war immer auſſer ihm, und er wuſte doch nicht,
wo? Er ſah nur das, gen Himmel gehobene Au-
ge, und die ſchlanke Geſtalt, wie ſie majeſtaͤtiſch
vor ihm hin ſchwebte. Ein paar Stunden lang
gieng er, ohne ſich ſeiner bewuſt zu ſeyn, auf ſei-
nem Zimmer auf und ab. Er wollte beten, wollte
leſen; aber ſeine Gedanken waren immer anders-
wo. Zuweilen ſeufzte er, und huſtete, um vor ſich
ſelbſt den Seufzer zu verbergen. Kronhelm hatte
ſchon eine halbe Stunde mit dem Eſſen auf ihn
gewartet. Als er nicht kam, gieng er zu ihm auf
ſein Zimmer. Siegwart fuhr zuſammen. — Was
treibſt du denn, Xaver? Jch warte ſchon uͤber eine
Stunde auf dich. Das Eſſen ſteht ſchon eine hal-
be Stunde auf dem Zimmer; es wird ganz kalt. —
So? iſts denn ſchon Eſſenszeit? Das kann ja
kaum ſeyn! — Je freylich! antwortete Kron-
helm; ſieh nur nach der Uhr! Es iſt ſchon halb
Eins. — Siegwart gieng ſchweigend mit ihm
auf ſein Zimmer, und ſprach waͤhrend dem Eſſen
faſt kein Wort; auch aß er wenig. — Kronhelm,
der mit ſeinen Gedanken bey Thereſen war, merkte
davon nichts. Nach Tiſche gieng Siegwart auf
ſein Zimmer, unter dem Vorwand, daß er Briefe
nach Haus zu ſchreiben habe. Kronhelm trug ihm
einen Gruß an Thereſen auf. Siegwart ſchrieb
nicht, ſondern gieng nur hin und her. Er wollte
das Maͤdchen und ihren andaͤchtigen Blick wieder
vergeſſen, dachte an tauſend verſchiedne Dinge,
aber immer am Ende wieder an ſie. Zuweilen
phantaſirte er auf ſeiner Violine; gleich war ihms
wieder entleidet, und er hieng ſie wieder auf. Um
halb vier Uhr holte ihn Kronhelm ab, um
zu Gutfried zu gehen, wo ſie ein woͤchentliches
Privatkonzert hatten. Siegwart zog ſich an,
und gieng mit ihm. Als ſie ſchon unter der
Hausthuͤre waren, ſagte Kronhelm: Nimmſt
du denn deine Violine nicht mit? Ach, das
iſt wahr! die haͤtt ich bald vergeſſen! ant-
wortete Siegwart, und ſprang die Treppe wie-
der hinauf. Als das Band, an dem die Violine
hieng, ſich am Nagel verwickelt hatte, riß er es
mit Gewalt entzwey. Jm Konzert ſpielte er ohne
alle Aufmerkſamkeit mit, und hoͤrte endlich, als
ein andrer kam, der die erſte Violine ſpielte, gar
auf, weil er vorgab, es ſey ihm nicht recht wohl.
Er ſetzte ſich in eine Ecke, hielt die Hand vors
Geſicht, verſank in Wehmuth, und dachte nichts,
als das ſchoͤne andaͤchtige Maͤdchen. Zuweilen
konnte er ſich ihr Geſicht nicht mehr deutlich vor-
ſtellen; es ſchwebte blos ſein Umriß vor ihm her-
um, und da ward er auf ſich ſelbſt boͤſe, und gab
ſich alle Muͤhe, ſich das ganze Bild wieder zuruͤck
zu rufen. Kronhelm merkte wohl, als er mit ihm
nach Haus gieng, daß ihm etwas ſehlte, aber er
beruhigte ſich wieder, als er hoͤrte, daß es nur von
Kopfſchmerzen herruͤhre. Siegwart blieb wohl noch
drey Stunden auf, ſprach oft mit ſich ſelbſt, ſang
zuweilen etwas, betete, und flehte Gott um Ruhe
und Vergebung, denn er hielt, aus zu genauer
Gewiſſenhaftigkeit, ſeine Empfindung fuͤr Suͤnde.
Er wuſte nicht, war es Liebe, oder was es war?
Endlich legte er ſich zu Bette. Lang bemuͤhte er
ſich umſonſt, einzuſchlafen. Wenn er die Augen
zumachte, ſo ſtand das Maͤdchen lebendiger, als
ers ſich den Tag uͤber hatte vorſtellen koͤnnen, ihm
vor Augen. Den andern Morgen wachte er fruͤh
auf; die eben aufgehende Sonne ſchien in ſeine
Kammer; eine Thraͤne ſchoß ihm in die Augen,
denn ſein erſter Gedanke war das Maͤdchen. Jhr
gen Himmel gehobnes Auge gab ſeiner Andacht
Schwingen. Er ſtand auf, ſtreckte die Arme aus,
als ob er ſie umfangen wollte, und betete ſo feu-
rig, als er faſt noch nie gebetet hatte. — Gott!
Gott! ſeufzte er: Jch kenne mich ſelbſt nicht mehr!
Was will ich? Was fehlt mir? Warum denk
ich immer an den Engel? Wenn es Suͤnde iſt,
o Gott! ſo vergib mir! Du haſt ihn erſchaffen!
Jch kann nicht anders. Jch bin immer bey ihm!
Ach, wo mag ſie ſeyn, die Heilige, die unaus-
ſprechlich Holde? Ach, wo mag ſie ſeyn, dann
betete er wieder. Aber immer ſchien ihms, als ob
ſie ſich zwiſchen Gott und ihn ſtellte, oder mit ihm
betete. — Er gieng ins Kollegium. Auch da
war ſie immer um ihn. Er hoͤrte nichts, was der
Lehrer ſagte. Er zwang ſich, aufzumerken, aber
nur vergeblich. So gieng die ganze Woche hin.
Zuweilen dachte er minder lebhaft an ſie; aber tau-
ſenderley Dinge zogen ihn wieder zu ihr zuruͤck.
Wenn er in Geſellſchaft ſie auf einige Augenblicke
vergaß, ſo wachte er ploͤtzlich wieder, wie vom
Schlummer, auf. Wenn er nur das Wort: Maͤd-
chen, ausſprechen hoͤrte, ſo ſtand ſein Maͤdchen wie-
der vor ihm. Nie war ſein Geiſt in der Geſell-
ſchaft ſeiner Freunde ganz gegenwaͤrtig; immer
ſchwebte er in der Kirche vor dem Altar, oder er
wuſte ſelbſt nicht, wo? Er war immer zu Thraͤ-
nen geſtimmt, und muſte oft aufſtehn, um ſeine
Wehmuth vor ſeinen Freunden zu verbergen. Sie
riethen hin und her, was ihm fehlen moͤchte? Auf
Liebe fielen ſie gar nicht, da er bey jeder Gelegen-
heit dagegen eiferte. Endlich wuſten ſie ſeiner Zer-
ſtreuung keine andere Urſach zu geben, als ſein lan-
ges Aufſitzen bey Nacht. Kronhelm bat ihn ſehn-
lich, es zu unterlaſſen, und ſeine Geſundheit zu
ſchonen! Er war uͤber die zaͤrtliche Beſorgniß ſei-
nes Freundes ſehr geruͤhrt, und verſprach, es zu
thun. Den kuͤnftigen Sonntag konnte er kaum
erwarten. Da dachte er, das Maͤdchen wieder in
der Kirche zu ſehen. Hundertmal des Tags ſah
er nach ſeinem Wandkalender, wie viel Tage es
noch dahin bis ſey? Jmmer vergaß ers wieder, und
rechnete oft einen Tag weniger. Zuletzt zaͤhlte er
ſogar die Stunden. Er ſtellte ſich vor, was er thun,
wo und wie er ſich anſtellen wolle? wenn ſie in die
Kirche komme. Als der Sonntag kam, wachte er
fruͤh auf, kraͤuſelte ſeine Haare ſehr ſorgfaͤltig, und
kleidete ſich praͤchtiger und netter, wie gewoͤhnlich.
Jn der Fruͤhmeſſe traf er das Maͤdchen nicht.
Sein Herz erhub ſich zu Gott mit ſchwaͤrmeriſcher
Andacht; ſeine Einbildungskraft drang bis an den
Thron der Gottheit; ſein Geiſt war auſſer dem
Leibe, und unmittelbar im Himmel. Auf Einmal
uͤberfiel ihn wieder eine aͤuſſerliche Beklemmung;
ſein Herz klopfte laut und ſichtbar. Alle Augen-
blicke, dacht’ er, kann ſie kommen, und neben mir
niederknien. Er bebte vor dem Augenblick, und
wuͤnſchte ihn doch ſo ſehnlich herbey. — Jn die
Predigt kam das Maͤdchen auch nicht. Sein Au-
ge ſuchte aͤngſtlich umher, verweilte auf jedem gut-
gekleideten Frauenzimmer, und wandte ſich unwil-
lig wieder weg, weil es nicht fand, was es ſuchte.
So oft die Kirchenthuͤre aufgieng, blickte er hin,
O o
und zitterte. Sie kam nicht. Nach der Predigt
gieng er in den Chor, kniete auf die Stelle nie-
der, wo ſie gekniet, und die er ſich ſo genau
gemerkt hatte. So oft er etwas hinter ſich
gehen, oder ein ſeidenes Gewand rauſchen hoͤrte,
ward ihm bange; aͤngſtlich blickte er dann um ſich,
weil er fuͤrchtete, jedermann bemerke ihn: Einmal
ſah er ein Maͤdchen mit einem Flor vor dem Ge-
ſicht ihm zur Rechten niederknien. Es hatte die
ſchlanke Geſtalt ſeines Maͤdchens. Sein Geſicht
gluͤhte, er zitterte, ſein Gebet ward laut; er glaub-
te zu vergehen und zu ſinken. Schwankend
ſtand er auf. Das Maͤdchen war nicht das ſeini-
ge. Heilige Mutter Gottes! dachte er, wo iſt
ſie? — Schnell ſteckte er den Roſenkranz ein,
gieng aus der Kirche, ohne das Weihwaſſer zu
nehmen, und nach der obern Stadtkirche. Hier
fand er ſie wieder nicht. Nun uͤberfiel ihn tiefe
Wehmuth. Tauſenderley traurige Vorſtellungen
bekaͤmpften ſich in ſeiner Bruſt: Jſt ſie krank? Jſt
ſie todt? Hab ich ſie durch meinen Blick erzuͤrnt?
Haͤtt ich ſie doch nie geſehen! Stuͤrb ich doch
auch! O ich bin der ungluͤcklichſte Menſch auf
Gottes Erdboden! — Er gieng heim, und weinte,
rang die Haͤnde und betete. Kronhelm kam zu ihm
aufs Zimmer. Jndem erhielt er einen Brief von
Thereſen mit der Nachricht, daß ihr Vater ſich
von neuem nicht ganz wohl befinde, doch ſey er
ſchon wieder auf dem Weg der Beſſerung. Waͤh-
rend dem Leſen ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen aus den
Augen. Kronhelm fragte ihn um die Urſache da-
von. Er konnte ſie vor Wehmuth kaum erzaͤhlen.
Nun weinten beyde Freunde. Siegwart konnte
nun einen Grund fuͤr ſeine Traurigkeit angeben,
und Kronhelm argwohnte deſto weniger eine andre
Urſache. Der doppelte Schmerz beſtuͤrmte nunmehr
Siegwarts Seele mit aller Gewalt. Er dachte
ſich die beyden theuren Perſonen immer zuſam-
men, und wuͤnſchte ſich nichts als den Tod, das
einzige Ende ſeines Jammers, das er vor ſich ſah. —
Den Nachmittag ſchrieb er an ſeine Schweſter und
an ſeinen Vater einen bangen und ſchwermuͤthigen
Brief. Unter andern ſchrieb er an Thereſen: —
Jch ſehe wohl, daß die Welt keine Freuden hat.
Jeder Tag hat ſeine Plage, und mit jedem Tage
ſteigt ſie. Moͤcht ich doch bald dieſe Welt verlaſſen,
und im Grab von allem Kummer ausruhen! O
meine Schweſter, es gibt viele Leiden, die du noch
nicht kennſt. Sterben, ſterben iſt das Beſte! Und
wenn dieſes Ziel vom Schoͤpfer noch nicht geſetzt
iſt, iſt es dann nicht Weisheit, der Welt ſo viel
abzuſterben, als man kann und darf? Du verſtehſt
mich; der Eintritt ins Kloſter iſt ein Bild des
Todes. Duͤrft’ ich ihn doch morgen thun! ꝛc.
Dießmal war das Konzert auf Kronhelms Zim-
mer. Siegwart ſpielte nicht mit, ſondern ſaß in
einem Winkel, und weinte. Seine Phantaſie ward
durch die Muſik aufs aͤuſſerſte geſpannt. Zuwei-
len irrte er durch Nacht und Graͤber; ſah ſei-
nen Vater mit dem Tode ringen, ſchauerte zuruͤck,
und ſtand haſtig auf. Dann ward er wieder in
das ſuͤſſe, heilige Gefuͤhl der Liebe verſenkt; ſah
ſein andaͤchtiges Maͤdchen vor dem Altar knien;
ſah ſie wehmuͤthig und traurig; bildete ſich ein, ſie
laͤchl’ ihm zu. — Dann ſchwand ſie ihm wieder
aus den Augen. Er ſah kein Mittel, ſie jemals
zu ſprechen. Jch werde ſie nie, nie ſehen! dachte
er. Sie flieht mich; ſie muß mich verachten; Jch
bin nichts, gar nichts gegen ſie! Sie iſt ein En-
gel, und ich bin ein Suͤnder, ein Verworfener!
O warum hab ich ſie geſehen? Warum all mei-
ne Ruhe ſo auf Einmal verlohren?
Ploͤtzlich ward er aufmerkſam, als eine wild-
ſchwaͤrmeriſche Symphonie von Fils geſpielt wurde.
Er ſtand auf, nahm ſeine Violine, und ſpielte
mit. — Von wem iſt das Stuͤck? fragte er, als
es ausgeſpielt war. Von Fils, antwortete einer.
Das war ein herrlicher Kerl! Seine beſten Stuͤ-
cke hat er in der raſendſten Liebe gemacht; und als
es ihm nicht nach Wunſch gieng, aß er Glas, und
ſtarb dran. — Das iſt vortreflich, ſagte Sieg-
wart, wir wollen das Stuͤck noch einmal ſpielen!
Sie ſpieltens wieder. — Bey einem Quatuor von
Boccherini verſank er wieder in die tiefſte Schwer-
muth, in der er den ganzen Abend blieb. — Die
ganze Woche ſtrich ihm traurig hin. Die Unruhe
uͤber die Krankheit ſeines Vaters verdrang das Bild
des Maͤdchens etwas aus ſeinem Herzen, oder
uͤberzog es vielmehr nur mit einer Art von Schley-
er. Oft ſtand es wieder frey, und in allem ſeinem
Reiz vor ihm da. Er lief alle Straſſen der Stadt
durch, ob er ſein geliebtes Maͤdchen nirgends ent-
decke? Aber nirgend ſah ers. Jn die Kirchen
konnte er die Woche uͤber nicht gehen, weil er ſeine
Kollegia gewiſſenhaft beſuchte. Er und Kronhelm
machten nun eine traurige Figur zuſammen. Kei-
ner konnte den andern troͤſten. Sie weideten ſich
an ihrem wechſelſeitigen Schmerz, und vereinigten
ihre Klagen, obwol Siegwart viel zu furchtſam
und zaͤrtlich war, ſeinem Freunde das Geringſte
von dem Maͤdchen zu entdecken. Ganze Stunden
ſaſſen ſie in der Daͤmmerung, ohne Licht, beyſam-
men; ſeufzten und klagten mit einander, oder ſpiel-
ten wehklagende Stuͤcke. Am Sonnabend bekam
Siegwart einen Brief von Thereſen, und die
Verſicherung, daß ihr Vater wieder ganz hergeſtellt
ſey. Dieß war ihm ein groſſer Troſt, aber ganz
freuen konnte er ſich nicht. Gott! ich danke dir,
ſagte er. Du biſt guͤtig und barmherzig. Nur
verzeihe mir meine Schwachheit! Ach, ich kann mich
nur halb freuen. Du weiſts, ich bin nicht undankbar!
Mein Jammer iſt dir nicht verborgen! Von einer
Seite haſt du mich geheilet; aber von der andern
friſt der Schmerz immer tiefer! Gott! wenn ichs
wuͤrdig bin, ach, wenn ichs wuͤrdig bin, ſo er-
barm dich meiner! Laß mich ſie ſehen, oder laß mich
ſterben! — Nun dachte er wieder ſie nur ganz allein.
Morgen, morgen, rief er, Leben oder Tod! — Er
gieng auf Kronhelms Zimmer, und brachte ihm die
Nachricht von der Geneſung ſeines Vaters. — Und
von Thereſen haſt du mir nichts? ſagte Kronhelm
wehmuͤthig. — Nichts, mein Lieber, als einen Gruß.
Ach du daureſt mich unendlich. Jch kann dirs nicht
ſagen, wie tief ich deine Leiden fuͤhle! Gott weis, ich
kanns nicht! — Und nun ſchwiegen ſie lang. —
Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub
Kronhelm wieder an. Wenn ſie mich vergeſſen,
mir untreu werden koͤnnte. — Und doch! — ſoll
ſie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we-
nigſtens ohne Gewißheit, ſogar ohne Wahrſchein-
lichkeit: O, mein Leiden iſt das groͤſte! Duld und
harre! ſagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt
ſind mancherley. Jch bin auch nicht gluͤcklich. —
Er wollte reden; aber eine ploͤtzliche Aengſtlichkeit
hielt ihn wieder zuruͤck.
Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei-
dete ſich gut, und gieng voll banger Ahndung in
die Kirche. Er ſetzte ſich in einen Stuhl, von dem
er die ganze Kirche uͤberſehen konnte. Das Maͤd-
chen war noch nicht da. Er ward verwirrt druͤber;
dankte aber doch Gott fuͤr die Geneſung ſeines Va-
ters bruͤnſtig. Nach einer halben Stunde oͤfnete
ſich die Kirchenthuͤre, und das Maͤdchen trat her-
ein, ſchwarz gekleidet, mit einer etwas bejaͤhrten
Frau von angenehmer und ſanfter Geſichtsbildung.
Sein Herz ſchlug ungeſtuͤm. Sie ſetzte ſich ihm
gegenuͤber in einen vergitterten Stuhl, an dem
aber das Gitter zuruͤckgeſchoben war. Sie ſetzte
ſich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-
len erhub ſie ihr ſchoͤnes nußbraunes Auge zum
Himmel; drey- oder viermal glaubte er, ſie ſeh ihn
aufmerkſam an; und ihm ward bald warm, bald
kalt in der Bruſt. Er hieng mit ganzer Seele an
ihr; ſein Blick ruhte auf ihrem Geſicht, wie auf
dem Antlitz einer Heiligen. Er konnte den unendli-
chen Reiz nicht faſſen, der ſich uͤber das Ganze
verbreitete. Alles um ſich her vergaß er, Himmel
und Erde, und wuſte nicht mehr, daß er in der
Kirche war. Er dachte nichts; ſein ganzes Weſen
war Gefuͤhl. Sie ſah ihn an; Er ſchlug die Au-
gen nieder, als ob ein Blitz ihn blendete. Gleich
ſah er wieder auf; ſie war verſchwunden. Ein
breitſchultriger Mann mit einer groſſen Peruͤcke
hatte ſich vor ſie hingeſetzt, und ihm den Anblick
des himmliſchen Geſichts benommen. Nur zuwei-
len, wenn der Mann ſich buͤckte, ſah er ſie auf ei-
nen Augenblick. Der Mann ward ihm auf Ein-
mal unausſprechlich zuwider. Er knirſchte mit den
Zaͤhnen, und haͤtt ihn gern mit den Fuͤſſen wegge-
ſtoſſen. — Der dumme, kalte Kerl! dachte er,
mit dem abſcheulichen Alltagsgeſicht! Jch wollte,
daß er hundert Meilen weit von hier waͤre! —
Nach der Meſſe ſtund das Maͤdchen, mit der
Frau auf; gieng in den Chor vor den Altar und
kniete nieder. Jm Hingehn warf ſie einen Blick
auf Siegwart, der ihm durch die Seele drang.
Er ſah ſie langſam, und andaͤchtig vor ſich hin
gehn, und wuſte nicht, ob er ihr folgen, oder
bleiben ſollte? Er zitterte, daß die Kuͤgelchen an
ſeinem Roſenkranze klapperten. Sie kniete ſchon
etliche Minuten, da ſchlich er ſich aͤngſtlich und
zoͤgernd nach dem Chor. Sie kniete im vorderſten
Reihen, unter denen, die das Abendmahl genieſſen
wollten. Er kniete ſich an der Seitenwand der Kir-
che ihr faſt gegenuͤber nieder. Die Muſik, die
in dem Augenblick gemacht wurde, war ihm ſein
ganzes Leben durch die liebſte, und ruͤhrte, ſobald
ſie angeſtimmt wurde, alle Saiten ſeines Herzens.
Der Prieſter, der die Hoſtie austheilte, gieng um-
her, und kam zu ihr. Jn dem Augenblick haͤtt’
er alles hingegeben, um der Prieſter, oder einer
von den Knaben zu ſeyn., die das Tuch unterhiel-
ten. So oft er nachher einen von den Knaben
ſah, ſtellte ſich ihm die ganze feyerliche Handlung
wieder lebendig dar, und ſeine Seele gluͤhte. Er
liebte die Knaben, und war doch eiferſuͤchtig auf
ſie. Als ein dritter ihr den Spuͤhlkelch reichte, da
bebte ſeine Seele vor Verlangen, nach ihr aus
dem Kelch zu trinken. Er beneidete das Maͤdchen,
das neben ihr kniete, und aus dem Kelch trank.
Nun betete ſie, und ſeine Seele flog mit ihr zum
Himmel. — Gott! ach Gott, laß ſie mein ſeyn!
Sey ihr gnaͤdig, und erhoͤre mein Gebet! — Wei-
ter konnte er nichts denken. —
Noch lag er auf den Knien, in der Abſicht, zu
warten, bis ſie weg gienge, und zu erfahren, in wel-
ches Haus ſie gehoͤre? als er auf Einmal durch
einen Stoß, den ihm jemand, neben ihm, gab, aus
ſeiner Schwaͤrmerey aufgeweckt wurde. Kronhelm,
den er nicht wahrgenommen hatte, ſtand neben ihm,
und winkte, mit ihm weg zu gehen. Er ſtand un-
willig auf, und ſuchte ſeine Verwirrung ſeinem
Freunde zu verbergen. So boͤs er druͤber war, ſo
durft er es doch ſeinen Freund nicht merken laſſen,
und gieng mit ihm aus der Kirche. — Laß uns
etwas ſpatzieren gehen! ſagte Kronhelm; der Tag
iſt ſo ſchoͤn. — Meinetwegen! antwortete Sieg-
wart.
Sie giengen mit einander durch die Stadt, ohne
ein Wort zu ſprechen. Siegwart war ganz in Ge-
danken verlohren, und bey ſeinem lieben Maͤdchen
in der Kirche. Es ſchmerzte ihn tief, daß er ſo von
ihr weggeriſſen worden war, und ihre Wohnung
nicht hatte erfahren koͤnnen. Sich nach ihr bey
Kronhelm zu erkundigen, wagte er gar nicht. Als
ſie auſſerhalb der Stadt waren, ſo fieng Kronhelm
an: Du biſt ja ganz auſſer dir geweſen in der Kir-
che, und haſt mich nicht bemerkt, ob ich gleich eine
halbe Viertelſtunde neben dir kniete. — Wer? Jch?
… ſtotterte Siegwart. Recht! ich war ſo in der
Andacht; weil ich an meinen Vater dachte…
Weil er geſund worden iſt… Und da dankt ich
Gott — — und da konnt ich dich nicht ſehen…
Ja, ich war ganz vertieft… Hab dich warlich nicht
bemerkt. … Es kam gewiß nur daher… u. ſ. w.
Der helle Herbſtmorgen machte auf ſein ofnes
Herz den tiefſten Eindruck. Die bleichgelben Blaͤt-
ter, deren eins nach dem andern von den Baͤumen
herabfiel; das Rauſchen der verdorrten Blaͤtter im
Geſtraͤuch; der halb durchſichtige Hain; die einzeln
drinn herum fliegenden Voͤgel; die, auf der Wieſe
ſparſam zerſtreuten Herbſtbluͤmchen; alles brachte
ihm das ſuͤſſe Bild des Todes in die Seele. Er
fuͤhlte eine dunkle Sehnſucht, ſich hinzulegen und
zu ſterben. Sein Herz ward erweitert, und Thraͤ-
nen ſtunden ihm in den Augen. Kronhelm hatte
eben dieſes Gefuͤhl; beyde ſchwiegen. Noch nie
hab ich ſo lebhaft und ſo ruhig an Thereſen gedacht,
fieng endlich Kronhelm an; Noch nie eine ſo ſuͤſſe
Melancholie gefuͤhlt. Mir iſt ſo wohl, und ſo weh-
muͤthig! — Mir auch, Bruder! ſagte Siegwart
mit bebender Stimme. — Sie ſetzten ſich an das,
etwas erhoͤhte Donauufer hin, blickten den Wellen
nach, und dachten nichts. — Wie alles ſo geſchwind
geht! ſagte Kronhelm, nach einer langen Pauſe.
Nur das Leben geht ſo langſam, wenn man ungluͤck-
lich iſt. Ach Bruder, das Waſſer kommt von dei-
nem Dorfe her. Wenn jetzt Thereſe auch ſo da
ſaͤſſe, und an mich daͤchte! — Vielleicht thut ſies.
Meynſt du nicht, Siegwart? — Ja, vielleicht,
Bruder, antwortete Xaver. Jch wuͤnſch es dir.
— Nun ſchwiegen beyde wieder. — Jndem ſchwamm
ein todter Menſch in der Donau herunter. Herr
Jeſus! rief Siegwart, ſieh! dort! — Jn dem An-
genblick ſprang er nach der nah gelegnen Fiſcherhuͤt-
te, und rief dem Fiſcher, der ſogleich in ſeinem Kahn
hinausfuhr, und den Leichnam auffieng. Es war
ein junges Maͤdchen, das nicht uͤbel ausſah, von
neunzehn oder zwanzig Jahren. Der Kleidung
nach wars ein Dienſtmaͤdchen. Ueber eine Stunde
konnte ſie noch nicht im Waſſer gelegen haben,
denn ſie ſah noch friſch und roth im Geſicht, und
ihre Fingergelenke waren noch nicht einmal ſteif.
Der Fiſcher ſtuͤrzte ſie auf den Kopf, in der ver-
kehrten Meynung, daß das Waſſer ihr aus dem
Mund und aus den Ohren laufen moͤchte. Allein,
wenn ein Ertkunkener noch nicht ganz todt iſt, ſo
muß er durch dieſes Mittel ſterben. Das fluͤſſige
Blut ſtroͤmt nach dem Kopf zu, und ein Schlagfluß
iſt faſt unvermeidlich. — Sie iſt todt, ſagte der
Fiſcher, gibt kein Anzeichen mehr — und dann
legte er ſie wieder nieder, und fieng an, ſie genauer
zu betrachten. ’s iſt meiner Seel, kein unfeines
Ding; fieng er an; ſeht mir nur einmal die vollen
Backen, und das glatte weiſſe Kinn! Der hats ge-
wiß um ’n Mann gefehlt, oder ’s hat ſie einer an-
g’fuͤhrt. Hab ſchon mehr dergleichen Exempel er-
lebt. Erſt vorigen Sommermarkt hab ich auch ſo
’n Maͤdel raus zogen. — Schaut mir einmal an,
was ſie fuͤr ’n ſchoͤnen Fingerring hat! Er iſt, mei-
ner Six, Silber; den will ich mir zu Gemuͤth fuͤh-
ren. Er iſt gut fuͤr meine Thrine, paßt ihr grad.
— Jndem zog er den Ring vom Finger. — Muß
doch auch ſehen, was ſie im Sack hat? — ’n Ro-
ſenkranz! Hat doch auch noch ’n Vaterunſer und
ein Ave betet! Und da gar ’n Buͤchel! — ’s iſt
ein Pſalter. Nu, nu, ſie hat ſich doch vorbereitet.
Gott ſey der armen Seel gnaͤdig! Will auch ein
Ave fuͤr ſie beten. — Da ſteckt ja gar ’n Papier
im Buch. — ’s iſt g’ſchrieben — Kann nicht
G’ſchriebnes leſen. Da, Herr! (zu Siegwart) le-
ſets Jhr! — Siegwart las den Brief, der ſehr un-
leſerlich und unrichtig geſchrieben war. Hier iſt
er in deutlicherer Schreibart; ſonſt iſt er unver-
aͤndert. —
Du haſt mirs arg gemacht, Joſeph. Haſt mir
die Eh’ verſprochen im Namen der heiligen Jung-
frau, und nimmſt nun ein anders Maͤdel. Jch weis
mir nicht mehr zu helfen; muß mir ſelber was zu
Leid thun. Gott verzeih mirs! mit dem ichs red-
lich gemeynt hab mein Lebetag. Jch wollt mir ſchon
einmal die Kehle abſchneiden, aber das war mir zu
grauſig. Jn der Donau haben ſchon viel ihr Grab
gefunden; ich werds auch finden. Gib Acht, wenn
du mich ſiehſt, daß ich mich nicht noch einmal um-
dreh, und dir den Ring zeig, den ich von dir am
Finger trag zum Trauring. Lieber Gott! Ein
rechter Trauring! Das hat mir noch am weheſten
gethan, daß du mein noch ſpotteſt, und letzthin des
Abends bey meinem Haus vorbeygiengſt mit dei-
nem Maͤdel. Jch dacht, ich muͤſt dich umbringen!
Aber das Leben wird dir doch nicht hell werden,
weil dus ſo gemacht haſt mit mir. — Lieber Gott!
ich war dir ſo herzlich gut, und haͤtt gern mein Le-
ben fuͤr dich hingegeben! Und du ſagteſt mir ſo oft,
du meyneſt’s treu; Nun haſt du auf den Montag
Hochzeit. Hoͤr, Joſeph! auf den Sonntag ſpring
ich ins Waſſer. Es kann nicht anders ſeyn, Jo-
ſeph! Aber gib Acht! Jch lade dich ins Thal Jo-
ſaphat auf den Erſten Tag im neuen Jahr. So
lange haſt du noch Zeit zur Buſſe. Bedenks, Jo-
ſeph, und bekehre dich! Jch wollte nicht, daß du
ins Fegfeuer, und von dar in die Hoͤlle kaͤmeſt; denn
ich hab dich noch lieb, aber in dieſem Leben kann
ich dir nicht mehr gut ſeyn. Mir iſts ſchauerhaft
zu Muth! Jeſus und Maria mag ſich mein erbar-
men! Aber laͤnger leben kann ich nicht. Denk an
den Erſten Tag im Jahr! Hab Acht, und bekeh-
re dich!
Das iſt| meiner Seel recht herzbrechend, ſagte der
Fiſcher, und wiſchte ſich die Augen. Der Joſeph
moͤcht ich nicht ſeyn um tauſend Gulden! Jch denk,
ich ſteck ihr den Ring wieder an Finger. Jch mag
ihn nicht, weils ein Trauring iſt, der iſt heilig. —
Hierauf ſteckte er dem Maͤdchen den Ring wieder
an den Finger.
Kronhelm und Siegwart giengen ſchweigend und
traurig weg. — So ein Tod iſt doch der ſchreck-
lichſte, ſagte Siegwart; Gott ſey dem armen Maͤd-
chen gnaͤdig! — Sie giengen nun wieder der Stadt
und ihrem Hauſe zu. Siegwart konnte lang das
Bild des Maͤdchens nicht aus ſeinem Herzen brin-
gen, uud dafuͤr das Bild ſeines Maͤdchens drein
zuruͤckrufen. Endlich war er wieder ganz bey ihr,
und verſetzte ſich ganz in die Kirche. Als er zu
Hauſe angekommen war, gieng er auf ſein Zimmer,
uͤberſah die ganze Scene in der Kirche wieder, be-
tete zu Gott um ſein Maͤdchen, ſprach oft laut, und
warf endlich dieſe Verſe, die mehr Gebet ſind, als
Gedicht, aufs Papier hin.
Sieh, o Gott der Liebe!
Wie ein armes Herz, das du erſchufeſt,
Aus der Tiefe ſeiner Leiden
Sich zu dir hinaufſchwingt!
Heut, an deinem Altar
Sah ich ſie, in Andacht hingegoſſen,
Die du auch, wie mich, erſchufeſt;
Ach, um die mein Herz bebt!
Kuͤhn erhubs zu dir ſich.
Auf den Fluͤgeln ihrer reinen Andacht
Schwebt’ es, wagte, minder zitternd,
Dieſen Wunſch: — Erhoͤr ihn, Schoͤpfer! —
Leg in deine Wagſchaal
Meine Tage, die noch kommen ſollen!
Laß, wenn ſie mich liebt, ſie ſinken!
Steigen, wenn ſie nicht liebt!
Es war ihm recht wohl, als er dieſes Gedicht ge-
macht hatte. Er las es mehrmals durch; es gefiel
ihm, denn er hatte ſeiner Empfindung doch eini-
germaſſen ein Gewand und Worte gegeben; ob er
gleich unendlich mehr hatte ſagen wollen. Er ſchrieb
das Gedicht rein ab, und ergoͤtzte ſich noch lange dran,
bis ihn Kronhelm zum Eſſen rief. Da ſchloß ers
ſchnell und aͤngſtlich in ſein Pult ein. — Gutfried
aß nun gewoͤhnlich auch mit ihnen. Sie erzaͤhlten
ihm die Geſchichte mit dem ertrunkenen Maͤdchen,
und den Jnhalt des Briefes. Er ſeufzte dabey,
und ſagte: Gekraͤnkte oder unbelohnte Liebe iſt al-
les zu thun im Stande! Mit dieſen Worten ſah
er Kronhelm an, der in ſeiner Liebe zu des Hof-
rath Fiſchers Tochter ſein Vertrauter geworden war.
P p
Alle drey Juͤnglinge wurden uͤber dieſen Ausruf
noch trauriger. Gutfried erzaͤhlte nun ein paar
ſchreckliche Geſchichten von Perſonen, die ſich aus
ungluͤcklicher Leidenſchaft ſelbſt entleibt hatten. Sie
bedaurten ihr Schickſal, und wuͤnſchten ihnen, durch
ihre Seufzer, ein gluͤcklicheres Schickſal, als ſie in
dieſem Leben gehabt hatten. Gutfried ſchlug ihnen
zur Zerſtreuung von dem anhaltenden Studieren
einen Spatzierritt auf ein, zwo Stunden von Jn-
golſtadt, gelegnes Dorf, vor. Sie nahmen den
Vorſchlag an, und ritten hin. Siegwart dachte
auf dem ganzen Wege an ſein liebes Maͤdchen. Es
ſchmerzte ihn im Jnnerſten, die Stadt, in der ſie
lebte, nur auf einige Stunden zu verlaſſen. Er
glaubte, weis nicht wieviel, zu verſaͤumen, ob er
gleich nicht die geringſte Hofnung hatte, ſie zu ſpre-
chen, oder nur zu ſehen. — Was mag ſie jetzt
machen? dachte er beſtaͤndig. Jetzt wird der En-
gel wohl beten; jetzt wird er vor Gott knien u. ſ. w.
Moͤcht ich ſie nur einen Augenblick erblicken!
Moͤchte ſie nur einen Augenblick an mich denken!
Aber, ach, wie kann ſie das? Wer weis, ob ſie
mich bemerkt hat? Vielleicht iſt ein andrer bey ihr!
Solche und aͤhnliche Vorſtellungen ſtuͤrzten ihn in
die tiefſte Traurigkeit, aus der ihn faſt nichts her-
ausreiſſen konnte. Auf dem Dorfe hatten ſie we-
nig Vergnuͤgen, und konnten nicht einmal zuſam-
men ſprechen, denn die vielen andern Studenten,
die da waren, machten mit Geſang und Zank beym
Spiel einen ſolchen Lerm, daß man kaum ſein eig-
nes Wort verſtand. Gegen Abend ritten ſie in der
Daͤmmerung wieder zuruͤck. Alle drey Lieben-
de waren jetzt noch wehmuͤthiger; jeder dachte
ſich zu ſeinem Maͤdchen hin. Als ſie gegen die
Stadt hin ritten, begegnete ihnen ein Scharfrich-
ter, der auf ſeinem Karren das ertrunkne Maͤdchen
fuhr. Der Ungluͤcklichliebende, ſagte Kronhelm, der
ſich mit der ganzen Schwere ſeines Jammers bela-
den, ſelber in die Grube ſtuͤrzt, hat alſo einerley
Schickſal mit dem Boͤſewicht, der ſich im Kerker
umbringt, um dem Galgen zu entgehen; oder mit
dem Betruͤger, der, weil er ſeinen Glaͤubigern nicht
mehr entgehen kann, ſich dem Tod in den Rachen
wirft? Wie wenig ſehn doch die meiſten buͤrgerli-
chen Geſetze auf das Moraliſche an einer Handlung!
Laß ſie ruhen! ſagte Siegwart; ihr iſts einerley,
wo ihr Koͤrper liegt. — Das wohl! antwortete
Kronhelm; aber das Ungluͤck verdiente doch eine
beſſere Behandlung, als die Bosheit!
Sie hielten nun noch zu Haus ein kleines Kon-
cert, das, weil alle gleich traurig geſtimmt waren,
groͤſtentheils aus wehmuͤthigen Trios beſtand. Nach-
dem Siegwart ſich den ganzen Abend nach dem
Koncert mit dem Gedanken an ſeine himmliſche
Unbekannte beſchaͤftiget hatte, ſo wuͤnſchte er nichts
mehr, als von ihr zu traͤumen, und ſie wenigſtens
im Traum zu ſehen. Aber dieſe Wohlthat ward
ihm nicht zu Theil. Er wuͤnſchte ſie ſich ſo oft,
und immer umſonſt. Zu lebhafte und gegenwaͤrti-
ge Vorſtellungen kommen ſelten im Traume wieder;
ſie muͤſſen mehrentheils erſt mit dem Flor der Ver-
gangenheit umzogen ſeyn.
Als Siegwart ein paar Tage drauf des Nach-
mittags um drey Uhr aus dem Kollegio gieng, da
ſah er, etliche Haͤuſer vor ihm, ſein geliebtes Maͤd-
chen gehen. Das Herz ſchlug ihm, und er eilte,
was er konnte. Sie gieng in ein gutgebautes Haus
hinein. Wer wohnt hier? ſagte er in der Ver-
wirrung zu einem kleinen zwoͤlfjaͤhrigen Maͤdchen,
und erſchrack gleich ſelbſt wieder uͤber ſeine Frage.
Es wohnt ein reicher Herr da, ſagte das Maͤdchen;
man nennt ihn nur Herr Spiegel. Jetzt wuſte
er ſo viel, wie vorhin, und wagte es doch nicht,
ſonſt jemand um den Herrn Spiegel zu fragen;
weil er fuͤrchtete, jeder werde ſogleich die Abſicht
ſeiner Frage muthmaſſen. Er gieng alle Tage
zwey- oder dreymal bey dem Hauſe vorbey; ſah
aber ſeine Holde nie am Fenſter. Die ganze Wo-
che verfloß ihm unter Seufzern nach dem Sonn-
tag, weil er da gewiß wieder ſein liebes Maͤdchen
in der Kirche zu ſehen hoffte. Viele Stunden, ja
halbe Tage lang beſprach er ſich in Gedanken mit
ihr, klagte ihr ſeine Leiden vor, und ließ ſie zaͤrtlich
wieder antworten. Er ſann ganze Romanen aus,
und dachte ſich in Lagen hinein, in denen ſie noth-
wendig ſein werden muſte. Oft wuͤnſchte er ſie in
Lebensgefahr; daß Feuer in ihrem Hauſe auskom-
men moͤchte, und er ſie befreyen koͤnnte. Er dach-
te ſie in Waſſergefahr, rettete ſie, und nun gab ſie
ihm zur Dankbarkeit ihre Hand. Aufs lebhafteſte
fuͤhlte er die Wonne, mit der er ſie an ſein Herz
druͤckte; den Blick der Dankbarkeit und Liebe, den
ſie auf ihn warf; dann eilte er zu ihrem Vater,
zeigte ihm die befreyte Tochter, und ward ihr
Braͤutigam. Nur ein Liebender, wie unſer Sieg-
wart, kann ſich die ſchwaͤrmeriſchen und zaͤrtlichen
Geſpraͤche denken, die dann ſeine Seele mit ihr
fuͤhrte. — Aber Seufzer, und Bangigkeit, und
Thraͤnen waren immer das Ende dieſer ſuͤſſen Traͤu-
mereyen. —
Den naͤchſten Sonntag kam er erſt um neun Uhr
in die Kirche. Sein Kronhelm war zu ihm aufs
Zimmer gekommen, um von Thereſen zu ſprechen;
und wenn er von ihr anfieng, ſo konnte er nicht
aufhoͤren. Siegwart war mit ſeiner Seele abwe-
ſend, und antwortete verwirrt, aber Kronhelm merk-
te es nicht. Ein paarmal ſah er auf die Uhr. Jede
Minute ward ihm zu einer Stunde. Dieß war
das erſtemal, daß ihm ſein Freund zur Laſt fiel;
aber er ließ ſich doch vorſetzlich nicht das geringſte
merken. Endlich gieng Kronhelm. Siegwart eil-
te, was er konnte, und kam ganz athemlos vor die
Kirche. Als die Thuͤre aufgieng kam eben ſein
Maͤdchen mit der Frau, die er fuͤr ihre Mutter
hielt, ihm entgegen. Er war, wie vom Donner
geruͤhrt. Sein Geſicht gluͤhte. Er gieng ſchnell
an ihr vorbey, und machte in der Angſt kaum eine
Verbeugung. Sie gruͤſte ihn freundlich. Er eilte,
ohne ſich ſeiner bewußt zu ſeyn, nach dem naͤchſcen
Stuhl, und ſah ſich um. Jn dem Augenblick gieng
die Thuͤre zu. Sein Herz klopfte laut. Er woll-
te wieder umkehren; beſann ſich aber ploͤtzlich, daß
man ſeine Abſicht merken wuͤrde. Er war Kron-
helm, ſich ſelbſt, und der ganzen Welt boͤſe, daß er
zu ſpat gekommen war. Es war ihm unmoͤglich-
lang da zu bleiben. Nach etlichen Minuten eilte
er wieder weg, und der Straſſe zu, wo ihr
Haus war, aber er ſah ſie nicht mehr. Er wollte
nach Hauſe; aber vor der Thuͤre fiel ihm wieder
ein, Kronhelm wuͤrde aus ſeiner ploͤtzlichen Zuruͤck-
kunft etwas folgern. Er gieng alſo wieder weg,
rannte noch einige Straſſen durch, und wuſte nicht,
wo er bleiben ſollte? Endlich gieng er aus einem
Thor; rannte weit ins Feld hinaus, ohne die Na-
tur um ſich her zu bemerken, und kam nach einer
Stunde wieder nach Haus zuruͤck. Gutfried war
ſchon bey Kronhelm auf dem Zimmer. Sie laſen
mit einander Leſſings Sara, die ein junger Herr
von Dahlmund an Gutfried geliehen hatte. Da
haben wir was herrliches, ſagte Kronhelm zu Sieg-
wart; ſieh einmal! Leſſings vermiſchte Schriften.
Das iſt gut! ſagte Siegwart ganz zerſtreut. Jch
hab eben angeſangen zu leſen, fiel Gutfried ein; es
iſt Miß Sara Sampſon. Jch kann ihnen mit
ein paar Worten ſagen, was vorhergieng; wenn
ſie wollen, les ich weiter. — Ganz wohl, antworte-
te Siegwart; ſetzte ſich in eine Ecke des Fenſters,
und ſtuͤtzte die Hand an den Kopf. Er hoͤrte faſt
nichts, und war mit ſeinen Gedanken weit weg;
nur, wenn die andern eine Stelle lobten, ſagte er
auch: das iſt vortreflich! ohne zu wiſſen, wovon
die Rede war; nach dem Eſſen laſen ſie weiter
fort, und als das Stuͤck geendigt war, ſagten ſie
einander ihre Meynung druͤber. Als Siegwart
die ſeinige auch ſagen wollte, ſo wuſte er gar nichts,
oder urtheilte ganz verkehrt. — Wo waren ſie
denn mit ihren Gedanken? fragte Gutfried. Jch
weis nicht, was ihm fehlt? fiel ihm Kronhelm ein.
Er iſt eine Zeit her ganz zerſtreut. Siegwart wur-
de feuerroth druͤber, und ſah nach dem Fenſter. —
Den ganzen Tag war er auſſerordentlich traurig
und verdrießlich.
Die folgende Woche floß ihm wieder unter Thraͤnen,
Seufzern und ſchwaͤrmeriſchen Traͤumereyen hin.
Kronhelm merkte die Veraͤnderung, die in ſeinem gan-
zen Weſen vorgieng; er ſpielte oft drauf an; aber doch
nahm er ſich Acht, weiter deswegen in ihn zu dringen,
theils, weil er merkte, daß ihm Siegwart auf
alle moͤgliche Art auswich, theils, weil er ſelbſt ei-
ne ungluͤckliche Liebe muthmaſte, und aus ſeiner
eigenen Erfahrung wuſte, wie hart es einem an-
komme, ſeine Leidenſchaft einem andern, auch ſei-
nem beſten Freunde zu entdecken. — Der Sonntag,
den ſich Siegwart ſo ſehnlich herbeygewuͤnſcht hat-
te, kam endlich wieder. Er eilte, noch vor ſieben
Uhr, auf den Fluͤgeln der Liebe, nach der Kirche.
Sein Maͤdchen war ſchon da, ſchoͤn und heiter,
wie ein Engel Gottes. Siegwart ſaß gegenuͤber,
und zerfloß faſt vor Wonne in dem Anblick ihrer
Schoͤnheit. So genau hatte er ſie noch nie betrach-
tet. Er ſah erſt jetzt den ganzen Glanz ihrer un-
ausſprechlichen Anmuth; ihr groſſes, kaſtanienbrau-
nes, mit Feuer und edelm Stolz belebtes Auge,
uͤber dem ſich die ſchwarzen Augenbraunen maje-
ſtaͤtiſch woͤlbten; die hohe, offne, heitre Stirne;
die ſo regelmaͤſſig gebildete Naſe; den ſanfteſten,
anmuthsvollſten Mund; die friſchrothen glaͤnzenden
Lippen; das runde, weiſſe, weiche Kinn, von dem
ſich zwo zarte blaue Adern nach dem weiſſeſten und
ſchoͤnſten Hals hinabſchlaͤngelten; das lieblichſte
Farbengemiſch von Weiß und Roth auf den zarten
Wangen; und die nicht zu beſchreibende Ueberein-
ſtimmung aller dieſer Zuͤge; und die himmli-
ſche Anmuth, die uͤber das Ganze ausgegoſſen war,
und die die Schoͤnheit erſt zur Schoͤnheit macht;
und das, nicht kuͤnſtlich, aber ſchoͤn aufgethuͤrmte
blonde Haar; und das Ebenmaaß der Glieder,
und den ſchlanken hohen Wuchs, und alles, alles,
was man ſich von einer regelmaͤſſigen und be-
lebten Schoͤnheit denken kann. Hiezu kam die
Andacht, die jede Schoͤnheit noch verſchoͤnert, und
die offene Freundlichkeit, mit der ſie jeden, der bey
ihrem Stuhl vorbeygieng, gruͤſte. Jhre Kleidung
war geſchmackvoll, regelmaͤſſig, ſchoͤn, und doch
nicht praͤchtig. Jn ihren Haaren ſteckten Blumen,
die Vergißmeinnichtchen vorſtellten; ihr Buſen war
mit Sittſamkeit verſchleyert; ihr Gewand von
himmelblauer Seide. Sie ſah unſern auſſer ſich
gebrachten Siegwart zu verſchiednenmalen, und
ſchlug die Augen nieder, wenn ers merkte. Er ward
traurig, ſobald ſie eine Zeitlang nicht nach ihm
blickte, und wandte doch ſein Auge von ihr weg,
ſobald ſie’s that. Er machte traurige Gebaͤrden, in
der Abſicht, daß ſies merken, und Mitleid mit
ihm haben ſollte. Als ſie weggieng, gieng er auch,
und folgte ihr, ungefaͤhr 20 oder 30 Schritt weit,
hinter ihr nach. Sie gieng in des Hofrath Fi-
ſchers Haus. Er erſchrack druͤber. Gott! wenn
der Hofrath ihr Vater iſt, dachte er, ſo iſt mein
Ungluͤck vollkommen. Wenn der ſtolze Mann ihr
Vater iſt, was fang ich an? — Er gieng zu
Gutfried, der, wie ſchon geſagt, dem Hofrath ge-
genuͤber wohnte, und eben aus dem Fenſter ſah,
und ihn hinaufrief. Gutſried, der die Fiſcherin auch
liebte, blieb im Fenſter liegen, als Siegwart auf das
Zimmer kam, und rief ihn, um neben ihm hinaus zu
ſehen. — Das iſt die Fiſcherin, ſagte er, und ſeufzte,
indem ſie eben in der Stube nah am Fenſter ſtand,
und ihre Kirchenkleider auszog. Sie warf einen Blick
heruͤber, und gieng weg, indem ſie die beyden Juͤng-
linge erblickte. Siegwart zitterte, ward feuerroth,
und konnte kein Wort ſprechen. Nun wards ihm
erſt auf Einmal wichtig, und ein Stachel im
Herzen, was er ſchon ſo lang gewuſt hatte, daß
ſein Freund des Hofraths Tochter liebe. Er gieng
einigemal im Zimmer auf und ab, wollte gern
noch mehr von ihr erfahren, und hielt hundertmal
die Frage, die ihm ſchon auf der Zunge lag, wie-
der zuruͤck. Endlich ſtieß er haſtig und erſchrocken
die Frage heraus: Es iſt wohl ein gutes Maͤdchen,
die Fiſcherin? und lehnte ſich ans Fenſter, damit
ſein Freund ſein Geſicht nicht ſehen moͤchte, denn
es gluͤhte. — O, ſie iſt ein auſſerordentliches Frau-
enzimmer, ſagte Gutfried, zu deren Lob man ei-
gentlich nichts ſagen ſollte, weil man doch immer
nur zu wenig ſagt, und ich kanns am wenigſten.
Jch kenne ſie nun uͤber zwey Jahre, und jeden
Tag wird ſie artiger und ſchoͤner. Sie hat das
Herz eines Engels, das iſt alles, was ich ſagen
kann. — Beyde ſchwiegen nun wieder eine Zeit-
lang, und ſahn aus dem Fenſter. Sie kam wie-
der in ihr Zimmer, weiß gekleidet mit roſenrothen
Baͤndern, ſtellte ſich ans Fenſter, und ſah ein
paarmal heruͤber. Dann gieng ſie an ihr Klavier,
und ſpielte. Alles, was Siegwart hoͤren konnte,
war bezaubernd ſchoͤn. Er glaubte im Paradies zu
ſeyn, und Harmonien der Engel anzuhoͤren. —
Sie ſpielt ja himmliſch! ſagte Siegwart. — O, bey
Nacht ſollten Sies erſt hoͤren, verſetzte Gutfried,
wenn alles ſtill iſt; da weis man nicht mehr, ob
man im Himmel, oder auf der Welt iſt? — Zu-
mal, wenn ſie ſingt. Das iſt ein Silberton! Ein
… ein … Ach, man kanns nicht ſagen! —
Sie ſingt auch zuweilen im Konzert, da koͤnnen
Sie ſie hoͤren. — Wo? fragte Siegwart haſtig. —
Jn ihrem Hauſe, war die Antwort. — Jhr Va-
ter hat im Winter alle Wochen Konzert, es wird
nun bald wieder anfangen. — Kann man da
auch drein gehen? fragte Siegwart. O ja, ant-
wortete Gutfried, wenn man nur den Hofrath
drum erſucht; zumal wenn man ſelbſt zuweilen mit-
ſpielt. Kronhelm und ich gehen auch drein. —
Aber der Hofrath iſt ſo ein ſtolzer Mann, erwie-
derte Siegwart. — Je nu, das muß man uͤber-
ſehn! verſetzte Gutfried. —
Und nun hoͤrten ſie dem Spiel Marianens —
ſo hieß die Fiſcherin — wieder zu, und ſchwam-
men beyde in uͤberirdiſchem Entzuͤcken, und wol-
luſtreicher Wehmuth. Mariane trat wieder ans
Fenſter; die beyden zaͤrtlichen Liebhaber traten zu-
ruͤck, um ſie nicht zu beleidigen, und blickten nur
halb durch die Vorhaͤnge durch. Marianens Bru-
der kam nun auch ans Fenſter. Der ſchlaͤgt ſei-
nem Vater nach, ſagte Gutfried, und uͤbertrift ihn
noch ein Gutes an Stolz und Hochmuth. Der
Menſch iſt ſo in ſich vernarrt, als ich noch nicht
leicht einen geſehen habe. Auf ſein rundes, auf-
gedunſenes Geſicht thut er ſich unendlich viel zu
gut. Er bildet ſich ein, er ſey ein groſſer Violin-
ſpieler, und auf der Floͤte gar ein Virtuoſe, und doch
iſt er auf beyden Jnſtrumenten kaum mittelmaͤſſig.
Dabey iſt er noch auf eine ſchaͤndliche Art filzig.
Was ich ihm aber am wenigſten vergeben kann,
iſt, daß er ſeiner Schweſter allen moͤglichen Ver-
druß anthut. Jmmer neckt er ſie und plagt ſie.
Jch habs ſchon hundertmal von hier mit angeſehn
Einmal hat er, mit Huͤlfe ſeines Bruders, ſeinen
Vater ſchon ſo weit gebracht, daß das Maͤdchen
ins Kloſter ſollte, aber ſie wehrte ſich ritterlich,
und ward von ihrer Mutter, die eine trefliche Frau
iſt, unterſtuͤtzt. — Sehen Sie, da kommt die
Mutter eben auch. — Dacht ichs nicht? Da
faͤngt er ſchon wieder einen Zank mit ſeiner Schwe-
ſter an. Der verteufelte Kerl! — Aber warum
gehn Sie denn mit ihm um? Jch traf ihn ja ſchon
ein paarmal bey Jhnen an, ſagte Siegwart. —
Gutfried zuckte die Achſeln. Was muß man nicht
alles in der Welt thun, wenn man Abſichten erreichen
will? Es iſt hundsfuͤtiſch genug, daß man ſich mit
ſolchen Kerls abgeben und ihrer Gnade leben muß!
— Siegwart merkte wohl, wo das hinaus wollte,
und ſuchte das Geſpraͤch abzulenken. — Und wo
iſt denn der andre Bruder? ſagte er. — Hier in
Jngolſtadt, verſetzte Gutfried; dort droben wohnt
er, an der Ecke. Er iſt bey einem Kollegio ſo viel,
als Sekretair, und an ſich ſo toll nicht, wie ſein
Bruder; aber dafuͤr hat er ein Weib, von dem er
ſich regieren laͤſt; und das Weib iſt nicht einen Hel-
ler werth; ein bigottes Ding, das immer fromm
ſeyn will, und es meiner Seel! nicht iſt. Da iſt
ſie immer hinter den Hofrath drein, und will, er
ſoll ſeine Tochter ins Kloſter ſtecken, und iſt doch
ſelbſt nicht drein gegangen. Der verfluchte Aber-
glauben mit dem Kloſter! Es iſt, auf meine Ehre!
nur auf das Geld angeſehen, das Mariane kriegen
ſoll; das moͤchten die feinen Herren Bruͤder thei-
len. O, ich hab ſo viel Mitleid mit dem armen
Maͤdchen, daß ich oft toll werden moͤchte. Sie
ſteht erſtaunlich viel aus; mich wundert nur, wie
ſies aushalten kann! Aber ſie hat auſſerordentlich
viel Standhaftigkeit, und iſt bey all ihrem ſanften
Weiberweſen doch ein halber Mann. Koͤnnt ich ſie
auf meine Seite bringen, ich wollts den Kerls
ſchon ſagen! Aber . . . . und hier ſeufzte Gut-
fried, und gieng auf die Seite. — Es wird Eſſens-
zeit ſeyn, ſagte Siegwart. Gutfried ſah auf der
Uhr nach, und ſie giengen mit einander auf Kron-
helms Zimmer.
Beym Eſſen wurde Siegwart durch allerley an-
dre Geſpraͤche etwas zerſtreut, und von dem Ge-
danken an ſeine Mariane abgezogen; aber oft
ſtralte das Bild von ihr wieder, wie ein Blitz, in
ſeine Seele, und machte ihn verwirrt, und weh-
muͤthig.
Sie waren zum Herrn von Dahlmund gebeten,
und blieben den Nachmittag und Abend bey ihm.
Dieſes war ein junger Edelmann von vielen Kennt-
niſſen, der, waͤhrend ſeines Aufenthalts in Augſpurg
viel mit dem jungen Buchhaͤndler umgegangen war,
der unſerm Siegwart und Kronhelm die Buͤcher
zugeſchickt hatte. Durch ſeinen Umgang, und in
ſeinem Laden war er mit unſern beſten proteſtanti-
ſchen Schriftſtellern, und beſonders Dichtern be-
kannt geworden, und hatte auch die meiſten mit
nach Jngolſtadt gebracht. Als er bey Gutfried
von Kronhelm und Siegwart, und ihrer Liebe zu
den ſchoͤnen Wiſſenſchaften hoͤrte, ſo war er nach ih-
rer Bekanntſchaft ſehr begierig; denn ſie waren
unter den Studenten die einzigen, die in dieſem
Stuͤcke aufgeklaͤrt dachten. Alle andre Studenten
waren roh und unwiſſend, und groͤſtentheils im
tiefſten Aberglauben verſunken, worinn die meiſten
Profeſſors, und die Jeſuiten am vorzuͤglichſten, ſie
zu erhalten ſich beſtrebten. Er hatte viele Buͤcher,
die Siegwart und Kronhelm nicht hatten. Alſo
konnten ſie hierinn einander aushelfen. Er hatte
auch ſonſt ſo viel Gutes an ſich, und war ſo geſittet
und tugendhaft, daß unſre vier Juͤnglinge ſehr bald
Freunde wurden, und eine woͤchentliche Zuſammen-
kunft ausmachten, wovon hauptſaͤchlich die ſchoͤnen
Wiſſenſchaften der Gegenſtand waren. Sein Zim-
mer lag ſehr angenehm, gegen die Donau hinaus.
Er bewirthete ſeine Geſellſchaft dießmal mit Wein,
der unſre Juͤnglinge ziemlich luſtig und offenherzig
machte. Siegwarts erhitzte Einbildungskraft brach-
te ihn mit der groͤſten Lebhaftigkeit zu ſeiner Ma-
riane. Die Thraͤnen ſtanden ihm oft in den Au-
gen. Als Gutfried anfieng, mit Enthuſiasmus ſie
zu loben, muſte er weggehn, um ſeine Bewegung
zu verbergen. Er legte ſich ins Fenſter, und uͤber-
ſah die Donau, die im hellen Mondſchein dahin-
rollte. Das mannigfaltige Spiel der Wellen, die
da, wo ſie auf den Kieſeln huͤpften, lauter goldne
Sternchen bildeten, erhitzte ſeine Einbildungskraft,
und brachte tauſenderley Vorſtellungen hervor, die
ſich alle auf Marianen bezogen. Kronhelm kam zu
ihm; ſchlang ſeinen Arm um ſeinen Arm, ſah weh-
muͤthig mit ihm hinaus, und kuͤſte ihn ein paarmal
mit naſſen und bethraͤnten Wangen. Siegwarts
Zaͤhren floſſen auch. Ach Bruder, ſagte Kronhelm,
weiſt, an wen ich denke? — Was mag jetzt un-
ſre Thereſe machen? Denkt ſie wohl jetzt auch an
dich und mich? — Ja, ſie denkt noch oft an dich,
ſagte Siegwart; ſie kann dich nicht vergeſſen! Du
biſt ihr zu tief ins Herz gegraben. Jch hoffe, daß
du noch mit ihr gluͤcklich werden wirſt. Trage
nur Geduld! Ohne Hofnung und Geduld muͤſten
Q q
wir vergehen. — Hier ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen
haͤufiger von den Augen. Er ſah ſeinen Kron-
helm ein paarmal mit unausprechlicher Zaͤrtlichkeit
an. Es war ihm, als ob er dießmal reden, und ſein
Herz ausſchuͤtten muͤſte. Aber Furchtſamkeit hielt
ihn immer wieder wie eine geheime, unſichtbare
Gewalt zuruͤck. Gutfried und Dahlmund kamen,
und riefen ſie wieder zum Trinken. — Wir wol-
len eins ſingen! ſagte Dahlmund, und fieng das
Lied von Kleiſt an: Freund, verſaͤume nicht zu le-
ben ꝛc. Endlich ſangen ſie auch das Studenten-
lied: Was den Muſen ſoll gefallen ꝛc. das ſich
ſchlieſt: Vivat deine — — hoch! wo zwiſchen
den zwey letzten Worten jeder den Namen eines
Maͤdchens ſingen muß. Dahlmund ſang: Eliſe;
Kronhelm: Thereſe; und Gutfried: Mariane.
Nun kam die Reihe auch an Siegwart. Er ſtund
an, und wuſte nicht, welchen Namen er ſingen ſoll-
te? Er entſchuldigte ſich, er habe ja kein Maͤd-
chen. — Ey, du muſt eins haben, ſagte Kronhelm,
du biſt ja unaufhoͤrlich traurig. Siegwart erroͤthe-
te, und wollte ſich entſchuldigen. — Nun, ſchon
gut! verſetzte Kronhelm, wir wiſſens ja! Sing,
was du willſt: Suſanne, oder Kunigunde! Sieg-
wart ſang: Suſanne! — Dieſe Rede Kronhelms
machte unſern Siegwart noch furchtſamer und zu-
ruͤckhaltender. Beym Nachhauſegehen begleiteten
ſie Gutfried, und giengen alſo bey des Hofrath Fi-
ſchers Haus vorbey, wo noch Licht war. Sieg-
wart blickte mit banger Sehnſucht hinauf, und
hoͤrte Marianen Klavier ſpielen und | ſingen. Er
waͤre ſo gern ſtehen geblieben, und haͤtte dem Ge-
ſang zugehoͤrt, aber ſeine Schuͤchternheit erlaubte
ihm nicht, ſeinen Kronhelm den Vorſchlag zu thun.
Er gieng alſo ſchweres Herzens mit ihm nach
Haus.
Den andern Tag konnte er erſt uͤber alle das
nachdenken, was er den Tag vorher gehoͤrt hatte.
Der Umſtand, daß Mariane des Hofrath Fiſchers
Tochter war, machte ihn ſehr traurig; denn da er
aus eigener Erfahrung, den ſtolzen Karakter dieſes
Mannes kannte, ſo ſah er alle Schwierigkeiten vor-
aus, die er haben wuͤrde, Marianen kennen zu ler-
nen; und doch war ihm der Gedanke unertraͤglich,
ſie, die Vollkommenſte, die ſein Herz ſo ſehr liebte,
nie zu ſprechen. Jns Konzert ſah er auch keine
Gelegenheit, zu kommen; er war theils zu ſtolz,
dem Mann, der ihn das erſtemal ſo veraͤchtlich be-
gegnet hatte, noch gute Worte deswegen zu geben;
theils war er auch, wenn die Liebe dieſen Stolz
noch uͤberwunden haͤtte, viel zu ſchuͤchtern in der
Liebe, und haͤtte tauſendmal gefuͤrchtet, die Abſicht,
warum er ins Koncert zu kommen wuͤnſchte, moͤch-
te verrathen werden. Auch Gutfrieds Liebe zu
Marianen machte ihn aͤuſſerſt unruhig, obwohl
Gutfried bey ihr nicht gluͤcklich zu ſeyn ſchien. Aber
eben dieſes erregte bey ihm auch die Beſorgnis, es
koͤnnte ihm eben ſo gehen. — Auf der andern
Seite freute ihn das viele Gute, was er von Ma-
rianens Denkungsart gehoͤrt hatte, auſſerordentlich,
und feſſelte ſeine ganze Seele nur noch mehr an ſie.
Von allen dieſen verſchiednen Empfindungen ward
ſein Herz immer mehr zerriſſen, und die ſchmerz-
hafte Wunde immer tiefer, ſo daß er in eine dun-
kele und verdrießliche Melancholie verfiel, die ihm
oft die ganze Welt, und ſich ſelbſt zuwider machte.
— Jn andern Stunden machte er wieder Entwuͤr-
fe auf Entwuͤrfe, und baute ein Luftſchloß nach dem
andern auf.
Gegen das Ende der Woche erhielt er einen
Brief von P. Philipp. Der rechtſchaffene Mann
fragte ihn darinn unter andern nach ſeinen theolo-
giſchen Studien, ob er noch Geſchmack daran finde,
und ſich gewiſſenhaft aufs Kloſter vorbereitete?
Dieſe Frage gab unſerm Siegwart einen Stich
durchs Herz. Seit dem Anfang ſeiner Liebe hatte
er zwar ſeine theologiſche Kollegia immer fleiſſig
beſucht, aber zu Hauſe hatte er ſich weniger mit den
Wiſſenſchaften, und beſonders den theologiſchen ab-
gegeben. Das Andenken an ſein Maͤdchen beſchaͤf-
tigte ihn allein. Er dachte ungern ans Kloſter,
und entfernte den Gedanken von ſich, ſo bald er ſich
ihm aufdringen wollte. Jetzt ward er ſo unvorbe-
reitet dran erinnert, daß er davor zuruͤckſchauerte.
Sein voriger Enthuſiasmus fuͤr das Kloſter; die
Geluͤbde, die er ſo oft bey ſich ſelbſt Gott gethan
hatte, dahin zu gehen; P. Anton; ſein Vater —
alles fiel ihm auf Einmal ein, und beſtuͤrmte ſein
Herz. — Gott! in welchem Jrrgang bin ich!
dachte er. Was fang ich an? Was unternehm ich?
Dir ungetreu? Dir, dem ich mich widmete? Und
die Welt ſoll mich feſſeln? Die Welt, die ich ſchon
ſo verachtete? — Gott! Gott! — Nein, ich muß
es halten, mein Geluͤbde! Muß ins Kloſter! —
Mariane! Mariane! (indem er umher gieng, und
die Haͤnde rang) Welt! Welt! Dich verlaſſen!
Dich und alles! Dich und Marianen! — So
dachte er wild und ſtuͤrmiſch hin und her; fuͤhlte
ſich von allem losgeriſſen; wuſte nicht, woran er
ſich halten ſollte? — Bald betete er, widmete ſich
ganz Gott; bat ihn um Vergebung, daß er ihm ſo
lang ſein Herz entzogen habe! — Bald war ſeine
ganze Seele wieder bey Marianen, hieng an ihrem
Blick, und fuͤhlte es, daß nichts auf der Welt im
Stande ſey, ſie von ihr loszureiſſen. — P. Phi-
lipps Brief ſchloß er ein, damit er ihm nicht zu Ge-
ſichte kommen moͤchte; er wollte nicht dran den-
ken, und dachte doch immer dran. Es graute ihm
ſchon von fern vor der Beantwortung des Brie-
fes; aber auch daran mochte er noch nicht denken.
So tief wehmuͤthig, wie jetzt, war er vorher noch
nie geweſen. Alle Schwierigkeiten, die ſich ſeiner
Liebe haͤtten widerſetzen koͤnnen, waren ihm leicht
vorgekommen; aber dieſe letzte, gegen die er ſich bisher
immer eingeſchlaͤfert hatte, ſchien ihm jetzt unuͤber-
windlich. Er wuſte wohl, daß er, um ſeines Va-
ters willen, nicht ſchlechterdings gezwungen ſey,
ins Kloſter zu gehen; aber die Verpflichtung, die er
Gott ſchuldig zu ſeyn glaubte, erſchreckte ihn. Er
glaubte eine Untreue an ihm zu begehen, wenn er
die Welt der Zelle vorzoͤge. — Einigemal beſchloß
er feſt, alle Gelegenheit, Marianen zu ſehen, zu
vermeiden, und ſo wenig, als moͤglich, an ſie zu
denken. — Nur noch Einmal, dachte er dann
wieder, muß ich mich an ihrem Anblick weiden,
und auf ewig von ihr Abſchied nehmen. Nur noch
Einmal will ich in die Kirche! — Jn andern
Stunden dacht’ er wieder: Sehen kann ich ſie
doch wohl; das iſt keine Suͤnde; nur nie ſprechen
muß ich ſie, und den Gedanken aus der Seele
bannen, mich um ihre Liebe zu bewerben, oder auch
nur ſie zu wuͤnſchen. — Nun ward er ruhig,
und glaubte, einen herrlichen Ausweg gefunden zu
haben; aber, wie wenig kannte er ſich ſelbſt! Kaum
ſah er Marianen am Sonntag wieder, ſo waren
alle ſeine Entſchluͤſſe umgeſtoſſen, und er dachte nichts,
als ſie. — Jch kann, ich kann nicht anders! dach-
te er; Gott vergeb mirs! Jch bin nicht mein eig-
ner Herr mehr! — Die Antwort an P. Philipp
machte ihm bey ſeiner zarten Gewiſſenhaftigkeit
wieder neuen Kummer. Er wollte ihm nicht ſchrei-
ben, daß er noch eben ſo eifrig und enthuſiaſtiſch
ans Kloſtergehen denke, wie vor Zeiten; und noch
weniger konnte er ihm ſeine Abneigung davon, und
die Urſache dieſer Abneigung melden. Er ſchrieb
alſo etwas zweydeutig: Die Theologie gefall ihm
wohl, aber er hoͤre jetzt noch mehr philoſophiſche
Kollegia, als theologiſche; und das war auch im
Grunde wahr. Jetzt vergaß er wieder alles, und
ward, von dieſer Seite, ruhig.
Die Woche drauf kam des Hofrath Fiſchers Be-
dienter zu Kronhelm, als Siegwart eben bey ihm
auf dem Zimmer war, und lud ihn zum kuͤnftigen
Winterkonzert ein. Koͤnnen Sie mir nicht ſagen,
ſetzte er hinzu, wo Herr Siegwart wohnt? Jch ſoll
auch zu ihm. O ja, antwortete Kronhelm; hier iſt
Herr Siegwart ſelbſt. Der Bediente richtete eine
Empfehlung an ihn vom Hofrath Fiſcher aus,
und ſagte ihm, der Herr Hofrath wuͤrde ihn auch
gern im Koncert ſehen, weil er gehoͤrt habe, daß er
die Violine und die Floͤte ſpiele. Siegwart wuſte
nicht, was er in der Verwirrung antworten ſollte?
Machte viele Komplimente, und ſagte zu. Als der
Bediente weg war, ſagte er zu Kronhelm. Es iſt
mir nur halb lieb, daß ich zugeſagt habe; der Hof-
rath moͤchte glauben, er erweiſe mir eine groſſe
Gnade, und Gnaden nehm ich eben nicht gern an.
Kronhelm zeigte ihm, daß das Grillen waͤren;
man muͤſte in der Welt nicht alles ſo genau neh-
men ꝛc. und beruhigte ihn. Jm Grunde freute
ſich Siegwart uͤber den Antrag ſehr; er wollte ſich
nur recht gleichguͤltig bey der Sache ſtellen, um de-
ſto weniger entdeckt zu werden. Am Sonntag ſah
er ſeine Mariane in der Kirche wieder; ſie ent-
zuͤckte ihn immer mehr, und einigemal glaubte er
zu bemerken, daß ſie Antheil an ihm nehme. We-
nigſtens waren ihre Blicke oft auf ihn geheftet-
und, wenn er bey Gutfried war, ſah ſie fleiſſig aus
dem Fenſter.
Am Mittewoch nahm das Konzert ſeinen An-
fang. Siegwart gieng mit ſchwerem Herzen hin,
nachdem er ſich vorher ſehr ſorgfaͤltig angekleidet
hatte. Als er in den Saal trat, machte er dem
Hofrath ein verwirrtes Kompliment. Dieſer war
ſehr hoͤflich, freute ſich, ihn wieder in ſeinem
Hauſe zu ſehen, ſagte, daß er viel Gutes von ſei-
nem Violin- und Floͤtenſpielen gehoͤrt habe, und
ſtellte ihn dann ſeiner Frau, und ſeiner Tochter,
die an der Seite ſtanden, mit den Worten vor:
Das iſt der junge Herr Siegwart, deſſen Vater
ein alter Freund von mir iſt. Die Mutter, eine
Frau von der angenehmſten Bildung, machte ihm
ein ſehr verbindliches Kompliment. Mariane ver-
neigte ſich ſtillſchweigend. Siegwart gluͤhte im
Geſicht, und buͤckte ſich, ohne ein Wort zu ſpre-
chen, ſehr tief. Drauf ſtellte ihn der Hofrath der
uͤbrigen Geſellſchaft vor, und bat ihn, bey der
Symphonie die zweyte Violine mit zu ſpielen.
Siegwart war froh, daß er etwas auf die Seite
gehen, und Luft ſchoͤpfen konnte. Er ſtimmte ſeine
Violine, und konnte ſie, in der Angſt, kaum zu
Stande bringen. Endlich gieng das Konzert an.
Mariane ſaß unſerm Siegwart gegenuͤber. Er
machte in ſeinem Spiel tauſend Fehler, und ward
noch verwirrter, weil er fuͤrchtete, die Zuhoͤrer
moͤchten es merken. Endlich erholte er ſich etwas
von ſeiner Verwirrung, und ſpielte ordentlicher. —
Bey einem Floͤtenkonzerte, das Gutfried machte,
ruhte er, und lehnte ſich an die Wand, Maria-
nen gegenuͤber. Er glaubte, bey der ſchmelzenden
Muſik, und dem Anblick ſeines Maͤdchens, das
er noch nie ſo nah bey ſich geſehen hatte, zu ver-
gehen. Sie ſaß, in aller ihrer Anmuth, aufs
niedlichſte und kunſtloſeſte gekleidet, da; ihre
Seele war ganz auf die zaͤrtliche Muſik gerichtet;
ſie ſchien jeden wahren Ton im Jnnerſten zu fuͤh-
len, und druͤckte oft ihren Beyfall durch eine kleine
Bewegung aus. Oft hub ſie ihr ſchoͤnes Aug in
die Hoͤhe, und richtete es dann auf Siegwart, der,
in uͤberirdiſche Entzuͤckungen verſunken, da ſtand,
und vor lauter Empfindung nichts von dem fuͤhl-
te, was um ihn herum vorgieng. Zuweilen drang
ſich ihm ein tiefer Seufzer aus der Bruſt, den er
aͤngſtlich zu verbergen ſuchte. Selten wagte ers, ſie
lange anzuſehen, weil er von tauſend Augen be-
merkt zu werden glaubte. Mariane ſang dießmal
nicht; ein paar andre Frauenzimmer aus der Stadt
ſangen ziemlich artig. Als das Konzert zu Ende
war, ſo wurden einige Solos und Konzerte auf
die kuͤnftige Woche ausgetheilt; Kronhelm uͤber-
nahm eins, und auch Dahlmund; aber unſern
Siegwart traf noch keins. Eh man auseinander
gieng, ſprach Kronhelm mit Marianen ziemlich
bekannt. Dieß that unſerm Siegwart weh, ob er
ihm gleich ſo herzlich gut war.
Sonſt aber wars ihm, als ob er neu gebohren waͤre.
Nun ſah er einen frohen, wonnevollen Winter vor
ſich. Sie alle Wochen Einmal, und des Sonntags in
der Kirche zu ſehen, war fuͤr ihn ein Gluͤck, das er jetzt
nicht groͤſſer wuͤnſchte. Jhre Blicke ſchienen ihm
auch viel Gutes zu prophezeihen, und das freundli-
che Betragen des Vaters fuͤllte ihn mit tauſend
Hofnungen. Als ſie zu Hauſe waren, ſagte Kron-
helm: Nun, wie gefaͤllt dir die Fiſcherin? Jſt
ſie nicht ein herrliches Geſchoͤpf, und zum Anbeten
ſchoͤn? — Von Auſſehen gefaͤllt ſie mir recht wohl,
antwortete Siegwart ganz kalt. — Das glaub ich,
ſagte Kronhelm; aber ihr Herz ſollteſt du erſt ken-
nen! Wart, ich will ſchon machen, daß du noch
genauer mit ihr bekannt wirſt. Da ſollſt du deine
Wunder ſehen! O, ſie hat ein himmliſches Ge-
muͤth! Nach deiner Schweſter kenn ich gar kein
beßres Maͤdchen. So viel Verſtand, ſo viel Em-
pfindung und Gutherzigkeit, ſo viel Feſtigkeit der
Seele, und edeln Stolz und Unſchuld trift man
ſelten beyſammen an. Ueberhaupt hat ſie mit The-
reſen ſehr viel Aehnlichkeit, nur daß ſie kaͤlter
ſcheint, und, wie mir deucht, etwas eigenſinnig
iſt, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will.
Jhre Mutter haft du auch geſehen; das iſt eine trefliche
Frau, die es ſelbſt nicht weis, wie gut ſie iſt. Sie
iſt die Beſcheidenheit und Froͤmmigkeit ſelbſt, und
liebt ihre Tochter uͤber alles. Man koͤnnte ſie fuͤr
uͤbertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt
alles aus gutem Herzen.
Siegwart legte ſich voll froher Vorſtellungen
ſchlafen. Das Verſprechen Kronhelms, ihn mit
Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm
tauſend glaͤnzende Ausſichten. Er ſah eine wonne-
volle Zukunft vor ſich, und machte tauſend Plane
von Gluͤckſeligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er
unter allerley Vorwand zu Gutfried, um ſie oft
zu ſehen, und ſie ſtand oft eine Viertelſtunde lang
am Fenſter, und blickte oft heruͤber. Jn der Kir-
che ſah er ſie auch wieder, und erhoͤhte ſeine An-
dacht durch die ihrige.
Den naͤchſten Mittewoch eilte er wieder ins Kon-
zert. Sie ſang bald zu Anfang eine Arie; er
ſtellte ſich, fern von ihr, in die andere Ecke des
Saals, um unbemerkt ihren Engelston zu hoͤren.
Seine ganze Seele war auſſer ſich, ſobald ſie an-
ſtimmte. Eine ſolche Empfindung hatte er in ſei-
nem Leben nicht gehabt. Jch kann ſie nicht be-
ſchreiben. Mitten in dem ſchmelzenden Geſang
machte ihr Bruder, der ihr auf dem Fluͤgel akkom-
pagnirte, ſolche Fehler im Spielen, daß ſie ploͤtzlich
abbrach, vom Pult weggieng, und ſich unwillig auf
ihren Stuhl niederſetzte. Unſerm Siegwart wars,
als ob er aus dem hellſten Sonnenſchein mit Einem-
mal in die tiefſte ſchauervollſte Gruft herabſtuͤrzte.
Der Bruder ſprang haſtig auf, lief zu ihr hin,
verzerrte ſein Geſicht, und machte ihr die kraͤnkendſten
Vorwuͤrfe. Sie ward roth, und unwillig. Noch
nie hatte ſie unſerm Siegwart ſo gefallen; auf
den Bruder warf er einen Blick voll Verachtung,
und haͤtt ihn in dem Augenblick vor die Stirne
ſchlagen koͤnnen. Endlich kam der Hofrath und
ſeine Frau, und beſaͤnftigten den Bruder; aber
Mariane ließ ſich nicht mehr bewegen, fort zu ſin-
gen. Sie ſaß, immer noch roth im Geſicht, mit
hingeſenktem Blick da, und konnte die Zaͤhren des
Unwillens kaum zuruͤck halten. Hierauf ſpielten
Kronhelm, Dahlmund, und ein paar andre, noch
Konzerte. Siegwart hieng mit ſchmachtendem Blick
an Marianens niedergeſchlagenen Augen. Der
Verdruß und Schmerz, der aus ihren Mienen
blickte, drang ihm durch die Seele, und lockte ihm
auch Thraͤnen in die Augen.
Bey Endigung des Konzerts ward unſerm Sieg-
wart auf den kuͤnftigen Mittewoch ein Violinkon-
zert aufgetragen; er uͤbernahm es, ob ihm gleich
bange war, ſich vor Marianen hoͤren zu laſſen.
Heut hatte er auf Gutfrieds Betragen ſorgfaͤltig
Acht gegeben. Er hatte ſeine Blicke wohl bemerkt,
wie ſie ſchmachtend an ihr hiengen, aber Mariane
ſah ihn nur Ein- oder Zweymal, und dabey ziem-
lich gleichguͤltig an. Noch einen andern Menſchen,
der ſchon in den dreyſſigen zu ſeyn ſchien, und den
man Rath nannte, ſah er oft, und zaͤrtlich nach
ihr blicken; aber dieſen ſchien ſie noch weniger zu
bemerken. Dagegen ward er wegen ſeines Kron-
helms unruhiger, mit dem ſie vor dem Weggehen
wieder, und, wie er glaubte, ſehr vertraulich,
ſprach. Auch war ihm kein Blick entgangen, den
ſie auf ihn| richtete; und, als er ſein Konzert aus-
geſpielt hatte, bemerkte er genau, wie ſie ihm Bey-
fall zuklatſchte. Er kaͤmpfte zwar lang gegen ſich
ſelbſt, ihr und ſeinem Freunde nicht Unrecht zu
thun, zumal da er von dem letzten ſo gewiß uͤber-
zeugt war, daß ſeine Seele nur allein an There-
ſen hange. Er machte ſich ſelbſt Vorwuͤrfe, daß
er gegen ſeinen liebſten Freund nur der geringſten
Argwohn hegen, und nur einen Augenblick unzu-
frieden auf ihn ſeyn konnte; aber ſeine Empfindung
ließ ſich nicht unterdruͤcken; ſie widerſetzte ſich ſei-
ner Vernunft und Ueberzeugung, und beunruhigte
ihn ſehr. Wenigſtens, dachte er, kann doch Ma-
riane etwas fuͤr ihn fuͤhlen, wenn gleich er nichts
fuͤr ſie fuͤhlt.
Zu Hauſe ſprachen er und Kronhelm noch uͤber
das Konzert. Kronhelm ſchimpfte ſehr auf Ma-
rianens Bruder, und beſtaͤtigte alles das, was Gut-
fried ſchon von ihm unſerm Siegwart erzaͤhlt hat-
te. Das Mitleiden, das Kronhelm mit Marianens
Schickſal hatte, und das Lob auf ſie, in das er
aufs Neue ausbrach, machte unſern Siegwart
noch unruhiger. Er mochte ſich ſelber dagegen ſa-
gen, was er wollte, ſo ließ ſich doch ſein Herz
nicht uͤberreden, billiger zu denken. Er fuͤhlte an-
ders, als er glaubte. Am Sonntag drauf gieng
Kronhelm mit ihm in die Kirche. Auch das kam
ihm verdaͤchtig vor. Aber Mariane kam dießmal
nicht. Halb war ihms lieb, halb ſchmerzlich. Den
Montag drauf ward eine Schlittenfahrt angeſtellt,
und nach dieſer ein Ball. Kronhelm ſagte zu Sieg-
wart: Du muſt auch mit machen, Xaver. Wenn
du willſt, ſo will ich bey des Regierungsraths, Os-
walds Tochter fuͤr dich anhalten. Sie iſt eine
Freundin von Marianen. Jch muß die Fiſcherin
fahren; ich hab ihrs ſchon im Herbſt zugeſagt. —
Ein neuer Donnerſchlag fuͤr den liebekranken, ſchon
halb eiferſuͤchtigen Siegwart. Nun ward ers ganz.
Nichts war im Stande, ihn zu uͤberreden, die
Schlittenfahrt mitzumachen. Kronhelm drang lang
in ihn, aber endlich ließ er nach. Die Schlitten
fuhren bey ſeinem Haus vorbey. Er ſah hinaus.
Kronhelm lachte freundlich zu ihm herauf. Ma-
riane ſah auch herauf, und gruͤſte freundlich. Aber
dießmal ruͤhrte ihn ihr Gruß nicht; er ſchlug das
Fenſter zu, zog ſich an, und lief aufs Feld hin-
aus. Hier irrte er lang im hohen Schnee herum;
zeichnete mit ſeinem Stock ihren Namen in den
Schnee, zernichtete ihn wieder, und ſprach viel
mit ſich ſelber. Er war halb erfroren, eh ers
merkte. Gegen Abend, als er wieder in die Stadt
kam, traf er gerade auf die Schlitten. Kronhelm
flog an ihm vorbey; er und Mariane gruͤſten.
Siegwart nahm den Hut trotzig ab, und ſetzte ihn
wieder tief ins Geſicht. Er gieng auf eine halbe
Stunde zu Gutfried, der ſich nicht recht wohl
befand. Aber er konnte nicht lang an einem Orte
bleiben, und gieng wieder nach Haus. Gutfried
hatte ihn nach der Schlittenfahrt gefragt; er ſagte
aber, er wuͤſte nichts davon. Der ganze Abend,
und die Nacht war ihm eine der traurigſten und
quaͤlendſten. Er machte ſich tauſend ungeheure Vor-
ſtellungen, die, ſo unwahrſcheinlich ſie auch waren,
ſeine aufgebrachte Leidenſchaft fuͤr wahr hielt. —
Jetzt tanzt ſie, dachte er; iſt von Stutzern und
abgeſchmackten Kerls umgeben; denkt an ihren ar-
men Freund, der hier im Stillen um ſie traurt,
nicht einen Augenblick; reicht vielleicht meinem
gluͤcklichern Freund die Hand, blickt ihn liebeſchmach-
tend an! — Gott ich kanns nicht aushalten!
Mach ein Ende mit mir! — So quaͤlte er ſich
uͤber eine Stunde mit den ſchrecklichſten Gedanken.
Endlich lehnte er ſich matt in ſeinen Lehnſtuhl
zuruͤck und ſchlief ein. Erſt nach drey Stunden,
R r
um halb zwoͤlf Uhr wachte er wieder auf. Sein
Licht war ausgegangen. Der Mond ſchien hell ins
Zimmer. Er legte ſich ins Fenſter, ſah ihn trau-
rig an, wie er bald hell und klar am Himmel lief,
bald wieder hinter leichte Woͤlkchen ſich verſteckte,
und ſie golden machte. Eine unausſprechliche Weh-
muth uͤberfiel ihn; ploͤtzlich machte er Licht, und
ſchrieb folgendes Gedicht nieder:
An den Mond.
Heiliger, keuſcher Mond!
Sieh herab auf meine Leiden!
Habe Mitleid, und erbarm dich meiner!
Weinend und todtenbleich
Seh ich dich, du Kind des Himmels,
Ringe meine Haͤnd’, und ſchmacht in Jammer.
Heiliger, keuſcher Mond!
Ach, ich lieb’, ich lieb’ ein Maͤdchen,
Und ſie weis es nicht, daß ich ſie liebe!
Heilig und keuſch, wie du,
Brennt ihr meine ganze Seele,
Alle Heilige und Engel wiſſens!
Aber Sie weis es nicht! —
Gott im Himmel, laß mich ſterben,
Wenn du nicht fuͤr mich den Engel ſchufeſt!
Noch zwey Stunden blieb er auf, und verfiel aufs
neu in aͤngſtliche Zweifel wegen ſeiner Mariane.
Er glaubte, er muͤſte Kronhelm noch erwarten; aber
endlich ward ſein Zimmer zu kalt, und er legte ſich
zu Bette. Kein Schlaf kam in ſeine Augen, jede
Viertelſtunde hoͤrte er ſchlagen. Seine Phantaſie
arbeitete fuͤrchterlich. Um vier Uhr hoͤrte er endlich
die Hausthuͤre oͤffnen, und ſeinen Kronhelm kom-
men. Ein kalter Schauer lief ihm uͤber ſeine Glie-
der. — Gott! — der Gluͤckliche! dachte er; huͤll-
te ſein Geſicht ins Kiſſen ein, und weinte. End-
lich kam ein kurzer und unruhiger Schlummer.
Den andern Morgen, als er ins Kollegium gieng,
ſchlief Kronhelm noch; um eilf Uhr gieng er bey
Marianens Haus vorbey. Das Haus war ein
Eckhaus; ſie ſah in die Straſſe, durch die Sieg-
wart gieng; und als er ſich in die andre wendete,
ſah ſie auf der andern Seite auch heraus, ihm nach.
Dieß bemerkte er nachher immer, und ſchloß mit
Recht viel Gutes draus. Aber heut war ihm al-
les gleichguͤltig, und er fuͤhlte nichts, als Gram und
Eiferſucht wegen des geſtrigen Tages. — Zu Haus
kam Kronhelm auf ſein Zimmer, und that ganz
freundlich. Siegwart konnt’ ihn kaum anſehen,
ſo viel quaͤlende und ſchmerzende Gedanken bemaͤch-
tigten ſich auf Einmal ſeiner Seele. O Bruder-
fieng Kronhelm an, geſtern waren wir recht froͤlich!
Seit ich hier bin, war mirs nie ſo wohl. Du haͤt-
teſt auch dabey ſeyn ſollen! Jch dachte hundertmal
an dich. Die Fiſcherin hat mich zweymal nach dir
gefragt; ſie glaubte ganz gewiß, du wuͤrdeſt auch
kommen. Du darfſt dir recht was drauf zu gut
thun, Bruder! Sie lobte dein Violinſpielen ſehr,
und freut ſich auf den Mittewoch, wenn du Kon-
zert ſpielſt. — Jch ſagt ihr auch, du ſingeſt gut. —
Das haͤtteſt du wohl bleiben laſſen koͤnnen, ſagte
Siegwart haſtig und verwirrt. Es liegt mir viel dran,
was die Maͤdchen von mir denken! Und nun gieng
er ſchneller auf und ab. — Jmmer noch der alte
Weiberfeind? ſagte Kronhelm. Und nun muß
ichs gar entgelten, wenn ich Gutes von dir ſpreche.
Du biſt ein wunderlicher Menſch! — Hier brach
unſerm Siegwart das Herz. Verzeih mir, Bru-
der! ſagte er, ich bin heut in uͤbler Laune. Es war
nicht ſo boͤs gemeynt. Jch weis nicht, das beſtaͤn-
dige Stubenſitzen macht mich ganz hypochondriſch.
Es war warlich nicht ſo boͤs gemeynt! — Bey
mir auch nicht, Bruder, ſagte Kronhelm, und nahm
ſeinen Freund bey der Hand. Wir ſind ja Freun-
de, und du weiſt, was ich auf dich halte. Du haͤt-
teſt mir auch ſchon vieles uͤbel nehmen muͤſſen.
Laß die Grillen fahren! Jch weis am beſten, daß
man nicht immer aufgeraͤumt iſt. Aber ein Wort
muſt du mir erlauben, Xaver! Jch ſeh wohl, daß
das Stubenſitzen dir nicht taugt; du ſollteſt dich
zerſtreuen! drum wollt ich eben, daß du geſtern
mit geweſen waͤreſt! Gelt, bey mir haſt du wenig
Aufmunterung, dich zu zerſtreuen? Jch weis wohl,
und es thut mir leid. Aber wer kann fuͤr ſein
Schickſal? Wenn man ſo viel Gram im Herzen
hat, wie ich, wie kann man da noch froh und mun-
ter ſeyn? Mach dir zuweilen eine Veraͤnderung! —
Gut, ich wills thun, Kronhelm! ſagte Siegwart
zaͤrtlich. Bey der naͤchſten Schlittenfahrt will ich
auch ſeyn! Du muſt Geduld mit mir haben! Viel-
leicht wirds bald beſſer! — Er gieng auf die Sei-
te, und wiſchte ſich die Augen. Kronhelm konnte
nichts ſprechen, und gieng nach etlichen Minuten
auf ſein Zimmer, unter dem Vorwand, ſich anzu-
kleiden, denn ſie aſſen jetzt auf Gutfrieds Zimmer,
weil er krank war. — Siegwarts Schmerz brach
nun in lautes Schluchzen aus, als Kronhelm weg
war. — Gott! was bin ich fuͤr ein Scheuſal!
dachte er; wie hab ich meinem beſten liebſten Kron-
helm Unrecht gethan! — Er iſt ein Engel, und
ich bin ein Teufel! — Ach, ich bin ſeiner Liebe
nicht werth! … Vergib mir, Gott! Vergib
mir, Kronhelm! … Ach, ich bin ein Teufel! . .
Er meynts ſo redlich mit mir, und ich bin ſo treu-
los! … Bin ſo ſcheuslich undankbar! …
Vergib mir, Lieber, wenn dirs moͤglich iſt! —
Mariane hat nach mir gefragt! … Das iſt mehr,
als ich verdiene! . . Ach, daß ich ſo ein ſchaͤndli-
cher Kerl bin! . . Vergib mir, Gott! … Ma-
riane, Mariane! O du Engel! . . Wenn ich dei-
ner werth waͤre! . . O vergib mir, Gott, daß ich
ſo hart war gegen meinen lieben, ſanften, freund-
ſchaftlichen Kronhelm!
Jndem kam Kronhelm wieder aufs Zimmer, und
ſahs noch, wie ſein Freund ſich die Augen wiſchte.
Er umarmte ihn ſtillſchweigend. Arm in Arm,
und Bruſt an Bruſt, blieben ſie lang ſo ſtehen, und
giengen endlich mit einander zu Gutfried. Sie
trafen ihn ſehr beſtuͤrzt an. Er hatte einen Brief
vor ſich liegen, und lehnte ſich, mit weinenden Au-
gen, uͤber ihn hin. Nun ſoll ich fort! ſagte er.
Mein Vater hat mir heut geſchrieben. Er iſt ſehr
boͤſe, daß ich ſchon uͤber die Zeit ausgeblieben bin,
und droht, mich zu enterben, wenn ich nicht zwi-
ſchen heut und drey Wochen zu Hauſe ſey. Das
koſtet mich, bey Gott! mein Leben; ich fuͤhls ſchon.
Jch kann an keinem andern Ort ſeyn, als wo ſie iſt!
Das weis mein Vater, und ich ſoll doch fort. O,
ich moͤchte raſend werden uͤber das verwuͤnſchte
Schickſal, das mich hieher brachte! Seit ich Ma-
rianen ſah, hatt ich keinen, ganz frohen, Augenblick,
und das dauert nun ſchon ins zweyte Jahr. Nun
ſoll ich gar ſie nicht mehr ſehen. Das einzige, was
mich bisher noch erhalten hat; ſonſt waͤre ich laͤngſt
todt. — Sagt, was fang ich nun an? Beydes iſt
gleich ſchrecklich: Ohne ſie ſeyn, und von ſeinem Va-
ter enterbt und verflucht werden. Er haͤlt Wort;
ich kenn ihn ſchon. — Nun rathet mir! Sieg-
wart und Kronhelm zuckten die Achſeln; keiner wu-
ſte, was er ſagen ſollte? — Nicht wahr, ſagte er,
ihr koͤnnt mir auch nicht rathen? Und wie ſolls
nun ich? — Das beſte iſt, daß es nicht mehr lang
waͤhrt! Es ſteckt mir ſo ſchon etlich Tage her ein
Schelm im Leib. — Nur das Weggehn, davor
graut mir! Jch wollt mir lieber jetzt gleich eine
Kugel vor den Kopf ſchieſſen laſſen; ſo waͤrs doch
mit Einemmal aus! — Gleich in drey Wochen
weg! Das laͤſt ſich kaum denken, geſchweige thun.
Kronhelm und Siegwart troͤſteten ihn, ſo gut ſie
konnten; aber alles half nichts. Er war viel zu
heftig. — Jhr ſeyd nicht klug, ſagte er, wenn ihr
mit Worten etwas auszurichten glaubt! Da, da,
(auf die Bruſt zeigend) ſitzt es. Jhr muͤſt mir erſt
dieſes Herz aus dem Leibe reiſſen; dann wirds
beſſer! Jch weis, was ich ſchon ſeit Jahren her
um ſie geduldet habe, da ſie mich nicht Einmal an-
ſah, wie ichs wuͤnſchte. Blos an ihrem Anblick hab
ich mich geweidet; der erhielt mich noch; aber nun
iſts aus mit mir. Zwar bleib ich hier, das hab ich
ſchon beſchloſſen; aber der Fluch meines Vaters,
den ich lieb und ehre — denn er iſt ein braver
Mann — der wird mich toͤdten. — Und ich wette,
er laͤſt mich mit Gewalt wegholen, wenn ich nicht
komme; er wollts ſchon vor einem halben Jahr
thun, da hielt ihn meine Mutter noch zuruͤck. Nun
iſt ſie todt, und kein Menſch auf Erden kann ihn
halten. — O, ich bin ein Ungluͤckskind! — Mit
dieſen Worten ſchlug er ſich vor die Stirne, daß es
wiederhallte. — So raſend hab ich dich noch nie
geſehen; ſagte Kronhelm; mir iſt bang fuͤr dich. —
Mir auch; fiel Gutfried ein. So toll wars aber
auch noch nie! Jch weis, wie mirs war an Oſtern,
als ich nur acht Tage von ihr weg war; und nun
auf mein ganzes Leben! O, ich halt es nicht aus!
Wenn nur das Gift, das ich in mir fuͤhl, bald um
ſich griffe, und Mark und Knochen aufzehrte! Es
waͤr ja Wohlthat, wenn gleich das Sterben ohne
ſie auch ſchrecklich iſt. Aber nach dem Tod hoff’
ich doch Linderung.
Kronhelm und Siegwart redeten ihm zu, ſich
doch ſelbſt zu ſchonen, und kein Selbſtmoͤrder zu wer-
den! — Das werd ich auch nicht, ſagte er, dazu
hab ich zu viel Chriſtenthum, und weis, daß es
Suͤnde iſt. Aber, lieben Leute! ich hab mir ja
den Schmerz, der mich aufzehrt, nicht ſelbſt ge-
macht! Jch ſtritt lang, und wollte ſie vergeſſen,
als ſie gar nichts von mir hoͤren wollte. Aber der
verſchloßne Gram wuͤthete nur heftiger in mir,
und leckte allen Lebensſaft hinweg. — Jetzt kannſt
du aber nicht reiſen, ſagte Kronhelm; du ſiehſt gar
zu elend aus. Jch will deinem Vater ſchreiben,
daß du krank biſt, oder ſelber die acht Meilen zu
ihm reiten. Vielleicht ſieht ers doch ein, und gibt
nach. — Thu das, Bruͤderchen! ſagte Gutfried;
Gott ſegne dich fuͤr dieſen Einfall, und fuͤr deine
viele Freundſchaft! Jch werd dirs nicht mehr lang
verdanken koͤnnen; aber einſt im Himmel will ichs
thun, wenn mir Gott barmherzig iſt, und mich zu
ſich nimmt. — Kronhelm verſprach, morgen hin-
zureiten, wenns nicht beſſer werde. Und nun ward
Gutfried etwas ruhiger. Doch aß er nicht mit,
und beklagte ſich uͤber innerliche Hitze. Siegwart
hatte mit ſeinem Zuſtand vieles Mitleid, und zit-
terte vor gleichem Schickſal. Nach Tiſche muſte
er ins Kollegium gehen. Gegen Abend kam er
wieder hin. Gutfried beklagte ſich ſehr uͤber Kopf-
weh, und innre Hitze, und muſte ſich zu Bette le-
gen. Kronhelm, der Gefahr befuͤrchtete, erbot ſich,
dieſe Nacht bey ihm zu bleiben und zu wachen.
Siegwart kann dann morgen da bleiben, wenns
noͤthig iſt, ſagte er, weil ich morgen weg reite.
Siegwart gieng nach Haus, und machte ſich wegen
ſeines Betragens gegen Kronhelm neue Vorwuͤrfe.
Er weinte uͤber ſeine Thorheit, die ihn auf ſeinen
beſten Freund eiferſuͤchtig machte, und zu einem ſo
liebloſen Betragen verleitete. Nach vielen Seuf-
zern entſchloß er ſich recht feſt, ſich kuͤnftig vor die-
ſem ſchrecklichen und thoͤrichten Verdacht in Acht zu
nehmen, und weder ſich, noch ſeinen edeldenkenden
Freund mit einem ſo ungegruͤndeten Verdacht zu
quaͤlen. —
Dann uͤberließ er ſich ganz dem ſuͤſſen, und ſchmei-
chelnden Gedanken, daß ſich Mariane nach ihm
erkundigt habe, und zog tauſend gute Vorbedeu-
tungen draus her. Er aͤrgerte ſich, daß er aus
bloſſem Eigenſinn und naͤrriſcher Verblendung den
Ball und die Schlittenfahrt nicht mit gemacht hat-
te, und wuͤnſchte ſehnlich eine ſo herrliche Gelegen-
heit, Marianen kennen zu lernen, bald wieder.
Den andern Morgen kam Kronhelm nach Haus,
und ſagte, daß ihm Gutfried gar nicht gefalle. Es
ſcheine eine ſchwere Krankheit im Anzug zu ſeyn.
Siegwart fand ihn auch am Mittag um ein gutes
kraͤnker, als geſtern. Den Nachmittag ritt Kronhelm
weg, und verſprach, in hoͤchſtens vier Tagen wie-
der zu kommen. Siegwart blieb bis fuͤnf Uhr bey
Gutfried. Dann gieng er nach Haus, um ſich
anzukleiden, und ſein Konzert noch vorher zu ſpie-
len. Nach dem Konzert, verſprach er, wieder zu
kommen, und bey ihm zu wachen.
Er gieng mit ziemlichem Herzklopfen ins Kon-
zert, weil ihm bange war, ſich vor Marianen hoͤ-
ren zu laſſen. Sie ſaß ihm gegenuͤber. Anfangs
ſpielte er ſehr aͤngſtlich; aber der Beyfall, den ſie
ihm durch ihre Aufmerkſamkeit, und einige Be-
wegungen mit dem Kopf zu geben ſchien, befeuer-
te ihn auf einmal, daß er beym Allegro wild in
ſeine Saiten ſtuͤrmte, und die Herzen aller Zuhoͤ-
rer zur Bewunderung hinriß. Er ſah ihr die
Freude und das Wohlgefallen an, das ſie druͤber
hatte, und trieb die Kunſt immer hoͤher. — Auf
Einmal ſank er, im Adagio, in den tiefſten Klage-
ton herab. Seine Violine ſprach; jeder Ton ward
eine Sylbe. Sein ganzes Spiel ward die ruͤhrendſte
Klage, und das wehmuͤthigſte Selbſtgeſpraͤch. Sein
eignes, liebekrankes Herz ſchien, es zu halten.
Alles lauſchte auf dem Saal, kein Laut ward ge-
hoͤrt; jeder hielt den Athem an ſich; aus jedem
Herzen wollt’ ein Seufzer aufſteigen, der nur
muͤhſam zuruͤck gehalten wurde. Mariane ſaß in
tieſer Wehmuth da; ſenkte ihr thraͤnenvolles Aug
zur Erde, blickte ſchmachtend wieder auf, und ward
vor heftiger Empfindung blaß. Dann warf ſie
einen Blick, aus dem die ganze Seele ſah, auf
Siegwart; er fieng ihn auf, ſtieg in einem Lauf
bis auf die hoͤchſte Hoͤhe, daß die Seele mit hin-
auf ſtieg, und ſtaunte; ſenkte ſich herab, und preſte
aus jeder Bruſt ein Ach! voll Schmerz und Be-
wunderung. Jede Hand war aufgehoben, ihm
den waͤrmſten Beyfall zuzuklatſchen; Mariane war
die erſte, die es that. Er verneigte ſich gegen ſie,
und gegen die uͤbrige Geſellſchaft, und gieng auf
die Seite, um ſich wieder zu erholen, und den
Schweiß vom gluͤhenden Geſicht zu wiſchen. Jm
ganzen Saal entſtand ein freudiges Gemurmel;
jedes Herz theilte dem andern ſeine ſtaunende Be-
wunderung mit; jeder Zuhoͤrer ſah auf ihn, und
war bewegt. Der Hofrath Fiſcher kam, druͤckte
ihm die Hand, und dankte ihm. Auch der Engel
Mariane kam — ihr Siegwart zitterte. — Sie
habens unausſprechlich gut gemacht, ſagte ſie; ich
dank Jhnen aus dem vollſten Herzen. Sie brin-
gen Toͤne aus der Violine, die ich niemals drinn
geſucht haͤtte. O, Jhr Adagio war goͤttlich! —
Hier ſah ſie ihn mit einem unbeſchreiblich zaͤrtlichen
Blick an; er ward feuerroth, ſchlug die Augen
nieder, und wagt es nicht, ſie anzuſehen. Er ſtund
da, und konnte ſich kaum halten; jedes Auge,
glaubte er, bemerk ihn. — Wo haben ſie denn heut
den Herrn von Kronhelm gelaſſen? fieng ſie wieder
an. — Dieſe Frage riß ihn wieder etwas aus der
ſchrecklichen Verlegenheit, in der er ſich gewiß
verrathen haͤtte. Er iſt . . ſagte er, und hub die
Augen wieder auf; er iſt … ausgeritten . . weil
Herr Gutfried krank iſt … weil ers ſeinem Va-
ter ſagen will. Drauf erkundigte ſie ſich nach
Gutfrieds Umſtaͤnden. — Werden Sie nicht auch
einmal eine Schlittenfahrt mitmachen? fragte ſie
endlich. O ja! war ſeine Antwort, ſobald wieder
Gelegenheit da iſt — ploͤtzlich fuhr der Gedanke,
wie ein Blitz, durch ſeine Seele: Sollt ich ſie
wol bitten, mit mir zu fahren? Jndem er noch
zweifelte, und eben etwas ſagen wollte, kam Ma-
rianens Mutter, machte ihm ein auſſerordentlich ver-
bindliches Kompliment, und lobte ihn mit vieler Waͤr-
me wegen ſeines Spiels. Jndem kamen noch andre,
die ihn auch mit Lobſpruͤchen uͤberhaͤuften; man
hielt ſein Erroͤthen fuͤr Beſcheidenheit, und er konn-
te nun Marianen, die noch bey ihm ſtand, weit
freyer anſehn, und ihre unausſprechlich regelmaͤſſige
Zuͤge, ihr hellglaͤnzendes Aug, und die feinſte weiße
Haut bewundern. So wohl und bang, wie in
dieſem Augenblick, war ihm noch nie geweſen.
Waͤhrend daß noch jedermann um den begluͤck-
ten Siegwart herum ſtand, klopfte endlich Maria-
nens Bruder, der ſchon laͤngſt vor Eiferſucht ge-
gluͤht hatte, voll Verdruß auf die Violine, um die
Spieler zuſammen zu rufen, und fieng ein Kon-
zert zu ſpielen an. Er machte es nicht ganz ſchlecht;
aber nach Siegwart konnte man ihn kaum mehr
hoͤren. Als er ausgeſpielt hatte, klatſchte niemand
Beyfall. Dieß verdroß den ſtolzen Knaben ſehr, und
machte ihn unſerm Siegwart, den er ſchon vorher
beneidet hatte, noch aufſaͤtziger.
Nach dem Konzert gieng Siegwart nach Haus,
um ſich umzukleiden. Anfangs wuſte er ſich vor
Freuden uͤber Marianens Beyfall kaum zu faſſen.
Nach und nach kamen ihm wieder Grillen und
aͤngſtliche Gedanken. Er dachte: Das alles konnte
ſie wol ſagen, ohne dich zu lieben. Sie ſprach
nur mit dir, um ſich nach Kronhelm zu erkundi-
gen. Sie kann ihn lieben, wenn ers auch nicht
weis. Er iſt unſchuldig, aber was hab ich davon?
So lang ſie ſich nicht deutlicher erklaͤrt, und von
meiner Liebe weis, ſo lang iſts nichts, u. ſ.w. Un-
ter ſolchen traurigen Gedanken, die die erſte Liebe,
ſolang ſie nicht Gewißheit hat, tauſendmal in der
Bruſt des Liebenden erzeugt, gieng er zu Gut-
fried, um bey ihm die Nacht uͤber zu wachen. —
Er war jetzt etwas muntrer. Dieſen Abend,
ſagte er, hatt ich einen harten Kampf. Jch be-
kam eine Art von Fieber, und die ſchrecklichſten
Phantaſien aͤngſtigten mich wol eine Stunde lang.
Jetzt iſt mirs ganz leicht. Setzen ſie ſich zu mir
her, ans Bette! Siegwart thats.
Was macht denn Mariane? fuhr er fort. Ha-
ben Sie ſie heut geſehen? Hat ſie geſungen? —
Geſehen hab ich ſie, antwortete Siegwart; aber
geſungen hat ſie nicht. Sie erkundigte ſich bey
mir nach Jhnen. — Hat ſie das? rief Gutfried
haſtig, und richtete ſich im Bett auf. O der En-
gel! Jch muß ſie anbeten, ob ich gleich gewiß
weis, daß ſie ewig nicht die meine wird. — Er
legte ſich langſam wieder nieder, und fuhr fort:
Alles, lieber Siegwart! alles hab ich ihr zu ver-
danken! Jch war ein liederlicher Kerl, eh ich ſie
habe kennen lernen. Gott vergeb es mir! Jch
ward verfuͤhrt. Als ich hieher kam, wuſt ich noch
gar nichts von der Welt. Sechs Jahre hatt ich
in einem Jeſuiterkloſter geſteckt; muſte da die Religion
als ein Handwerk treiben, und ganze Stunden
lang, ohne Andacht, beten. Das, wozu mich
meine Lehrer anhielten, ſah ich ſie ſelber mit den
Fuͤſſen treten. Wie ein Sklave war ich einge-
ſchraͤnkt, und durfte keinen Schritt thun, ohne
Vorwiſſen meiner Lehrer. Wenn ich nun einmal
in die Welt hinaus kam, ſo hielt ich alles, was
ich ſah, fuͤr wuͤnſchenswuͤrdig, und ſchmachtete in
meinem Kaͤficht wieder deſto mehr darnach. Als
ich nun hier ankam, und der Freyheit ganz genoß,
nach der ich mich ſo laͤngſt geſehnt hatte, da glaubt
ich, um mich ſchadlos zu halten, und das Verſaͤum-
te wieder einzuholen, muͤſſ’ ich nun der Freyheit
ganz genieſſen, und alles mitmachen. Freyheit und
Ausgelaſſenheit hielt ich fuͤr einerley. Alles, was
ich ſah, war mir neu, und reizte mich; ich fiel
drauf hin, wie ein Geyer auf den Raub, und
glaubte mich nie ſaͤttigen zu koͤnnen. Sie wiſſen,
wozu der naͤrriſche Begriff von Univerſitaͤtsfrey-
heit verleitet. Zu allem Ungluͤck waren damals
hier die allerſchaͤndlichſten Geſellſchaften, in denen
Gewiſſen und Vernunft durch Zoten und Unflaͤ-
thereyen uͤbertaͤubt, und durch unmaͤſſiges Saufen
geſchwaͤcht, oder gar getoͤdtet wurden. Da gieng
ein jeder hin, und that, was ihm gefiel. Mein
Troſt iſt noch, daß ich niemals Freundesblut ver-
goſſen, und nie eine Unſchuld verfuͤhrt habe. Da-
vor hat mich Gottes Gnade noch bewahrt; mir
hab ichs nicht zuzuſchreiben. Jch waͤr bey meinem
tollen, heftigen Temperament, und bey meinen
Grundſaͤtzen zu allem faͤhig geweſen. Zweymal
ward ein Freund in meiner Gegenwart erſtochen;
ich ſeh noch ihr Blut mit Schrecken rauchen. Dem
Boling, der ſonſt noch weit ſchlechter war, wie
S ſ
jetzt, hab ich zweymal das Leben gerettet. Der Um-
gang mit liederlichen Menſchern entkraͤftete mich
ſo, daß ichs jetzt noch fuͤhle; und ich haͤtte mich
zuletzt ganz zu Schanden gerichtet, wenn nicht der
Engel Mariane, wie vom Himmel herab, gekom-
men waͤre. Das erſtemal ſah ich ſie auf einem Ball
wo mich Dahlmund mit Gewalt hinſchleppte; denn
es gieng mir da viel zu ehrbar zu. Sie ſehn, und
weg ſeyn, war Eins! Aber, Gott! was das fuͤr
eine Empfindung war! Jch bebte, wie ein Suͤn-
der, der vor Gott ſteht, und ſchaͤmte mich vor mir
ſelbſt. Anfangs wagt’ ichs kaum, ſie anzuſehen,
denn es war, als ob ſie mich durchblickte, und den
ſchlechten Kerl in mir entdeckte. Aber weg war
ich ganz, und konnt auf der Welt an nichts mehr
denken, als an ſie. Alles war mir ekelhaft; ich
haͤtt in das Lumpengeſind und meine liederlichen
Saufbruͤder ſpucken moͤgen! Sie lachten mich
aus, als ich nicht mehr mitmachte, ich ließ ſie la-
chen. Jch blieb allein, aͤrgerte mich uͤber mein ver-
gangnes Leben, und ſchmachtete um Marianen.
Daß ſie mich lieben ſollte, konnt’ ich noch nicht
wuͤnſchen, denn ich kannte mich ſelbſt zu gut, was
ich fuͤr ein Kerl geweſen war; ob gleich jetzt jeder
Schatten von Begierde aus mir weg wich. —
Aber ſie war doch fuͤr mich zu heilig; ich ſah zu ihr
hinauf, wie zu der Mutter Gottes, und wuͤnſchte
nichts, als einen einzigen Gnadenblick von ihr. Jch
kriegte ſie ſelten zu Geſicht. Einmal ſah ich ſie,
an Allerheiligen, in der Kirche. Jhr Aug und Herz
betete voll Andacht. Nun wagt ichs auch zum er-
ſtenmal wieder, meine Augen aufzuheben, und Gott
um Erbarmung anzuflehen. Jhre Andacht gab
der meinen Muth und Fluͤgel. Es war mir, als
ob ein Stral von goͤttlicher Barmherzigkeit ſich in
mein Herz herab ſenkte, und es ſtaͤrkte. Mir ward
ſo wohl, daß ich weinen konnte. Dieſer Augenblick
bleibt mir unvergeßlich; er iſt der Anfang meines
wahren Gluͤcks. Jch ward nun wirklich fromm,
denn ich handelte nach Grundſaͤtzen. Zu Haus
warf ich mich nun nieder, und zerfloß in Thraͤnen.
Das Gefuͤhl der goͤttlichen Begnadigung goß ſich
wieder durch mein Herz; ich las auch in der Bi-
bel, und ganz anders, als im Kloſter ehmals. Jhre
Kraft, und der heilige Gedank an Marianen unter-
druͤckte, oder maͤſſigte meinen wilden, unbaͤndigen
Karakter; obgleich noch — das weis der liebe
Gott — unendlich viel davon zuruͤck blieb; denn
oft will es wieder in mir aufbrauſen, und ich habe
gnug mit mir zu kaͤmpfen. Mit meiner Beſſerung
keimte auch der Wunſch auf, Marianens Herz zu
gewinnen. Jch konnte mich ihr nun eher ohne
Zittern nahen, denn ich fuͤhlt es, daß ich beſſer war.
Jm Konzert hatt ich Gelegenheit, mit ihr bekannt
zu werden. Sie begegnete mir immer freundlich
und gefaͤllig; aber niemals hab ich einen Funken
von Liebe an ihr wahrgenommen. Jch fuͤrchte, ſie
weis meinen vorigen Lebenswandel, und kann des-
wegen kein rechtes Zutrauen zu mir haben. O
Freund, dieß iſt die groͤſte Strafe meiner ſchaͤndli-
chen Verblendung! Dieſe, und daß ich einen aus-
gemergelten Koͤrper davon getragen habe, der mich
wohl in wenig Wochen oder Tagen ins Grab ſtuͤr-
zen wird. Daß mir Gott vergeben habe, hoff ich
um der Leiden ſeines Sohnes willen, ſonſt muͤſt ich
gar verzweifeln. — Jch beſchwoͤre Sie um Gottes
willen, theurer Freund! Sie ſind noch jung, und
mancherley Verfuͤhrungen ausgeſetzt. O behalten
Sie ihr Herz rein! Sie wiſſen nicht, was das fuͤr
ein Kleinod iſt, denn ich hoffe, daß Sies nie verloh-
ren haben. Glauben Sie mir, daß beym Laſter
nichts als Unruh iſt, und Hoͤllenreue hintennach.
Jch ſchwoͤr Jhnen, daß ich nicht nur jetzt ſo rede,
weil ich krank bin, und den Tod naͤher vor Augen
ſeh, als Sie. Jch hab in geſunden Tagen eben ſo
gedacht, und bin wahrhaſtig uͤberzeugt, daß nichts
auf der Welt ganz gluͤcklich macht, als Kenntniß
und Ausuͤbung unſrer heiligen Religion, und Recht-
ſchaffenheit, und Reinigkeit des Herzens. Jch hab
alles verſucht, bin alles geweſen, Religionsveraͤch-
ter, Spoͤtter, Zweifler, Taugenichts, und Chriſt, und
nichts hat mich beruhigt, als das letzte. — Noch
einmal, ich beſchwoͤre Sie, Freund! bleiben Sie auf
dem guten Wege, auf dem Jhnen ſo wohl iſt!
Bleiben Sie ein rechtſchaffener Mann, ein Chriſt!
Denken Sie an meine Worte! Jch bin jetzt gluͤcklich,
und waͤrs noch mehr, waͤr ich immer gut geblie-
ben. —
Hier konnte der geruͤhrte und entkraͤftete Juͤng-
ling nicht mehr reden. Ein heiſſer Strom von
Thraͤnen ſtuͤrzte ihm aus den Augen, er ſchluchzte,
und verhuͤllte ſein Geſicht ins Kiſſen. — Siegwart
konnte ſich nicht laͤnger halten; das Herz brannte
ihm im Leibe. Thraͤnen ſchoſſen uͤber ſeine Wan-
gen; er lief weg ans Fenſter, und ſchluchzte laut. —
Gott, erhalt mich fromm und rein! Mehr konnte
er nicht ſeufzen; aber ihm wars, als ob er Gott
von Angeſicht zu Angeſicht erblickte, und gewiß
waͤre, daß er bleiben wuͤrd’ in ſeiner Reinigkeit und
Unſchuld.
Erſt nach etlichen Minuten gieng er wieder aus
Krankenbette. Gutfried gab ihm ſeine Hand.
Lieber Freund, ſagte er mit ſanfter Stimme, wir
koͤnnten ſo viel reine Freuden auf der Welt genieſ-
ſen, daß wir ſolcher Ausſchweifungen nicht noͤthig
haͤtten. Wie viel frohe himmliſche Abende gab uns,
dieſes letzte halbe Jahr, die Freundſchaft! Gott!
wie ſaſſen wir oft ſo vergnuͤgt zuſammen, und fuͤhl-
tens erſt am Ende, daß die Zeit ſo ſchnell verſtri-
chen war. Welche reine, unverfaͤlſchte Freuden gab
uns die Muſik! Wie erhub ſie unſer Herz zu himm-
liſchen Empfindungen; zu Entſchluͤſſen, etwas Groſ-
ſes und Edles fuͤr die Welt zu thun. Wie erquick-
te ſie uns nach unſerm Studieren! Am Abend
wars uns, als ob wir den ganzen Tag in reiner
Wolluſt zugebracht haͤtten. Und die ſchoͤnen Wiſ-
ſenſchaften! — Jhnen verdank ich, naͤchſt der Liebe
zur Tugend und zu Marianen, mein verfeinertes,
veredeltes Gefuͤhl am meiſten. Jch liebte Maria-
nen, und durch ſie, die Tugend ſchon eine geraume
Zeit; aber in meinem aͤuſſerlichen Weſen war im-
mer noch viel Rohes und Unbehagliches. Nun ſah
ich bey ihr einmal ein Buch von Kronhelm liegen;
es waren Kleiſts Werke. Jch ſah hinein; und es
gefiel mir. Mariane lehnte mir das Buch mit
Kronhelms Vorwiſſen. Freund! wie war mir
das ſo neu! Wie viele, vorher nie gefuͤhlte Empfin-
dungen fuͤllten da mein Herz! Wie ward es oft
zur Anbetung des Schoͤpfers hingeriſſen! Jch ſah
nun die Natur mit ganz andern Augen an. Jede
Blume, jeder Vogel, jede ſchoͤne Gegend ward mir
wichtiger, und lehrte mich den Schoͤpfer im Geſchoͤpf
bewundern. Mein Herz ward reizbarer und em-
pfindlicher fuͤrs Gute und fuͤrs Schoͤne. Jch ſah
die Harmonie der Schoͤpfung, trug ſie auf meine
Handlungen uͤber; ſchaͤtzte ſie im Leben und der
Denkungsart andrer Menſchen mehr; ſah bey mir
ſelbſt mehr auf aͤuſſerlichen Anſtand; und ward ge-
gen jedes Elend mitleidig.
Sein Geſpraͤch ward durch die Ankunft Bolings
unterbrochen. Dieſer erbot ſich, mit Siegwart zu
wachen, damit der Eine etwas ſchlafen koͤnnte, waͤh-
rend daß der andre wachte. Unſer Siegwart er-
waͤhlte die Vormitternacht zum Wachen, denn er
ſah beym Hofrath Fiſcher Licht, und hoffte, ſeine
Mariane noch einmal zu ſehen. Als Gutfried
etwas einſchlummerte, ſetzte ſich Boling in den
Lehnſtuhl, um zu ſchlafen, und Siegwart legte ſich
ins Fenſter, ob er Marianen nicht erblicke? Ein
paarmal ſah er etwas am Fenſter hin und her
gehn, aber er konnte nicht genau unterſcheiden, ob es
ſie ſey, oder ihre Mutter? Er war halb freudig,
und bald traurig; bald fuͤrchtete er alles Traurige,
und hoffte dann auf Einmal wieder nichts als Gu-
tes. So ſtand er, in ſuͤſſer Wehmuth, und voll
ſchwaͤrmeriſcher Entwuͤrfe eine ganze Stunde da.
Endlich hoͤrte er das Klavier anſtimmen, riß das
Fenſter eilig auf, und lauſchte, daß er kaum zu ath-
men wagte. Erſt ſpielte Mariane eine ernſthafte,
langſam gehende Phantaſie; dann eine ſchmelzend
zaͤrtliche Sonate, und endlich einen feyerlichandaͤch-
tigen Choral, und ſang dazu. Siegwart kam uͤber
den empfindungsvollen Ton ihrer Silberſtimme ganz
auſſer ſich, daß er kaum mehr wuſte, wo er war.
Er hatte tauſend Empfindungen, deren er ſich kaum
ſelbſt bewuſt war, und die ſich erſt nach und nach
entwickelten, als ſie lange ſchon ſchwieg. Er lag
noch lang im Fenſter, als ob er ihr zuhorchte, ob
ſie gleich ſchon das Licht ausgeloͤſcht hatte. Endlich
ward er wehmuͤthig, ſetzte ſich an den Tiſch, und
ſchrieb, als er Dinte und Papier vor ſich ſah, folgen-
des Gedicht nieder:
Alles ſchlaͤft! Nur ſilbern ſchallet
Marianens Stimme noch!
Gott! von welcher Regung wallet
Mein gepreßter Buſen hoch!
Zwiſchen Wonn’ und bangem Schmerz
Schwimmt mein liebekrankes Herz.
Schwind, o Erde! Laß mich fliegen
Zu des Hochgelobten Thron;
Mich mit ihr im Staube liegen,
Seufzen mit in ihren Ton:
Gott, du hoͤrſt es, was ſie fleht;
Acht’ auch mit auf mein Gebet!
Daß ich lang um ſie mich quaͤle,
Jſt der Holden unbewuſt;
Send’, o Gott, der frommen Seele,
Lieb’ und Mitleid in die Bruſt!
Waͤr’ ihr nur mein Leid bekannt,
Waͤr’ auch meine Qual verbannt. —
Gott! ich ſeh den Himmel offen!
Freud und Leben winken mir!
Daß mein Herz darf wieder hoffen,
Mariane, dank ich Dir.
Sing, und zaubr’, o Saͤngerin,
Ganz ins Paradies mich hin!
Siegwart ſaß noch eine Stunde da, und uͤber-
ließ ſich ſeiner Phantaſie, als endlich Boling auf-
wachte, um ihn abzuloͤſen. Gutfried ſchlief ſehr
aͤngſtlich, und unruhig; fuhr oft auf, und ſprach
oft mit ſich ſelbſt. Sie befuͤrchteten den Ausbruch
eines hitzigen Fiebers, das der Arzt den Abend
vorher ziemlich deutlich vorausgeſagt hatte. Bo-
ling verſprach, unſern Siegwart ſogleich zu wecken,
wenn die Krankheit ſteigen ſollte, und nun ſchlief
er im Lehnſtuhl ein. Vor Tag weckte ihn Boling
durch einen heftigen Schrey auf; denn Gutfried
hatte angefangen, zu phantaſiren, war aus dem
Bett geſprungen, und hielt ihn an der Kehle feſt.
Laß mich los! rief Gutfried, reiß mich nicht von
Marianen, Vater! ſonſt erwuͤrg ich dich! Sieg-
wart ſprang hinzu, und riß ihn endlich mit aller
Gewalt von Boling weg. Sie hatten Muͤhe, ihn ins
Bett zu bringen; ſeine Augen funkelten und roll-
ten fuͤrchterlich; der weiſſe Schaum ſtand ihm zwi-
ſchen den Zaͤhnen; er klammerte ſich mit den Haͤn-
den feſt an, wenn er was zu faſſen kriegte, und
hatte faſt uͤbermenſchliche Staͤrke. Endlich brach-
ten ſie ihn doch wieder aufs Lager. Er ſprach un-
aufhoͤrlich fort, zankte ſich mit ſeinem Vater, glaub-
te zuweilen, den boͤſen Feind vor ſich zu ſehen,
lachte fuͤrchterlich laut, und weinte dann wieder,
wie ein Kind. Sein Zuſtand drang ſeinen beyden
Freunden tief ins Herz, daß ſie ſich mit Thraͤnen,
und mit Seufzern anſahen. Einmal hielt er ein
langes, ruͤhrendes Gebeth an die Mutter Gottes,
richtete ſich auf, hub die Haͤnde in die Hoͤhe, nann-
te ſie zuweilen Mariane, und ſank entkraͤftet wieder
aufs Bett zuruͤck. Siegwart und Boling wuſten
ſich kaum mehr zu helfen. Nach dem Arzt konn-
ten ſie nicht gehen, weil keiner ſich, allein bey ihm
zu bleiben, getraute, und im Hauſe ſchlief noch je-
dermann. Sie warteten mit Sehnſucht auf den
Morgen. Endlich brach er an. Sie ſchickten ei-
ligſt nach dem Arzt. Dieſer zuckte die Achſeln,
verordnete eine Aderlaͤſſe, und verſprach wenig
Hofnung. Nach dem Aderlaſſen ward der Kranke
etwas ruhiger, und ſchlummerte ein wenig ein.
Zwey Stunden nachher wachte er mit groſſem
Schreyen wieder auf, riß die Binde von der Ader
weg, und verblutete ſich, eh man ihm beykommen
konnte, ſo, daß er in eine Ohnmacht ſank. Der
Arzt, der herbeygerufen wurde, brachte ihn, nach
vieler Muͤhe wieder zu ſich ſelbſt. Er war ſo
matt, daß er kaum reden konnte. So lag er den
ganzen Tag da, und erholte ſich erſt gegen Abend
wieder etwas. Siegwart kam keine Viertelſtunde
von ſeinem Bette. Auf ſein Verlangen muſte er
ihm die letzten Reden Jeſu im Johannes, und Se-
midas Selbſtgeſpraͤch im vierten Geſang der Meſ-
ſiade vorleſen. Beyde waren ſehr geruͤhrt. Der
Kranke hub ſeine Augen in die Hoͤhe, und ſagte:
Segen dem Manne, der die Heiligkeit der Liebe ſo
tief gefuͤhlt hat! Wohl dem, der, wie er, fuͤhlt!
Dann betete er ſtill zu Gott; rief einigemal laut:
Gnade mir, Erbarmer! und dann weinte er. Seg-
ne Marianen! ſprach er leiſer. Gib ihr einen
Mann, der fromm und rein liebt!
Den ganzen Tag uͤber lag er matt da; ſeine
Kraͤfte nahmen ſichtbar ab. Gegen Abend ſchien
ſein Ende nahe. Lieber Siegwart, ſagte er: Ver-
ſichern Sie meinen Vater meiner Liebe, meines
Danks, und meiner Reue! Sagen Sie ihm, daß
ich Marianen liebte; daß ich durch ſie fromm ward,
und nun freudiger zu Gott geh! Jch wollt ihn
durch mein Auſſenbleiben nicht betruͤben. Eine
innre, unbekannte Kraft hielt mich zuruͤck. Es
war mehr, als Liebe. Jhr zu widerſtehen, war
mir unmoͤglich. Sagen Sie ihm alles, alles! —
Nach einigem Schweigen fuhr er fort: Noch
einmal, um Gottes willen, lieber Siegwart, be-
wahr das im Herzen, was ich geſtern ſagte! ..
Laß dich nicht verfuͤhren! … Bleibe dir und
Gott treu! … Sags auch Kronhelm! …
Dank ihm! …
Siegwart konnte nichts, als weinen. Auf Ein-
mal entſtand im Haus unten ein Lerm. Das will
ich ſehen, obs ſo ſchlecht iſt? rief eine rauhe Stim-
me. Er ſoll und muß mit mir fort, der Unge-
rathene! Jndem ſtuͤrzte Gutfrieds Vater in das
Zimmer, Kronhelm hinter ihm drein, und aufs
Bette zu. Heh! Kerl! rief der Vater, und
ſchuͤttelte ſeinen Sohn. Ploͤtzlich, als er ſeinen
Sohn im Todesſchweiſſe ſah, blieb er wie erſtarrt
ſtehn. Mit der einen Hand hielt er ſeinen Sohn,
und die andre hub er in die Hoͤhe. — Was iſts?
ſagte er, mit zerſtoͤrten Blicken, zu Siegwart. Will
er ſterben, oder iſt er ſchon? — Karl! und nun
ſchuͤttelte er ihm die Hand; um Gottes willen,
Karl! du lieber Karl! Was iſts? — Der jun-
ge Gutfried hub ſeine Augen auf; eine Thraͤne
glaͤnzte drinn, und ſchloß es wieder zu. Der kalte
Todesſchweiß ſtund ihm auf der Stirne. Er lag
unbeweglich da. Der Vater ließ ſeine Hand un-
willig fahren, gieng weg, ſah gen Himmel, ſeufzte
tief, und ſprach: Nun iſts aus mit mir! Deine
Mutter, deine Mutter! Gott! ich habs verſchul-
det! — Karl! Karl! Sie hat mirs geſagt. Nun
warf er ſich ſtumm uͤber ſeinen Sohn her, kuͤſte
ihm den letzten Athem aus dem Mund; der Sohn
war todt. — Der Vater ſetzte ſich ans Bette,
ſah den Sohn lang und ſtarr an. Endlich mur-
melt’ er: Gott! ſobald mit deinen ſchrecklichen Ge-
richten! — Hat er mir geflucht? — Sie ge-
ſegnet, ſagte Siegwart. — Gut! ich habs doch
nicht verdient! verſetzte der Vater. Hab doch ſei-
ne Mutter ins Grab gebracht, durch Untreu! —
Aus dem Haus ſoll ſie mir, der Hund! Jch kann
keine Hure ſehn! Jch bin ein Ehebrecher! —
Lieber Karl! Biſt du bey der Mutter? Ach, ver-
klag mich nicht! Verklag mich nicht! — Nun
ſtuͤrzte er ſich wild uͤber ſeinen todten Sohn her, und
kuͤſte ihn, daß er ihm die Lippen aufbiß. — Der
Bube war doch fromm? Nicht? — Nun, ſo
mag er fuͤr mich bitten! — Aber, ach, nun
hab ich keinen Sohn mehr! habe keine Freunde
mehr im Alter! Ach, nun moͤcht ich ſterben, weil
er todt iſt! — Du lieber, todter Sohn! Eine
Hure hat dir deines Vaters Herz geſtohlen! Und
du biſt geſtorben; konnteſts laͤnger nicht mehr an-
ſehn! Sags deiner Mutter nicht, Karl! Um Got-
tes willen nicht! — Ach, daß du ſo fruͤh geſtor-
ben biſt! Die Hure ſoll mirs buͤſſen! — Siehſt
wie deine Mutter aus, als ſie geſtorben war! —
Hat er mich geſegnet, Herr? Mein Weib hats
auch gethan! Aber kann beym Ehebruch auch Se-
gen wohnen? — Daß du mich geſegnet haſt, das
hat dich deine Mutter wohl gelehrt; wenn ſie mit
dir weinte in der Kammer. — Nun ſprang er
auf: Aber, lieben Herren, ſagts der Welt nicht!
Jch will ſelber meine Schande aufdecken! — Lie-
ber Karl! Jch kann dich nicht mehr anſehn. Es
iſt gar zu fuͤrchterlich! —
Jndem kam der Arzt herein mit Boling. Der
Vater gieng in einen Winkel, ſah beſtaͤndig ſtarr
auf einen Platz, und ſchwieg, ſolang der Arzt da
war. — Nachher ſagte er zu Kronhelm: Laſſen
Sie meinen Karl begraben! Jch kann nichts
thun.
Kronhelm machte Anſtalten, daß ſein Freund
in zwey Tagen begraben wurde. Der Vater verſchloß
ſich groͤſtentheils auf dem Zimmer ſeines Sohnes,
und ließ ſich nur von Siegwart und von Kron-
helm ſprechen. Sie muſten ihm ſeine ganze Ge-
ſchichte erzaͤhlen. Er hoͤrte ſtillſchweigend, und mit
niedergeſchlagnen Augen zu. Nur zuweilen ſeufzte
er tief auf, oder klagte ſich ſelber, wegen ſeines
Betragens gegen ihn, an. Jch vermuthete, ſagte
er, daß ihn etwas anders auf der Univerſitaͤt zu-
ruͤckhielte, ſo wie mirs ehemals gieng. Wenn
man ſchlechte Streiche macht, ſo vermuthet man
ſie bey andern auch. An eine ſo heilige und keu-
ſche Liebe, wie die gegen Marianen war, dacht’
ich gar nicht. War denn gar keine Hofnung da,
daß ihn das Maͤdchen wieder lieben werde? —
Wenig, oder keine; antwortete Kronhelm. Eben
jetzt ſagte mir Boling, ſie werd’ einen hieſigen Aſſeſſor
heyrathen. — Siegwart wurde uͤber dieſe Nach-
richt ploͤtzlich blaß, und lief weg. Zu Haus ſank
er in einen Stuhl, blieb eine Stunde lang ſo
ſitzen, ſeufzte, weinte; und verwuͤnſchte ſein Ge-
ſchick.
Den andern Tag wurde Gutfried begraben.
Der Vater gieng ſtumm hinter dem Sarge drein.
Es folgten die Freunde ſeines Sohnes; alle voll
tiefen Grams. Siegwart war am meiſten bewegt.
Der Gedanke an den Verluſt eines ſolchen Freun-
des, und der Gedanke an ſein eignes truͤbes Schick-
ſal zerfloß in ſeiner Seele in einen einzigen, und
lag ſchwer auf ihm. Stumm und ſtarr ſah er auf
den Sarg ins Grab hinab; bittre Thraͤnen floſſen
drauf, und ſein Herz ward voll von dem Wunſch,
wie ſein Freund zu ſterben; denn zuweilen that er,
aus ſeinem kummervollen Leben einen Blick in die
Wonne, der ſein Freund nun genoß. Den Abend
drauf ſchrieb er aus dem kummervollſten Her-
zen dieſe Verſe nieder:
An Gutfrieds Begraͤbnistage.
Wuͤrd’ ich doch, wie du, begraben!
Saͤnk’ ich auch in Todesnacht!
Zaͤrtlichkeit und Jammer haben
Mich dem Grab’ auch reif gemacht.
Deine Leiden ſind voruͤber,
Ausgeweinet hat dein Blick;
Aber trauriger und truͤber
Wird mir jeder Augenblick.
Stimmet keine Trauerlieder
Auf des Freundes Huͤgel an!
Segnet ſein Geſchick, ihr Bruͤder!
Er betrat des Lebens Bahn.
Wißt: Der ſchoͤnſte Tag des Lebens
Jſt der naͤchſte an der Gruft.
Ach, daß doch mein Wunſch vergebens
Jhn, herbeyzueilen, ruft!
T t
Kronhelm hielt den Kummer ſeines Freundes fuͤr
Schmerz uͤber Gutfrieds Tod, und vereinte ſich
mit ihm zu klagen. Den naͤchſten Sonntag ſah
Siegwart ſeine Mariane in der Kirche. Sie gruͤß-
te ihn freundlich, und ſah heiter aus. Er hielt
dieſe Heiterkeit fuͤr Freude uͤber ihre nahe Verbin-
dung, und ward daruͤber noch unruhiger, und
trauriger. Jm naͤchſten Konzert merkte er wohl,
daß ſie ihn ſehr fleiſſig beobachtete, aber ſeine
Furcht ließ ihn auf nichts vortheilhaftes ſchlieſſen.
Sie ſang eine obligate Arie, und bat Kronhelm,
ihr dabey zu akkompagniren. Dieß brachte ihn
noch mehr auf, und erfuͤllte ihn mit dem baͤngſten
Schmerz. Der halbverborgene Funken von Eiferſucht
glimmte wieder friſch in ihm auf. Seine Ver-
nunft mochte ihm ſagen, was ſie wollte; ſein Herz
ſtritt dagegen. Er merkte kaum auf ihren himm-
liſchen Geſang, und fuͤhlte nichts von der herz-
ſchmelzenden Zaͤrtlichkeit, mit der ſie ſang. Jn-
dem er ſo, von tauſend kaͤmpfenden Leidenſchaften
beſtuͤrmt, in einem Winkel ſtand, und nicht be-
merkte, daß die Arie ausgeſungen war, trat Ma-
riane zu ihm, und bat, er moͤchte ihr bey einer
zweyten Arie akkompagniren. Er ſtund da, wie
vom Grab erweckt, in der ſtaunendſten Bewegung;
neigte ſich gegen ſie, und nahm zitternd ſeine Vio-
line. Seine Toͤne rangen mit den ihrigen um den
Vorrang des Ausdrucks; endlich ſtroͤmten ſie in
einander, wie die Empfindung zwoer Seelen, die
ſich nun zum erſtenmal ihr Gefuͤhl entdecken, und es
ganz in Seufzer und in Worte ausflieſſen laſſen.
Als er ausgeſpielt hatte, verneigte ſie ſich tief vor
ihm, mit einem Laͤcheln und einem Ausdruck ihres
Auges, der durch ſein ganzes Weſen eine, nie ge-
fuͤhlte Waͤrme ausgoß. Jn dem Augenblick ver-
gaß er aller Zweifel, aller Schwierigkeiten; ſie
war ganz ſein. Es fuͤhlt’ er wohl, und wuſt’ es
nicht, wie Klopſtock ſagt.
Sie bat ihn nun im naͤchſten Konzert ein Duett
mit ihr zu ſingen. Er ſtotterte was her: Er ſey im
Singen ſo geuͤbt nicht, um mit ihr zu ſingen
u. ſ. w. Sie ſagte aber: Sie wiſſe, durch Herrn
von Kronhelm, ſchon das Gegentheil, und rief
Kronhelm ſelbſt zum Zeugen auf. Dieſer verſicher-
te, daß ſein Freund nur aus uͤbergroſſer Beſchei-
denheit ſo rede. Drauf ſprachen ſie von Gutfried.
Mariane bedaurte ſeinen Tod mit dem herzlichſten
Antheil, ſo daß unſerm Siegwart die Thraͤnen in
die Augen ſchoſſen. Tauſend Empfindungen draͤngten
ſich in ſeiner Seele. Gutfried, ſagte ſie, hatte
ſehr viel Gutes, viel Empfindung, und das iſt das
Beſte. Seine Freundſchaft war mir werth und
ſchaͤtzbar. Jch haͤtt ihm ein laͤngeres Leben ge-
wuͤnſcht. Doch nun iſt ihm auch wohl. Hier
wandte ſie ſich auf die Seite, um ſich eine Thraͤne
aus dem Auge zu wiſchen. Unſre beyden Juͤng-
linge ſahn ſich an, und weinten auch. Von ſeiner
heftigen Liebe gegen ſie ſchien ſie nichts gemerkt zu
haben. Dieß ruͤhrte unſern Siegwart noch mehr.
Die Hofrath Fiſchern ſtellte ſich auch zu ihnen, und
beſprach ſich, beſonders mit Siegwart, uͤber Gut-
frieds Tod. Mariane ſprach indeſſen mit Kron-
helm, und ſah mehrmals unſern Siegwart ſeit-
waͤrts ſehr bedeutend an. Sein Herz ward ihm
durch jeden ſolcher Blicke ſehr erleichtert, und Hof-
nung nahm die Stelle der Furcht ein. Kronhelm
hub zu Hauſe an: Hoͤr! Xaver, Mariane will
den Geßner leſen, und ich hab ihn nicht, willſt
du mir ihn wohl fuͤr ſie leihen?
Siegwart. O von Herzen gerne! Sie kann
alle Buͤcher von mir haben.
Kronhelm. Nun, das heiſſ’ ich mir einmal
vernuͤnftig geſprochen! Nicht wahr, du gibſt mir
nun auch zu, daß die Fiſcherin ein vortrefliches
Maͤdchen iſt! Sie gefaͤllt dir doch?
Siegwart. Jch habe nie nichts gegen ſie ge-
habt; warum ſollte ſie mir nicht gefallen, wie ein
andres braves Maͤdchen auch?
Kronhelm. Alſo mehr gefaͤllt ſie dir doch nicht?
Was du nicht geheimnißvoll ſeyn kannſt!
Siegwart. Geheimnißvoll, Kronhelm? Jch
weis gar nicht, was das heiſſen ſoll?
Kronhelm. Gut, ſo weis ichs auch nicht! Jch
dachte nur, daß ich dir niemals Urſache gegeben ha-
be, gegen mich ſo zuruͤckhaltend zu ſeyn, da ichs
doch nicht gegen dich bin. Und in dieſer Sache
koͤnnt ich dir vielleicht mehr nuͤtzen, als ſchaden.
Aber, glaub ja nicht, daß ich neugierig bin, oder
jemand ſeine Heimlichkeiten abdringen will. Sieh,
dieß Blatt Papier haſt du geſtern, als du deine
Brieftaſche durchſuchteſt, bey mir auf dem Tiſche
liegen laſſen. Die Verſe ſind wohl an Marianen?
Sie hat doch wohl Klavier geſpielt, als du bey
Gutfried wachteſt?
Siegwart zitterte, ward roth und blaß, und fiel
endlich ſeinem Kronhelm um den Hals. Du haſt
Recht, ſagte er, ich war ein mistrauiſcher Narr,
der ſo einen Freund, wie du biſt, nicht verdient!
Aber, Kronhelm, wenn du in mein Herz ſehen
koͤnnteſt; wenn du wuͤſteſt, was ich ausgeſtanden
habe, daß ich ſchweigen muſte! Denn ich muſte
ſchweigen. — O ich weis, du wuͤrdeſt mir verge-
ben. — Du kennſt die Liebe, Kronhelm! Weiſt,
wie’s einem iſt. Ach, vergib mir, Bruder! War-
lich, wenn ichs Einem Menſchen haͤtte ſagen koͤn-
nen, du waͤrſt der erſte auf der Welt geweſen;
warlich! —
Kronhelm. Sey ruhig, Bruder! Jch war boͤſe,
und das muſt du mir vergeben! Aber jetzt iſts
ſchon vorbey. Jch will glauben, daß du mehr um
deinetwillen ſchweigeſt, als um meinetwillen. Laß
es gut ſeyn! Jch wills auch thun. Freunde muͤſ-
ſen ſich ſo was nicht uͤbel nehmen!
Siegwart umarmte ſeinen Freund noch feuri-
ger, und geſtund ihm nun ſeine Liebe zu Maria-
nen offenherzig. Es war ihm unausſprechlich wohl
dabey, daß er ſein, ſchon ſo lang gepreſtes, volles
Herz ausſchuͤtten konnte. Kronhelm billigte ſeine
Wahl aufs aͤuſſerſte, und machte ihm nicht gerin-
ge Hofnung, daß er Marianen gar nicht gleich-
guͤltig ſey. Zugleich verſprach er, ſie noch mehr
auszuholen, und ihm Gelegenheiten zu verſchaffen,
genauer mit ihr bekannt zu werden. Dieß Ver-
ſprechen war unſerm Siegwart auſſerordentlich an-
genehm, nur bat er, ſeiner angebohrnen Schuͤch-
ternheit gemaͤß, ſeinen Kronhelm ſehr, recht be-
hutſam drein zu gehen, und ſich und ihn auf
keine Weiſe zu verrathen. Zu ſeiner groͤſten Freude
erfuhr er auch, daß ihre Verbindung mit dem Aſ-
ſeſſor eine falſche Nachricht ſey, und ſich bloß auf
einen Misverſtand von Bolings Seite gegruͤndet
habe. —
Die beyden Freunde verlohren ſich nun in ſuͤſſe
Traͤumereyen uͤber das kuͤnftige Gluͤck ihrer Liebe;
Kronhelm ſprach von ſeiner Thereſe, und Siegwart
von ſeiner Mariane mit dem waͤrmſten Enthuſias-
mus. Jeder lobte das Maͤdchen des andern mit
Begeiſterung, um eben ſolches Lob auf das ſeinige
zu hoͤren. Sie blieben bis um Mitternacht bey-
ſammen, und konnten ſich kaum trennen; denn
immer fiel, bald dem einen, bald dem andern et-
was neues ein. Kronhelm meynte, Siegwart ſoll-
te Thereſen etwas von ſeiner Liebe ſchreiben, aber
Siegwart wollte ſich dazu ſchlechterdings nicht ver-
ſtehen, denn er war in dieſem Punkt uͤbermaͤſſig
furchtſam und zuruͤckhaltend, und zaͤrtlich.
Taͤglich ſprachen ſie nun ganze Stunden lang
von ihrer beyderſeitigen Liebe. Siegwart ſah nun
ein, wie unrecht er ſeinem Freund mit ſeiner un-
gegruͤndeten Eiferſucht gethan habe, und ward taͤg-
lich offenherziger. Er entdeckte ihm ſo gar ſeine
ehemaligen Grillen, und auch Sophiens ungluͤckli-
che Liebe zu ihm. Sie machten mit einander aus,
ſo bald wieder ein Schnee fiele, eine Schlittenſahrt
und einen Ball anzuſtellen, wobey Siegwart ſeine
Mariane bedienen ſollte. Dieſer machte zwar an-
fangs tauſenderley Einwendungen, die ihm ſeine
Schuͤchternheit eingab, aber Kronhelm zerſtreute
ſeine Zweifel und aͤngſtliche Bedenklichkeiten.
Den naͤchſten Sonntag gieng Kronhelm mit
Siegwart in die Kirche, und wollte in Marianens
Blicken und Betragen viele Theilnehmung an
Siegwarts Perſon bemerkt haben. Siegwart
machte ihm tauſend Einwuͤrfe, um ſie nur widerlegt
zu ſehen. Jm folgenden Konzert ſang er mit Ma-
rianen das Duett zum Erſtaunen aller Zuhoͤrer.
Jhre Stimmen waren wie das Liſpeln der Liebe;
ſtiegen mit einander in den Himmel, und wieder
mit einander in das Grab herab, und klagten. Je-
des Herz fuͤhlte Zaͤrtlichkeit und Liebe, doch das ih-
rige am meiſten. Man haͤtte wenig ſcharfſinnig
ſeyn duͤrfen, um zu hoͤren und zu fuͤhlen, daß weit
mehr aus ihnen ſang, als Kunſt. Bey einem Tril-
ler ſah ſie unſern Siegwart ſo ſchmachtend und be-
weglich an, daß ihm Thraͤnen in die Augen kamen,
und ſein Herz im ſeligſten Gefuͤhl ſchwamm. Die
ganze Geſellſchaft klatſchte noch ſo lang, als ſonſt ge-
woͤhnlich, als die beyden ausgeſungen hatten. Sie
lobte ſeinen richtigen Geſang und ſeinen tiefen
Ausdruck mehr mit Blicken, als mit Worten. Wir
muͤſſen oͤfter ſingen, ſagte ſie. Jch ſang noch nie
mit ſolchem Erfer und mit ſolchem Antheil. Jch
gewiß auch nie! ſagte Siegwart, und ſeufzte. —
Kronhelm kam dazu, und ſagte: Hab ich nicht
Recht, Jungfer Fiſcherin, daß er gut ſingt? — O,
ſie haben mir nicht halb ſo viel geſagt, war ihre
Antwort. Herr Siegwart ſingt auſſerordentlich
Endlich ward das Geſpraͤch, durch andre, die dazu
kamen, allgemeiner.
Siegwart war nun ſo froh, daß er alles um ſich
her vergaß. Er glaubte nun ſelber, daß ihn Ma-
riane liebe, und wuͤnſchte nur bald Gelegenheit, ſie
allein zu ſprechen, und ihr ſein Herz ganz entdecken
zu koͤnnen! Beym Weggehen, als er von ihr Ab-
ſchied nahm, ſah ſie ihn mit dem zaͤrtlichſten ſchmach-
tendſten Blick, in dem eine Thraͤne ſchwamm, an.
Zu Haus machte er ſogleich in ſeiner Freude fol-
gendes Gedicht:
Der Blick der Liebe.
War das nicht ein Blick der Liebe,
Der aus ihrem Auge ſprach?
Sah es nicht bethraͤnt, und truͤbe
Mir mit ſtiller Sehnſucht nach?
Ja, bey Gott! Sie muß es wiſſen,
Daß ich ſo verwundet bin;
Muß, von Mitleid hingeriſſen,
Auch fuͤr mich im Stillen gluͤhn! —
O ihr Liebesengel, ruͤhret
Euch das Flehn des Leidenden,
O ſo ſteigt herab, und fuͤhret,
Mich zu meiner Heiligen!
Daß ich ihr zu Fuͤſſen ſinke,
Meine Leiden ihr geſteh,
Und durch Einen ihrer Winke
Mich zu euch erhoben ſeh!
Mit dieſem Gedichte gieng er gleich zu ſeinem Kron-
helm, der damit zufrieden war, und ſagte: Die
Zeit, die du dir in dieſen Verſen wuͤnſcheſt, kann
bald kommen. Sie liebt dich, daran zweifle ich
gar nicht mehr; und bey der erſten Schlittenfahrt
ſollſt du mit ihr fahren, und den Abend drauf beym
Ball kannſt du ihr dein Herz entdecken. — Sieg-
wart war uͤber dieſe Hofnung und das Verſpre-
chen ſeines Freundes ganz auſſer ſich. Er gieng
nun taͤglich mehr als zwanzigmal zu ſeinem Baro-
meter, ob der Merkurius drinn noch nicht falle, und
Schnee verkuͤndige? Er blickte immer nach dem
Himmel, ob noch kein Gewoͤlk ſich aufziehe? und
freute ſich uͤber jedes aufſteigendes Woͤlkchen, das
ihm Schnee zu tragen ſchien.
Endlich umzog ſich am Sonnabend der Himmel
ganz, und in der Nacht drauf fiel ein tiefer Schnee.
Als er am Sonntag Morgens aufwachte, und al-
les weiß ſah, da wars ihm ſo wohl, als ob der Fruͤh-
ling angebrochen waͤre.
Auf den folgenden Tag ward ſogleich eine Schlit-
tenfahrt feſt geſetzt. Kronhelm gieng zu Maria-
nen und ihren Eltern, um anzuhalten, ob Siegwart
ſie fahren duͤrfe? Denn dieſer war zu furchtſam,
um ſelbſt anzuhalten. Mariane, nebſt ihren El-
tern, willigten mit Freuden in den Antrag. Sieg-
wart, dem ſein Freund dieſe Nachricht brachte,
war daruͤber ganz auſſer ſich. Doch klopfte ihm
das Herz, je naͤher die Zeit kam, da er Marianen
abholen ſollte. Er wuͤnſchte oft den ſo ſehnlich er-
ſeufzten Augenblick weit weg, und zoͤgerte, als die
Stunde kam, mit dem Schlitten vor ihr Haus zu
fahren. Endlich muſte er doch hinfahren. Zitternd
gieng er die Treppe hinauf in ihr Zimmer; mach-
te vor ihr und ihren Eltern eine tiefe Verbeugung,
und tauſend Entſchuldigungen, die man aber nicht
verſtehen konnte, ſo leiſe und verwirrt ſprach er. Der
Hofrath Fiſcher und ſeine Frau waren gegen ihn ſehr
hoͤflich, und Mariane that gegen ihn ſehr offenherzig
und freundlich. Mit bangem Zittern ergriff er
ihre Hand, und fuͤhrte ſie die Treppe hinunter.
Jn der freyen Luft ward ihm wieder wohl, und
er fuhr zu der uͤbrigen Geſellſchaft. Mariane ſagte
ihm im Fahren: Es ſey ihr ſehr angenehm, in
ſeiner Geſellſchaft zu ſeyn. Er ſtotterte: Jhm ſeys
noch angenehmer, und er habe ſich ſchon lange die-
ſes Vergnuͤgen gewuͤnſcht ꝛc. Nachdem die Geſell-
ſchaft in der Stadt herum gefahren war, ſo fuhr
man auf ein benachbartes Dorf. Siegwart wuſte
nichts zu ſprechen; er lobte nur das Wetter, und
die angenehme Wintergegend, und freute ſich, daß
ein ſo ſchoͤner Schnee gefallen ſey. Es aͤrgerte
ihn, daß er ſo den Stummen ſpielen ſollte; er
beſann ſich hin und her, was er ſagen wollte? Es
fiel ihm nichts ein, und doch war ihm das Herz
ſo voll. Endlich kam er aufs Konzert zu ſprechen.
Er fuͤhlte, daß ſein Geſpraͤch kalt und gleichguͤltig
ſey; er wollte was anders anfangen, und unter-
hielt ſich doch davon ganz allein mit ihr, bis ſie
an das beſtimmte Dorf kamen. Hier blieben ſie
nur eine kleine Stunde, und bedienten das Frauen-
zimmer mit Kaffee. Die Studenten trunken ein
Glas Wein. Dieſes machte, daß Siegwart auf der
Ruͤckfahrt etwas minder ſchuͤchtern war. Er fuͤhr-
te ſeine Mariane an den Schlitten, und wagte es,
ein paarmal ihr die Hand zu druͤcken. Sie ſah
ihn an, und laͤchelte mit einer Wehmuth,
die ſchnell, wie ein Blitz, in ſeine Seele
uͤbergieng, und ihn die Augen niederzuſchlagen
zwang. Der Abend war der ſchoͤnſte. Die ganze
Gegend war ins weiſſe ſchweigende Gewand des
Winters eingehuͤllt, und ſtimmte die Seele zum
wehmuͤthigfeyerlichen. Die Sonne gieng, wie
das reinſte, durchſichtigſte Gold am Horizont
hinab, und breitete am Himmel eine unbeſchreib-
liche Heiterkeit aus. Als ſie, am ſchwarzen Wald
hinab, tiefer in die Duͤnſte ſank, ward ſie blutroth,
und faͤrbte durch ihren Wiederſchein den halben Him-
mel mit Violet und Roſenroth. Marianens Ge-
ſicht glaͤnzte in dem ſanften Wiederſchein des Him-
mels. Jhre Miene war voll Heiterkeit, und ihr
helles braunes Auge voll ſuͤſſer Wehmuth. Ein
paarmal ſah ſie ſich nach Siegwart um, der, in
ihrem Anſchaun ganz verſunken, faſt vergaß, ſein
Pferd zu lenken. Alles war ihm ſo feyerlich; die
ganze Flur umher ſchien ihm ein Tempel. Ein
paarmal ſah er gen Himmel, und ſein Blick, und
die Thraͤne drinn, ward ein Gebeth um Maria-
nens Liebe. Anfangs ſprach er wenig. Nur zu-
weilen rief er aus: Was das doch alles ſchoͤn iſt!
Sehn Sie dort am Schloß die Fenſter! Wie ſie
glaͤnzen, als obs Gold waͤr! Sehn Sie das herr-
liche, uͤberherrliche Abendroth! Und die Waldung
dort im Golde! Und das Dunkel dort am Berg!
Und die Stille! O, der ſchoͤnſte Tag in meinem
Leben! — Kronhelm, der vor ihm fuhr, und
ſich ein paarmal nach ihm umſah, merkte ihm
die Freude an, wie ſie ihm aus den Augen blitzte,
und in jeglichem Geſichtszuge ſich ausdruͤckte. Er
freute ſich im Jnnerſten daruͤber, und ſah ihn mit
einem vielbedeutenden Laͤcheln an.
Jn der Stadt fuhr die Geſellſchaft noch einmal
die Hauptſtraſſen durch, und dann nach dem Hau-
ſe, wo der Ball gehalten wurde. Mariane ließ
ſich erſt nach Hauſe fuͤhren, um ſich umzukleiden.
Siegwart fuͤhrte den Schlitten weg, und eilte
auch nach Haus, um ein andres Kleid, und ſeid-
ne Struͤmpfe anzulegen. Er war vor Freuden uͤber
Marianens Betragen ganz auſſer ſich, huͤpfte hin
und her, ſang laut, und ſprach mit ſich ſelber. Als
Kronhelm, der ſein Frauenzimmer auch nach Haus
gefuͤhrt hatte, kam; ſprang er ihm entgegen, druͤckte
ihn feſt an ſich, daß er haͤtte ſchreyen moͤgen, und
frohlockte gegen ihn uͤber ſein Gluͤck und uͤber
ſeine Mariane. Bruder, Bruder! ſagte er, das
iſt ein Engel, wie es keinen gibt! Nun fang ich
erſt recht zu leben an. Vorher war es alles nichts!
Wenn ſie ſo bleibt, ſo bin ich ganz im Himmel!
Meynſt du nicht, ſie ſey mir gut? — Ganz
unſtreitig, ſagte Kronhelm! O die Liebe laͤſt ſich
gar nicht lang verbergen, zumal vor einem Lieben-
den. Mach deine Sachen nun klug! Sey nicht
allzuſchuͤchtern! Sie muß es merken, was du fuͤr
ſie fuͤhlſt! Siegwart machte wieder einige Einwen-
dungen: Sie koͤnn’ es uͤbel nehmen, und ihm boͤſe
werden, wenn er ſo gerade zu geh, u. ſ. w. Kron-
helm aber fiel ihm in die Rede; Da kennſt du die
Maͤdchen ſchlecht, wenn du glaubſt, ſie nehmen ſo
etwas uͤbel. Warum ſollten ſies auch thun? Es
ſchmeichelt ihnen ja, und muß ſie freuen, wenn
ein braver Kerl ſie ins Auge faſt. Du nimmſt’s
ja auch nicht uͤbel, wenn du einem Maͤdchen wohl-
gefaͤllſt, zumal wenns von Liebe von der rechten
Art herkommt. Fang nur keine Grillen! Das iſt
bey der Liebe, und zumal im Anfang ſo gewoͤhn-
lich. Wenn du Marianen, wie ich glaube, wirk-
lich wohlgefaͤllſt, ſo kann ihr dein Geſtaͤndniß nicht
misfallen. Wart nur den rechten Zeitpunkt ab,
und ſprich mit ihr aus dem Herzen!
Siegwart verſprach, zu thun, was er koͤnnte,
und gieng nun, Marianen zum Ball abzuholen.
Er gieng aufs Wohnzimmer, wo ihre Eltern wa-
ren, die ihm beyderſeits ſehr hoͤflich begegneten.
Die Mutter that beſonders auſſerordentlich freund-
ſchaftlich, und bat ihn, ſie und ihren Mann und
ihre Tochter zuweilen am Abend zu beſuchen. Wenn
Sie den Herrn von Kronhelm mitbringen, und
mein Joſeph (ſo hieß Marianens juͤngſter Bruder,
der auch im Zimmer war) zu Haus iſt, ſo koͤn-
nen Sie, wenn es Jhnen gefaͤllig iſt, zuweilen
ein kleines Privatkonzert machen. Siegwart nahm
den Antrag mit Freuden und einer tiefen Ver-
beugung an. Der Hofrath Fiſcher ſagte eben die-
ſes, und war uͤberhaupt ungewoͤhnlich hoͤflich, er-
kundigte ſich ſehr forgfaͤltig nach ſeinem Vater, trug
ihm ein hoͤfliches Kompliment an ihn auf, und
bedaurte, daß er noch nicht Zeit gehabt, ſelbſt an
ihn zu ſchreiben. Marianens Bruder, Joſeph,
war ſo hoͤflich nicht; er aͤrgerte ſich, daß ſeine
Eltern dem Siegwart, ſeines Violinſpielens we-
gen, ſo hoͤflich begegneten; Er hielt es fuͤr eine
Verachtung ſeiner ſelbſt, und hatte es noch nicht
vergeſſen, daß Siegwart einmal im Koncert ihn
mit ſeinem Spiel ſo verdunkelt hatte. Daher
ſprach er ſehr wenig mit Siegwart, blickte ſtolz
auf ihn herab, und ließ allerley ſpoͤttiſche und
zweydeutige Reden fallen. Siegwart merkte es,
that aber doch ſehr freundſchaftlich gegen ihn, und
gab ſich Muͤhe, ihm eine guͤnſtigere Geſinnung
gegen ſich einzufloͤſſen. Der Bruder ſagte Ma-
rianen, es werde nicht gut ſtehen, wenn ſie wie-
der ſo ſpaͤt nach Hauſe komme, wie das letztemal;
Man ſpreche von ſolchen Maͤdchen nicht zum
Beſten, u. ſ. w. Mariane, die mit ihrem Anzug
beſchaͤftigt war, that, als ob ſie ſeine Hofmeiſte-
rey nicht hoͤrte.
Als ſie fertig war, gieng ſie mit Siegwart
nach dem Ball. Auf dem Weg dahin beſchwerte
ſie ſich uͤber ihren Bruder. Es iſt ein fataler
U u
Menſch, ſagte ſie, dem man nichts recht machen
kann; er will alles beſſer wiſſen. Sie wiſſen ſich
gut in ihn zu ſchicken, und das gefaͤllt mir, u. ſ. w.
Siegwart war uͤber ihre Offenherzigkeit ganz be-
zaubert, und zog tauſend guͤnſtige Schluͤſſe daraus.
Als ſie auf den Tanzſaal kamen, ward alles
auf Marianen aufmerkſam. Sie hatte ein Kleid
von roſenrothem Tafft an, und glich in ihrer Hei-
terkeit und der friſchen Geſichtsfarbe der Goͤttin
der Morgenroͤthe. Kronhelm hatte an der Tafel
ſchon einen Platz fuͤr ſie neben ſich belegt. Noch
vor dem Eſſen muſte Siegwart eine Menuet mit
ihr tanzen. Anfangs zitterte er, und machte faſt
alle Schritte falſch. Nach und nach kam er in
den Gang, und tanzte recht zierlich. Alle ihre
Bewegungen hatten die groͤſte Leichtigkeit und Un-
gezwungenheit, und den ſchoͤnſten Anſtand. Sie
tanzte nicht aͤngſtlich nach dem Takte, ſondern mit
Empfindung und Gefuͤhl, und machte viele Ab-
aͤnderungen. Sie ſah unſerm Siegwart immer
ins Geſicht, ſo daß er oft die Blicke wegwenden,
oder niederſchlagen muſte. Bey Tiſch ward die
Geſellſchaft aufgeraͤumt und munter. Man ſprach
viel ins Allgemeine. Das Maͤdchen, das Kron-
helm bediente, war eine luſtige, etwas vorlaute
Bruͤnette, die ſehr oft zur Unzeit ihren Spaß
anbrachte. Sie wollte immer aller Augen, und
die Auſmerkſamkeit der ganzen Geſellſchaft auf
ſich ziehen. Endlich ließ ſie ſich doch mit Dahl-
mund, der ihr auf der andern Seite ſaß, und
nicht gleichguͤltig gegen ſie zu ſeyn ſchien, allein
in ein Geſpraͤch ein. Kronhelm unterhielt ſich
nun mit Marianen, und mit Siegwart, der im
Taumel ſeiner Liebe nicht wuſte, was er anfan-
gen, oder reden ſollte? Kronhelm ſah eine Zeit-
lang ſtarr und traurig vor ſich hin, holte einen
tiefen Seufzer, grif endlich haſtig nach dem Glas,
ſtieß an Siegwarts ſeines, und ſagte: There-
ſe! O, das trink ich auch mit, ſagte Mariane,
und ſtieß mit den beyden an. Kennen Sie ſie
auch? ſagte Siegwart. O ja, gab ſie zur Ant-
wort: Herr von Kronhelm hat mir viel von ihr
erzaͤhlt. Jſts noch immer bey dem Alten? (indem
ſie ſich zu Kronhelm wendete). Jmmer noch,
erwiederte dieſer, mit einem tiefen Seuſzer. —
Das iſt traurig, ſagte ſie. Und Sie verdienten
doch, ſo gluͤcklich zu ſeyn, und Thereſe gewiß
auch. Jhr Schickſal hat mich ſchon manchen
Seuſzer gekoſtet. Hier ſchoſſen unſerm Kronhelm
die Thraͤnen in die Augen. Sie muͤſſen eine
herrliche Schweſter haben, ſagte ſie zu Siegwart.
Was ich von ihr hoͤrte, hat mich ganz fuͤr ſie
eingenommen. Jch wuͤnſchte nichts mehr, als ſie
von Perſon zu kennen. — Ja, es iſt ein braves
Maͤdchen, verſetzte Siegwart, und es waͤr ein
Gluͤck fuͤr ſie, mit Jhnen bekannt zu ſeyn. Jch
liebe ſie herzlich, und ihr Schickſal geht mir tief
zu Herzen, denn es iſt gewiß ſehr traurig. Die
Liebe hat ſie ganz ungluͤcklich gemacht. — Jch hoff
immer noch, es ſoll ein gutes Ende nehmen; ſagte
Mariane. Herr von Kronhelm verdient ſie gar zu ſehr,
und wuͤrde ſie gewiß gluͤcklich machen. Wenn Sie nur
Geduld haben koͤnnen, Herr von Kronhelm! Jch
habe Ahndungen — Wollte Gott! ſie traͤfen ein!
ſagte dieſer ſeufzend, nahm ein Glas, ſah gen
Himmel und trank. Wir wollens auch mit trin-
ken, ſagte ſie zu Siegwart, und ſah ihn mit einem
ſehr bedeutenden Blick an, den ſein Herz verſtand.
Er hub ſein feuchtes Auge gen Himmel, und
trank. Nun iſt mirs um ein gutes leichter, ſagte
Kronhelm.
Es war jetzt abgeſpeiſt, und ein Paar fieng
an zu tanzen. Siegwart tanzte auch mit Maria-
nen. Er merkte wieder, daß ſie ihm immer in
die Augen ſah. Nachher gab er Acht, als ein an-
drer mit ihr tanzte, ob ſie dieſem auch ſo ſcharf
ins Geſicht ſehe? und zu ſeiner groͤſten Freude
fand er das Gegentheil. Nachher ward ein Ge-
ſellſchaftstanz mit der Promenade und der Chaine
gemacht. Siegwart hatte Marianen zur Taͤnze-
rinn. So oft er ſie bey der Hand faſte, fand er,
zu ſeiner groͤſten Freude, daß ſie ihm die Hand
weit ſtaͤrker druͤcke, als die uͤbrigen Maͤdchen; er
freute ſich, ſo oft er ihr nahe kam, und bey je-
dem ihrer Haͤndedruͤcke durchſchauerte ihn die an-
genehmſte, unbeſchreiblichſte Empfindung. Jhr
Auge ſah ihn oft auch bedeutend an, und ihre Bli-
cke hatten eine Sprache, die mehr ausdruͤckte,
als tauſend Worte. Er war immer da, wo ſie
war. Sein Auge merkte ſie aus zwanzigen her-
aus, und fand ſie, wenn ſie auch am aͤuſſerſten
Ende des Saals ſtand. Mit andern Maͤdchen tanz-
te er wenig; er ſtand immer da, wo ſeine Ma-
riane tanzte. Einmal bemerkte er einen Menſchen,
der oft, und immer lang mit ihr tanzte. Er ward
daruͤber unruhig, biß ſich auf die Lippen und tanzte.
Mit hingeſenktem, truͤbem Blick ſtand er in einer
Ecke des Saals; alles war um ihn her verſchwun-
den; er ſah und hoͤrte nichts. Mariane kam, oh-
ne daß ers merkte, von der Seite auf ihn zu, nahm
ihn bey der Hand, ſah ihn halblaͤchelnd an, und
ſagte: Sie ſind ja ſo traurig und ſo nachdenklich?
Wollen Sie nicht mit mir tanzen? Jch kann
den Menſchen dort im gruͤnen Kleid gar nicht los
werden, und das iſt mir ſo verdruͤßlich. Kommen
Sie! Ein Schleifer! (So heiſt der eigentlich ſchwaͤ-
biſche Tanz.) Siegwart kuͤßte ihr im feurigen Ent-
zuͤcken die Hand, und huͤpfte mit ihr in den Rei-
hen. Sie tanzte herrlich ſchwaͤbiſch. Alle Paare
wurden muͤd, und hoͤrten auf. Aber das liebe
Paar tanzte noch eine halbe Viertelſtunde allein,
und die andern ſahen bewundernd, oder neidiſch
zu. — So iſts eine Freude, ſagte ſie, indem ſie
den Tanz ſchloſſen. Sie tanzen ſo raſch und ſo
leicht weg, daß man glaubt, man fliege. Er fuͤhr-
te ſie an eine Seitenbank, und ſtand vor ihr.
Sie ſind doch warm geworden, ſagte ſie, und kuͤhl-
te ihm mit dem Faͤcher das Geſicht. Er nahm
den Faͤcher, und kuͤhlte damit ſie und ſich. Sie
ſah nach ihm auf, wie eine Heilige zum Himmel.
Er nahm ihre Hand, und wendete das Geſicht
weg, denn ſein Auge glaͤnzte. Sie druͤckte ihm
die Hand; er kuͤſte ſie. Reden konnt’ er nicht,
ob er gleich ſich hin und her beſann, was er ſagen
wolle. Das iſt ein herrlicher Tag! fieng er end-
lich an. Sind Sie auch vergnuͤgt? — Wie ſollt ich
nicht? war ihre Antwort, und ihr Auge ſagte noch
mehr. Setzen Sie ſich doch! fuhr ſie fort; Sie
werden muͤde ſeyn. Er ſetzte ſich, ob er gleich lie-
ber ſo vor ihr geſtanden waͤre. Jch habe lange
ſchon gewuͤnſcht — fieng er an, und faſte ſie bey
der Hand. Jndem kam ein Student, und zog ſie
zum Tanz auf. Er blieb unbeweglich ſitzen, und
ließ ſie von ſich. Mit ſchmachtendem, und halb-
aufgeſchlagenem Auge ſah er das herrliche Maͤdchen
vor ſich herumtanzen. Sein Auge folgte ihr,
wohin ſie ſich wendete. Kronhelm kam, und ſetz-
te ſich neben ihn. Wie iſt dir, Bruder? Du biſt
doch vergnuͤgt? Siehſt ſo ſchmachtend aus, als
ob du ſterben wollteſt. Nicht wahr? Mariane iſt
dir hold? Jch weis nicht, antwortete Siegwart;
Sie hat nichts geſagt. — Ey, das glaub ich, ant-
wortete Kronhelm; ſeit wann fangen denn die Maͤd-
chen an, Liebeserklaͤrungen zu machen? Haſt du
denn ihr Auge nicht geſehen, wie es ſpricht? Trink
Wein, Bruder! Ein Glaͤschen kann nicht ſchaden,
wenn du ſelber keinen Muth haſt. Du muſt heute
weiter kommen! — Ach, ich kann nicht! ſagte
Siegwart. — Ey, was, Poſſen? fiel ihm Kron-
helm ein, nahm ihn bey der Hand, und fuͤhrte
ihn zum Tiſch hin. Marianens Wohlſeyn! ſagte
er, indem er zwey Glaͤſer eingeſchenkt hatte; und
Thereſens! Was mag nur der Engel machen?
Wenn ſie mich nur nicht vergißt! — Nein, gewiß
nicht, Bruder! ſagte Siegwart. Waͤre Mariane
ſo gewiß mein, als ſie dein iſt, ich wuͤnſchte wei-
ter nichts mehr! Nun, auf gute Hofnung! und
hier fuͤllte er die Glaͤſer wieder. Schwager, ſag-
te Kronhelm, wenn ſie mein wird, ſo ſoll Maria-
ne dein ſeyn! Eher kann ich nicht ruhen. Wart!
Jetzt will ich mit ihr tanzen. Sie iſt eben frey.
Werd mir nur nicht eiferſuͤchtig! Siegwart ſah
ihm nach, und trank noch ein Glas. Dahlmund
kam, und fragte ihn, ob er nicht mit ihm und
Kronhelm eine Menuet a ſix machen wolle? Sieg-
wart nahm das erſte beſte Maͤdchen, und ſprang
hin. Mariane druͤckte ihm allemal die Hand,
wenn er ſie hinauf fuͤhrte. Er druͤckte die ihrige
wieder, und ſah in ſeinem Sinn ſo ſtolz umher,
als ob ihm die ganze Welt gehoͤrte. Sie machten
eben dieſen Tanz auch deutſch, und giengen dann
an den Tiſch. — Darf ich wuͤrklich zuweilen in Jhr
Haus kommen? fragte Siegwart Marianen. O
Sie muͤſſen kommen! antwortete dieſe. Halten Sie
ja bald Wort! Jch haͤtt es lange ſchon gewuͤnſcht;
aber es wollte ſich nicht ſchicken. Kommen Sie
doch ja bold! — Lieber Engel! ſagte Siegwart
gantz auſſer ſich, und kuͤßte ihr die Hand. — Jch
habe noch den Geßner von Jhnen, ſagte ſie, nach
einiger Zeit; in drey oder vier Tagen ſollen Sie
ihn haben. Jch habe viel herrliches drinn gefun-
den. Beſonders hat mir ſein Daphnis wohl gefal-
len. Unſchuld und Liebe, wenn man die ſo wahr
geſchildert ſieht, da geht einem das Herz auf. Es
iſt einem ſo wohl, daß man gleich ein Schaͤſerwer-
den moͤchte. Jch habe ſolche Gemaͤhlde gern, wenn
ſie gleich mehr ſchoͤne Traͤume, als Wuͤrklichkeiten
darſtellen. Man ſieht doch, was die Menſchen
ſeyn koͤnnten, und fuͤhlt ſich dabey. Jch wuͤrde
gern recht viel ſolche Buͤcher leſen, aber ich behalte
ſie immer ſo lang zuruͤck, denn mein Bruder faͤngt
ſogleich an zu ſchmaͤlen, wenn ich etwas leſe, und
da thu ichs nur, wenn er nicht zu Haus iſt. Wenn
Sie wieder einmal ein Buch eine Zeitlang entbeh-
ren koͤnnen, ſo wollt ich Sie wohl darum bitten.
Siegwart war uͤber dieſe Bitte ſehr erfreut: und
verſprach, ihr alle Buͤcher zu geben, die er von der
Art haͤtte. Dann fragte ſie mit vielem Antheil
nach Thereſen, und war bey ſeinen Erzaͤhlungen
von ihr ſehr aufmerkſam. Das waͤr ein Frauen-
zimmer fuͤr mein Herz, ſagte ſie, hier kann ich
keine ſolche Freundin finden. Meine Vertrauteſte
iſt jetzt aufs Land verheirathet, und da leb ich ſo
in der Einſamkeit; und das iſt mir manchesmal
ſehr traurig. Wenn ich nicht noch meine Mutter
haͤtte, ſo waͤr ich hier ſehr ungern, aber ſie erſetzt
mir alle Beduͤrfniſſe.
Nachdem die Frauenzimmer mit Kaffee und
fremdem Wein bedient waren, wurde noch einmal
deutſch getanzt. Endlich ſagte Mariane, nun muß
ich doch wol nach Haus, mein Bruder macht
ſonſt morgen groſſen Laͤrm. Es ſchien unſerm Sieg-
wart noch viel zu fruͤh zu ſeyn, aber er wagte es
doch nicht, ſie laͤnger aufzuhalten. — Wie doch
die Zeit ſo ſchnell verfliegt! ſagte er. Mir iſts,
als ob wir erſt eine Stunde da waͤren. — Mir
iſts auch ſo, ſagte ſie, und druͤckte ihm ſanft die
Hand. Jch bin noch nie ſo vergnuͤgt geweſen, wie
heute. — Moͤcht’ ich doch auch etwas dazu bey-
getragen haben! ſagte er ſchmachtend. — Vieles,
vieles! ſagte ſie mit tiefem Ausdruck. Er ward
wie von einer unſichtbaren Gewalt hingeriſſen, und
kuͤßte ſie auf den Mund. Sie hielt willig ſtill. Jn
dem Augenblick fuͤhlte er ſich uͤber alles erhaben.
Welt und alles ſchwand vor ſeinen Blicken. Der
fatale Menſch, der ſchon mehrmals mit ihr ge-
tanzt hatte, wollte ſie wieder aufziehen. Jch tanze
mit Herrn Siegwart, ſagte ſie, ſah ihn zaͤrtlich
an, und druͤckte ihm die Hand. Er ſtuͤrmte mit
ihr in den Reihen hinein, flog mit ihr herum, als
ob ihn Wolken truͤgen. Alle andre hoͤrten auf,
und ſahn unſerm Paar verwundernd zu. Hier
und da ward ein Gelipſel: Da wird wohl ein Lie-
beshandel draus werden; die ſind immer bey ein-
ander, u. ſ. w. Endlich tanzte man den Kehraus,
den Mariane und Siegwart anfuͤhrten, und die
Geſellſchaft gieng groͤſtentheils auseinander.
Auf dem Heimweg kuͤſte Siegwart ſeine Maria-
ne noch ein paarmal. Sie war auſſerordentlich
vergnuͤgt uͤber dieſen Abend, dankte ihm fuͤr das
viele Vergnuͤgen, das er ihr gemacht haͤtte; freute
ſich, mit ihm genauer bekannt worden zu ſeyn, und
bat ihn, ſie nur recht bald zu beſuchen. Er wuſte
vor Entzuͤcken nicht, was er reden ſollte? Alle
Worte fehlten ihm. Er druͤckte ihr nur die Hand,
und gab ihr noch einmal einen heiligen Kuß zum
Abſchied.
Als er aus ihrer Straſſe kam, huͤpfte und ſprang
er mehr, als daß er gieng. Zu Haus blieb er noch
eine halbe Stunde auf; Kronhelm war ſchon zu
Bette gegangen. Alle Begebenheiten des vorigen
Tags und des ſchoͤnſten Abends ſchwebten in glaͤn-
zendem Gemiſch vor ihm herum. Wenn er ſich
einen Umſtand beſonders denken wollte, ſo fielen
ihm zwanzig andre ein. Es war ihm, als ob er
ein buntes Tulpenbeet vor ſich ſaͤhe, deren jede
ſchoͤn iſt, aber er konnte keine einzeln betrachten.
Sein Geiſt irrte, wie ein Schmetterling von einer
Blume zu der andern. Zuletzt ward ihms vor
den Augen daͤmmerig. Er ſah nur noch Far-
ben vor ſich. Alle floſſen in einander. Ma-
riane war der Hauptgedanke, den er ſich unter tau-
ſenderley Geſtalten dachte. Er wiederholte alle
Geſpraͤche, die er mit ihr gefuͤhrt hatte, und aͤr-
gerte ſich, daß er ſo wenig geſprochen hatte. Jetzt,
dachte er, jetzt ſollte ſie da ſeyn! Jetzt wollt’ ich
ihr alles ſagen, ihr mein ganzes Herz ausſchuͤtten,
u. ſ. w.
Jm Bette konnte er nicht ſchlafen. Der Tanz,
den er mit ihr zuerſt getanzt hatte, ſchallte ihm
immer in den Ohren. Wenn er die Augen zumach-
te, ſo war ihms, als ob er mit ihr im Kreis herum-
floͤge, vor ihr ſtuͤnde, ihr ins Auge blickte, und
ſie bey der Hand faßte. Aus dem leiſeſten Schlum-
mer fuhr er wieder auf, denn es dauchte ihm, ein
Geltſpel, wie Marianens Stimme, fluͤſtr’ ihm in
die Ohren. Er hielt ganze lange Geſpraͤche mit
ihr, ſtreckte ſeine Haͤnde nach ihr aus, wachte auf,
und ſah ſich getaͤuſcht. Morgens um acht Uhr ſtand
er, faſt muͤder, wieder auf, als er ſich niederge-
legt hatte, und gieng auf Kronhelms Zimmer.
Dieſer lachte ihm ſogleich entgegen, und wuͤnſchte
ihm zu Marianens Liebe Gluͤck. Dann nun, ſagte
er, wirſt du doch nicht mehr unglaͤubig ſeyn? Sie
hat ſich zu viel verrathen. — Siegwart ſagte ihm,
er muͤſte mehr beobachtet haben, als er ſelbſt. —
Das hab ich auch, verſetzte Kronhelm. Jch bin
in dieſer Schule laͤnger ſchon erfahren, und ein
Dritter Unpartheyiſcher ſieht immer mehr. Aber,
Bruder, du ſchieneſt mir ſo kalt zu ſeyn. — Kalt?
rief Siegwart voll Verwunderung aus. So muß
die Sonne auch kalt ſeyn! Jch weis gar nicht,
wie du ſo reden kannſt? Freylich, da haſt du Recht,
reden konnt ich wenig; oder, wenns was war, ſo
bracht ich dummes Zeug vor. Da hab ich mich
ſchon gnug druͤber geaͤrgert. Jch weis nicht, wenn
ich ſo allein bin, da haͤtt ich ihr tauſend Dinge
zu ſagen; und kaum ſteh ich vor ihr, da iſts, als
ob mir aller Sinn genommen waͤre. Geſtern
auf dem Schlitten haͤtt ich nun nichts reden koͤn-
nen, wenn ich mich Stunden lang beſonnen haͤtte.
Sie wird mich wol fuͤr einen dummen Einfaltspin-
ſel halten. — Das gewiß nicht, Bruder! ſagte Kron-
helm. Die Liebe hat ihre eigne Sprache; das
Auge hat da mehr zu thun, als die Zunge. Und
Mariane hat dich ganz gewiß verſtanden. Man
haͤlt alles, was man ſpricht, fuͤr dummes Zeug,
weil man fuͤhlt, daß man das noch lang nicht aus-
druͤckt, was das Herz fuͤhlt. Man will lauter
Empfindungen und Goͤtterſpruͤche ſprechen, und
da iſt unſre Sprache viel zu arm dazu. Jedes
Wort ſoll ſo voll und warm ſeyn, wie das Herz
iſt, und das iſt unmoͤglich. Weil man nun doch
ſprechen will, da kommt man auf allerley entfernte
und gleichguͤltige Dinge, die nichts ſagen. Die
Empfindung iſt einſylbig, oder ſtumm. Jch habe
das bey Thereſen oft gefuͤhlt. Waren wir allein,
ſo ſchwieg ich ganz; und wenn andre da waren,
ſo macht’ ich Spaß; das iſt noch das Beſte. —
Mariane hat dich gewiß gefuͤhlt. Waͤrſt du wort-
reich geweſen, ſo waͤrs mit deiner Liebe nichts.
Redſeligkeit iſt Larve der Liebe, nicht die Liebe ſelbſt. —
Bruder, ſieh! wie die Sonne ſo hell aufgeht!
Jch denke, wir gehen ſpatzieren. Mit deinen theo-
logiſchen Kollegien hats nun doch wohl in En-
de? — Erinnre mich daran nicht! ſagte Sieg-
wart. Aber, zieh dich nur an! Wir wollen
ſpatzieren gehen.
Sie giengen mit einander aus. Als ſie an die
Straſſe kamen, wo man nach Marianens Haus hinauf
geht, da ſtellte ſich Kronhelm an, als ob er in ei-
ne Seitenſtraſſe gehen wollte. Siegwart ſah ihn
halb bittend an. Er laͤchelte, und gieng mit ihm
bey Marianens Haus vorbey. Sie ſah erſt auf
der Einen, und dann auf der andern Seite des
Hauſes aus dem Fenſter, und gruͤſte unſre beyden
Juͤnglinge ſehr freundlich. Siegwart ward auf
Einmal wehmuͤthig. Wir wollen vor das Thor
gehen, ſagte er, wo wir geſtern gefahren ſind. Hier
erinnert’ er ſich an jede Rede, an jede Empfindung
wieder, die er geſtern hier gehabt hatte. Kronhelm
ſprach viel von Thereſen, und ſagte, daß er geſtern
wieder beſonders lebhaſt an ſie gedacht habe. Er
fuͤhle es mit jedem Tage mehr, daß er ohne ſie
nicht leben koͤnne. Es ſey ihm unertraͤglich, daß
er an ſie nicht ſchreiben duͤrfe, und nicht das ge-
ringſte von ihr erfahre. Naͤchſtens wollt’ er wie-
der an ſie ſchreiben, es moͤge daraus kommen,
was wolle! u. ſ. w. Siegwart ſuchte ihn mit der
Vorſtellung zu beruhigen, daß Thereſe ihm gewiß
treu bleibe, ſie moͤge ſchreiben oder nicht. Es
koͤnne nur einen neuen Laͤrm bey ſeinem Vater ab-
geben, wenn er den Briefwechſel wieder anfange,
u. ſ. w.
Nun kamen ſie auf die Wuͤrkungen der Liebe in
dem Herzen eines Verliebten zu ſprechen. Sieg-
wart ſagte: Jch bin, ſeit ich liebe, ein ganz an-
drer Menſch. Jch glaubte vorher, gut zu ſeyn,
aber die Liebe hat mich noch weit beſſer gemacht.
Jch bin froͤmmer, andaͤchtiger, mitleidiger, und
duldſamer geworden. Jch bin auf fremdes Elend
aufmerkſamer, und fuͤhl es tiefer. Wenn ich ein
blaſſes Geſicht, und ein truͤbes Auge ſehe, ſo ver-
muth ich fogleich ungluͤckliche oder hoffnungsloſe
Liebe, und nehme an dem Schickſal dieſer Perſon
Antheil. Jch wuͤrde alles thun, um ihr eine Ge-
faͤlligkeit zu erweiſen, die ihr Elend lindern, oder
heben koͤnnte. Jeder Liebender, und Leidender
wird auch mein Bruder. Jch theilte gern mit
jedem Armen mein Vermoͤgen. Die Gluͤckſeligkeit
aller Menſchen liegt mir nah am Herzen. Jch
waͤre faͤhig, alles fuͤr andre zu thun. Jede Pflicht,
und jede Tugend wird mir leichter. Wenn ich bete, ſo wird mein Herz weiter,
wie gewoͤhnlich. Es hebt ſich leichter, und So glaub ich
auch, ſagte Kronhelm, und eben deswegen iſt es
ungerecht und thoͤricht, auf die Liebe loszuziehen,
wie viel hochgelahrte, ſich weiſe duͤnkende Leute
thun. Es iſt Undank gegen Gott, einen Trieb,
den er mit dem Leben uns ins Herz pflanzt, zu
verdammen, und den Aufruf zu mancher hohen
Tugend fuͤr Stimme der Sinnlichkeit, oder gar
des Satans auszugeben. Daß die Liebe oft gemis-
braucht, oder misverſtanden wird, ſoll doch wol
nichts gegen ſie beweiſen? Denn ſonſt waͤre die
Religion auch ein Uebel, die, wenn ſie misverſtan-
den und gemisbraucht wird, oft groͤſſere Verwuͤ-
ſtungen anrichtet, als misverſtandne Liebe. An-
ſtatt daß man die Liebe mit Gewalt und ſtolzer
Verachtung zu unterdruͤcken, und aus dem Herzen
der Jugend zu verdraͤngen ſucht, ſollte man ſich
nur beſtreben, ſie durch Vernunftgruͤnde zu leiten,
und auf den rechten Gegenſtand zu lenken. Dieß
naht ſich Gott mit groͤßrer Zuverſicht; nie bin
ich andaͤchtiger geweſen: als wenn ich Ma-
rianen in der Kirche beten ſah, oder gleich
darauf zu Hauſe betete. Wenn ich erſt an ſie
denke, dann wird mein Herz weich, und fuͤhlt
ſich zur Andacht vorbereitet. Liebe iſt gewiß
die Mutter der Menſchlichkeit, und groſſer
Tugenden.
X x
wuͤrde viele Leute beſſer machen, als ſie bey ihrer
angenommenen, oder erzwungenen Kaͤlte ſind.
Wer nicht lieben will, und veraͤchtlich von der Lie-
be denkt, der ſchaͤmt ſich auch ein Menſch zu ſeyn;
und wer ſie ſchlechterdings verdammt, der begeht
einen Hochverrath gegen die Menſchheit, denn er
will die Quelle der Empfindung und ſo vieler Tu-
genden ableiten, oder austrocknen, und dafuͤr eine
duͤrre Sandwuͤſte anlegen! —
Um 11 Uhr kamen ſie wieder zu Haus an, und
ſpielten miteinander auf der Violine. Den Nach-
mittag ritten ſie mit Dahlmund ſpatzieren, der auch
ſehr vergnuͤgt war, weil er ſeine Bruͤnette ziemlich
kirr gemacht hatte. Er erzaͤhlte ihnen: Gutſrieds Va-
ter ſey geſtorben. Als er nach Haus gekommen war,
kuͤndigte er ſeiner Beyſchlaͤferin ſogleich an, ſie koͤn-
ne ſich innerhalb zwey Tagen aus dem Hauſe packen.
Das Menſch gab ihm ſpitzige Reden, begegnete
ihm grob, und machte groſſe Forderungen an ihn.
Er erzuͤrnte ſich daruͤber, und legte ſich den Abend
drauf krank zu Bette. Er bekam eine hitzige Krank-
heit, deren Samen er vermuthlich von ſeinem
Sohn eingeſogen hatte, als er ihm den letzten
Hauch von den Lippen kuͤſte. Vier Tage drauf
ſtarb er, nachdem ihm die Metze drey Tage vor-
her eine anſehnliche Summe Gelds, und ſeine be-
ſten Koſtbarkeiten mitgenommen hatte. — So
gehts mit den Huren, ſagte Kronhelm.
Kronhelm und Siegwart legten ſich Abends
bald zu Bette, weil ſie die vorige Nacht wenig,
oder nichts geſchlafen hatten. Den folgenden Abend
ſprach Mariane im Konzert viel mit Siegwart,
und beſtaͤrkte ihn, durch ihr gefaͤlliges Betragen,
immer mehr in der Hofnung, daß ſie ihn liebe.
Er ſchwamm jetzt immer in einem Meer von Won-
ne; nur zuweilen unterbrach ihn ein Anfall von
Wehmuth in ſeiner Freude. Es ſtiegen ihm oft
wieder Zweifel auf, ob ſie ihn auch wirklich liebe?
Vor einiger Zeit waͤre ein Blick, wie ſie ihm jetzt
viele gab, ſein groͤſter Wunſch, und der hoͤchſte
Grad von Gluͤckſeligkeit fuͤr ihn geweſen; aber
jetzt verlangte ſein Herz ſchon mehr; er wollte nun
thaͤtige und muͤndliche Verſicherungen von ihrer
Liebe haben. Sie weis vielleicht noch nicht, dach-
te er, wie ſehr ich ſie liebe. Wie leicht koͤnnte ein
andrer kommen, der mehr Kuͤhnheit, und viel-
leicht auch groͤſſere Anſpruͤche hat, als ich, und den
kleinen Funken von Liebe ausloͤſchen, der vielleicht
fuͤr mich in ihrem Herzen glimmt. Bey ihren
Vorzuͤgen kann es ihr nicht lang an Freyern feh-
len. Jch habe nichts, keinen Stand, kein Ver-
moͤgen, kein Amt, wenig aͤuſſerlich empfehlendes;
warum ſollte ſie mich andern vorziehen? oder mich
nicht alſobald vergeſſen, wenn ein, dem aͤuſſerlichen
Scheine nach, beſſerer und vorzuͤglicherer Mann
kommt, u. ſ. w.
So quaͤlte er ſich oft ganze Stunden lang, und
thuͤrmte Berge von Zweifeln gegen ſeine eigne
Ruhe auf. Aber wenn er Marianen wieder ſah,
und ſie ihm mit dem Blick der Liebe begegnete,
dann verſchwanden dieſe Zweifel wieder, wie Ne-
belwolken vor der Sonne. — Etliche Tage nach
dem Konzert ſchickte ſie an Kronhelm den Geßner
wieder, und ließ ihn, oder Siegwart um ein an-
deres Buch bitten. Sigwart ſchickte ihr den Kleiſt,
und ſprang mit dem Geßner auf ſein Zimmer, wo
er ihn hundertmal an den Mund druͤckte und
kuͤßte. Das Buch war ihm nun ganz heilig ge-
worden. Er blaͤtterte es durch, und verweilte
ſich bey jedem Blatt. Jegliches ſchien ihm zu
glaͤnzen, weil ihr Auge drauf geruht hatte. Wie
groß war ſeine Freude, als er ein klein Stuͤckchen
blauer Seide drinn liegen fand, von der Farbe,
wie ſie zuweilen ein Kleid trug. Dieſes Stuͤckchen
war ihm mehr werth, als dem Aberglaͤubigen das
Stuͤckchen vom Gewand eines Heiligen. Nachdem
ers lange gnug betrachtet hatte, ſchloß ers ſorgfaͤl-
tig in ſeinen Schreibpult; holte es aber alle Au-
genblicke wieder heraus, um es von neuem wieder
anzuſehen. — Als er noch weiter blaͤtterte, fand
er auch ein Schnippelchen Papier, auf welchem
Marianens Name ſtand. Er ſprang hoch auf, hub
es in die Hoͤhe, druͤckte es hundertmal an ſeinen
Mund, und an ſein Herz, und betrachtete jeden
Zug unzaͤhligemal.
Endlich entdeckte er auch ſeinem Kronhelm ei-
nen Entwurf, den er ſchon lang bey ſich ſelbſt ge-
macht hatte, ob ſie naͤmlich nicht Gutfrieds Zim-
mer beziehen wollten? Er hatte ſchon Erfahrung
eingezogen, daß in dem Hauſe noch ein andres Zim-
mer ledig ſey, worauf alſo Kronhelm wohnen koͤn-
ne. Es thut mir zwar leid, unſre Hausleute zu
verlaſſen, ſagte er, weil es ehrliche und brave Leu-
te ſind; aber ich will ihnen gern noch ein halb
Jahr Hausmiethe bezahlen, um nur bald meiner
Mariane naͤher zu kommen. Kronhelm, der ſei-
nem Freund alles zu Gefallen that, willigte ſehr
gern in dieſen Vorſchlag, und nach wenig Tagen
bezogen ſie das Zimmer. Nun ſah Siegwart ſein
geliebtes Maͤdchen taͤglich, und faſt ſtuͤndlich. Er
hatte ſeinen Schreibepult am Fenſter ſtehen, und merk-
te jede Bewegung, die auf Marianens Zimmer
vorgieng; ſie ſtund auch ſehr oft am Fenſter, und
ſetzte ſich, wenn ſie allein zu Hauſe war, ſo, daß er
ſie, und ſie ihn ſehen konnte. Er ſah ſie ſtricken,
naͤhen, Stickereyen machen, und alle haͤusliche Ge-
ſchaͤfte verrichten. Oft ſtanden ihm Freudenthraͤ-
nen in den Augen, wenn er das liebe Maͤdchen, ſo
mit ſich vergnuͤgt, der Welt unbekannt, ſich in der
Stille, in jeder Pflicht, in jeder Tugend uͤben ſah.
Mit Thraͤnen blickte er zum Himmel. Gott!
dachte er, welch ein Gluͤck iſt dem bereitet, dem du
eine ſolche Gattin gibſt, die, mit jeder Anmuth ge-
ziert, noch mehr fuͤr die Schoͤnheit ihrer Seele ſorgt,
und ſich taͤglich innerlich vollkommener zu machen
ſucht! — Statt Eroberungen zu machen, und
von hunderten begafft, und angeſtaunt, und bewun-
dert zu werden, ſtatt ihre Eitelkeit zu naͤhren, ſitzt
das fromme Maͤdchen da, von ihrem Engel, und von
dem nur geſehen, der ſie ſo heiß und heilig liebt,
und bildet ſich zu einer treuen Gattin, zu einer
weiſen Hausfrau, und zu einer frommen Mutter.
— Gott! wenn ich es werth bin, ſo erbarm dich
mein, und ſchenk mir dieſen Engel, daß ich in ihrer
Gegenwart taͤglich beſſer, taͤglich heiliger, dir taͤg-
lich angenehmer und meinem Nebenmenſchen nuͤtz-
licher werde! Gott, du kannſt mich nicht verdam-
men, wenn ich in der Welt bleibe; dieſe Welt iſt
ja dein Tempel, und ich will dir dienen drinn mit
dieſem Engel. — So ward die Empfindung uͤber
ihr Anſchauen oft bey ihm Gebeth. Einmal ſah
er ſie ſpinnen. Dieſer Anblick ruͤhrte ihn unge-
mein. Er erinnerte ſich aus ſeinem Homer, den
er mit P. Philipp geleſen hatte, an die Toͤchter der
Koͤnige, wie ſie ſpannen und Gewebe webten, und
ſich nicht der gemeinſten Weberarbeit ſchaͤmten; er
erinnerte ſich der Toͤchter der Patriarchen, die ſich
auch zur laͤndlichen Arbeit nicht zu vornehm daͤuch-
ten. Ein andermal ſah er ſie im Kleiſt leſen, und
geruͤhrt zum Himmel blicken. Wie beneidenswuͤr-
dig war ihm da das Loos des Dichters, der das
fromme Herz eines Maͤdchens zur Bewunderung
und zum Dank hinreiſt; ihre Seele zu zaͤrtlichen
Geſinnungen erweicht, Thraͤnen in das ſchoͤnſte Au-
ge lockt, und nach ſeinem Tode noch fuͤr ſeine from-
men Lieder geſegnet wird. — Des Abends hoͤrte
er ſie oft noch am Klaviere ſingen, ward bald zu
hoher Andacht mit ihr aufgehoben, und betete mit
einer Jnnbrunſt, die er ſonſt nie erreicht hatte; bald
ward er zu Seufzern und zu Thraͤnen herabge-
ſtimmt, und zerſchmolz in ſuͤſſer Wehmuth. Kurz
ſeine neue Wohnung machte ihm jeden Tag zu ei-
nem Feſttag; alles um ihn her war feyerlich, denn
alles erinnerte ihn an Marianen. Jm Konzert
ſpielte er oft; fand ſie immer freundlich, und erhielt
manchen liebenden und zaͤrtlichen Blick von ihr.
Mit ihrem Bruder ſuchte er, ſo viel als moͤglich,
Freundſchaft zu erhalten, und bat ihn zuweilen zu
ſich. Der Menſch that aͤuſſerlich freundſchaftlich,
aber die geheime Tuͤcke, die er auf Siegwart hatte,
ließ ſich doch nicht ganz verbergen. Endlich wagte
er es auch einmal, Marianen und ihre Eltern mit
ſeinem Kronhelm zu beſuchen. Er ward aufs
freundſchaftlichſte empfangen; man that ihm viele
Ehre an, und Mariane ſah ſo heiter aus uͤber ſeine
Ankunſt, wie der junge Tag, wenn die Sonne
eben aufgeht. Siegwart und Kronhelm lieſſen ihre
Violinen holen, und machten ein Konzert, bey wel-
chem Mariane Klavier ſpielte, und himmliſch ſang.
Beym Weggehen bat ſie unſern Siegwart, kuͤnftig
nachbarlicher zu handeln, und ſie oͤfter zu beſuchen.
Er kuͤßte ihr die Hand, und ſie druͤckte ihm die ſei-
nige.
So wahrſcheinlich, und beynahe zuverſichtlich
Siegwart nun hoffen durfte, daß ihn ſeine Maria-
ne liebe, ſo ward ihm doch die ewige Entfernung,
und die, doch immer nur halbe Gewißheit, taͤglich
unertraͤglicher. Er ſchmachtete darnach, ſie einmal
allein zu ſprechen, ihr Herz noch genauer auszufor-
ſchen, und ihr das ſeinige mehr zu entdecken. Die
groͤſſere Freymuͤthigkeit, die ſie jetzt gegen ihn, und
er zum Theil auch gegen ſie beobachtete, erregte die-
ſen Wunſch in ihm noch mehr. Nun, dachte er,
wuͤrde er ihr alles ſagen, was ihm auf dem Herzen
liege. Daher ſann er Tag und Nacht auf Gelegen-
heit, ſie allein zu ſprechen. Seine Einbildungs-
kraft kam ihm zu Huͤlfe. Er ſtellte ſich ſchon in
Gedanken den kuͤnftigen Fruͤhling vor, wie er ſie
auf einem Spatzierwege allein antreffe, ſich anbiete,
ſie zu begleiten, ihr die Hand reiche, und im Schat-
ten eines Waͤldchens ihr ſein ganzes Herz auf-
ſchlieſſe. Er hielt in Gedanken lange zaͤrtliche
Geſpraͤche, fuͤhrte ſie und ſich redend ein, ſank ihr
endlich in den Arm, und empfieng mit dem erſten
heiligen Kuß die Verſiegelung einer ewigen Liebe.
Aber dieß waren alles nur Traͤume, und wenn ſie
verflogen waren, ſehnte ſich ſein Herz deſto mehr
nach der Wirklichkeit. Oft wollte er ſie beſuchen,
wenn ſie allein zu Hauſe war, aber er fuͤrchtete,
der Bruder moͤchte kommen, oder ſie moͤcht es
uͤbel nehmen. Er ſah vorher, daß | er doch nicht
wuͤrde reden koͤnnen, wenn die Sache ſo vorberei-
tet waͤre, und dann wollte er auch allen Schein ei-
ner heimlichen Zuſammenkunft vermeiden, woge-
gen ſein zartes Gefuͤhl ſtritt. Oft dachte er, er
woll’ ihr ſchreiben, aber wie ſollte er ihr den
Brief beybringen?
Kurz, alle ſeine Entwuͤrfe zerfielen wieder von
ſelbſt, bis ihm endlich ein Ungefaͤhr — das Beſte
in der Liebe — ſeinen heiſſen Wunſch erfuͤllte.
Wider alles Vermuthen, ſelbſt wider ſeine Hoff-
nung — und ein Liebender hofft doch gewiß nicht
wenig — fiel, noch kurz vor Oſtern, ein ſehr tie-
fer Schnee, und zween Tage drauf ward eine
Schlittenfahrt angeſtellt, bey welcher Siegwart
Marianen fuhr.
Nun ſprach er ſchon mehr, und that minder
ſchuͤchtern. Er und Mariane theilten ihre Freude
mit einander uͤber die unvermuthete Gelegenheit, ei-
nen Abend mit einander zuzubringen. Sie geſtand
ihm frey, es haͤtt’ ihr nichts angenehmers begegnen
koͤnnen, und ſah ihm dabey mit einem unausſprech-
lichzaͤrtlichen Laͤcheln ins Geſicht. Er beugte ſich
auf dem Schlitten vorwaͤrts, um ihr einen Kuß zu
geben, und ſie hielt willig ſtill. Es iſt ſehr ſchoͤn,
ſagte ſie, daß ſie nun auf Gutfrieds Zimmer woh-
nen, ſo kann ich ſie doch oft Violine oder Floͤte ſpie-
len hoͤren. — Und ich Sie oft ſehen und oft hoͤ-
ren, fiel ihr Siegwart ein. Dieſe Wohnung iſt
mir mehr werth, als wenn man mir das ganze
Schloß ſchenkte. — Sie ſind gar zu guͤtig! ſagte
ſie. — Gar zu eigennuͤtzig, ſollten Sie ſagen, ver-
ſetzte Siegwart. — Sie ſprachen auf dem ganzen
Weg hin nach dem Dorfe, und zwar ſo, als ob
ſie mit einander voͤllig ausgemacht haͤtten, daß ſie
ſich liebten; ſie nahmen es ſtillſchweigend fuͤr be-
kannt an, und ſprachen vertrauter, als ſie ſelbſt zu
wiſſen ſchienen. Auf dem Dorfe ließ er ihre Hand faſt
niemals los, ſchenkte ihr Chokolade ein, und trank, weil
Mangel dran war, mit ihr aus einer Schaale. Kron-
helm ſelbſt muſte ſich uͤber die Herzhaftigkeit ſeines
Freundes, und uͤber ihre Offenherzigkeit wundern, da
ſie ſonſt etwas zuruͤckhaltend, und dem Scheine nach
ſtolz war. So eine maͤchtige Veraͤnderung in ihrem
beyderſeitigen Karakter hatte die Liebe, die ſtumme
Augenſprache, und der Zwang, ſich einander nicht ent-
decken zu duͤrfen, hervorgebracht. Auf dem Ruͤck-
wege ſagte Siegwart: dieſer Abend iſt noch ſchoͤner,
als der letztere; Sie ſind noch guͤtiger und freundli-
cher. — Sie ſind auch noch ungezwungener und
munterer, ſagte ſie, und das lieb ich. Solche Tage
muß man ganz der Freude weihen, denn ſie kom-
men ſelten. Siegwart ließ ſich nun von ihr feyer-
lich verſprechen, daß ſie auf den Abend laͤnger beym
Ball bleiben wolle, und ſie that es gerne. So fuh-
ren ſie im rothen Duft des Winterabends nach der
Stadt. Vor ihnen ſtieg der Rauch von den Schorn-
ſteinen ſaͤulengerad in die Hoͤhe, und ward von
der, hinten untergehenden Sonne verguͤldet und
geroͤthet. Das Geſicht der Liebenden war heitrer
als der Abend. Sie ſahn zur Seite ſchon den
Abendſtern blinken, zeigten ihn einander, und ſahn
ihn mit heitern Blicken an: dann blickten ſie ein-
ander wieder ins Geſicht, und laͤchelten mit na-
menloſem Ausdruck. Das iſt der Stern der Liebe,
ſagte Siegwart. Ein herrliches Geſtirn, ſagte Ma-
riane, ſah ihren Juͤngling ſchmachtend an, und er
kuͤßte ſie. — Schade, daß nicht auch Thereſe bey
uns iſt! ſagte ſie. Jch lieb ihre Schweſter ſehr,
und wuͤnſchte ſie ſo gern gluͤcklich! — Sie wirds
werden, verſetzte Siegwart. Kronhelm meynt es
ehrlich, und ſie liebt ihn treu. Das gute Maͤdchen
muß noch gluͤcklich werden; ſie hat gar zu viel ge-
litten. — Wird man immer gluͤcklich, wenn man
leidet? fragte Mariane, und ward wehmuͤthig.
Siegwart ſchwieg, und ſah gen Himmel.
Sie kamen nun in der Stadt an. Beym Um-
kleiden theilte Siegwart ſeine Freude mit Kronhelm
auf die heftigſte Art. — Jch bin alles, alles! Ewig!
Unſterblich! Alles! ſagte er. Freu dich doch, Kron-
helm! Du biſt ja ſo kalt. Denk, ſie iſt mein, auf
ewig mein! Kannſt du nicht begreifen, was das
iſt? Mein, mein! — Wenn man doch ſagt, man
ſey nicht gluͤcklich, und hat nur ſo Einen Augen-
blick! — Denk nur erſt den Abend! Die ganze
lange Nacht mit ihr tanzen, mit ihr ſprechen! O
ich moͤchte ſterben, ſo wohl iſt mir! — Nun ſag
mehr: Jch ſey nicht kuͤhn! Alles, alles ſoll ſie heut
erfahren! — Denk, auch Thereſen wuͤnſcht ſie her,
und wuͤnſcht ſie gluͤcklich! Siehſt du, was der En-
gel fuͤr ein Herz hat? — Sey nur gutes Muths!
Es muß euch auch noch gluͤcklich gehen! Kein
Menſch kann auf der Welt ungluͤcklich ſeyn! Gott
hat uns all zur Freud erſchaffen! — So ſprach er
in lauter Ausrufungen fort, bis es Zeit war, Ma-
rianen wieder abzuholen.
Er fuͤhrte ſie im Triumph auf den Tanzſaal,
und fieng gleich mit ihr zu tanzen an. Sie ſchweb-
te, wie eine Goͤttin zwiſchen Himmel und Erde.
Jhre Blicke waren immer auf ihn gerichtet. Er
glaubte, in dem Saal der Seligen zu ſeyn. So oft
er ſie bey der Hand faßte, gab ſie ihm einen Haͤnde-
druck, der durch Mark und Knochen ſchauderte.
Beym Eſſen ſprach ſie nur allein mit ihm, und zu-
weilen mit Kronhelm, der in tiefer Wehmuth da
ſaß, weil er an Thereſen dachte, und doch zwang
er ſich, an dem Entzuͤcken ſeines Freundes Theil zu
nehmen, und laͤchelte zuweilen wie die Fruͤhlings-
ſonn’ im Regenſchauer. Mariane trank ihm The-
reſens Geſundheit zu, und bat ihren Siegwart, es
ſeiner Schweſter zu ſchreiben, daß ſie eine unbekann-
te Freundin habe, die ihr Schickſal oft beſeufze, und
fuͤr ſie bete. — O dann muß ſie gluͤcklich werden,
ſagte Siegwart, wenn ein Engel fuͤr ſie betet. —
Und beten ſie denn auch fuͤr mein Gluͤck, lieber En-
gel? Wuͤrden Sie mich auch wol gluͤcklich machen?
— Ob ichs wuͤrde? ſagte ſie, und ſah ihn zaͤrtlich
an. Koͤnnt ichs nur! — O ſie koͤnnens! Bey
Gott! Sie koͤnnens, wenn Sie mir nur gut ſind!
Sind Sies, lieber Engel? — Herzlich! Herzlich!
ſagte ſie; mehr, als ichs ſagen kann! — Er ſchwieg,
und druͤckte ihr die Hand. — Sie hatte ein Stuͤck
Torte vor ſich auf dem Teller liegen. Er ſchnitts
entzwey. Sie gab ihm ein Stuͤck davon, und aß
das andere. Suͤßre Koſt hatte Siegwart nie noch
genoſſen. Er ſchlang ſeinen Arm um ſie, und ſah
ſie ſeitwaͤrts an. Jhr Geſicht hatte eine Wehmuth,
die uͤber Thraͤnen erhaben war. Zuweilen blickte
ſie zu ihm herum, und ſchlug ſchnell das Auge nie-
der. Seine Bruſt war | geſpannt, er athmete ſchwer,
und konnte kaum den Seufzer zuruͤckhalten. Es
war ihm nicht moͤglich, ein Wort hervorzubringen.
Er ſah nichts mehr um ſich her. Jhr Geſicht zer-
floß vor ihm, als ob nur ein leichter Roſenduft
vor ihm ſchwebte. Sie druͤckte ihm mit unaus-
ſprechlicher Zaͤrtlichkeit die Hand. Er konnte die
Empfindung |nicht mehr zuruͤckhalten, und kuͤßte ſie,
mit einem heiſſen Seufzer, auf die Wange. Jn-
dem kam ein Student, und foderte ſie zum Tanz
auf. Sie entzog ihm, nach einem ſanften Druck,
die Hand, legte ihre Handſchuh an, ſah ihn an, und
gieng, halb unwillig, mit dem Studenten weg. Er
blieb unbeweglich, ruͤckwaͤrts an den Stuhl gelehnt,
ſitzen. Endlich ſah er ſich nach ihr um; ſie tanz-
te, und hatte ihr ſchoͤnes Auge immer auf ihn ge-
heftet. Er konnts nicht aushalten; Thraͤnen ſchoſ-
ſen ihm in das ſeinige; er eilte in die Vertieſung
des Saals ans Fenſter, ſah durch die Scheiben nach
dem hellen Mond, und weinte. Nach etlichen Mi-
nuten kam ſie, ohne daß ers merkte, zu ihm, legte
ihre Hand auf die ſeinige, ſah ihn an, und ſagte:
Sie ſind traurig? — Ja, vor Freuden, antwor-
tete er. Lieber, lieber Engel, ſind Sie mein? —
Auf ewig! ſagte ſie, und ſank ihm mit dem Ge-
ſicht an die Bruſt. Er kuͤßte ſie feurig, und em-
pfieng von ihr den erſten heiligen Kuß der Liebe. —
Drauf folgte eine ſprachloſe Scene, die ſich nicht
beſchreiben laͤſt. Erſt nach einiger Zeit giengen ſie,
mit naſſen Augen, um eine Menuet zu tanzen.
Dann giengen ſie wieder ans Fenſter, ſahn den Mond
an, ſahn, wie er ſich ſpiegelte in ihren Thraͤnen,
kuͤßten ſie ſich von den Wangen, und waren uͤber-
ſchwenglich gluͤcklich. Siegwart tanzte faſt mit kei-
nem Maͤdchen, als mit ihr. Wenn ſie mit einem
andern tanzte, ſo ſtellte er ſich in eine Ecke, und
hatte faſt immer Thraͤnen in den Augen, denn das
Maaß der Freuden war fuͤr ihn zu groß. Sie kam
immer, wenn ſie ausgetanzt hatte, wieder zu ihm
hin, nahm ihn bey der Hand, und ſah ihn unaus-
ſprechlich zaͤrtlich an. — Nun muͤſſen Sie mich oft
beſuchen, ſagte ſie. Meine Mutter liebt Sie, mein
Vater iſt Jhnen gut, und mein Bruder denkt auch
wieder beſſer von Jhnen, ſeit Sie auf ſein Spiel zu
achten ſcheinen. Etwas behutſam muͤſſen Sie nur
ſeyn, doch das ſind Sie ſelbſt. O, der heutige Tag iſt
doch gar zu herrlich! Nicht wahr, Sie ſind auch
vergnuͤgt, mein lieber Siegwart? Ein feuriger Kuß
auf ihre Lippen gab ihr die Antwort. — Wenn
wir doch immer beyſammen ſeyn koͤnnten! fuhr
ſie fort; das Tanzen iſt mir heut ganz verdruͤßlich.
Kaum hatte ſie ausgeſprochen, ſo ward ſie wieder
aufgezogen. Siegwart ging zu ſeinem Kronhelm,
der in einer Ecke des Saals wehmuͤthig und nach-
denklich da ſaß. — Wenn nur du auch gluͤcklich
waͤreſt! ſagte Siegwart; ich wollt’ Alles geben! —
Lieber Schwager! — ſagte Kronhelm, und kuͤßte
ihn. Da hab ich einen Gedanken, den ich, glaub
ich, Morgen oder Uebermorgen ausfuͤhre. Jch will
nach Muͤnchen zu meinem Onkel; du muſt auch
mit! — Und was da machen? — Um Thereſen
anhalten. Er kann und wird ſich meiner anneh-
men! Von ihm kann ichs ganz allein erwarten.
So halt ichs nicht laͤnger aus. Dein Gluͤck hat
alle meine Empfindungen wieder aufgeweckt; ich
fuͤhle meinen Verluſt wieder ſtaͤrker, und mein Zu-
ſtand wird mir unertraͤglich. Nicht wahr, Bru-
der, du gehſt mit mir? Du muſt bitten helfen.
Er wird deine Schweſter auch um deinetwillen
Y y
ſchaͤtzen, wenn ich ſage: daß du ihr Ebenbild biſt.
— Wenn ich etwas dazu beytragen kann, ſagte
Siegwart, ſo weiſt du ſchon, daß ich fuͤr dich ins
Feuer ginge.
Sie erlaubens doch auch? ſagte Kronhelm zu
Marianen, die eben zu ihnen kam, daß ich Herr
Siegwart mitnehme? — Wohin? fragte ſie raſch
und aͤngſtlich, und ſah ihren Siegwart an. Nach
Muͤnchen, antwortete Kronhelm; nur auf etliche
Tage. Er kann mir einen großen Dienſt thun.
Es betrifft mein und Thereſens Schickſal. — Ja,
wenn das iſt … ſagte ſie, ſonſt … Jch will
bey meinem Onkel, dem geheimen Rath, anhalten,
ſagte Kronhelm, ob ich Thereſen heirathen darf?
und Siegwart ſoll meine Bitte unterſtuͤtzen. Er
kann viel ausrichten, das weis ich. — Nur auf
vier, oder fuͤnf Tage. — Tauſend, tauſend Gluͤck!
ſagte Mariane, aber kommen Sie bald wieder! Und
Sie, Herr Siegwart, Sie vergeſſen mich doch nicht? —
Gott im Himmel! koͤnnten Sie das glauben? rief
Siegwart aus. O Sie kennen mich noch nicht! Jch
werd an keine Seele denken, als an Sie. — Ein
Kuß verſiegelte das Verſprechen.
Sie war nun auch traurig, daß ſie ihren Sieg-
wart ſo bald — waͤrs auch nur auf einige Tage —
verlieren ſollte. Sie ſaß traurig neben ihm, als
ſie Kaffee tranken, und konnte die Thraͤnen nicht
zuruͤckhalten. Er umſchlang ſie mit ſeinem Arm,
lehnte ſein Geſicht an ihre Bruſt, und konnte vor
Bewegung und Zaͤrtlichkeit nicht ſprechen. Er
fuͤhlte das Schlagen ihres Herzens, blickte zuwei-
len zu ihr hinauf; ſchmachtend ſah ihr Aug auf ihn
herab, und eine Thraͤne fiel auf ſeine Stirne, die
ſie wieder weg kuͤßte. Kronhelm ſah das edle, zaͤrt-
liche Paar, und weinte vor Freuden. — Moͤcht
ich Sie einmal beyſammen ſehen! ſagte er; Sie und
meine Thereſe! Sie waͤren gleich im Augenblick
Ein Herz und Eine Seele.
Nun werd ich wol bald nach Hauſe gehen
muͤſſen, ſagte endlich Mariane; es iſt uͤber zwey
Uhr. Siegwart wollte das nicht glauben, bis ers
ſelbſt auf ſeiner Uhr ſah. Noch ein paar Schlei-
fer muͤſſen wir doch machen! ſagte er, und fing an,
mit ihr zu tanzen. Mariane blieb noch uͤber drey
Viertel Stunden. Endlich ſagte ſie: Jch muß,
ich muß gehn, wenn ich gleich nicht will! Siegwart
ſtund mit ihr noch eine halbe Stunde unter ihrem
Haus, und empfing die zaͤrtlichſten Verſicherungen
ihrer Liebe. Jch habe keinen noch geliebt, ſagte ſie,
und will auch auſſer Jhnen keinen lieben. Mein
Herz war unruhig, ſeit ich Sie erblickt habe. Sie
muſtens oft an meinen Blicken merken, im Kon-
cert und in der Kirche. — Lieber Siegwart, ich
bin nun ſo gluͤcklich; ſoll ichs ferner bleiben? Jſt
Jhr Herz auch ganz mein? — Ganz! ſo wahr als
Gott lebt! ſagte er. Keiner Seele hats noch an-
gehoͤrt, Gott iſt mein Zeuge! und ſoll Gott und Jh-
nen nur gehoͤren ewig. Nun folgten wieder Kuͤſſe,
die den Bund auf ewig ſchloſſen. Endlich trenn-
ten ſie ſich mit Gewalt von einander. Da geht der
Stern der Liebe wieder auf, ſagte er beym Schei-
den. Geſtern hat er uns zum erſtenmal geglaͤnzt,
und nun auf ewig. Nie will ich ihn anſehn, oh-
ne dieſes Tags und Jhrer zu gedenken. Er ſoll das
Sinnbild unſrer Liebe ſeyn, ewig rein, und ju-
gendlich und ewig! Schlaf ſanft, lieber Engel, ſanft,
ſanft, ſanft! —
Er ging nach ſeinem Haus hinuͤber, und ſchloß
auf. Andacht, und Entzuͤcken, und Dankbarkeit
bebten durch ſein Herz. Er ſah aus dem Fenſter,
ſie ſah noch eine Viertelſtunde heraus; endlich war-
fen ſie ſich einen Kuß zu, und ſie loͤſchte ihr Licht
aus. Haſtig ging er im Zimmer auf und ab. Mein,
o mein iſt er, der Engel Gottes! ſagte er laut,
ſetzte ſich nieder, und ſchrieb:
Mein, o mein iſt er, der Engel Gottes!
Banges Herz, wie kannſt dus faſſen? Brich nur!
Schmelz in Thraͤnen hin! denn dein iſt
Die Erwaͤhlte Gottes.
O ich ſink in Staub vor Dir, Du Geber!
Alle Thraͤnen haſt Du weggetrocknet!
Freuden haſt Du mir erſchaffen,
Ewig, wie mein Herz liebt!
Rein und heilig iſt die Auserwaͤhlte!
Mach, o Gott! mein Herz, wie ſie, ſo heilig!
Daß ich werth ſey dieſes Kleinods,
Das vor allen ſchimmert!
O, Du Heilige! Sieh an dieß Streben,
Das, Dir gleich zu werden, hoch mein Herz hebt!
Sieh es an! Und, wann ich ſtrauchle,
Heb mich durch Dein Laͤcheln!
Kronen haͤtt’ ich nicht fuͤr Dich genommen!
Tauſend Kronen legt’ ich Dir zu Fuͤſſen!
Engel, ſieh, ich wein’ vor Freuden,
Daß Du ewig mein biſt!
Noch eine halbe Stunde blieb er auf, und ſagte
dieſe Verſe oft zum Fenſter hinaus. Endlich leg-
te er ſich zu Bette, aber es kam wenig Schlaf
in ſeine Augen. Um halb ſieben Uhr weckte ihn
das Morgenroth ſchon wieder. Er ſah hinaus,
dachte nichts als Marianen, war im Jnnerſten
bewegt, und dankte Gott mit ſolcher Jnbrunſt fuͤr
ihre Liebe, daß ſein Herz mehr im Himmel, als
auf Erden war. Sie war auch ſchon aufgeſtan-
den, und laͤchelte mit Engelanmuth zu ihm her-
uͤber. Seine Seele war ſo heiter, als ſie in ſei-
nem Leben nie noch geweſen war. Kronhelm kam
zu ihm aufs Zimmer, und ſagte, er habe dieſe
Nacht nicht ſchlafen koͤnnen, und den Plan, zu
ſeinem Onkel zu reiſen, vollends ausgedacht. Er
ſey nun voͤllig entſchloſſen, morgen nach Muͤnchen
zu reiten. Er habe alles uͤberlegt, und ſoviel ein
Menſch voraus ſehen koͤnne, koͤnn’ es ihm nicht
fehlen. Sein Onkel habe ihn und ſein Gluͤck
viel zu lieb, und ſey zu frey von Vorurtheilen, als
daß er ihm ſeine Einwilligung, Thereſen zu hei-
rathen, verſagen koͤnne. Wenn er dieſe habe,
dann ſey es ihm genug. Sein Vater werde ge-
wiß nachgeben, denn ſein Onkel vermoͤge alles uͤber
ihn, und er muͤſſ’ ihm nachgeben, weil er ſonſt
fuͤrchten muͤſte, er vermache ſeine Guͤter einer an-
dern Linie vom Kronhelmſchen Haus. Jch trage,
ſetzte er hinzu, dieſen Plan ſchon lang im Herzen;
aber noch nie fuͤhlte ich ſo vielen Muth, und ſo zu
ſagen, innerlichen Beruf, ihn auszufuͤhren, wie jetzt.
O Bruder, wenn Gott meine Wuͤnſche ſegnet; wer
iſt dann begluͤckter, als wir beyde! Hierauf unter-
richtete er ſeinen Freund, wie er ſeinem Onkel be-
gegnen muͤſſe, um ſein Herz zu gewinnen. Nur
geradezu, und frey! Das liebt er. Dein Charak-
ter iſt ſo, wie ers wuͤnſcht. Zeig dich, wie du
biſt! Dann kennt er Thereſen, und iſt ganz gewiß
fuͤr meine Wahl. Er iſt ungeheuchelt fromm, und
man darf mit ihm mehr von der Religion reden,
als mit irgend einem Hofmann. Auch von mei-
ner Schweſter hoff ich viel. Wenn ſie ſo iſt, wie
ſie war, dann tritt ſie ganz gewiß auf meine Seite,
und uͤber meinen Onkel vermag ſie alles. Nur
vor meinem Schwager darf ich nichts ſagen; der
iſt ganz Hofmann, und glaubt, zwiſchen den Buͤr-
gerlichen und dem Adel muͤſſ’ eine ewige Kluft be-
feſtigt ſeyn. — Sieh, Bruͤderchen, ich denk, es
geht gut. Wir wollen Gott drum bitten, und
das Beſte hoffen! ſagte Siegwart. Niemand kann
dir mehr einen gluͤcklichen Ausgang wuͤnſchen, als
ich, denn ich liebe, nach Marianen, dich und meine
Schweſter uͤber alles.
Sie gingen nun aus, um Pferde zu beſtellen.
Dahlmund kam drauf zu ihnen, und klagte, daß
ihm ſeine Bruͤnette geſtern ungetreu geworden ſey.
Sie habe ſich mit einem ſchlechten Kerl abgegeben,
der ſchon zwey- oder dreymal Schulden und lie-
derlicher Streiche halben auf dem Karzer geſeſſen
habe. Er that ganz verzweifelt und untroͤſtlich,
ſchlug ſich vor die Stirne, knirſchte mit den Zaͤhnen,
weinte vor Wuth, und ſagte endlich: Entweder
ich muß ſterben, oder Er? Feder und Dinte her!
Jch ſchick ihm eine Ausforderung. Kronhelm,
du muſt mir ſekundiren!
Biſt du toll, Dahlmund? ſagte Kronhelm. Mit
dem ſchlechten Kerl dich ſchlagen! Dein Leben an
ihn ſetzen! Was haſt du davon, wenn du ihn nie-
derſtichſt? Wird das Maͤdel dadurch beſſer? Moͤch-
teſt du ſie dann wohl wieder haben? Du weiſt ſelbſt,
daß jeder Zweykampf, den man ſelbſt ſucht, Thor-
heit und Verbrechen iſt; wir haben ſchon einmal
davon geſprochen. Aber hier trifft das doppelt ein.
Der Kerl iſt ſchlecht, das ſagſt du ſelbſt. Alles,
was noch Gutes an ihm iſt, das iſt ſein Leben,
weil ers noch einmal dazu brauchen kann, ſich zu
beſſern, der Welt etwas nutz zu werden, und dem
Elend zu entgehen, das ihn in der Ewigkeit er-
wartet. Darfſt du einem Menſchen den Weg zu
ſeinem Gluͤck abſchneiden? Oder willſt du ſein Teu-
fel werden, und ihn in die Hoͤlle jagen, und dir
dadurch dein Leben auch zu einer Hoͤlle machen?
Denk einmal, was ein Moͤrder fuͤr ein unſeliges
Geſchoͤpf iſt? Fliehen muß er vor Menſchen und
vor Gott; darf nicht mit ſich ſelber reden, denn
es ruft aus ihm heraus: Du biſt ein Moͤrder.
Blut ſieht er uͤberall, darf keinem Menſchen ins
Geſicht ſehn, und hat Hoͤllenquaalen, auſſer ſich
und in ſich. Das heiſt ſich warlich ſchoͤn geraͤcht,
wenn man ſich ſelbſt einen Dolch ins Herz ſtoͤſt,
daß es ewig blutet. Dem Teufel gibt man Sa-
tisfaktion, und nicht ſich ſelbſt, wenn man ihm
einen ſchlechten Kerl zuſchickt, und wohl ſelber
nachfolgt. Und dann iſts ja ſo ausgemacht nicht,
daß du ihn gerad niederſtichſt; er hat ja auch einen
Degen, und kann eben ſo gut treffen, als du.
Jſt der Kerl wol dein Leben werth, und dein Gluͤck
in alle Ewigkeit? Darfſt du nur damit ſchalten
und walten, wie du willſt? Du haſt brave El-
tern, die ſo viel an dir thun, und Troſt und
Freud im Alter von dir erwarten, und nun mit
Gram und Kummer vor der Zeit ins Grab ſaͤnken;
die nicht ohne Graus an dich denken koͤnnten, und
im Tod einander ſagen muͤſten: Er hat uns um-
gebracht, und nun treffen wir ihn doch nicht an.
Heiſt das, ſeinen Eltern Freude machen, und ih-
nen fuͤr das lohnen, was ſie an uns thaten? Heiſt
das, ein ehrlicher Kerl ſeyn, geſchweige denn ein
Chriſt? Das heiß ich mir recht auf Ehre halten,
und ein Schurke gegen ſich und andre werden!
Beſinn dich, lieber Dahlmund! Sieh, du biſt der
Welt viel ſchuldig, haſt ſo gute Gaben, die dir Gott
gab zur Verwaltung, daß du Menſchen ſegneſt, und
ſie gluͤcklich machteſt. Sieh, du haſt uns, und wir ſind
dir herzlich gut, und du biſt uns Freundſchaft ſchul-
dig! Wirf dein Leben nicht einem ſchlechten Kerl
hin. Handle nicht ſo gegen Gott, und dein eig-
nes Gluͤck! Jch bitte dich um Gottes und um
deinetwillen, komm wieder zu dir ſelbſt! Du biſt
ſonſt ein Menſch und haſt Religion, und willſt
nun alles das mit Fuͤſſen treten. Nicht wahr, du
folgſt mir, Dahlmund? Jndem umarmte er ihn.
Dahlmund ward geruͤhrt, und weinte. Vergebt
mir, Bruͤder! rief er, daß ich ſo ein Narr war!
Jch wills nicht thun! Lieber mag man mich fuͤr
einen feigen Kerl halten!
Das biſt du deswegen doch nicht, ſagte Siegwart;
du haſt dich letzthin maͤnnlich gewehrt, als dich die
zween Studenten mit dem bloſſen Degen angriffen.
Man kann Muth haben, ohne ihn zum Schaden
andrer ohne Noth zu brauchen. Jch ſchlage mich
gewiß nicht, aber deswegen komm mir keiner und
necke mich! Jch will ihms zeigen, daß ich meine
Fauſt und meinen Degen nicht umſonſt habe.
Und bey den groben Schlaͤgern fehlts gar oft an
Herz, wenns auf wirkliche Vertheidigung ankommt.
Beym boͤſen Gewiſſen gibts keine wahre Herz-
haftigkeit, und ein gutes Gewiſſen hat der niemals, der
vorſetzlich, um einer Kleinigkeit willen, ſein Leben
aufs Spiel ſetzt, oder nach dem Leben eines andern
trachtet. — Aber die Weiſſin iſt nun doch verloh-
ren, ſagte Dahlmund, und das thut mir in der
Seele weh! — Kanns das wol mit Recht?
ſagte Kronhelm. Sie hat ſich ſchlecht aufgeſuͤhrt,
das muſt du ſelbſt bekennen, da ſie dir einen ſol-
chen Menſchen vorzieht. Ein Maͤdchen, das auſ-
ſer uns, noch mit einem andern, auch ſonſt guten
Menſchen, liebelt, verdient warlich unſere Liebe nicht.
Ganz und allein muß man ein Herz haben, das
man ganz liebt. Wenn ich meinem Maͤdchen nicht
Alles bin, ſo bin ich gar nichts, und nehm auch
mein Herz zuruͤck. Du muſt ſtolz ſeyn, Dahl-
mund, und den Flattergeiſt verachten koͤnnen. Du
verdienſt ein ganz andres Maͤdchen. Es fehlt dir
nichts, um ein Herz zu feſſeln, und gluͤcklich zu
machen. Du ſiehſt gut aus; haſt Verſtand, Ver-
moͤgen, Wiſſenſchaften, und ein edles Herz, das
treu lieben, und daher wieder treue Liebe fodern
kann. Sag einmal, moͤchteſt du ein Weib, wie
die Weiſſin, das mit jedem Kerl buhlt, ſich von je-
dem ſchmeichleriſchen Schurken die Haͤnde und den
Mund belecken laͤſt; jedem Narren glaubt,
und ſeine unverſchaͤmten Schmeicheleyen anhoͤrt,
und ſich druͤber zur Ehebrecherin machen laͤſt?
Moͤchteſt du ſo ein Weib? Und man muß kein
Maͤdchen haben, das man nicht zum Weib machen
will! Der Verdruß uͤber ihre Narrheiten wuͤrde dich
umgebracht haben. Laß ſie nur nicht merken, daß
es dir leid um ſie thut, ſie wuͤrde heimlich nur
daruͤber jauchzen. Sey ein Mann, und wimmre
nicht wie eine Memme um ein eitles falſches Maͤ-
del! Warlich, ſie iſt dein nicht werth! — Du haſt
Recht, Bruder, ſagte Dahlmund, ich fuͤhl mich,
daß ich etwas beſſers werth bin. Sie mag ſich zur
alten Jungfer buhlen, oder noch was aͤrgers mit
dem Kerl thun! Jch frag den Henker nach ihrem
Paar ſchwarzen Augen, wenn ſie glaubt, die gan-
ze Welt muͤſſe ſich drein vergaffen!
Den Abend drauf ging Siegwart mit Kron-
helm zu dem Hofrath Fiſcher, unter dem Vorwand,
ein Konzert zu machen. Aber ſeine wahre Abſicht
war, ſeine Mariane noch einmal zu ſehen, und
von ihr Abſchied zu nehmen. Der Hoſrath wur-
de gegen Siegwart immer hoͤflicher, theils wegen
ſeines guten Spielens, theils auch, und hauptſaͤch-
lich, weil ſich Siegwart jetzt taͤglich gut kleidete,
denn er ſah mehr auf aͤuſſerliche, als auf weſent-
liche Vorzuͤge. Die Hofraͤthin liebte ihn ſeiner
Artigkeit, ſeiner unbeſcholtnen Sitten, und ſeines
edeln frommen Herzens wegen, taͤglich mehr, und
ließ ihn ihre Achtung deutlich ſehen. Joſeph, Ma-
rianens Bruder, that jetzt auch ſehr freundſchaft-
lich, da er ſah, daß ihn Siegwart ſehr von an-
dern unterſcheide. Ueber Marianens Geſicht ver-
breitete ſich ſichtbar eine auſſerordentliche Heiterkeit,
ſobald ihr Geliebter kam. Sie ſtand von ihrer
Stickerey auf, wo ſie eben eine Schaͤferinn, und
einen Schaͤfer, die im Graſe bey einander ruhten,
gezeichnet hatte. Sie war ſehr beſchaͤſtigt, die lie-
ben Gaͤſte zu bewirthen. Siegwart betrachtete in-
deſſen mit Entzuͤcken ihre Stickerey. Sie trat hin-
zu, ſah ſie ein paar Augenblicke an, und betrach-
tete dann ſein Geſicht, das mit Wohlgefallen auf
der Arbeit ruhte. Er ſah ſie an, ſie laͤchelte mit
einem ſolchen Ausdruck, daß er Muͤhe hatte, ſich
nicht vor dem Vater und der Mutter zu verrathen.
Nachdem er dem Vater und der Mutter erſt von
ſeiner vorhabenden Reiſe erzaͤhlt hatte, ſo ſpielten
ſie ein kleines Konzert, bey welchem Mariane
ſchoͤner und mit mehr Ausdruck ſang, als ſie noch
je gethan hatte. Drauf ſpielte Joſeph ein Konzert
auf dem Fluͤgel, und ward uͤber den Beyfall, den
ihm Kronhelm und Siegwart gaben, ganz entzuͤckt.
Siegwart ſang auch, und wurde von Marianen
und ihren Eltern ſehr gelobt. Um ſechs Uhr mach-
ten dieſe viele Entſchuldigungen, daß ſie weggehen
muͤſten, weil ſie ſich bey ihrem aͤltern Sohn ver-
ſprochen haͤtten. Kronhelm und Siegwart woll-
ten auch weggehen, wurden aber ſehr gebeten, da
zu bleiben. Mariane bat auch, und Siegwart
willigte nur gar zu gern ein. Joſeph machte auch
Entſchuldigungen, daß er zu ſeinem Zeichenmeiſter
gehen muͤſſe. Er wolle um ſieben Uhr ſogleich
wieder da ſeyn ꝛc. und unſre jungen Leute waren
nun allein. Sie ſahn aus dem Fenſter, als die
Eltern weggiengen, und merkten, daß der Wind
ſich gedreht habe, und aus Mittag wehe, und
Thauwetter bringe. Es fing auch bereits an et-
was zu regnen. — Seys! ſagte Mariane; wir
haben nun doch noch die Schlittenfahrt gehabt.
Vielleicht koͤnnen Sie auch morgen noch nicht rei-
ſen. Kronhelm ſagte, ſie muͤſten, wo moͤglich, fort.
Nun ſtellte ſich Mariane an den Fluͤgel, ſchlug,
ohne hinzuſehen, ein paar Toͤne, ſah ihren Sieg-
wart an, gab ihm die Hand, und ſank in ſeinen
Arm. Seligkeit des Himmels ward um ihn herum,
und noch mehr in ſeiner Seele. — Du muſt ſpie-
len, ſagte er zu Kronhelm, damit man unten
und im Hauſe glaubt, wir machen Muſik. Kron-
helm ſpielte ſich, ganz allein, auf ſeiner Violine
recht muͤde; oft ganz wild, und heftig wie der Tau-
mel der Liebe; dann wieder ſchmachtend und zaͤrtlich,
gleich der Empfindung unſrer Liebenden. Sie ſaſ-
ſen im Kanapee beyſammen, gluͤcklicher als alle
Koͤnige der Erden. Jhre Zunge konnte nicht re-
den; nur ihr Auge ſprach, und ihr Haͤndedruck.
Liebes Maͤdchen! Lieber Engel! war alles, was
zuweilen Siegwart ſagte. Dann lehnte ſie wieder
ihr Geſicht an ſeine Bruſt. Er kuͤßte ſie auf ihre
ſchoͤnen Augen. Sie ſah auf, erhub ſich etwas
und kuͤßte ſeine offne, hochgewoͤlbte Stirne. Wenn
ihre Blicke ſich begegneten, wenn ihr Auge ſcharf
in ſeines ſah, dann ſchoß ihm eine Thraͤne drein,
und er und ſie laͤchelten, und ihr Geſicht ſank wie-
der an ſein Herz, das ſo laut ſchlug, daß ſies hoͤr-
te. — Morgen, morgen! ſagte Siegwart traurig.
Sie hub ihr Geſicht langſam auf, ſah ihn ſchwei-
gend, lang, und wehmuͤthig an! Ein Seufzer bebte
ihre Bruſt herauf, und ſie verbarg ſich wieder an
der ſeinigen. — Traurig! traurig! rief ſie Kron-
helm zu, der eben ein Allegro ſpielte. Auf Ein-
mal ſank er ins Moll herab, in eine Duͤſternheit,
daß den Liebenden ſchauerte. — Gedenke meiner,
ſagte Siegwart, wenn ich fern bin! Sie druͤckte
ihren Mund feſt auf den ſeinigen; wendete ſich ei-
lig weg, nahm ihr Schnupftuch, und wiſchte ſich
das Auge. — Nur etliche Tage! ſagte Siegwart. —
Kann ich Jhnen ſchreiben? Sie ſchuͤttelte ſtillſchwei-
gend mit dem Kopf. Jch habe niemand, ſagte
ſie nach einer Pauſe. Dann druͤckten ſie einander
feſt ans Herz, und kuͤßten ſich, als ob ſie den Athem
und die Seelen austauſchen wollten. — Man laͤu-
tete an der Glocke. — Schon vorbey? ſagte Sieg-
wart ſeufzend, und ſtand auf. Joſeph kam, und
ſagte, daß das Wetter ſehr ſchlecht und ungeſtuͤm
ſey. Man hoͤrte auch ſtark ſtuͤrmen, und der Re-
gen wurde heftiger. Wenn es ſo fort macht, ſag-
te Mariane, und ſah unſern Siegwart bittend an,
ſo reiſen Sie morgen doch nicht! Jch bitte Sie.
Kronhelm verſprach, noch einen Tag zu warten,
wenn das Wetter ſich verſchlimmre. — Um acht
Uhr nahmen er und Siegwart Abſchied. Sie
leuchtete ihnen hinunter. Der Wind loͤſchte das
Licht aus. Sie ſtand noch einige Augenblicke bey ih-
nen. Siegwart kuͤßte ſeinen Engel noch aufs zaͤrt-
lichſte, nahm mit vielen Thraͤnen Abſchied, und
verſprach, bald wieder zu kommen. Den andern
Morgen ſtuͤrmte und regnete es noch ſo ſtark, und
das Gewaͤſſer vom zerfloßnen Schnee war ſo haͤu-
fig, daß ſie unmoͤglich wegreiten konnten. Auch
am folgenden Tage wars noch ſo, und ſie konnten
erſt am Anfange der Charwoche abreiſen.
Mariane ſah mit ihrer Mutter aus dem Fen-
ſter, als ſie zu Pferd ſtiegen. Sie ſah traurig
aus, und ſchmachtend. Siegwart blickte noch
einmal zaͤrtlich hinauf, nahm den Hut ab, und
ritt mit ſeinem Freund um die Ecke hinum. Mit
ſchwerem Herzen kam er auf das Feld hinaus,
und ſah ſich noch einigemal mit Thraͤnen nach
der Stadt um, die ſeine Mariane einſchloß. Der
Morgen war ſehr heiter, und die Sonne gieng
golden auf. Der Schnee war groͤſtentheils zer-
Z z
ſchmolzen, nur noch an den Rainen, und Hecken,
und in den Graͤben lag ein wenig, wo die Son-
ne nicht ſo frey hin ſcheinen konnte. Die Wie-
ſen waren ſchon gruͤn, beſonders an den Quel-
len; das junge Gras, und die Gaͤnſebluͤmchen
keimten ſchon hervor. Die Lerchen ſchwangen ſich
das erſtemal in dieſem Fruͤhjahr in die Luft,
und ſangen. Es war, als ob ein himmliſches,
uͤberirdiſches Konzert uͤber unſern beyden Juͤng-
lingen ſchwebte. Jhre Seelen erweiterten ſich,
und lebten in der friſchen Fruͤhlingsluft, die um
ſie her ſpielte, wie neu auf. All ihr Gefuͤhl wur-
de geſchaͤrft; jeder dachte an ſein Maͤdchen und
ſchwieg. Um Mittag kamen ſie in ein Dorf, wo
ſie ihre Pferde fuͤtterten, und aſſen. Ein Flei-
ſcher ſaß in der Stube mit zwey großen Hunden.
Er erzaͤhlte von einer Frau im naͤchſten Dorf, die
naͤrriſch geworden ſey, und nun gebe man ihr
Schuld, ſie habe ihren Mann umgebracht. Dann
erzaͤhlte er von einem alten Mann von 73 Jah-
ren, den man drauſſen im Bach todt gefunden
habe. Vermuthlich ſey er ſelbſt hineingeſprungen,
denn ſein Sohn, der nun auf ſeinem Handwerk
ſey, und bey dem der Vater aus Gnad und
Barmherzigkeit gewohnt habe, ſey ihm hart und
grauſam begegnet, hab ihm taͤglich vorgeworfen:
Er eſſe Gnadenbrod, ſey der Welt nichts mehr
nuͤtz, und duͤrfe wol machen, daß er bald draus
fort komme. Dieſen Morgen noch hab er ihn einen
alten Narren geſcholten, ihm gedroht, er woll ihn
noch aus dem Hauſe ſtoßen, und drauf habe der
alte Mann geweint, und geſagt: Gott ſoll unter
uns richten! Hab ſein altes zerriſſenes Wamms
angezogen, ſey an ſeinem Stab aus dem Dorf
gegangen, und habe ſich am Bach niedergeſetzt.
Jch hab ihn ſelber angetroffen, ſagte der Metzger;
er gab mir noch einen guten Morgen, und nahm
die Muͤtze ab, daß ich ſeine handvoll weiſſer Haare
und ſeine Glatze ſah, und bey mir ſelber dachte:
Lieber Gott, was es doch um einen Alten fuͤr ein
Elend iſt, wenn ſich niemand ſeiner annimmt, ſelbſt
die Kinder nicht, die er groß gezogen hat! — Da
hat ſich eben der arme Mann hingeſetzt, halb kin-
diſch war er, wuſte ſich ſelbſt nicht mehr zu helfen,
und ſprang in das Waſſer. Gott verzeih es ihm,
er war ſonſt ein guter Chriſt, der niemand nichts
zu leid that. Aber ſo Kerls, wie ſein Sohn iſt,
ließ’ ich ſpieſſen, die verdienen nicht zu leben,
wenn ſie Leuten nicht das Leben goͤnnen, denen ſie
doch alles zu verdanken haben. Das iſt ſo meine
einfaͤltige Meynung. Hab ich Unrecht, Herr? Sieg-
wart gab ihm voͤllig Recht. Kronhelm ſpielte in-
deſſen mit einem von den Hunden. Das iſt ein
treues Thier, Herr! ſagte der Fleiſcher. Der lieſ-
ſe ſich eher todt ſchieſſen, als mir was thun. Nun
erzaͤhlte er mit treuherziger Geſchwaͤtzigkeit die Ge-
ſchichte und die Tugenden ſeiner beyden Hunde.
Sehen Sie, ſagte er, die Thiere horchen auf, als
ob ſies verſtuͤnden. Ja, es iſt ein geſcheides Thier
um einen Hund. — Siegwart liebkoſte ein paar
Kinder mit einem offenen Geſicht, und groſſen
blauen Augen. Er fragte ſie nach ihrem Alter,
und nach ihrem Namen, und gab jedem einen
Kreuzer. Die Kinder ſprangen mit dem Geld zu
ihrer Mutter, wieſen es ihr, und dann wieder
auf Siegwart, daß ers ihnen gegeben habe. Die
Mutter kam zu ihm her, gab ihm die Hand, und
ſagte: O Herr, warum machen Sie ſich Unkoſten?
Das iſt gar zu viel. Drauf muſten ihm beyde
Kinder die Hand kuͤſſen.
Jndem kam ein Bedienter in abgeſchabter Livree
mit verweinten Augen ins Zimmer, und ſetzte
ſich an den Ofen. Er machte einige Bewegungen
mit der Hand, als ob er mit ſich ſelber ſpraͤche,
und dann zaͤhlte er etwas an den Fingern ab. Was
fehlt denn ihm, Marx? ſagte die Wirthin. Ey,
was wird mir fehlen! antwortete er; ſie haben
mich im Schloß fortgeſchickt, und nun kann ich
betteln. Das iſt mir eine Haushaltung! Da iſt
ein welſcher Hahn aus dem Schloſſe weggekommen,
und weil ich nichts davon wiſſen wollte, und auch
meiner Treu nichts wuſte; da geben ſie mir mei-
nen Abſchied. Jſt das auch erlaubt? Aber ich
weis ſchon wo das her kommt. Die gnaͤdige
Frau kann mich eben nicht leiden, und das hat
auch ſeine Urſachen. Moͤcht ich nur Haͤndel an-
richten, und dem gnaͤdigen Herrn ein paar Stuͤck-
chen vom Jaͤger und von ihr erzaͤhlen! Aber das
mag ich ihm nicht zu leid thun. Er iſt ein kreuz-
braver Herr, der ſo ſchon ſeine liebe Noth hat.
Nur das iſt unverantwortlich und himmelſchreyend,
daß man einem armen Dienſtbothen ſeinen Lohn nicht
gibt. Jch hatte zwanzig Thaͤlerchen zu ſodern; da kam
die gnaͤdige Frau mit ihrer großen Schreibtafel,
und hatte, der Henker weiß, was all? drauf ge-
ſchrieben. Da war Porcellain zerbrochen, das ich
nie geſehen hatte, da war dieß und jenes am Sat-
telzeug zerriſſen; ein Fuͤllen war geſtorben, und da
ſollt alle ich Schuld dran ſeyn, und das Ding be-
zahlen. Jch mochte ſagen, was ich wollt; es half
alles nicht, ſie ſummirte, und ſiehe da: Summa
ſummarum war 19 Thaler 46 Kreuzer, daß mir
alſo gerad noch 44 Kreuzer heraustraſen. Jch
dacht, ich haͤtte Blut weinen muͤſſen, wie ichs hoͤr-
te. Jch wollt ihr zu Fuͤßen fallen, und ihr mei-
ne Unſchuld darthun; aber ſie gab mir noch harte
Reden, warf mir das Geld in lauter Zweyern hin,
und ſchlug die Thuͤr zu. Jch wollt vor den gnaͤd-
gen Herrn, und ihm meine Noth klagen, aber ſie
ſtand bey ihm im Hof, und da durft ich nichts ſa-
gen. Die Livree gehoͤrt auch noch uns, ſagte ſie.
Ach, mein Schatz, laß ihm das, ſagte er; es iſt
doch nicht viel mehr dran! Nun, ſo kann er ſich
aus dem Schloßhof packen, rief ſie, und ſich nie
mehr drinn erblicken laſſen! — So hat man mirs
gemacht, und Gott weiß, ich hab meinem Herrn
treu gedient, das wißt ihr, Wirthin, und alle Leut
im Dorf wiſſens. Nun weiß ich nicht wo naus.
Auf dem Leib hab ich nichts als dieſen Kittel, an
dem man alle Faͤden zaͤhlen kann. Kein Atteſtat
hab ich auch nicht, darf mich nicht drum melden.
Und ohne Atteſtat nimmt mich keine Herrſchaft an.
Und, Gott weiß, meynts einer mit ſeiner Herr-
ſchaft ehrlich, ſo thus ich. Jch wollte gleich mein
Leben laſſen, wenn mein Herr in Gefahr kommt;
Jch wollt ihm dienen, daß er mir wie ſeinem Kind
trauen koͤnnte. Ehrlich waͤhrt am laͤngſten. Das
hab ich noch von meinem Vater gelernt, der war
auch Bedienter, bis er 70 Jahr alt war, und nicht
mehr dienen konnte. Drauf zog er ſeine 44 Kreu-
zer heraus, und zaͤhlte 32 davon ab, die er, wie
er ſagte, noch dem Jaͤger ſchuldig war fuͤr ein Ge-
bethbuch.
Kronhelm, der, wie Siegwart, von dem Schick-
ſal des Bedienten ſehr geruͤhrt war, zog die Wir-
thin auf die Seite, und erkundigte ſich bey ihr nach
ihm. Sie gab ihm mit der gutherzigſten Miene,
und mit vieler Waͤrme das Zeugniß eines frommen
und rechtſchaffenen Menſchen. Drauf gieng Kron-
helm zu dem Bedienten, der ihm, ſeiner guten,
ehrlichen Bildung wegen, gleich gefallen hatte, frag-
te ihn, was er monatlich fodre? und nahm ihn
zu ſeinem Bedienten an. Der Kerl war vor Freu-
den ganz auſſer ſich, und konnte kaum Worte fin-
den, ſeine Dankbarkeit auszudruͤcken. Kronhelm
ſagte ihm, er ſoll ſehen, daß er ein Pferd geliehen
kriege, um nach Muͤnchen mitzureiten; in einer
Viertelſtunde kam er mit einem Pferd wieder.
Der Wirthin gab er das Geld fuͤr den Jaͤger, und
bat ſie, alle gute Freund’ im Dorf noch einmal zu
gruͤſſen. Als ſich Kronhelm die Zeche machen ließ,
ſoderte die Wirthin ſo wenig, daß er ſie ausdruͤck-
lich fragte, ob ſie nichts vergeſſen, oder zu niedrig
angerechnet habe? Sie ſagte aber, Nein: ſie hab
alles angerechnet; Sie ihn ſich nicht Unrecht, aber
andern Leuten thu ſies auch nicht. Wie gewon-
nen, ſetzte ſie hinzu, ſo zerronnen. Sie dankte
auch Siegwart noch einmal fuͤr die 2 Kreuzer.
Auf dem Wege erzaͤhlte der neue Bediente, Marx,
faſt ſeine ganze Lebensgeſchichte mit vielen Umſchwei-
fen, und der, dem Schwaben ſo gewoͤhnlichen ge-
wiſſenhaften Aufrichtigkeit. Man ſah ihms an,
wie viel er auf ſeinen neuen Herrn halte; er war
beſorgt, ſobald das Pferd ſtolperte, und ſtieg ab,
ſobald es ſcheute. Neugierig war er auch, wie die
meiſten Schwaben ſind, und fragte Kronhelm und
Siegwart mit der treuherzigſten Einfalt, die ein
Sachſe fuͤr Beleidigung halten wuͤrde, um alles,
was ſie angieng.
Ziemlich ſpaͤt am Abend kamen ſie in Muͤnchen
an, und ſtiegen, weil Kronhelm ſeinen Onkel und
ſeine Schweſter nicht mehr uͤbetraſchen wollte, in
einem Gaſthof ab. Marx war auſſerordentlich be-
ſorgt, ſeine neue Herrſchaft und unſern Siegwart
zu bedienen, und lauerte auf alle ihre Winke.
Wenn einer nur eine Bewegung machte, ſo fragte
er ſogleich, ob man etwas zu befehlen habe? und
verrichtete jeden Auftrag mit der geſchwindeſten Ge-
nauigkeit. Den folgenden Morgen ſchickte ihn
Kronhelm ſogleich aus, ihn bey ſeinem Onkel zu
melden. Marx kam bald wieder mit der Nach-
richt zuruͤck, der geheime Rath ſey gegenwaͤrtig nicht
in Muͤnchen. Kronhelm, der daruͤber ſehr betrof-
fen war, gieng ſelbſt nach ſeinem Hauſe, und er-
fuhr: ſein Onkel reiſe ſchon ſeit acht Tagen in Chur-
fuͤrſtlichen Geſchaͤften im Land herum, und werde
vor 14 Tagen nicht zuruͤckkommen. Kronhelm kam
voll Unmuths wieder in den Gaſthof, erzaͤhlte Sieg-
wart den verdrießlichen Umſtand, und ließ ſich nun
bey ſeinem Schwager und ſeiner Schweſter melden.
Als er angenommen wurde, gieng Siegwart in-
deſſen aus, um die Stadt zu beſehen. Er erſtaun-
te uͤber die vielen ſchoͤnen Haͤuſer und Pallaͤſte, und
noch mehr uͤber die Volksmenge, die ihm auf al-
len Straßen entgegen wimmelte. Alles, was er
ſah, war ihm neu. Anfaͤnglich gefiels ihm, bald
aber aͤrgerte er ſich, zu ſehen, wie hier immer ein
Menſch dem andern im Wege ſteht; |wie ſich ſo
viele tauſende zuſammenthun, ein jeder in der Ab-
ſicht, von dem andern zu |zehren. Eine Bauren-
huͤtte, dachte er, iſt mir lieber, wo ſein Beſitzer
ruhig drinn ſitzt, ſich nur um ſich ſelbſt bekuͤmmert,
von keines andern Huͤlf’ oder Gnade abhaͤngt,
und im Frieden fuͤr ſich und ſeine Kinder ſein Feld
baut. Am meiſten aͤrgerte er ſich uͤber die vielen
Muͤſſiggaͤnger, die, wie Puppen, die Straſſen
auf und ab tanzten, denen man den Muͤſſiggang
anſah, und die, um den Muͤſſiggang noch zu ver-
mehren, eben ſo groſſe Muͤſſiggaͤnger, als Bediente,
hinter ſich drein gehen haben. Es ſchmerzte ihn,
ſo viel Leute in zerlumpten Kleidern, mit ausge-
hungerten Geſichtern, und muthloſen, niederge-
ſchlagnen Mienen zu ſehen, die, von den goldbe-
deckten Herren umbemerkt, wie Gewuͤrm unter den
Fuͤſſen des Wanderers herum kriechen. Gott,
dachte er, das ſind doch auch Menſchen, die auch
Seelen haben, wie die Herren, und ſie werden
nicht geachtet! Gibts denn keine Groͤße, und kein
Gluͤck, wenn ihm nicht Niedrigkeit und Elend zur
Seite ſteht? Hier vergißt man ja ſich ſelber vor
dem ewigen Gelaͤrm der Kutſchen, und den ſtillen
rechtſchaffenen Buͤrger muß man auch vergeſſen.
Leute mit den frechſten Geſichtern und dem aufge-
blaſenſten Weſen ſah er zwiſchen andern, und be-
ſonders alten Muͤtterchen ſich bruͤſten, die mit der
andaͤchtigſten, oft bigotteſten Miene, und dem Ro-
ſenkranz in der Hand, nach den Kirchen zuſchli-
chen. Aberglauben und Unglauben ſchien ſich hier
ewig zu durchkreuzen. Als er eine Kirche vorbey-
kam, gieng er hinein. Auf einmal dachte er an
Marianen, gieng in einen Stuhl, warf ſich auf
die Knie, und betete mit heiſſer Jnnbrunſt, und
mit Thraͤnen in den Augen. Nun fuͤhlte er erſt
ganz das Gluͤck der Ruhe und der Liebe, das er
in ihrem Arm genoſſen hatte; und jetzt entbehren
muſte. Mit ungewoͤhnlich ſtarker Sehnſucht ſehn-
te er ſich nach ihr zuruͤck. Jn der Kirche ſah er
noch mehr die große Kluft zwiſchen Andacht und
Frechheit. Das gemeine Volk lag in tiefſter De-
muth vor Gott, und die vornehmen jungen Herren
und Frauenzimmer ſtunden frech in ihren goldnen
oder ſeidnen Kleidern da, begafften ſich mit ſtolzer
Selbſtzufriedenheit; warfen ſich, anſtatt zum Him-
mel zu blicken, und in Demuth vor Gott zu er-
ſcheinen, buhleriſche Blicke zu, und vergaſſen alle
Ehrerbietung, die man in einem Gotteshauſe zei-
gen ſollte. Siegwart gieng, mit einem ſchweren
Seufzer aus der Kirche, und nach ſeinem Gaſthof
zuruͤck.
Kronhelm ſchickte ſeinen Bedienten dahin,
und ließ ihn zu ſeiner Schweſter zum Mittags-
eſſen bitten. Er ward von ihr guͤtig aufgenommen.
Sie war ein Frauenzimmer von 25 oder 26 Jah-
ren, das in den Geſichtszuͤgen, das feine weibliche
abgerechnet, ihrem Bruder ganz aͤhnlich ſah. Sie
hatte viel Anmuth in der Miene, etwas ſchwaͤrme-
riſches im Auge, und viele Lebhaftigkeit und Mun-
terkeit in ihrem Weſen. Jhr Mann war auch da;
er war ſchon in den dreyſſigen, hatte eine ziemlich
angenehme Bildung, die er aber durch ein ange-
nommnes, kaltes, ſteifes Weſen ſehr verſtellte. Sein
Betragen gegen Siegwart war hoͤflich, aber doch
von einer Feyerlichkeit und Entfernung begleitet,
die alles Zutrauen verbannte. Vor Tiſch wurden
die Kinder ins Zimmer gebracht, zwey Maͤdchen
von 6 und 7 Jahren, und ein Knabe von 9 Jahren,
die wie junge Engel ausſahen. Sie muſten etwas
franzoͤſiſch plappern, aber mit Siegwart ſprach der
Knabe deutſch, fragte ihn alles, wo er herkomme? wie
er heiſſe: Ob er auch einen Papa, und auch eine liebe
Mama habe? u.ſ.w. Dann erzaͤhlte er allerley Ge-
ſchichten von ſich und ſeinen Schweſtern, von ih-
ren Puppen, von ſeinen zinnernen Soldaten, die
er herholte und in Schlachtordnung ſtellte. Sieg-
wart wollte ihm auch helfen, aber er machte, nach
ſeiner Meynung, alles unrecht; der Knabe lachte
ihn aus, und belehrte ihn eines Beſſern. Dann
holte er der Beaumont Magazin, las ihm daraus
vor, und erzaͤhlte ihm ein Maͤhrchen. Siegwart
muſte auch vorleſen, und ſich von dem kleinen
Karl alle Augenblicke korrigiren laſſen. Er mach-
te vorſetzlich Fehler, und ſtellte ſich bey den Be-
lehrungen des Knaben ſehr aufmerkſam an, wel-
ches dieſem auſſerordentlich gefiel. Die Maͤdchen
unterhielten ſich mit ihrer Mama, und mit Kron-
helm, dem ſie ihre Puppen zeigten, ihre ſchoͤnen Klei-
der hererzaͤhlten, und von andern kleinen Maͤdchen
unterhielten. Als die Kinder weggebracht werden ſoll-
ten, bat der Knabe ſehr, man moͤcht ihn doch bey dem
Herrn laſſen! Man verſprach ihm aber, daß er
wieder kommen duͤrfte. Bleib ſein da! ſagte er
zu Siegwart, als er weggieng.
Bey Tiſch war auch Kronhelms Bruder,
ein etwas fluͤchtiger und leichtſinniger junger
Menſch, der die witzigen Franzoſen, und beſon-
ders Voltaͤrs Schriften ſtark las. Er ſpottete uͤber
Univerſitaͤten, Profeſſoren, und gelehrte Wiſ-
ſenſchaften, ſprach viel von der Hiſtorie, in der
Voltaire ſeine Quelle war; ſagte, er wuͤnſche
nichts mehr, als Paris zu ſehen; ſchimpfte auf
die Steifigkeit der Deutſchen, nahm aber den
Muͤnchnerhof davon aus; erzaͤhlte ein paar Hof-
geſchichten, und gieng wieder weg, in eine ande-
re Geſellſchaft.
Herr von Eller, ſo hieß Kronhelms Schwa-
ger, der ſchon ernſthafter dachte, ſuchte ihm die
Annehmlichkeiten des Hoflebens von einer andern
Seite darzuſtellen, und ihm den Hang, auf dem
Land zu leben, zu entleiden. Er ſtellte ihm das
Gluͤck vor, um einen großen Herrn zu ſeyn, im-
mer hoͤher zu ſteigen, und endlich vielleicht gar
zu ſeinem Vertrauen zu gelangen, u. ſ. w. Fuͤr
Kronhelm war dieſes kein Gluͤck, und er wich
den Ueberredungen ſeines Schwagers mit Klug-
heit und Beſcheidenheit aus. Um 3 Uhr muſte
Hr. von Eller in eine Seſſion, und ſeine Gemahlin,
Kronhelm und Siegwart blieben allein. Das
Geſpraͤch ward nun vertraulicher. Die Frau
von Eller fragte ihren Bruder, warum er ſo
blaß und eingefallen ausſehe? Er ſey ſonſt viel
munterer geweſen; jetzt hab er ſo viel Ernſt und
Schwermuth in ſeinem Karakter; ſeine Seele
muͤſſe eine große Veraͤnderung und tiefe Leiden
erfahren haben. Er kenne die Freundſchaft, die
ſie von jeher gegen ihn getragen, und den An-
theil, den ſie immer an ſeinen Schickſalen genom-
men habe; er moͤchte daher doch offenherzig gegen
ſie ſeyn, und ihr alles offenbaren, was er, ohne Ver-
letzung ſeiner Ruhe koͤnne! ꝛc. Kronhelm that es
auch, erzaͤhlte ihr mit vieler Ruͤhrung und der
groͤſten Aufrichtigkeit ſeine ganze traurige Geſchich-
te mit Thereſen, und ſetzte hinzu: So lang ich von
ihr getrennt leben muß, und ſie nicht bekommen
kann, ſo lang kann ich auch nicht ruhig und nicht gluͤck-
lich werden. Mein Herz wird ſie ewig lieben, und ewig
um ſie trauren, wenn ich ſie nicht ganz beſitzen ſoll.
Fuͤr mich iſt dann keine Ruhe, als im Grab! —
Seine Schweſter ſagte: |ſie habe von ihrem Onkel
einen Theil ſeiner Geſchichte ſchon gewußt; ſie ha-
be innerlich um ihn getraurt, ſeine Liebe und ſeine
Leiden wuͤrden durch die Hinderniſſe, und durch
die Zeit wieder verringert werden; nun erfahre ſie
mit inniger Betruͤbniß das Gegentheil. — Jch bin
in der Abſicht hieher gereiſt, ſagte er, den Onkel auf
meine Seite zu bringen; denn, wenn ich nur ſel-
ber mit ihm von Thereſen reden, und ihm meinen
Zuſtand ſchildern koͤnnte, ſo waͤr alles gut, aber
nun iſt dieſes auch nichts. Seine Schweſter beru-
higte ihn von dieſer Seite mit der Verſicherung, daß
der Onkel ſeiner Wahl nicht ganz abgeneigt ſey;
und jetzt, da er in Thereſens Gegend komme, ſich
gewiß nach ihr erkundigen, oder den alten Hrn.
Siegwart ſelbſt beſuchen werde. Der Onkel, ſetzte
ſie hinzu, haͤlt alles auf dich, und iſt fuͤr dein Schick-
ſal ſehr beſorgt. Er war mit dem Betragen un-
ſers Vaters gegen dich nicht zufrieden, aber weil er
deine Liebe nur fuͤr ein aufbrauſendes Feuer hielt,
ſo glaubte er, behutſam drein gehen zu muͤſſen. Er
hat ſich unter der |Hand fleiſſig nach dir erkundigt,
beſonders bey einem Hofrath Fiſcher in Jngolſtadt
(hier wurde Siegwart roth) und war oft ſehr be-
kuͤmmert, wenn er hoͤrte, daß du ſo niedergeſchlagen
ſeyeſt. Erſt noch neulich, als man von dir ſprach,
ſagte er, ich will mich der Sache annehmen, ſobald
ich kann. — Und was ich dabey thun kann, Bru-
der, das thu ich gewiß. |Davon brauch ich dir
nicht erſt Verſicherung zu geben. — Kronhelm war
uͤber dieſe Nachricht aͤuſſerſt froh, und voll ſuͤſſer
Hoffnungen. Er und Siegwart muſten nun der
braven Frau viel von Thereſen erzaͤhlen. Sie er-
kundigte ſich nach allen, ſie betreffenden Kleinigkei-
ten ſehr genau. Kronhelm muſte ihr Thereſens
ganzes Ausſehen beſchreiben. Er ſagte: in den
meiſten Zuͤgen ſeh ſie ſeinem Siegwart ganz aͤhn-
lich; nur eine feinere Haut hat ſie, ſagte er, iſt
nicht ſo ernſthaft, hat hellere und dunkelblauere
Augen, eine nicht ſo hoch gewoͤlbte Stirne. Die
Frau von Eller that gegen unſern Siegwart recht
vertraut, trank auf Thereſens Geſundheit, und war
ganz mit ihm zufrieden. Kronhelm ſagte, auf den
Karfreytag wollten ſie wieder zuruͤckreiten; aber ſie
drang ſo lang in ſie, am Karfreytag noch in Muͤnchen
zu bleiben, um die Prozeſſion zu ſehen, und den feyer-
lichen Gottesdienſt und die Trauermuſik bey Nacht
mit anzuhoͤren, bis ſie endlich nachgaben. Der
kleine Karl kam wieder, und ſpielte mit Siegwart;
die Maͤdchen wurden auch nach und nach zuthaͤti-
ger und miſchten ſich mit in die Spiele. Sie er-
zaͤhlten in der Reihe herum Maͤhrchen, und Sieg-
wart muſte das ſeinige auch erzaͤhlen; aber er ſah,
wie viel ihm dazu fehle, etwas auch den Kindern
wahrſcheinliches, zu erzaͤhlen, denn ſie machten ihm
alle Augenblicke Einwendungen und Fragen, die er
nicht beantworten konnte. Der Herr von Eller
kam auch wieder zuruͤck, und war gegen unſre bey-
den Juͤnglinge ganz verbindlich; aber weil er um
6 Uhr mit ſeiner Frau in Geſellſchaft gehen muſte,
ſo bat er ſie auf den andern Tag wieder zu Tiſch,
A a a
und ſagte, uͤberhaupt, ſo lang ſie in Muͤnchen waͤ-
ren, ſollten ſie immer bey ihm eſſen.
Den Abend aſſen Kronhelm und Siegwart in ih-
rem Gaſthof in Geſellſchaft, aber ſie gingen bald
wieder auf ihr Zimmer, denn in der Geſellſchaft,
die aus gemiſchten Perſonen beſtand, wurden faſt
lauter Spoͤttereyen uͤber die Religion, Anſpielun-
gen auf die Begebenheit, die am bevorſtehenden
Feſt gefeyert werden ſollte, und Zweydeutigkeiten
vorgebracht, die in der ſogenannten groſſen Welt,
wo der gute Ton herrſchen ſoll, ſo gewoͤhnlich ſind,
und Leuten von Verſtand und Herz nicht gefallen
koͤnnen. Marx erzaͤhlte ſeinem Herrn, nach ſeiner
Art, die Merkwuͤrdigkeiten, die er in der Stadt ge-
ſehen hatte. Er habe nicht geglaubt, ſagte er, daß
ſo viel Menſchen in der Welt waͤren, als er heut
angetroffen habe. Es ſey in ſeinem Dorf am
Jahrmarkt nicht ſo voll, wie hier auf allen Straſ-
ſen; und Junker hab er angetroffen, die weit ſchoͤn-
re Kleider haben, als ſein vorger gnaͤdger Herr an
hohen Feſten getragen habe, und doch ſeys jetzt
nur ein Werktag; wie’s nun erſt am Sonntag
ſeyn muͤſſe? Es geb in ſeinem Dorf nicht ſo viele
Wagen, als er hier vergoldete Kutſchen angetroffen
habe. Man hab ihm auch das Haus gezeigt, wo
der Herr Kurfuͤrſt wohne. Unten ſey ein Herr
geſtanden, von dem er gewiß geglaubt habe, er ſey
der Kurfuͤrſt, denn er hat lauter Silber angehabt,
aber, als er ſich ſehr tief gebuͤckt, hab des Herrn
von Eller Bedienter ihn ausgelacht, und geſagt,
das ſey nur ein Laͤufer. Auch in ein paar Kir-
chen ſey er geweſen; da ſey ſo viel Gold, daß ei-
nem die Augen davon weh thuen. Jn der Einen
Kirche ſey das Wahrzeichen ein Stein zwiſchen
zwey Pfeilern; wenn man auf dem Stein ſteh,
ſo koͤnne man kein Fenſter in der ganzen Kirche ſe-
hen. Er wiſſe nicht, wie das ſeyn koͤnn’, aber es
ſey ſo; er habs ſelbſt geſehen. Jn einer andern
Kirche blas’ ein Engel die Poſaune, daß man glaub,
er lebe, und doch ſey er nur von Holz. Es muß
wohl Zauberwerk ſeyn, ſonſt koͤnn’ ers nicht begrei-
fen. Jn den Kirchen ſey ſo ſchoͤne Muſik, daß
er glaub, die Leute in Muͤnchen muͤſſen all in den
Himmel kommen, weil man ihn ihnen ſo ſchoͤn
und anmuthig vormale. Es ſey eine Luſt, da zu
bethen. Das Herz werd’ einem ganz weit und
leicht, und man glaub, Gott muͤſſ’ einem gnaͤdig
ſeyn, wenn man ſo ſchoͤne Muſik hoͤre; auch glaub
er nicht, daß man viel Boͤſes thun koͤnn’, wenn man
oft ſo was mit anhoͤre; das Herz werd einem ſo
weich und mitleidig, daß man alles Boͤſe druͤber
vergeſſe u. ſ. w. Kronhelm und Siegwart hoͤrten
ſeiner Beſchreibung mit Vergnuͤgen zu. Kron-
helm gab ihm Taſchengeld, und verſprach ihm auch,
ihm in Jngolſtadt eine neue Livree machen zu laſ-
ſen; der arme Kerl war ſo dankbar, daß er vor
Freuden weinte, und ſagte: Er moͤchte nur wiſſen,
wie er bey Gott ein ſo groſſes Gluͤck verdient
habe? —
Kronhelm ließ ihn weggehn, und theilte nun mit
ſeinem Siegwart ſeine Freude uͤber die frohen Aus-
ſichten, die er jetzt, in Abſicht auf Thereſen hatte.
Er machte ſchon Entwuͤrfe, wie er ſein kuͤnftiges Leben
einrichten wollte. Wenn mein Vater ſich nicht zu-
frieden geben will, ſagte er, ſo zieh ich auf das Land-
guth, wo wir mit unſrer ſeligen Mutter lebten. Jch
weis, daß Thereſe ſich mit Wenigem vergnuͤgt, und
mein Onkel wird ſchon auch fuͤr uns ſorgen. Wir
ſind uns an jedem Ort genug, und brauchen keinen
Ueberfluß, wenn uns nur die Liebe mit Zufrieden-
heit ſegnet; und das wird ſie thun, ſo lang wir le-
ben. Siegwart gab ihm voͤllig Beyfall, und ſagte,
ſo denk er auch in Abſicht auf ſeine Mariane.
Kronhelm mochte ihn noch nicht fragen, welchen
Plan er ſich gemacht habe, und welche Lebensart er
zu erwaͤhlen gedenke? Siegwart hatte auch im
Taumel ſeiner Liebe daran noch nicht gedacht.
Den andern Morgen gingen ſie bey Zeiten wie-
der zu Kronhelms Schwager. Dieſer wurde nach
und nach vertraulicher, und legte den Hofton ziem-
lich ab. Er fragte, ob ſie nicht die Merkwuͤrdig-
keiten der Stadt beſehen wollten? und gab ihnen
ſeinen Kammerdiener mit. Sie beſahen die Reſi-
denz und beſonders den Prinzenhof, wo ſie die vie-
len metallenen Bildſaͤulen, die zum Theil ſehr gut
gearbeitet ſind, bewunderten; das Antiquarium,
mit den vielen marmornen Bildſaͤulen der aͤltern
roͤmiſchen Kaiſer, und die Kunſtkammer. Sie be-
daurten nur, daß man alles nur ſo fluͤchtig beſehen
kann, und von der Menge der Merkwuͤrdigkeiten
mehr betaͤubt wird, als daß man das, ſich beſon-
ders auszeichnende, ſtudiren, und ſeinem Gedaͤcht-
niſſ’ einpraͤgen kann. Auch giengen ſie in einige
Kirchen, wo die Menge von Gemaͤlden, Koſtbar-
keiten und Schaͤtzen ſie blendete, und kamen um
Ein Uhr zum Eſſen zuruͤck. Herr von Eller frag-
te ſie nach verſchiedenem, was ſie geſehen hatten,
und freute ſich, daß ſie auf die Alterthuͤmer und
die roͤmiſchen Bildſaͤulen am aufmerkſamſten gewe-
ſen waren, denn er ſelbſt war ein guter Alterthums-
kenner, und ein Freund der alten Litteratur. Bey
Tiſch ſprach er viel von roͤmiſchen und griechiſchen
Schriftſtellern, und war uͤber die Einſichten, die
Siegwart und ſein Schwager hatte, nicht wenig
entzuͤckt. Er rieth ihnen, ſich in Jngolſtadt, we-
gen des Griechiſchen, an den alten Jckſtadt zu wen-
den, der es in dieſem Fach ausnehmend weit ge-
bracht habe, und zuweilen privatiſſima uͤber den
Homer, oder andre Griechen leſe. Auch ruͤhmte
er ihnen den Prof. Lory (der jetzt geadelt und ge-
heimer Rath zu Muͤnchen, auch Praͤſident uͤber
die Univerſitaͤt Jngolſtadt iſt), als einen Mann,
deſſen Herz und Verſtand, und Gelehrſamkeit gleich
groß ſey. Jch kenn ihn ſehr genau, ſagte er, und
hab in der Jugend mit ihm ſtudirt. Er war im
Studiren unermuͤdet, forſchte ſelbſt, und pruͤfte al-
les, was er hoͤrte. Jm Griechiſchen, Lateiniſchen,
Jtaliaͤniſchen und Franzoͤſiſchen war er ſchon dazu-
mal zu Hauſe, und ſetzte ſich noch immer mehr
drinn feſt. Alles Wiſſenswuͤrdige machte er ſich zu
eigen, und erweiterte nachher ſeine Kenntniſſe in
den Wiſſenſchaften noch mehr zu Goͤttingen, wo
er, auſſer den andern beruͤhmten Lehrern, ſich be-
ſonders an den, in ſeinem Fache groſſen Puͤtter
hielt, und ſich ſeine ganze Freundſchaft, die er jetzt noch
durch Briefe unterhaͤlt, erwarb. Er iſt ein trefli-
cher Mann, der alle Weisheit der Alten und der
Neuen aus ihren Schriften ſammelt, und auf ſich
und den Zuſtand ſeiner Mitbuͤrger anwendet, denn
er iſt ein aͤchter deutſcher Patriot, der auf ſeinen
Reiſen nach Frankreich und Jtalien nicht, wie ge-
woͤhnlich, Thorheiten oder Laſter, ſondern Wiſſen-
ſchaften, Menſchenkenntniß und Weltklugheit einge-
erndtet hat, und ſie nun unter ſeine Mitbuͤrger
und in ſeine Schriften ausſtreut. Er hat bey ſei-
nem ſtandhaften, deutſchen, maͤnnlichen Karakter,
die uneingeſchraͤnkteſte Menſchenliebe und Recht-
ſchaffenheit. Kurz er iſt ein Mann, wie es heut
zu Tage wenig mehr gibt. Machen Sie ihm nur
eine Empfehlung von mir! Er wird Jhnen auch
um meinet willen viele Freundſchaft erweiſen. —
Nach Tiſche zeigte Herr von Eller unſern Juͤnglin-
gen ſeine anſehnliche Kupferſammlung, und ver-
wunderte ſich uͤber den natuͤrlich guten Geſchmack,
den ſie zeigten. Er war aufmerkſam, als er ſie mit
ſo vieler Waͤrme von neuern deutſchen Schriftſtel-
lern reden hoͤrte, und ließ ſich ſogleich einige Tratt-
nerſche Nachdruͤcke von deutſchen Dichtern aus dem
Buchladen holen.
Kronhelm und Siegwart blieben dieſen Abend
bis zehn Uhr da, und giengen ſehr vergnuͤgt nach
ihrem Gaſthof zuruͤck. Den andern Morgen, am
Karfreytag, giengen ſie in die Jeſuiterkirche, wo
ſie mit der groͤſten Andacht eine ſehr ſchoͤne und ruͤh-
rende Trauermuſik anhoͤrten, und einen groſſen
Theil des vornehmen Muͤnchner Adels ſahen. Sieg-
wart wuͤnſchte nichts, als daß ſeine Mariane auch
da ſeyn moͤchte, denn unter der Menge von Frauen-
zimmern, die er ſah, konnte keine ſein Auge lange
auf ſich ziehen. Er dachte nur, wie ſeine Mariane
in ihrem ſchwarzen Kleid, und das himmliſche Ge-
ſicht mit Flor bedeckt, jetzt auch im Chor knien, und
uͤber die Leiden ihres Heilandes heilige und un-
ſchuldsvolle Thraͤnen vergieſſen werde.
Nach dem Eſſen ſahen ſie die groſſe Prozeſſion,
und die Kreuzigung, die das Jahr darauf auf kur-
fuͤrſtlichen Befehl, zum Triumph der geſunden Ver-
nunft, abgeſchafft worden iſt. Der Geißler und
Buͤſſenden war eine faſt unzaͤhlige Menge. Ganz
Muͤnchen, auch der Hof, war an Einem Ort ver-
ſammelt, und die Buͤſſenden waren mehr zum Ge-
praͤnge, als aus Andacht da. Marx ſagte nachher:
das Geiſſeln hab ihm ſo wohl gefallen, daß er bey-
nahe Luſt bekommen habe, auch mitzumachen, wenn
er nur gleich ein leinenes Kleid und eine Geiſſel
gehabt haͤtte.
Den Abend aſſen Siegwart und Kronhelm noch
einmal beym Herrn von Eller. Kronhelm ſprach
mit ſeiner Schweſter nochmals allein wegen There-
ſen, und erhielt die wiederholte ernſtliche Verſiche-
rung von ihr, ſie wolle ſich ſeiner aufs moͤglichſte
annehmen, und gewiß ein kraͤftiges Vorwort bey
ihrem Onkel einlegen. Um zehn Uhr nahmen die
beyden Juͤnglinge Abſchied, denn ſie wollten den an-
dern Morgen, mit dem Tag, wegreiten. Um 11
Uhr giengen ſie in die Frauenkirche, um die groſſe
Trauermuſik, die zum Andenken der Kreuzigung
des Erloͤſers aufgefuͤhrt wird, mit anzuhoͤren. Die
ganze kurfuͤrſtliche Kapelle war zugegen. Der An-
blick der Kirche war der feyerlichſte. Eine groſſe
Menge von Wachslichtern erleuchtete die Dunkel-
heit der Kirche. Oben im Gewoͤlbe ſchwebte der
Weihrauchsdampf wie eine Wolke. An den Waͤn-
den glaͤnzten die vergoldeten Altaͤre, Gemaͤlde und
der Marmor. Die Volksmenge draͤngte ſich, und
ihre Stimmen, und der Schall der Gehenden
machten ein dumpfes, fuͤrchterliches Gemurmel.
Die ſchwarze Kleidung der meiſten Frauenzimmer
machte die Scene noch feyerlicher. Auf Einmal
wurde das wehmuͤthige Miſerere von Allegri an-
geſtimmt. Das Gemurmel ſchwieg; alle Geſichter
wendeten ſich nach dem Chor hin, und glaͤnzten im
Schein der Wachslichter. Jede Bruſt war von
Bangigkeit beklommen. Aus allen Mienen ſprach
allgemeine Wehmuth. Die Jnſtrumente klangen
dumpf wie aus dem Grab. Die tiefe Demuth und
die Traurigkeit der Singſtimmen ergoß ſich in jedes
Herz. Ein allgemeines Sehnen nach Erbarmung
athmete aus jeder Bruſt. Jn Siegwarts Seele
wars wie das Sehnen nach der Auferſtehung. Er
weinte, denn er dachte ſich die Liebe Chriſti, die fuͤr
uns geſtorben iſt, dachte alle die unabſehlichen Fol-
gen dieſes Todes, die in alle Ewigkeit fortſtroͤmen;
ſah ſeinen Heiland am Kreuze hangen, und mit Hei-
terkeit hinab ins Grab blicken; ſah die Augen aller
auf ihn gerichtet, die im Elend ſchmachten; ſah
die Dunkelheit der Graͤber, und das aͤngſtliche Har-
ren der Kreatur nach der Erloͤſung und der Aufer-
ſtehung; ſah auch ſeine Mariane mit ſchon halbge-
brochnen Augen zu ihm aufblicken. Seine Seele
bat zu ihm fuͤr ſie, fuͤr ſich, und alle Menſchen. Laß
ſie Alle Eins werden! dacht’ er, mach ſie Alle
ſelig! — Zum Schluß ward noch ein herrliches
Oratorium aufgefuͤhrt, das aller Herzen hob, und
mit Ausſichten in die Ewigkeit erfuͤllte.
Marx ging mit Kronhelm und Siegwart heim.
Er ſprach lange nichts. Endlich ſagte er: Er glau-
be, im Himmel werde einſt lauter Muſik gemacht
werden, denn ſchoͤners koͤnne man wol nichts er-
denken. Siegwart und Kronhelm legten ſich noch
in den Kleidern drey oder vier Stunden zu Bette,
und mit Sonnenaufgang ritten ſie aus der Stadt
weg. Siegwart freute ſich unausſprechlich, ſeine
Mariane bald wieder zu ſehen. Sein Pferd lief
ihm viel zu langſam, und er konnte den Abend
kaum erwarten. Auf dem ganzen Wege fiel nichts
wichtiges vor. Die beyden Freunde unterhielten
ſich wechſelsweis von ihrem Gluͤck, und kamen,
mit dem Bedienten, Abends ziemlich fruͤh in Jn-
golſtadt an, weil Siegwart ſo ſehr getrieben hatte.
Seine Mariane lag im Fenſter, und winkte ihm
mit den Augen, daß er ſie beſuchen moͤchte. Er hatte
auch kaum ſeine Reiſekleider ausgezogen, ſo gieng
er mit Kronhelm hinuͤber. Der Hofrath Fiſcher
war allein bey ſeiner Tochter im Zimmer, weil die
Mutter zu der Schwiegertochter gegangen war,
die ſich nicht recht wohl befand. Die Liebenden
ſahn einander mit einer Sehnſucht an, als ob ſie
ſich Jahre lang nicht geſehen haͤtten. Gern waͤren
beyde einander in die Arme geflogen, und haͤtten
ſich ans Herz gedruͤckt, wenn nicht die Gegenwart
des Vaters ſie zuruͤckgehalten haͤtte. Kronhelm und
Siegwart muſten viel von Muͤnchen, von der
Prozeſſion, und der Trauermuſik erzaͤhlen. Ma-
riane hieng an den Augen ihres Juͤnglings, wie
die Seele eines Jnbruͤnſtigbetenden am Krucifix.
Sie ſchenkte ihm Kaffee ein. Er bemerkte die
Stelle, wo ſie die Schaale gehalten hatte, und
druͤckte ſie, mit einem Blick auf ſeinen Engel, an
den Mund. Nach einer halben Stunde gieng der
Hofrath auch zu ſeiner Schwiegertochter, und ent-
ſchuldigte ſich bey Kronhelm und Siegwart, daß er
ſie allein laſſen muͤſſe. Mariane leuchtete ihrem
Vater die Treppe hinunter. Als ſie wieder zuruͤck
kam, ſah ſie ihren Siegwart zaͤrtlich an, gab ihm
die Hand, und ſank in ſeinen Arm. Er konnte
vor Entzuͤcken ſo wenig ſprechen, als ſie. Nur
Kuͤſſe und ſeelenvolle Blicke druͤckten die Empfin-
dungen ihrer Herzen aus. — Haben Sie zuwei-
len auch an mich gedacht? fragte Siegwart endlich.
Jmmer, immer! gab ſie zur Antwort. Jch ſah
hundertmal des Tags nach Jhrem Fenſter, ob ich
Sie nicht ſehe? Und dann fiel mir erſt ein, daß
Sie weit von hier waͤren, und da ward ich trau-
rig und weinte. Vorgeſtern und geſtern Abend
ſah ich unaufhoͤrlich aus dem Fenſter, ob Sie noch
nicht kommen? und als ich mich in meiner Er-
wartung betrogen fand, hatt ich tauſenderley trau-
rige Vorſtellungen, daß Jhnen ein Ungluͤck be-
gegnet ſeyn moͤchte. So oft ich in der Ferne ein
Pferd kommen hoͤrte, fing mein Herz laut zu
ſchlagen an, weil ich dachte, nun kommt er. Heut,
als ich Sie kommen ſah, war ich ſo auſſer aller
Faſſung, daß ich fuͤrchte, meine Mutter habe es
gemerkt. Das Beſte iſt, daß ſie auch aus dem Fen-
ſter ſah, und alſo meine Bewegung nicht wahr-
nehmen konnte. — Er ſchloß ſie feſter an ſein
Herz, und belohnte mit dem heiſſen Kuß der Liebe
ihre Zaͤrtlichkeit. Dann fragte ſie, was Kronhelm
ausgerichtet habe? und freute ſich uͤber die frohen
Ausſichten, die er hatte. — Alles Gluͤck der
Zaͤrtlichkeit ergoß ſich dieſen Abend uͤber unſre
beyde Liebende. Sie empfanden die Seligkeit, ein-
ander zu beſitzen, nun noch mehr, weil die kurze
Trennung ſie gelehrt hatte, wie unentbehrlich eins
dem andern ſey. Marianens Bruder kam ihnen
nur allzufruͤh, nach Haus, und das Geſpraͤch ward
gleichguͤltiger, auſſer daß die Liebenden ſich zuwei-
weilen mit dem beredten Blick der Liebe ſeitwaͤrts
anſahn. Die Hofraͤthin kam bald darauf auch nach
Haus, und hatte eine herzliche Freude uͤber die gluͤck-
liche Zuruͤckkunft unſrer Juͤnglinge. Beym Weg-
gehn leuchtete Mariane ihrem Siegwart und ſeinem
Freund die Treppe hinunter, und erzaͤhlte ihm,
wie gut ihm ihre Mutter ſey, und wie vortheil-
haft ſie ſehr oft von ihm ſpreche. Eine Nach-
richt, die unſerm Siegwart auſſerordentlich ange-
nehm war. Nach etlichen Kuͤſſen und Umarmungen
trennten ſich die Liebenden, weil ſie fuͤrchteten, der
Hofrath moͤchte bald zuruͤckkommen, und ſie in
der Hausthuͤre uͤberraſchen.
Den andern Morgen, welches der Oſtertag war,
ſah Siegwart ſeine Mariane in der Kirche. Jhre
feſtliche Kleidung, ihr aufgeheitertes Geſicht, die
hohe Andacht, die draus hervorleuchtete, bezau-
berten ſein Herz mehr als jemals. Als er in ſei-
ner Freude nach Hauſe gieng, und ſich im Taumel
ſeiner Wonne kaum faſſen konnte, da ward er auf
Einmal durch Kronhelms Anblick drinn geſtoͤrt.
Dieſer kam ganz beſtuͤrzt, mit einem Brief in der
Hand zu ihm aufs Zimmer. Jch muß fort! ſagte
er, und warf den Brief auf den Tiſch. Siegwart
ſah ihn betroffen und ſtillſchweigend an. Lies nur!
ſagte Kronhelm. Siegwart las:
Lieber Son.
Daß Zibberlein hat mich abermalen hingeworfen,
daß ich glauben thaͤt, es ſey aus. Es wirt mir
gewiß noch einmal den Fang geben. Will mich
in Goddes Nam̃en darauf vorbereiten thun, und
mein Schloß beſtellen. Du muoſt darbey ſeyn,
darum komm! haſt meiner Seel gnuog Gelt an
das verdrakte Stuttieren verwendt, daß ich denk,
es ſey genuog. Du weiſt wol, daß bey einem Jun-
ker bey den Buͤchern nigs herauskommen thut.
Pack alſo auf, und komm baͤlder als balt, oder ’s
geht nicht guot. Wenn du kommen thuſt in fier
Taͤgen, ſo bin ich dein gedreuer Vatter
Veit Kronehelm.
Was haͤltſt du von dem Brief? ſagte Kronhelm.
Jch halt ihn fuͤr ſo ſchlimm nicht, antwortete
Siegwart. Daß du fort muſt, das iſt freylich
traurig, und fuͤr mich am meiſten, aber ſonſt ſeh
ich nichts Boͤſes bey der ganzen Sache. Wenn dein
Vater, wie es ſcheint, ſo ſchwach iſt, daß er bald
ſterben koͤnnte, ſo wirſt du dein eigner Herr, und
dann … Schon gut, fiel hier Kronhelm ein;
aber ich habe eine Ahndung … Jch weis ſelbſt
nicht. Mein Vater koͤnnte leicht andre Abſichten
haben. Er wird wieder von Thereſen anfangen,
und da zittr’ ich, wenn ich dran denke. — Sieg-
wart ſuchte ihn, ſo viel als moͤglich, zu beruhi-
gen, und ihm allen Argwohn zu benehmen. Er
ſuchte ihm groͤßre Hofnungen einzufloͤſſen, als er
ſelber hatte, und ſprach ihm Muth ein, da es ihm
doch ſelbſt daran gebrach; denn der Gedanke, ſei-
nen beſten Freund ſo bald zu verlieren, beugte ihn
tief nieder. Wenn alles fehlſchlaͤgt, ſagte er, ſo
haſt du ja deinen Onkel, auf den du dich verlaſſen
kannſt. Er wird ſich der Haͤrte deines Vaters ge-
wiß widerſetzen, und ſich deiner annehmen. Durch
dieſe und andre Vorſtellungen wurde Kronhelm
etwas ruhiger, und beſchloß, gleich den andern
Tag abzureiſen. Jch will meine meiſten Sachen
hier laſſen, ſagte er; vielleicht komm ich wieder.
Wenigſtens will ich alles thun, was ich kann; denn
was ſoll ich bey meinem Vater machen, zumal
wenn er krank und verdrießlich iſt?
Siegwart beſtellte fuͤr ſeinen Freund einen
Miethkutſcher, und fuͤr ſich ein Pferd, um ihn
einige Stunden weit zu begleiten. Er verbarg ſeine
Traurigkeit ſorgfaͤltig, um ihm nicht den Abſchied
ſchwerer zu machen, oder ſeine traurige Vorſtellun-
gen und Ahndungen zu vergroͤſſern. Kronhelm
packte indeſſen ſeine noͤthigſten Sachen zuſammen,
und nahm dann beym Hofrath Fiſcher, und eini-
gen wenigen Freunden Abſchied. Seine oͤkonomi-
ſchen Umſtaͤnde waren bald in Richtigkeit gebracht,
da er jedermann ſogleich bezahlte. Gegen Abend
war er fertig, ohne daß er ſelber wuſte, wie er
dazu gekommen war. Nun konnt er ſich erſt be-
ſinnen, und an ſich ſelber denken. Nun fiel ihm
erſt die nahe Trennung von ſeinem Siegwart
ſchwer aufs Herz. Nun ſollte er zum zweyten-
mal, und, Gott weis wie lange? ſich von ſeinem
Herzensfreund, von dem Bruder ſeiner Thereſe,
der ihm, nach ihr, alles auf der Welt war, tren-
nen. Nun ſollt’ er einem Vater entgegen gehen,
der wenig oder gar kein menſchliches Gefuͤhl hatte,
der ihm das Kleinod ſeines Herzens rauben wollte.
Er ſaß in der Daͤmmerung, ſah ſeinen Siegwart
an, und verſank in die tiefſte Nacht des Kummers.
Jn ſeiner Seele waͤlzten ſich tauſend Zweifel hin
und her. Seine Phantaſie thuͤrmte Gefahren auf
Gefahren vor ihm auf. Siegwarts Geſicht kam
ihm in der Daͤmmerung wie Thereſens ihres vor.
B b b
Die tiefe Traurigkeit, die drinn ſaß, ſchien ihm
eine ewige Trennung anzukuͤndigen. Er konnte
ſich nicht laͤnger halten, ſprang auf, druͤckte ſeinen
Siegwart feſt ans Herz, und rief: Bruder,
Bruder, was wird aus uns werden! Unſerm
Siegwart ſtuͤrzten die Thraͤnen aus den Augen;
er konnte nichts ſprechen, und ſchloß ſeinen Freund
noch feſter ans Herz. — Wir werden gar zu
traurig, ſagte er endlich; laß uns etwas anders
ſprechen, oder uns ein wenig ausgehen.
Jch kann zu keinem Menſchen gehen! ſagte
Kronhelm; ich weis nicht, wie mir iſt? Jch
bin fuͤr alle Geſellſchaft unbrauchbar. Das iſt ein
erſchrecklicher Zuſtand! Jch ſeh nichts vor mir,
als Trennung und Elend. Jndem ward an die
Thuͤre geklopft, und Dahlmund kam. Jch konnte
heut nicht genug mit dir reden, Kronhelm! ſagte
er, weil jemand bey mir war. Dir und Siegwart
hab ichs zu verdanken, daß ich von der Weiſſin
los bin, und mit ihrem liederlichen Kerl mich nicht
geſchlagen habe. Heut iſt er durchgegangen, und
hat ein paar hundert Gulden Schulden hinterlaſ-
ſen. Kuͤrzlich hat er noch beym Kaufmann etliche
Ellen Stoff zu einem Kleid ausgenommen, und
ihr verehrt. Nun will der Kaufmann von ihr
die Bezahlung, oder ſeinen Stoff wieder, und
druͤber wird ſie das Geſpraͤch der ganzen Stadt.
O, ich bin ſo froh, daß ſie mich nicht mehr in
ihren Klauen hat. Jhr habt brav an mir gehan-
delt, daß ihr mich ſo von ihr losriſſet, und ich
werd es nie vergeſſen. Es thut mir nur leid,
Kronhelm, daß wir dich ſo bald verlieren ſollen. —
Siegwart lenkte das Geſpraͤch, mit Vorſatz, auf
etwas anders, und Kronhelm ward nach und nach
ziemlich zerſtreut, und, nach Umſtaͤnden, munter.
Dahlmund blieb noch ein paar Stunden da,
und nahm von Kronhelm mit vieler Ruͤhrung Ab-
ſchied. Siegwart bat ſeinen Freund, fruͤhzeitig
zu Bett zu gehen, weil ſie morgen bald aufſtehen
wollten. Er war beſorgt, ſie moͤchten beyde wie-
der in den ſchwermuͤthigen Ton herab ſinken, und
ſein Freund moͤchte Zweifel aufwerfen, die er nicht
im Stand waͤre, umzuſtuͤrzen; denn er ſchloß wirk-
lich aus dem Schreiben des Junker Veit wenig
Gutes. Kaum war er allein auf ſeinem Zimmer,
ſo brach ſein Schmerz mit aller Gewalt aus. Er
fuͤhlte den Verluſt, den er leiden ſollte, in ſeinem
ganzen Umfang. Es war ihm jetzt gedoppelt
ſchmerzhaft, ſeinen einzigen und beſten Freund zu
verlieren, da er kaum einen Vertrauten ſeiner Liebe
entbehren konnte, und doch keinen Menſchen auf
der Welt wuſte, dem er ſich ſo ganz anvertrauen
koͤnnte, denn mit Dahlmund war er nicht vertraut
genug. Nach vielen Thraͤnen, und tauſend aus-
geſtoßnen Seufzern legte er ſich endlich zu Bette.
Um 4 Uhr weckte ihn Kronhelm wieder, und
war ſo bewegt, daß er kein Wort ſprechen konnte.
Sie tranken ſtillſchweigend mit einander Kaffee,
packten das noch uͤbrige zuſammen, und reiſten um
5 Uhr ab. Mariane trat in ihrem Nachtzeug ans
Fenſter, gruͤßte Kronhelm noch einmal halb freund-
lich und halb traurig; auf ihren Siegwart warf
ſie einen ſchmachtenden und liebevollen Blick. Vor
dem Thor fragte Siegwart: Weis ſies, daß ich dich
nur etliche Stunden weit begleite, und heut wieder
zuruͤckkomme? Ja, ich hab ihrs geſtern geſagt, ant-
wortete Kronhelm. Weil Siegwart im Reiten ne-
ben der Kutſche nicht gut mit ſeinem Freunde ſpre-
chen konnte, ſo ließ er den Marx auf ſein Pferd
ſitzen, und ſetzte ſich zu ihm hinein, denn jetzt, in
der freyen Luft, wurden ihre Herzen leichter, und
ſie konnten eher mit einander ſprechen. Jhre Un-
terhaltung war, wie natuͤrlich, traurig. Jhre Blicke
ſprachen mehr, als ihre Zunge. Gruͤß Thereſen
tauſendmal! ſagte Kronhelm; ſchreib mir alles, was
du von ihr weiſt! Unſer Schickſal muß ſich nun
bald entwickeln. Wenn ſie nur Muth genug hat,
alles zu erwarten! Zwar ich hoffe viel; aber, Bru-
der, unſer Schickſal ſteht in Gottes Hand; wir
koͤnnen nichts thun, als ihm willig folgen ohne
Murren. Jch habe doch bey allem, was mir noch
bisher begegnete, erfahren, daß es nichts als weiſe
Guͤte iſt, wodurch uns Gott regiert. Dieſer Grund-
ſatz kann mich allein bey allen Widerwaͤrtigkeiten
troͤſten. Laß ihn in dir leben und weben, und
ſorg, daß ihn auch mein Engel ſich ganz zu eigen
macht! Jch ſchreibe dir, ſobald als moͤglich. Lie-
ber Freund, daß wir uns trennen muͤſſen, iſt ſehr
hart, und doch werden wir noch einſehn, daß es
auch weiſe Guͤte war, die uns trennte. — Wir
haͤtten uns weit beſſer genieſſen koͤnnen. Jeder
Augenblick, der uns ungenoſſen hinfloh, ſchmerzt
mich jetzt. Wie oft ſaſſen wir eine Stunde lang
beyſammen, ohne zehn Worte zu ſprechen. O,
wenn doch der Menſch die Zeit recht zu genieſſen
wuͤſte! Aber hinter drein wird man weiſe. — De-
ſto beſſer, ſagte Siegwart, werden wir die Zeit be-
nutzen, wenn uns Gott wieder zuſammen fuͤhren
ſollte. O Freund, wird es wohl geſchehen? —
Ja, ich hoff es, hoff es, ſagte Kronhelm. Ohne
dieſe Hoffnung waͤre mir die Trennung unertraͤg-
lich. Aber ſchreib mir fleiſſig. Laß mich nicht in
meiner Einſamkeit verſchmachten! — Du mich
auch nicht, Kronhelm! Du weiſt, wie ich ohnehin
zur Schwermuth geneigt bin. Wenn ich dich nicht
haͤtte, und es ginge mir in meiner Liebe widerwaͤr-
tig! Bruder, Bruder, ſchreib mir! — Du muſt
gluͤcklich werden, ſagte Kronhelm, du, und Mariane!
Wenn ein Menſch es werth iſt, ſo ſeyd ihrs. Aber,
Bruder, du muſt dich bald entſchlieſſen, welche Le-
bensart du waͤhlen willſt. Ein Geiſtlicher wirſt
du nun doch nicht, und das iſt recht gut, ich war
nie damit zufrieden. Aber, da Mariane weis, was
du bisher ſtudirt haſt, ſo koͤnnte ſie leicht unruhig
werden. Neiß ſie bald aus ihrer Unruhe! — Jch
wills thun, Bruder! verſetzte Siegwart. Es geht
mir ſchon lang im Kopf herum, und quaͤlt mich
heimlich. Jch bin ſelber noch nicht ſchluͤſſig; ſo
bald ichs bin, ſchreib ich dir davon. Ein Geiſtli-
cher kann ich freylich nicht werden. Gott wird
mirs vergeben, und ich hoffe, mein Vater wird es
auch zufrieden ſeyn. Jch muß mich erſt an The-
reſen wenden. — Thu es bald! ſagte Kronhelm
du weiſt, wie der Engel denkt. —
So fuhren ſie unter freundſchaftlich wehmuͤthi-
gen Geſpraͤchen noch drey Stunden fort. Kron-
helm fragte ſeinen Freund etlichemal, ob er nun
nicht ausſteigen und umkehren wollte? Aber Sieg-
wart wollte gar nichts davon hoͤren. Laß mir noch
die Freude, ſagte er, dich ein paar Stunden laͤnger
zu haben! Wer weis, wenn wir wieder ſo beyſam-
men ſind. Zuletzt wagte Kronhelm nicht mehr,
etwas zu ſagen, bis ſie endlich in ein Dorf, 5 Stun-
den von Jngolſtadt kamen.
Hier hielt der Fuhrmann, um die Pferde zu fuͤt-
tern. Siegwart und Kronhelm aſſen etwas weni-
ges zuſammen, und ſprachen nur ſehr ſelten. Viel-
leicht iſt dieß das letzte Mittagseſſen, ſagte Sieg-
wart ſeufzend. — Nicht ſo zaghaft, Bruder, ver-
ſetzte Kronhelm; man ſieht ſich immer wieder, hat
einmal ein weiſer Mann geſagt; ſeitdem iſt dieß
mein Troſt bey jeder Trennung. Wer weis, ob
ich nicht in wenig Wochen oder Tagen wieder in
Jngolſtadt bin? Und dann ſind wir ja nicht ſo
weit von einander. — Hofnung iſt freylich das
beſte, wenn man ſonſt nichts hat, ſagte Siegwart.
Endlich ſagte der Fuhrmann: Er habe ange-
ſpannt. Kronhelm, der eben ein Glas Mallaga
in der Hand hatte, und trinken wollte, ſtellte das
Glas wieder hin, ohne einen Tropfen zu trinken,
ſtand auf, legte ſeinen Ueberrock an, gab ſeinem Be-
dienten ſeinen Stock und Degen, und umarmte ſeinen
Siegwart. Keiner konnte ein Wort ſprechen. Sie
gingen aus der Thuͤre, und und umarten ſich noch ein-
mal. Gott ſey mit dir! ſagte jeder! — Gruͤß The-
reſen tauſendmal, und Marianen! Leb wohl, Bruder,
vergiß meiner nicht, ſchreib mir fleißig, und ſey gluͤck-
lich! Mit dieſen Worten ſtieg Kronhelm in den Wa-
gen. Siegwart eilte, thraͤnenlos, an den Schlag, druͤck-
te ſeinem Freunde noch einmal die Hand. Marx nahm
den Hut weinend ab, und der Wagen ſchwand aus
Siegwarts Augen.
Die Wirthsleute ſtunden da, und wiſperten zu-
ſammen. Die Herren muͤſſen recht viel auf einan-
der halten, ſagte die Wirthin; ſie machen, daß
einem das Weinen ankommt. Ja, ja, das ſcheint
ein braver Herr zu ſeyn, der da fortgefahren iſt.
Er war ſo ſtill und freundlich, daß man ihm nicht
boͤs ſeyn konnte. Nun, Gott geb ihm Gluͤck auf
den Weg! Dieſe Rede voll Einfalt ruͤhrte unſern
Siegwart ſo ſehr, daß ihm nun erſt die Thraͤnen
in die Augen ſchoſſen. Er trank noch ein paar
Glaͤſer Wein, bezahlte, und ritt fort.
Auf dem Wege brach ſein Herz ganz. Nun al-
lein zuruͤck zu reiten, ſich mit jedem Schritte mehr
von dem Freund ſeiner Seele zu entfernen, der
Gedanke begleitete ihn unaufhoͤrlich. Gott ſegne
ihn! war alles, was er denken konnte. Gott! ich
hab ihn durch Mistrauen ſo beleidigt! O vergib
mir, wenn es moͤglich iſt! Weiter fuͤhlte ſeine
Seele nichts. — An Marianens Buſen ſeinen
Schmerz auszuweinen, war der Wunſch, der ihn
befluͤgelte, daß er in drittehalb Stunden zu Jngol-
ſtadt ankam. Der Hofrath Fiſcher ſah aus dem
Fenſter, als er abſtieg, und fragte, ob er den
Herrn von Kronhelm gluͤcklich verlaſſen habe? Jch
komm hinuͤber, ſagte Siegwart, wenn Sie es er-
lauben wollen. Nach einer halben Stunde gieng
er hinuͤber, und brachte dem Hofrath tauſend Em-
pfehlungen von Kronhelm. Der Hofrath lobte
ihn ſehr. Mariane war nicht gegenwaͤrtig. Sieg-
wart war daruͤber innerlich ſehr unruhig, aber ſei-
ne Verwirrung ſchien von der Trennung von Kron-
helm herzuruͤhren. Nach anderthalb Stunden wollte
er wieder gehen. Der Hofrath ſagte aber, ob
er nicht noch auf ſeine Tochter warten wolle? Sie
muͤſſe alle Augenblicke von einem Beſuch bey einer
Freundin zuruͤckkommen. Dieß war eine Herz-
ſtaͤrkung fuͤr unſern kranken Juͤngling.
Nach einer Viertelſtunde kam ſein Engel. Ver-
zeihn Sie! war ihr erſtes Wort. Jch vermuthe-
te Sie hier, aber ich konnte mich nicht losreiſſen.
Jſt er gluͤcklich fortgekommen? — Tauſend Gruͤſſe,
ſagte er; der Abſchied war unendlich ſchmerzlich fuͤr
uns beyde. Ach, ich glaub es; verſetzte ſie, und
ſeufzte. Nach einigen Erzaͤhlungen ging der Hof-
rath auf ſein Zimmer, weil er Geſchaͤfte hatte.
Siegwart ſank in Marianens Arm, und weinte.
Eine Stunde lang konnte er nichts, als ſeufzen.
Sein Mund hing feſt am ihrigen, und Thraͤnen
miſchten ſich in ihre Kuͤſſe. Verzeihn Sie, Theu-
re! ſagte er, ich kann heut nicht ſprechen. Gott
weis, wie mir zu Muth iſt! Haͤtt’ ich Sie nicht,
ich verginge. — Sie ſtreichelte ihm die Thraͤnen
von den Wangen, oder kuͤßte ſie weg. Nach einer
halben Stunde hoͤrten ſie ein Geraͤuſch. Mariane
ſprang ans Klavier und ſpielte eine Phantaſie. Es
kam niemand auf das Geraͤuſch. Sie ſpielte eine
traurige Opernarie von Haſſe. Es war ein Ab-
ſchiedslied. Das Wort: Adio! war drinn auſſer-
ordentlich ausgedruͤckt. Sie hatte ausgeſpielt, und
ſah ihn an. Er wollte eben an ihr Herz ſinken,
als der Hofrath wieder ins Zimmer kam. Nach
einer Viertelſtunde ging Siegwart weg. Zu Hauſe
machte er ein Lied:
Nach Kronhelms zweyten Abſchied.
Graͤnzt die Freude denn hienieden
Jmmer nur an Traurigkeit?
Jſt uns denn kein Gluͤck beſchieden,
Das ſich ohne Thraͤnen freut?
Kronhelm, ach, und du, Erwaͤhlte,
Schmerz und Wonne ſchafft ihr mir!
Kaum daß Liebe nicht mehr quaͤlte,
Quaͤlet Freundſchaft mich dafuͤr.
Kaum daß Sie dem wunden Herzen
Endlich Linderung ertheilt,
Wird mit neuen bangen Schmerzen
Die zerrißne Bruſt zertheilt.
An die Eine Seite ſinket
Das erflehte Maͤdchen hin;
Ach, und von der andern winket
Unerforſchte Schickung ihn.
Wandl’, o Freund! nach tauſend Thraͤnen,
Dem erweinten Maͤdchen zu!
Erndte, nach ſo langem Sehnen,
Der erweichten Liebe Ruh!
Und Du, Mariane, eile,
Segen laͤchelnd, an mein Herz,
Und umarme mich, und heile
Der verlaßnen Freundſchaft Schmerz!
Den andern Tag gieng Siegwart traurig und
niedergeſchlagen umher. Der Schmerz um ſeinen
verlohrnen Freuud begleitete ihn aller Orten hin.
Seine Mariane konnte er nur ſehen, aber nicht
ſprechen. Abends fieng er einen ſehr wehmuͤthigen
Brief an Kronhelm an. Den Tag drauf erhielt
er folgenden Brief von Thereſen.
Allerliebſter Bruder!
Jch eile, dir die angenehmſte Nachricht zu
ſchreiben. Vor drey Tagen ließ ſich ein fremder
Herr bey unſerm theuren Vater melden. Wir
machten uns ſo ſchnell als moͤglich auf ſeine An-
kunft gefaßt. Er war ſehr hoͤflich, und bat ſich, auf
eine angenehme Art, ſelbſt zu Gaſt. Er hatte
aber ſeine eigne Kuͤche und drey Bediente bey ſich,
die ihn Herr geheimer Rath nannten. Jch war
in der Kuͤche, und machte einige Zuruͤſtungen. Er
frug aber nach mir, und ſagte, daß ich nothwen-
dig mit bey Tiſche ſeyn muͤſſe. Du kannſt dir nicht
vorſtellen, wie leutſelig und herablaſſend der Herr
war, und trug doch einen Stern auf der Bruſt.
Aber ob er gleich ſo vornehm ausſah, ſo muſt ich
ihn doch lieb haben, denn er hatte nicht den ge-
ringſten Stolz an ſich. Mit mir gab er ſich viel
ab, und fragte mich allerley aus. Sie ſind ja ſo
blaß, liebes Jungferchen, ſagte er; in Jhrem Au-
ge ſitzt ſo etwas; iſts vielleicht ungluͤckliche Liebe?
Jch ward feuerroth, und konnt ihn lange nicht
mehr anſehn. Er lobte mich auch gegen unſern l.
Vater ſo, daß ich gern weit weg geweſen waͤre,
ob mirs gleich im Herzen wohl that, von einem ſo
braven Mann gelobt zu werden. Mit dem l. Va-
ter gieng er auf einen recht vertraulichen Fuß um,
daß dieſer ganz vergnuͤgt und offenherzig wurde.
Einmal, als die Bedienten weg waren, wendete er
ſich ſchnell zu mir, und ſagte: Kennen Sie nicht
einen jungen Kronhelm? dabey ſah er mich ſo ſteif
ins Auge, als ob er mir durchſehen wollte. Gott
weis, wie mir da auf Einmal wurde? Mein Ge-
ſicht brannte. Jch weis nicht, was ich zur Ant-
wort gab? Jch glaub, ich ſagte: Ja, ich kenn ihn.
Er iſt mein Neffe, ſagte er; ich heiß auch Kron-
helm. Unſer Vater ſtand auf, weil der Herr ſehr
viel in Muͤnchen gilt, und wollte ſich wegen ſei-
ner Vertraulichkeit entſchuldigen. Er muſte aber
gleich wieder nieder ſitzen. Wir ſind gute Freun-
de, Herr Amtmann, ſagte er, und muͤſſen uns
noch naͤher kennen lernen. Keine Komplimente! —
So kennt Sie meinen Neffen, gutes Maͤdchen,
und liebt ihn auch? Nicht wahr? Scheuen
Sie ſich nur nicht, es zu ſagen! Jch bins wohl zu-
frieden! Er verdient Sie, und iſt Jhnen auch gewiß
recht gut. Faſſen Sie ſich nur! Es iſt mir recht
lieb. Mein Wort haben Sie. — O liebſter Bru-
der, es war mein Gluͤck, daß er ſo freundlich war,
und daß ich weinen konnte; ſonſt waͤre mein
Herz zerſprungen. Jch muſte mein Schnupftuch
vors Geſicht halten, ſo ſehr weint ich. — Dieſe
Thraͤnen ſind alles werth, ſagte er; und dann zu
unſerm Vater: Unſre Kinder ſind einander auch
werth; nicht wahr, lieber Herr Amtmann? Mein
Neffe hat eine gute Wahl getroffen. Ein ſolches
Maͤdchen haͤtt ich in meiner Jugend auch geheira-
thet, wenn ich eins gefunden haͤtte. Jhr ſollt mir
an Kindesſtatt ſeyn! Sie lieben ihn doch noch
recht herzlich? — Hier nahm er mich bey der
Hand. O Bruder, ich dacht, ich haͤlt in Thraͤnen
zerflieſſen moͤgen. So ein Herr iſt mehr werth,
als die ganze Welt! Unſer beſter Vater ſprach kein
Wort, und ward ganz blaß. — Mein Bruder
iſt ein harter Mann, ſagte der geheime Rath.
Jch will ernſtlich mit ihm reden. Morgen reis
ich zu ihm. Wenn er nicht nachgiebt, ſo nehm
ich mich meines Vetters an; ich kann ihm ſchon
Vermoͤgen geben, denn ich habe keine Kinder. —
Dann redete er mit unſerm Vater allerley ab.
Mir ſagte er, ich ſollte guten Muth faſſen, und
mich gar nichts anfechten laſſen; ſein Vetter muͤſſe
mein ſeyn! und was er ſonſt noch ſchoͤnes ſagte,
das ich vor Freuden nicht alle merken konnte. Er
verſprach, in etlich Wochen Richtigkeit zu machen,
und dem lieben Vater, und mir ſelbſt zu ſchreiben.
Gegen Abend fuhr er wieder weg. Unſern Vater
umarmte er, wie ein Bruder den andern; und mich
kuͤßte er auf die Backe, und ſagte: Mein Vetter
wird doch nicht eiferſuͤchtig werden? Wir ſchickten
ihm 1000 heiſſe Segenswuͤnſche nach.
O Bruder, ich kann dir nicht ſagen, was alles
in mir vorgeht? Es iſt, als ob ich ein ganz neues
Leben anfienge. Die Welt hat ſich um mich her
veraͤndert. Die Thraͤnen ſtehen mir immer in
den Augen, und ich kanns noch kaum glauben,
was ſich mit mir zugetragen hat. Meinen Kron-
helm, meinen ewig, ewig theuren Kronhelm ſoil
ich wieder haben! Groſſer Gott! Meine Leiden
waren zwar ſehr groß, aber dieſen Lohn, dieſes
alles uͤberwiegende Gluͤck hab ich nicht verdient.
O mach michs wuͤrdig! Mach michs wuͤrdig! —
Bruder, was iſt alles Leiden dieſer Zeit gegen
ſo eine Stunde? — Und doch — iſt mir oft ſo
bang! Jch habe ſo ſchwarze Ahndungen, ſo
ſchwere Traͤume! Jch fuͤrcht immer noch, ich ver-
lier es wieder. — Groſſer Gott, vergib mir, wenn
es Undank oder Mistrauen iſt? Hilf mein Gluͤck
mir ertragen! Mir iſts noch zu ſchwer! — Tau-
ſend, tauſend Gruͤſſe und Umarmungen an meinen,
meinen Kronhelm! Jch kann ihm noch nicht
ſchreiben. Bruder, Gott weis, ich kann nicht!
Mein Herz iſt noch gar zu voll. Hilf mir be-
ten, und Gott danken! Unſer beſter Vater iſt
wie neugebohren und gruͤßt tauſendmal. Gott!
wie hat ſich alles mit uns veraͤndert! — Jch
weis, du nimmſt an meinem Gluͤck Antheil.
O Bruder, Gott mache dich doch auch recht
gluͤcklich! Schreib mir doch bald
deiner unausſprechlich gluͤcklichen Schweſter
Thereſe Siegwart.
Siegwart konnte ſich der Freudenthraͤnen
nicht enthalten, als er dieſen Brief geleſen hatte.
Gott, wie gut biſt du! rief er einigemal aus.
Dank! Dank! Du kannſt mich auch nicht ver-
laſſen! O mein Kronhelm, o mein Kronhelm,
du biſt gluͤcklich! O meine Schweſter, meine
Schweſter! — Er warf ſich auf ſeine Knie. Gott!
Barmherziger, Gnaͤdiger! O, auch mich, auch
mich! Und Marianen! — Der halbe Tag zerfloß
ihm unter einem fortdaurenden Taumel. Bald
ſchrieb er etliche Zeilen in dem Brief an Kronhelm!
Bald gieng er wieder auf dem Zimmer auf und
ab. Zuweilen grif er nach einem Buche, wollte
drinn leſen, und ſchlug es wieder zu; ſeine Seele
war viel zu zerſtreut, und ganz getheilt. Er ſehn-
te ſich nach jemand, dem er ſeine Freude mitthei-
len koͤnnte; aber, ach, er hatte niemand, und
nun fuͤhlte er, mitten in ſeiner Freude, die Tren-
nung von ſeinem Kronhelm doppelt wieder. Er
ſah Marianen am Fenſter: er wuͤnſchte, ihr den
Brief zeigen, und ſie an ſeiner Freude mit Antheil
nehmen laſſen zu koͤnnen; aber er wagte es nicht,
ſie wieder zu beſuchen, da er erſt vor zwey Tagen
da geweſen war. Nach Tiſche ſah er ſie mit ihrem
Bruder ausgehn, und vermuthete, da ſie einen
C c c
Sonnenſchirm trug, daß ſie vor das Thor gehen
werde.
Er zog ſich auch an, und gieng vor das naͤchſte
beſte Thor, weil er nicht wuſte, wo ſie hingegan-
gen war. Es war ſchon ein voͤlliger Fruͤhlingstag,
die Sonne ſchien warm, alle Kraͤuter und Fruͤh-
lingsblumen keimten ſchon hervor; die Lerchen ſan-
gen in der Luft, und die Aemmerlinge, Zaunkoͤni-
ge und andre Voͤgel im Gebuͤſch. Seine Seele
ſchwang ſich mit den Lerchen auf, und freute ſich
der reinen aufgehellten Luft. Freude und Weh-
muth graͤnzten aneinander; er war bewegt, daß
ſein Aug in Thraͤnen glaͤnzte. Er ſehnte ſich nach
Marianen, aber ſie war nirgends. Von fern ſah
er ein Frauenzimmer gehn; ſein Herz klopfte; er
eilte, um ſie einzuholen; aber es war nicht ſein En-
gel, und er ward noch wehmuͤthiger. An einer
etwas erhoͤhten Stelle, die von einer Dornhecke
geſchuͤtzt war, fand er endlich blaue Veilchen. Er
ſchrie laut auf, als er ſie ſah, pfluͤckte, und band
ſie mit einem Grashalm in ein Straͤuschen. Haͤtt’
euch Mariane! ſagte er halb laut; moͤchtet ihr
an ihrem Buſen bluͤhn! — O Kronhelm, waͤrſt
doch du da! Aber du biſt gluͤcklich, und ich kann
dich nicht beneiden! Singend, und mit ſich ſelber
ſprechend gieng er wieder nach der Stadt zu.
Nur ſo allein, Herr Siegwart? rief eine Stim-
me aus einem Gartenhaͤuschen. Stutzend ſah er
auf, und erblickte Marianen. Sie rief ihm in den
Garten. Sind Sie hier? ſagte er; ich habe Sie
geſucht. Jch ſahs, daß ſie ausgiengen. Das iſt
mein Garten, antwortete ſie. Jch haͤtts Jhnen
gern wiſſen laſſen, daß ich hier bin, aber ich konn-
te nicht. — Wo iſt Jhr Bruder? fragte er. Auf
die Jagd gegangen, war die Antwort. Das iſt
ja erwuͤnſcht, daß Sie hier ſind. Was machen
Sie? trauren Sie noch um Jhren Kronhelm? —
Hierauf erzaͤhlte er ihr die freudige Nachricht, die
er heut von ſeiner Schweſter erhalten hatte, und
gab ihr den Brief zu leſen. Sie nahm herzlichen
Antheil daran, und freute ſich uͤber das Zutrauen
ſehr, das ihr Juͤngling zu ihr hatte. — Darf ihr
Bruder mich hier antreffen? fragte nachher Sieg-
wart — O ja, antwortete ſie. Er iſt Jhnen jetzt
recht gut. Man muß ſchon ein uͤbriges bey dem
Menſchen thun. Wenn man nur ihm nicht im
Wege ſteht, dann laͤſt er einen ſchon zufrieden.
Mein Vater iſt Jhnen auch ſehr gut, und beſon-
ders meine Mutter. Jch glaube, daß ſie etwas
merkt, und wenn ſie mich drum fragen ſollte, ſo
wuͤſt ich nicht, warum ich ein Geheimniß draus
machen muͤſte, wenn nur Sie mir gut ſind. —
Er ſank in ihren Arm, kuͤßte ſie feurig, und
ſchwur ihr ewig Liebe.
Der ganze Abend war fuͤr unſre Liebende ein
heiliges Feſt. Der Bruder kam erſt nach zwo
Stunden wieder, und war ſehr vergnuͤgt, weil er
ein paar Haſen geſchoſſen hatte. Siegwart be-
gleitete ſein Maͤdchen nach Haus, und hatte nie
einen ſchoͤnern Fruͤhlingstag gehabt.
Zween Tage drauf kam der Miethkutſcher wie-
der, der Kronhelm nach Haus gebracht hatte, und
brachte von ihm folgendes Briefchen an Siegwart:
Liebſter Bruder!
Den Augenblick bin ich angekommen, und kann
alſo noch nichts ſagen. Die Reiſe war mir trau-
rig, ſo allein, und von dir getrennt, den ich ſo
ſehr liebe! Mein Vater empfieng mich, nach ſeiner
Art, freundlich, und iſt lange ſo krank nicht, als
ich glaubte. Er konnte im Zimmer auf und abgehn,
als ich ankam. Er fuͤrchtet eben den Tod, daher
war er ſo beſorgt beym letztern Anfall. O Bruder,
was werd ich hier anfangen unter ſolchen Leuten?
Du verſtehſt mich. Warum muſten wir uns tren-
nen? Mein Herz iſt voll von tauſend Dingen,
aber jetzt kann ichs nicht ausſchuͤtten vor dir. Naͤch-
ſtens einen großen Brief! Schreib mir ja bald!
Was macht Mariane? Tauſend Gruͤſſe an den En-
gel, und dem andern zehntauſend! Leb wohl, Be-
ſter! Der Fuhrmann will weiter, und ich wollt
ihn doch nicht leer fahren laſſen.
Ewig dein!
Kronhelm.
N. S. Mach uͤber deinen Brief an mich zwey
Kouverte, und auf das aͤuſſere die Aufſchrift: Herrn
Amtmann Friedrich. Der Brief wird mir richtig
eingehaͤndigt.
Siegwart hatte nur auf dieſen Brief und Nach-
richt von ſeinem Freund gewartet, um ſeinen Brief
abſchicken zu koͤnnen; denn er hatte noch keine Adreſ-
ſe gehabt. Nun ſchrieb er umſtaͤndlich und mit
groſſen Freuden alles, was ihm Thereſe berichtet
hatte, wuͤnſchte ſeinem Kronhelm tauſend Gluͤck
und ſchickte den Brief ab. Das wird eine Freude
ſeyn, dacht’ er, wenn er noch nichts weiß, und
dieſen Brief erbricht! Nun wird er fuͤr alle ſeine
Leiden getroͤſtet werden.
Zehn Tage lang wartete er mit der groͤſten
Sehnſucht, aber nur vergeblich, auf neue Nach-
richten. Endlich kam an einem Mittewochen, wel-
ches nicht der gewoͤhnliche Poſttag war, folgen-
der Brief:
Guͤnzburg den 21. May.
Liebſter Bruder!
Seit drey Tagen bin ich hier, in der ſchrecklich-
ſten Verfaſſung, die du dir denken kannſt. Alles,
alles iſt verlohren! Meine Ruhe, meine Hoffnung,
meine Thereſe, alles! O Bruder, es iſt aus mit
mir! Zwey Tage war ich bey meinem Vater, da
giengs an. Seine Krankheit war nur ein Vorge-
ben, um mich her zu locken. Eines Abends war
ich allein bey ihm auf dem Zimmer. Wie ſtehts
mit deinem Menſchen? ſagte er; haͤngſt du ihr noch
an? Jch weiß nicht, ob ſie die Jungfer Siegwart
meynen? ſagte ich. Jch habe noch alle Urſache,
ſie hochzuſchaͤtzen. — Was? Canaille! rief er, und
das wagſt du mir ins Geſicht zu ſagen? Daß dich
alle Teufel holen! Jch zertrete dich, du Ra-
benaas! — Mit dieſen Worten kam er auf mich zu,
packte mich bey der Kehle feſt, und wuͤrde mich er-
wuͤrgt haben, wenn ich mich nicht vorgeſehn, und
losgeriſſen haͤtte. Kaum konnt ich mich zuruͤckhal-
ten, mich an ihm nicht zu vergreifen. Als ich los
war, ſprang ich aus dem Zimmer aufs meinige,
und ſchloß hinter mir zu. Jch hoͤrt ihn noch eine
Stunde lang im Haus herum laͤrmen, und die
Thuͤren zuſchlagen. Kurz vor Sonnenuntergang
ritt er weg; ich wuſte nicht, wohin? Meine Schwe-
ſter kam erſchrocken zu mir aufs Zimmer, weinte
und ſchrie, und bat faſt auf den Knien, daß ich
mich doch geben ſollte; ſonſt koͤnns kein Menſch
mehr aushalten bey dem Vater. Schon ſeit vier-
zehn Tagen ſey man nicht des Lebens bey ihm ſicher,
ſeit mein Onkel weg ſey. Dieſer war nehmlich
bey ihm hier, und da gabs groſſen Streit, ver-
muthlich wegen meiner. Jch konnte nichts Gewiſ-
ſes erfahren, denn ſie ſprachen allein miteinander.
Meine Schweſter that gar klaͤglich, aber ich ſagt
ihr: Jch koͤnn es nun nicht aͤndern; Thereſen koͤnn
ich nicht aufgeben, wenn es auch mein Leben ko-
ſten ſollte, u. ſ. w. Du weiſt das alle ſelbſt ſchon.
Das Maͤdchen konnte mir nicht Unrecht geben, aber
ſie ſagte nur: Jch ſtuͤrzte mich, und Thereſen, und
ſie alle in Lebensgefahr. Kunigunde ſtecke dahinter,
und regiere meinen Vater ganz. Er ſey wie ra-
ſend, und koͤnn’ alles thun, u. ſ. w. Jch beſchloß
alſo, wegzugehen; weiß der liebe Gott wohin?
und machte meine Einrichtungen ſo, daß ich in
drey oder vier Tagen auf die Jagd zu reiten, und
nicht mehr zuruͤck zu kommen dachte. Aber es
gieng anders.
Den andern Morgen kam mein Vater wieder,
that ganz freundlich, und ſtellte ſich, als obs ihm
leid waͤre, daß er geſtern ſo mit mir umgegangen
war. Auf den Nachmittag, ſagte er, wollen wir
ein wenig auf die Jagd reiten, und das uͤbrige,
zu ſeiner Zeit, im Frieden mit einander abthun.
Jch konnte mich in ſein Betragen nicht finden,
und vermuthete nichts Gutes; doch konnt ichs auch
nicht abſchlagen, mit zu reiten. Wir ritten in
einen Forſt, eine Stunde weit vom Dorf, nur
mit Einem Jaͤger; und, nach einigen Schuͤſſen, ſagte
er: wir wollen aufs naͤchſte Dorf zum Amtmann
reiten; ich muß etwas trinken. Von der Sache
ſprach er gar nichts.
Beym Amtmann war der Baron Striebel; wie
es ſchien, ganz von ungefaͤhr. Der Amtmann ſah
aus, wie ein Spitzbube, dem ich keinen Heller an-
vertrauen moͤchte. Nach drey Viertelſtunden kam
ein Wagen mit dem alten Seilberg, mit Regine
Stellmann, und dem luͤderlichen Jobſt. Das
kam mir bedenklich vor; aber ich merkte weiter
nichts. Die Stellmann war mir jetzt mit ihrer
buhleriſchen Freundlichkeit noch unausſtehlicher, weil
ich von meiner Schweſter wuſte, was ſie ſeit der
Zeit mit dem ſuͤſſen Silberling fuͤr einen aͤrgerlichen
Liebeshandel gehabt hatte. Jch haͤtte ſie lieber an-
ſpeyen, als viel mit ihr machen moͤgen, und doch
war ſie ſo zuthaͤtig, daß ich nicht wuſte, wohin?
Man ſprach mir ſtark zu, zu trinken, und im
Aerger trank ich ziemlich. Nach und nach fielen
von Seiten Jobſts und meines Vaters, und des
Amtmanns allerley Anſpielungen vor: Wir gaͤben
ſo ein huͤbſches Paar ab, u. ſ. w. daß ich wol
merken konnte, es ſey abgekartet, und auf mich
gemuͤnzt. Jch that aber, als ob ichs nicht hoͤrte,
oder nicht verſtuͤnde. Jch ſah immer auf der Uhr,
und ſehnte mich weit weg. Einmal gieng ich in
den Stall hinunter, ſah nach meinem Pferd,
und machte etwas am Gurt zurechte, das vorher
auf der Jagd aufgegangen war. Jch hielt mich mit
Fleiß lang auf, und kam erſt nach einer Viertel-
ſtunde wieder aufs Zimmer. Da ſaſſen ſie all auf
Einem Haufen, ſteckten die Koͤpfe zuſammen, und
fuhren auseinander, als ich herein trat. Das
machte mich nun noch ſtutziger. Mein Vater ſagte:
Hoͤr, Karl, das Fraͤulein hier wollt ich dir eben
wuͤnſchen! Sie iſt ſchoͤn, hat Geld, und iſt von
ſteinaltem Adel. — Verzeihen Sie, Papa, ſagt
ich, und zuckte die Achſeln; Sie wiſſen … Ey
was? rief er, freylich weis ich! Aber, ſchlag mich
der Donner, da wird nichts draus! Lieber zieh
ich dir die Haut ab! — Es leb Fraͤulein Stell-
mann! Trinks mit! — Jch konnts, ohne die
Hoͤflichkeit zu beleidigen, nicht abſchlagen. — So,
Karl, das iſt brav! Jhr muͤſt ein Paar werden;
nicht wahr, Fraͤulein? — Sie ſah mir unverſchaͤmt
ins Geſicht, lachte, und gab mir die Hand.
Jch ließ es ſo geſchehen, weil ich dachte, hier
wird doch nichts ausgemacht, und allein will ich
ſchon mit ihm reden. —
Schade, daß nicht gleich ein Pfaff bey
der Hand iſt! ſagte mein Vater; man koͤnnt ſie
gleich zuſammengeben. — O, da iſt Rath vor, ſagte
der Amtmann, hier iſt ſchon ein Pfarrer! indem
machte er ein Seitenzimmer auf, und ein dicker
Pfaffe trat heraus. Jch riß mich von der Stell-
mann los, und ſprang auf. Papa, rief ich, iſt
das Ernſt? Freylich, Kerl, rief er, und riegelte
die Saalthuͤre zu. Man wird dich ſchon krie-
gen, du vermaledeyte Beſtie! — Jch ward in
dem Augenblick wie raſend, und ſprang in das
Zimmer hinter mir, das aus Verſehen offen ge-
blieben war, und ſchlug die Thuͤre zu, daß das
Schloß zuruͤckfuhr. Von da gieng eine Thuͤre
nach dem aͤuſſern Saal; ich hinaus, die Treppe
hinunter, in den Stall aufs Pferd, und beym
Hof hinaus! Vom Fenſter herab geſchah ein
Schuß, der mir nichts that. — Nach! Nach!
ſchrie mein Vater. Jch flog beym Dorf
hinaus, wie der Blitz. Beym letzten Haus
hoͤrt’ ich ſchon hinter mir her galoppiren. Mein
Vater wars, mit 3 oder 4 andern Neutern. Sie
waren mir ſchon ſo ganz nah auſ dem Hals, daß
ich ihn fluchen hoͤren konnte. Ueber einen breiten
tiefen Grafen ſetzt ich wie der Wind. Es geſchah
noch einmal ein Schuß. Mein Pferd wendete
ſeitwaͤrts. Auf Einmal entſtand ein ſchreckliches
Geſchrey. Jch ſah mich um, und ſah eben noch
meinen Vater in den Graben ſtuͤrzen. Jch nahm
mir nicht Zeit, nochmals umzuſehn. Endlich,
nach einer halben Viertelſtunde merkt ich keinen
Menſchen mehr hinter mir. Vermuthlich waren
ſie bey meinem Vater geblieben, um ihm aufzu-
helfen. — Jch ritt links in einen dicken Wald
hinein. Nach einer guten halben Stunde fand
ich einen Holzweg, auf dem ich gerade fort ritt.
Es ward ſchon ſehr dunkel, und der Weg war
mir gaͤnzlich unbekannt. Endlich kam ich aus
dem Holz, und ungefaͤhr um eilf Uhr in ein
Dorf, wo ich noch in einer Huͤtte Licht ſah und
mich erkundigte, wo ich waͤre? Ein altes Muͤt-
terchen ſagte mir, das Dorf heiſſe Reiſensburg,
und lieg eine gute halbe Stunde von Guͤnzburg.
Mit dem Namen: Guͤnzburg fuhr der Gedanke
durch meine Seele, unter die kaiſerlichen Voͤlker
zu gehen, und mich bey unſerm Hauptmann an-
werben zu laſſen. Bey dem Gedanken ward mir
auf Einmal wohl, denn ich ſah nun einen Aus-
weg, da mirs vorher war, als ob ich in einem
Jrrgang wandelte. Krieg und Tod war mir Eins;
denn was kann ich anders wuͤnſchen, als den
Tod? — Jch ſpornte mein Pferd, und kam nach
einer Viertelſtunde zu Guͤnzburg an. Jn der
Krone ſtieg ich ab, weil ich wuſte, daß der Haupt-
mann da logirt; und als ich hoͤrte, daß er noch
nicht zu Bette ſey, ließ ich mich bey ihm melden,
und trug ihm meine Abſicht vor. Er nahm mich
mit Freuden auf, und nun geh ich in vier oder
fuͤnf Tagen auf der Donau als Freywilliger mit
dem Transport nach Schleſien, wo vermuthlich
eine Kugel auf mich wartet, und meiner Qual ein
Ende macht.
O Bruder, ſo weit iſts mit mir gekommen.
Das ſind nun meine Hoffnungen! Gott, was wird
aus Thereſen werden? Schick ihr dieſen Brief,
wenn dus fuͤr gut haͤltſt, und ſchreib ihr das uͤbri-
ge! Troͤſt ſie, wenn du kannſt! Jch bins nicht im
Stand. An meinen Onkel hab ich vor 2 Tagen
geſchrieben, daß er Sorge traͤgt, daß ihr mein Va-
ter nichts thut, und daß er mir Geld ſchickt, denn
ich hab nur 15 Gulden bey mir, und mein Pferd
nehm ich mit. Der Hauptmann will mir indeſſen
Geld auf den Weg mitgeben. Mein Onkel kann
meinen Schritt unmoͤglich misbilligen; es war mir
nichts anders uͤbrig. Jch gehe nicht aus dem Haus,
um nicht entdeckt zu werden; ſonſt waͤr ich zum
P. Philipp gegangen. Schreib mir unter der
Adreſſe an den Hauptmann!
Jch kann dir nicht ſagen, wie mir iſt. An The-
reſen darf ich kaum gedenken, und doch iſt ſie faſt
mein einziger Gedanke. Sie auf ewig nun ver-
lieren! Sie auf ewig nicht mehr ſehen! Und doch
iſt dieß all mein Troſt, daß ich nun dem Tod ent-
gegen gehe. Die Preuſſen ſchieſſen gut, und ich
will mich immer dahin ſtellen, wo der Tod am
naͤchſten iſt. O Bruder, ich kann nicht anders.
Jch will meine Pflicht thun, als Soldat, aber
dann muß der Tod mein Lohn ſeyn. Mein Va-
ter mags bey Gott verantworten, daß er mich ſo
weit gebracht hat! — Troͤſte meinen Engel! Dieß
iſt alles, was du thun kannſt. Leb wohl, Bruder,
ewig wohl! Vielleicht kriegſt du bald den letzten
Brief von mir. Hab Dank fuͤr alle deine viele
Liebe! Gruͤß deine Mariane! Laß ſie mich bedau-
ren! Gott bewahre dich vor einem ſo ſchrecklichen
Schickſal, wie das meine iſt! Beth fuͤr mich, daß
ich ſelig ſterbe! Jch muß abbrechen. Es wird
mir baͤnger ums Herz. Troͤſte Thereſen, daß einſt
Gott dich troͤſte! Leb ewig wohl, und bewein
mich! Schreib ja bald! Der Hauptmann ſchickt
mir den Brief nach.
Ewig, bis an meinen Tod
der Deinige.
Kronhelm.
Jn dem Brief lag folgendes Blatt an
Thereſen, unverſiegelt:
Was ſoll ich, ach, was ſoll ich der Geliebten
meiner Seele ſchreiben? Auch der letzte, ſchwache
Rohrſtab iſt zerbrochen, den die Hoffnung mir
gereicht hatte. Dein Bruder, ewig Theure! mag
mein Ungluͤck dir erzaͤhlen! Jch kanns nicht. Die-
ſe blutigen Zaͤhren, die ich auf das Blatt hin wei-
ne, ſind das Letzte, was ich dir in dieſem Leben
weihen kann. Meine Seele iſt tief gebeugt zur
Erden, und ſchmachtet nach dem Grabe. Dir zu
leben, war der Wunſch, der mich bisher noch an
den Leib feſſelte. Nun er hin iſt, kenn’ ich kei-
nen Wunſch mehr, als fuͤr dich zu ſterben. Jch
eile dahin, wo der Tod laurt. Jch will ihn aus
ſeinem Hinterhalt herausweinen, daß er komm,
und mich in ſeinen eiſernen Arm ſchließe. — O
Thereſe! Was ich wuͤnſchen kann fuͤr mich, iſt ei-
ne Thraͤne, daß du ſie dem Juͤngling weineſt, der
dich liebte, wie kein Sterblicher geliebt hat. Wei-
ne ſie, und ſey dann gluͤcklich, wenn dus ſeyn
kannſt ohne mich! — Jch hab keinen Troſt fuͤr
dich! Wie kann der troͤſten, der ſonſt keinen
Freund hat, als den Tod! Bethen kann ich, wenn
noch das Gebeth des Elends hilft. Gott! Nur ei-
nen Tropfen Troſt fuͤr ſie! Jch will gerne durſten,
bis mein Ende koͤmmt. — Thereſe! Nicht wahr,
ich quaͤle dich? Nun, verzeih! Jch wuſt es nicht;
ſonſt haͤtt ich meine Hand gelaͤhmt, eh ich dieſes
Blatt ſchrieb! — Aber ich muſte noch zu dir reden.
Leb denn wohl, Engel! und hab Dank fuͤr deine
Liebe! Gott, warum muſte ſie doch ſo belohnt wer-
den? Leb ewig wohl! Jch kann nichts ſchreiben.
Meine Saͤfte ſtocken. Aber reden mußt’ ich. Wenn
Du Bothſchaft hoͤrſt: Er iſt todt, dann jauchze
laut auf, und ſag: Er iſt gluͤcklich. — Ach The-
reſe, wenn Du doch auch ſtuͤrbeſt! Es iſt ſo was
ſuͤſſes um den Tod, und wir ſind ſo elend. Stuͤrbſt
Du doch mit Deinem
Kronhelm.
Die Bewegung, in die unſer Siegwart durch
dieſe beyden Briefe gerieth, kann man ſich mehr
vorſtellen, als beſchreiben. Anfangs war er ganz
betaͤubt, und konnte es kaum glauben; zuletzt brach
ſein Schmerz in laute Klagen und in Thraͤnen
aus. Nach der erſten heftigen Erſchuͤtterung fieng
er an, Plane zu machen, ob ſein Freund nicht noch
zu retten ſey? Erſt beſchloß er, nach Guͤnzburg zu
reiten, und, wo moͤglich, ſeinen Freund noch zu-
ruͤck zu halten. Aber, was ſollte er ihm ſagen?
Welche Gruͤnde hatte er, durch die er ihn zuruͤck
halten koͤnnte? Und der Weg war weit. Vie-
leicht war ſein Freund indeſſen ſchon abgereiſt.
Endlich, nach tauſend Entwuͤrfen, die im erſten
Augenblick annehmlich ſchienen, und im zweyten
wieder verworfen wurden, ſchien ihm dieſer noch
der beſte zu ſeyn, nach Muͤnchen zu Kronhelms
Onkel zu reiſen, ihm die Sache ſo dringend vorzu-
ſtellen, als moͤglich, und ihn zu bewegen, ſich ſeines
Vetters thaͤtig anzunehmen, ihn aufs ſchleunigſte zu
retten, und entweder ſelbſt ſogleich nach Guͤnzburg
zu reiſen, oder ihn mit genugſamer Vollmacht da-
hin zu ſchicken. Er beſtellte ſich ſogleich ein Pferd,
um weg zu reiten, und den andern Tag in Muͤn-
chen zu ſeyn. Nur das lag ihm am Herzen, daß
Mariane die Urſache ſeiner Reiſe erfahren moͤchte!
Zu gutem Gluͤck traf er ihren Bruder an; erzaͤhlte
ihm, daß er in Kronhelms Geſchaͤften ſchnell nach
Muͤnchen reiſen muͤſte; und bat ihn, es ſeinen
Eltern und ſeiner Schweſter zu erzaͤhlen, und ihnen
ſeine vielfache Empfehlung zu machen.
Nach einer Stunde ritt er weg, und ſah, zu ſei-
ner groͤſten Freude, ſeine Mariane noch im Fenſter,
der er einen zaͤrtlichen Blick zuwarf.
Er ritt bis ſpaͤt in die Nacht hinein; ſchlief auf
einem Dorf nur einige Stunden, und kam den an-
dern Abend in Muͤnchen an; aber, weils ſchon
ſpaͤt war, wagte er es nicht mehr, zum geheimen
Rath zu gehen. Den folgenden Morgen ließ er
D d d
ſich durch einen Miethbedienten nach dem Hauſe
bringen und melden. Aber zu ſeiner groſſen Be-
ſtuͤrzung hoͤrte er, der geheime Rath ſey nicht hier.
Er erkundigte ſich bey einem Bedienten; dieſer gab
ihm kurzen Beſcheid, und ſagte, ſein Herr ſey ſchon
vor drey Tagen mit ſeinem Kammerdiener unver-
muthet auf der Poſt abgereiſt, er wiſſe nicht, wo-
hin? Mehr konnte Siegwart nicht erfahren. Jn
der Betaͤubung lief er zu Kronhelms Schweſter,
die ihn ſogleich vor ſich ließ. Er erzaͤhlte ihr, in
der aͤuſſerſten Verwirrung, faſt ohne Zuſammen-
hang die ganze Geſchichte ihres Bruders, ſagte,
warum er nach Muͤnchen gekommen ſey, und frag-
te ſie, wo der geheime Rath hingereiſt ſey? —
Sie war aufs aͤuſſerſte betroffen, und hatte, wie
verſteinert, zugehoͤrt. Als ſie etwas von ihrem
Staunen zuruͤckkam, und ſich durch Thraͤnen Luft
gemacht hatte, ſagte ſie, ſie wiſſe vom geheimen
Rath und ſeiner ploͤtzlichen Abreiſe nicht das min-
deſte. Seit ſeiner Zuruͤckkunft habe ſie ihn nur
Einmal geſehen, und mit ihm von ihrem Bruder
geſprochen. Er habe ſie verſichert, daß es alles
gut gehen werde. Er ſey bey ihrem Vater geweſen,
dieſer nehme durchaus keine Gruͤnde an. Nun
woll er ſich ſeines Vetters ernſtlich annehmen. Er
kenne Thereſen; ſie hab ihm auſſerordentlich gefal-
len, und ſein Neffe ſoll ſie haben. Dieſe Nach-
richt habe ſie ganz beruhigt; ſie haͤtte wirklich ih-
rem Bruder geſchrieben, und geſtern den Brief
nach Jngolſtadt geſchickt; denn von ſeiner ploͤtzli-
chen Abreiſe, und der vorgeblichen Krankheit ihres
Vaters habe ſie nicht das geringſte gewußt. —
Nun fieng ſie aufs neue an, ihren ungluͤcklichen
Bruder zu beklagen, und bitterlich uͤber ſein Schick-
ſal zu weinen. Endlich fing ſie ſich mit Siegwart
zu berathſchlagen an, was nun zu thun waͤre? Er
wollte ſelbſt nach Guͤnzburg reiten, aber ſie wider-
rieth es ihm. Wahrſcheinlich, ſagte ſie, werden Sie
meinen Bruder, nach ſeinem eignen Schreiben,
nicht mehr da antreffen. Sollt er aber noch da
ſeyn, ſo koͤnnen wir durch einen Brief, der ohne-
dieß ſchneller hinkommt, eben das ausrichten. Wenn
wir ihn verſichern koͤnnen, daß mein Onkel ſich ſei-
ner ganz gewiß annehmen, und ihm Jhre Schwe-
ſter geben will, ſo muß ihn das zuruͤckhalten! Wir
wollen ihm jetzt augenblicklich ſchreiben; denn in
einer Stunde geht die Poſt ab. — Siegwart, der
ſich ohnehin ſehr nach ſeiner Mariane zuruͤckſehnte,
ließ ſich dieſen Vorſchlag gefallen, und gieng in ein
Kabinet, wo er einen ſehr beweglichen Brief an
ſeinen Kronhelm ſchrieb, und ihn um alles in der
Welt willen bat, in Guͤnzburg zu bleiben, oder,
wenn er ſchon abgegangen waͤre, ſogleich zuruͤckzu-
kehren, weil er von den Bemuͤhungen ſeines On-
kels alles hoffen, und gewiß mit Thereſen vereinigt
werden koͤnne. Die Frau von Eller ließ ihn ihren
auch ſehr ruͤhrenden Brief leſen, und ſchickte beyde
augenblicklich auf die Poſt. Sie bat ihn zum
Mittagseſſen. Er nahms an, ſagte aber, er wolle
heut noch wegreiten, um noch eine gute Strecke Wegs
zu machen. — Jhrem Mann, bat ſie, moͤcht er
nicht ſagen, warum er nach Muͤnchen gekommen
ſey? Weil er noch nichts davon wiſſe, und leicht
Hinderniſſe in den Weg legen koͤnnte. — Unſerm
Siegwart wurde nun wieder leichter ums Herz,
weil er Einen Stral von Hoffnung fuͤr ſeinen un-
gluͤcklichen Freund ſah. Er gieng in ſeinen Gaſt-
hof, um ſein Pferd auf den Nachmittag zu beſtel-
len; nach einer Stunde kam er wieder zu der Frau
von Eller, die indeſſen von ihrem Schrecken ſich er-
holt, und wegen ihres Bruders gute Hoffnung hat-
te. Sie lobte unſern Siegwart ſehr, daß er fuͤr
ſeinen Freund ſo viel thue, und die Reiſe uͤber-
nommen habe. Jhre Schweſter, ſagte ſie, muß
ein herrliches Maͤdchen ſeyn, wenn ſie Jhnen gleich
iſt. Jch kann meinem Bruder keine beßre Gattin
wuͤnſchen, und ſehne mich recht darnach, ſie bald
meine Schwaͤgerin zu nennen. Wenn nur mein
Onkel bald zuruͤckkommt, dann ſoll, hoff ich, alles
noch gut gehen. Jndem kam ihr Mann, und em-
pfieng unſern Siegwart freundlich. Er erkundigte
ſich nach ſeinem Schwager, und verwunderte ſich
uͤber ſeine ſo beſchleunigte Abreiſe von Jngolſtadt.
Bey Tiſch wurde viel uͤber den Junker Veit ge-
ſprochen. Sie beklagten ſich alle uͤber ſein rohes
Weſen, und daß er ſich ſo von Kunigunden regie-
ren laſſe.
Bald nach dem Eſſen empfahl ſich Siegwart,
nachdem er erſt noch einige Augenblicke mit der
Frau von Eller allein geſprochen hatte, und ritt
wieder nach Jngolſtadt zuruͤck. Unterwegs dachte
er nur an Kronhelm, an Thereſen, und an ſeine
Mariane. Er dachte hin und her, ob er ſeiner
Schweſter etwas von dem ungluͤcklichen Vorfall
ſchreiben ſollte? und konnte nicht mit ſich einig
werden. Den folgenden Tag kam er ſehr ſpaͤt
wieder in Jngolſtadt an, denn er wollte nicht noch
eine Nacht weg bleiben; der Gedanke, ſeiner Ma-
riane nah zu ſeyn, hatte zu viel ſuͤſſes fuͤr ihn.
Den andern Tag ſtund er etwas ſpaͤt auf, und ſah,
nachdem er eine halbe Stunde vergeblich ausgeblickt
hatte, ſeinen Engel endlich am Fenſter. Es war
ihm, als ob ſie etwas traurig waͤre; dieſes beunru-
higte ihn ſehr, und er ſehnte ſich nach dem Abend,
da er ſie im Konzert ſehen, und vielleicht auch ſpre-
chen wuͤrde; denn, ſeit Kronhelm weg war, wagte
er es nicht, ſo oft hinuͤber zu gehen. Er hatte
auch gehofft, vielleicht einen Brief von ſeinem Freund
anzutreffen, aber vergeblich.
Des Abends im Konzert vermehrte ſich ſeine Un-
ruhe noch mehr, als er ſeine Mariane ſehr nieder-
geſchlagen fand. Erſt am Ende des Konzerts be-
kam er Gelegenheit, ſie auf einige Augenblicke allein
zu ſprechen. Mit etlichen Worten erzaͤhlte er ihr die
Urſache ſeiner Reiſe, und von Kronhelms Ungluͤck.
Sie ſeufzte, und ſagte: Jch haͤtt’ Jhnen auch viel
Unangenehmes zu ſagen. Gehen Sie vielleicht
morgen Nachmittags bey meinem Garten vorbey?
Es waͤr moͤglich, daß ich da waͤre. Eh ſie weiter
reden konnte, kam ein goldgeſtickter Herr dazu, der
ſich mit abgeſchmackter Hoͤflichkeit nach ihrem Be-
finden erkundigte.
Siegwart ſchlich ſich auf die Seite, denn er
ward vom Schmerz zu heftig uͤberwaͤltigt, und lief
fort, eh noch das Konzert geendigt war. Sein
Zuſtand zu Hauſe war der grauſamſte. Gott, was
iſt das? dachte er, und ſann hin und her, was
ſich zugetragen haben moͤchte? Seine Einbildungs-
kraft ſtellte ihm alles Fuͤrchterliche vor. Er ſah
nichts als Trennung und Elend vor ſich. Maria-
nen hielt er ſchon fuͤr verlohren; nur die Art, wie
ſies waͤre? war ihm noch ein Raͤthſel. Die ganze
Nacht konnte er nicht ſchlafen. Tauſend Schrecken
ſtanden vor ihm; und, wenn er die Augen zuſchloß,
ſah er Blut und Tod. Oft fuhr er auf, und ſchlug
ſich vor die Stirne; waͤlzte ſich im Bette hin und
her, ſtand auf, legte ſich wieder, und aͤchzte,
wie ein Sterbender. Endlich erweichte ſich die er-
muͤdete Natur zu Thraͤnen. Seine Seufzer wur-
den nun Gebet und heiſſes Flehen. Mit dem Tag
ſtand er wieder auf, und ſah aus dem Fenſter nach
dem Wetter, ob es gut bleiben wuͤrde? Der Him-
mel war etwas umzogen, aber nach und nach hellte
er ſich auf, ſo daß er hoffen konnte, Marianen heut
zu ſehen. Den ganzen Morgen ſann er wieder
nach, woruͤber Mariane ſo beſtuͤrzt ſeyn moͤchte?
Zuweilen dachte er an Kronhelm und ſeine Thereſe.
Hier fand er wieder neuen Stoff zur Unruh. Er
war noch nicht mit ſich einig, ob er ſeiner Schwe-
ſter Kronhelms Brief ſchicken, oder ſie in ihrer fro-
hen Hoffnung laſſen ſollte? Er wartete, da es heu-
te Poſttag war, mit Sehnſucht auf Briefe; lief
ſelbſt ein paarmal auf die Poſt, aber es war nichts
fuͤr ihn da.
Der ſehnlich erwuͤnſchte Nachmittag kam. Ma-
riane gieng um drey Uhr allein aus dem Haus.
Eine halbe Stunde drauf gieng er mit bangem
Zittern, und aͤngſtlicher Erwartung, bey einem an-
dern Thor hinaus ihrem Garten zu. Wie er-
ſchrack er, als der Garten und das Haͤuschen drinn
noch zugeſchloſſen war! Mit banger Ahndung gieng
er in das, nah daran ſtoſſende Waͤldchen, und warf
ſich unter einer Eiche nieder. Alle Blumen um
ihn her, und alles Gras riß er mit der Wurzel
aus; die Voͤgel, die im Gebuͤſche zwitſcherten, ver-
ſcheuchte er; ſprang wieder auf, draͤngte ſich
durchs dichteſte Gebuͤſch durch, und machte ſich
dann, ſeiner Ungeduld wegen, ſelbſt wieder Vor-
wuͤrfe. Endlich gieng er wieder an den Garten;
Mariane ſah aus dem Haͤuschen, und ſprang her-
ab, ihm die Thuͤre aufzumachen. Jch kam ſpaͤt,
ſagte ſie, ich muſte eine Freundin mit nehmen, es
war nicht zu aͤndern. Wir koͤnnen aber doch al-
lein reden. Sie weis ſchon davon. — Jhre
Freundin war ein Frauenzimmer, das Siegwart
ſchon oft im Konzert geſehn, und ſingen gehoͤrt
hatte. Sie ſprach mit ihm von der Muſik, und
lobte ſein Spiel, und ſeine Stimme.
Nach einiger Zeit gieng ſie von ſelbſt in den
Garten hinunter, und ließ unſre Liebenden allein.
Siegwart ſah Marianen traurig an, und wagte
kaum, eine Frage an ſie zu thun. Sie fragte erſt
noch nach einigen Umſtaͤnden von Kronhelms und
Thereſens Schickſal, und ſagte dann: Auch uns,
lieber Siegwart, droht ein Ungluͤck. Unſre Liebe
iſt ſo heimlich nicht mehr, als ich glaubte. Meine
Schwaͤgerin weis davon, und vor ihr war ich immer
am meiſten bange. Jch muß Jhnen nur geſtehen;
meine Mutter hat mit mir druͤber geſprochen. Jch
geſtund ihr alles. Sie iſt an ſich nicht unzufrie-
den mit unſrer Liebe, aber ſie ſagt, daß ſie voller
Angſt ſey, wenn mein Vater es erfahre, und das
werde durch unſre Schwaͤgerin nur gar zu bald ge-
ſchehen. Jch bedaure dich, meine Tochter, ſagte ſie.
Jch habe eure Liebe lange ſchon gemerkt, und heim-
lichen Gram im Herzen drob getragen. Jch weis
nicht, wie dein Vater von Siegwart denkt, aber
du kennſt ihn, daß man ſich in nichts, ohne ſein
Vorwiſſen, einlaſſen ſoll; und ich kann dirs nicht
verbergen, er hat Abſichten mit dem Hofrath Schra-
ger (der geſtern zu mir kam, als ich mit Jhnen
ſprach). Wenn nun unſers Theodors Frau, die
ihm gut iſt, noch dazu kommt, dann weis ich nicht,
wie es gehen wird? Pruͤf dich recht, meine Toch-
ter, wie es um dein Herz ſteht; ob du den Antrag
annehmen kannſt? — Jch fiel ihr weinend um
den Hals. Ach meine Mutter! ſagte ich. — Jch
weis wohl, meine Tochter, fiel ſie mir ein, und
weinte mit; Siegwart waͤre beſſer. Aber denk, er
iſt ein Student, und darauf ſieht dein Vater ſehr.
Jch will thun, was ich kann; aber ich kann nichts
verſprechen. Halt nur alles recht geheim, mit
Siegwart! und vertrau auf Gott! das iſt das
Beſte. Jch rathe dir, wenn dein Herz noch nicht
ganz an ihm haͤngt, ſo reiß dich los! Denn ich
ſehe nichts vor mir, als tauſend Kummer und Ver-
druß. — O Mutter, ſagt ich, thun Sie was
Sie koͤnnen, und entfernen Sie den Hofrath! Denn
er iſt mir unausſtehlich. Gott erbarm ſich meiner!
Siegwart iſt allein der Mann. Gott weis, daß
ich ohne ihn nicht leben kann. — Hier ſank Sieg-
wart weinend, und halb ohnmaͤchtig an ihr Herz. —
Sie werden mich verlaſſen, und mir untreu wer-
den, ſagte er nach einiger Zeit. Nein, bey Gott
nicht! war ihre Antwort. Lieber ſterben! Aber,
Theurer, vorſichtig muͤſſen wir uͤber alles ſeyn!
Sonſt ſind wir verlohren. Ach, es iſt doch um-
ſonſt, ſagte Siegwart. — Gott, wenn Sie ver-
zweifeln wollen, fiel ſie ein, was ſoll dann ich an-
fangen? Bey allen Heiligen verſprech ich Jhnen,
daß ich ewig widerſtreben will. Dieſe Hand ſoll
nie ein andrer haben! Mich ſoll niemand zwingen.
Lieber bleib ich ewig, wie ich bin. Seyn Sie
ſtark, und ſprechen Sie mir Muth ein! Meine
Mutter wird mir beyſtehn, und Gott! Mein Va-
ter iſt doch Vater, und ich bin ſein Kind. Meine
Thraͤnen ſollen vor ihm flieſſen, bis ſein Herz er-
weicht wird. Nur jetzt handeln Sie behutſam!
Lieber jetzt auf eine Zeit getrennt, als ewig. Wenn
Sie mich noch lieben, Siegwart, o ſo ſeyn Sie
ſtark! Meiden Sie mich jetzt! Es kann nicht an-
ders ſeyn. Jch geb ihnen Nachricht, wenn ich
kann. Jch ſchwoͤrs, bey der Mutter Gottes, daß
ich ſtandhaft bleibe. Bleiben Sie es auch! Aber
gehn Sie jetzt! Wir ſind nicht ſicher. Kommen
Sie das naͤchſtemal nicht ins Konzert! — Er kuͤßte
ſie noch einigemal mit feuervollen Kuͤſſen; konnte
kaum vor Thraͤnen und vor Schluchzen reden, und
nahm Abſchied. Um Gottes Willen, bat er, blei-
ben Sie mir treu, und geben Sie mir Nachricht,
ſonſt vergeh ich. Bleiben Sie mir treu! Mit
dieſen Worten gieng er, und lief auf einer andern
Seite weit ins Feld hinaus. Seine Seele war in
der fuͤrchterlichſten Arbeit. Alles, was ſagen konn-
te, war:
Verflucht ſeyſt du, betruͤgeriſche Liebe!
Von dir allein ſtammt unſer Elend her!
Erſt in der ſpaͤten Daͤmmerung kam er zu-
ruͤck. Sein Herz war jetzt wehmuͤthiger geworden,
und ſein Schmerz goß ſich in Thraͤnen aus. Eine
Stunde lang blieb er ohne Licht auf ſeinem Zim-
mer, gieng ſchnell auf und ab, rang die Haͤnde,
faltete ſie zuweilen, und betete. Endlich ſchrieb er
mit der heftigſten Bewegung, und mit tauſend
Thraͤnen dieſes Gedicht nieder:
Jm dunkeln Thale ſtand ich, und jammerte;
Der Seele bange Leiden umwoͤlkten mich;
Verkannter Liebe Schmerzen hiengen
Fuͤrchterlich uͤber mein mattes Haupt her!
Da brach ein Glanz aus Wolken, da ſchimmerte
Vor mir der Huͤgel; ſiehe, da ſtandeſt du,
O Hofnung, hell im Sonnenſtrale,
Winkteſt mir armen Verlaßnen freundlich.
Hinauf! Hinauf! Da wand ich durch Dornen mich;
Des Bluts nicht achtend; lachte die Schlangen an,
Die wuͤthig ziſchten; ſah den Glanz nur,
Und den eroͤfneten Arm der Hofnung! —
O Goͤttin, Goͤttin! Sage, was wandelt dort?
Es kommt; es kommt! Es laͤchelt, o Goͤttin, mir!
Jſts Mariane? Mariane?
Birg mich, o Goͤttin! Es kommt; es lacht
mir! —
Jn meinem Arm? Jch ſinke vor Seligkeit!
Am Herzen mir? O Heilige, ſteh mir bey! —
Mein biſt Du? — Gott, und Engel Gottes,
Helft mir die laſtende Freude tragen! — —
Wo bin ich, Engel? — Wieder ins Thal geſtuͤrzt?
Umhuͤllt von neuer, daͤmmernder Traurigkeit?
Der Huͤgel wieder truͤb in Wolken? —
Engel, und Menſchen! Wo bin ich, bin ich?
Ein Thraͤnenſtrom ſtuͤrzte auf das Blatt hin,
als er dieſes ausgeſchrieben hatte. Seine ganze
Seele ſchien ſich ausgieſſen zu wollen. Der Klang
von Marianens Klavier riß ihn aus dieſer fuͤrch-
terlichen Lage. Er legte ſich ins Fenſter, und
lauſchte. Sie ſpielte wehmuͤthig. Er weinte; aber
ruhiger; denn ihre ſanfte Stimme floß in ſeine
Seele, wie das Lied der Nachtigall nach einem
Sturm. Endlich ſang und ſpielte ſie ein Lied,
voll Entſchloſſenheit, voll Hofnung, und Ergeben-
heit in Gottes Willen. Ruh und Zuverſicht traͤu-
felte, wie Abendthau in ſein Herz herab. Er ſah
zum Himmel auf. Die goldnen Sterne blinkten
hell. — Gott, Gott! ſeufzte er; du Schoͤpfer
aller! und du Vater aller! Jeder Stern in ſeiner
Bahn! Jeden lenkeſt du, und ſiehſt du! Siehſt
auch mich, und Marianen! Alles lebt, und jauchzt
ob deiner Guͤte. Gott, du Vater aller! Sey
auch mein, und Marianens Vater! — Der du
dieſe Sterne ſchufeſt; haſt auch mich, und ſie er-
ſchaffen. — Gott! Barmherziger! Gnaͤdiger!
Maͤchtiger! Nein, du wirſt, du kannſt uns nicht
verlaſſen! O, ich fuͤhls, du kannſt uns nicht ver-
laſſen! Jn deine Haͤnde geb ich mein, und Ma-
rianens Schickſal! Sey du unſer Vater! Send
uns Muth, und Zuverſicht und Hofnung! Hilf
uns alles tragen, was du ſendeſt! Sey du unſer
Vater! — Auf Einmal ward ſein Herz leicht. Er
ſah in der ganzen Schoͤpfung nichts, als Selig-
keit und Segen; fuͤhlte ganz von Gottes Guͤte ſich
umfloſſen; war lebendig uͤberzeugt, daß Gott kein
Geſchoͤpf ganz ungluͤcklich machen kann; daß alles,
was er thut, zu unſerm Beſten abzweckt. Freu-
denthraͤnen floſſen in die Thraͤne des Elends. Er
dankte Gott fuͤr alles, was er ihm gegeben hatte,
auch fuͤr ſeine Leiden. — Voll ſichrer Zuverſicht
und Hofnung gieng er ſchlafen; und ward durch
einen ruhigen und milden Schlaf erquickt. Am
Morgen, als er aufwachte, betete er mit heiſſer
Jnbrunſt fuͤr Kronhelms und Thereſens Schickſal,
und dann erſt fuͤr ſich und Marianen. — Endlich
bekam er auch um zehn Uhr einen dicken Brief
von Kronhelm. Mit dem Zittern der Hofnung
und Erwartung und der Angſt, brach er das Packet
auf, und fand einen Brief von Thereſen und von
Kronhelm. Erſt las er Kronhelms Brief:
Liebſter, beſter Schwager!
O daß ich endlich dieſen Namen ſchreiben darf mit
zuverlaͤßigſter Gewißheit! Jauchze laut mit mir,
Geliebter meines Herzens! Der Herr hat wegge-
nommen meine Leiden, meinen bittern Jammer!
Hat in Freude ſie verwandelt und Frohlocken. Hoch
ſey er dafuͤr geprieſen bis in Ewigkeit! O Gelieb-
ter, ſag, wo fang ich an die Geſchichte meiner
groſſen Freude? Daß ſie mein iſt, daß ſie mein
iſt! Das iſt alles, was ich ſagen, was ich preiſen
kann.
Eben wollt ich fort in Guͤnzburg. Ein Trans-
port Recruten, den wir noch erwarteten, hatt’ uns
laͤnger aufgehalten. Da kam der Engel meiner
Liebe, der mich retten ſollte, und mir Freude brin-
gen uͤber Alles. Mein Onkel kam, der theure
Gottesmann, und ſagte, daß ich nicht ſterben ſoll-
te, ſondern leben; daß Thereſe mein ſey, daß die
Leiden ſich geendigt haben mit dem Tode meines
Vaters. Gott ſey ſeiner Seele gnaͤdig! Er warf
Blut aus nach dem Sturz vom Pferd, und ſtarb.
Daß Thereſe mein ſey, dieß, ſonſt nichts, konnt ich
begreifen, und auch dieß nur wenig. Nach drey
Tagen ſank ich ihr ans Herz, und glaubte zu ver-
gehen. — O Bruder, wenn du fuͤhlen kannſt,
was das heiſſe: Das zu finden, was man ſchon
verlohren gab, ſo fuͤhls! Jch weis nicht, ob ich
lebe? Das nur weis ich, lieber, theurer Schwa-
ger! daß ſie mein iſt.
Jn ſechs Tagen wird uns, die wir lang ſchon
Eins ſind, auch des Prieſters Hand vereinigen.
O Schwager, daß du hier waͤrſt, und mit uns
dich freuen koͤnnteſt! Freue dich mit Marianen!
Du wirſt auch gluͤcklich werden; denn es iſt nicht
moͤglich, daß ein Menſch auf Erden ungluͤcklich
ſey. Meine Thereſe wird |dir auch ſchreiben. —
Hier iſt ſchon ihr Brief. Jch kuͤſſ’ ihn tauſend-
mal. Bruder, nun ſink ich wieder an ihr Herz.
Sie ſieht mich an; dieß ſchreib ich in ihrem Arm.
Leb wohl, du Geliebteſter! Freund, Schwager, Al-
les! Leb wohl! Jch bin ein Gott.
K. F. Kronhelm.
Thereſens Brief, der in den vorigen mit
eingeſchloſſen war, iſt dieſer:
Mein Herz, o geliebteſter und beſter Bruder,
iſt ſo voll von unausſprechlichem Entzuͤcken, daß ich dir
mit Worten wenig, oder nichts ſagen kann. Mein
Kronhelm iſt ſeit vier Tagen hier, und wird in
ſechs Tagen ganz mein. Jn dieſem Wort, o Bru-
der, liegt die Seligkeit von Jahrhunderten! Er
kam an einem Abend, als ich mit dem beſten Vater
in der Laube ſaß. Jch ward in ſeinem Arm ohn-
maͤchtig, und ſah, als ich wieder zu mir ſelber kam,
ihn und ſeinen theuren Onkel vor mir. Jch wuſte
es ſchon, daß er nun auf ewig mein ſey, eh ſies
ſagten. Erſt nach langer Zeit konnt ich dem vor-
treflichſten von allen Menſchen, ſeinem beſten On-
E e e
kel danken. Aber meine Worte waren nichts, ge-
gen das, was mein Herz fuͤhlte. Mein ganzes
Leben iſt nicht hinreichend, dieſem Mann zu ſagen,
was ich ihm ſchuldig bin, und wie ich ihn uͤber
alles ehre. — Der ganze Abend war fuͤr mich,
und fuͤr uns alle der wehmuͤthigſte, und ſeligſte.
Nun erfuhr ich erſt, was mein Kronhelm noch
um meinetwillen ausgeſtanden hatte. Gott! wie
nah war ich dem Verderben, und ſo ruhig, weil
ich nichts davon wuſte! Wenn doch wir Menſchen
alles wuͤſten, welch ein Elend waͤrs um unſer
Leben! — Aber was der arme Juͤngling um mich
ausgeſtanden hat! Gott im Himmel weis, ich bin
ſo vieler Liebe nicht werth. Nur anbeten kann ich
ihn, und danken, und meinem theuren Kronhelm
all mein Leben, jeden Athemzug in meinem Leben
widmen. —
Koͤnnt ich ihn doch ſo gluͤcklich machen, als ers
werth iſt! Keinen andern Wunſch trag ich Gott
in meinem taͤglichen Gebet vor. Haͤtt ich das Un-
gluͤck gewuſt, das unſrer Liebe drohte, ich lebte nicht
mehr; denn der Uebergang von ſolcher Hofnung
in das tiefſte Elend haͤtte mich getoͤdtet. Und nun
bin ich ſo ganz, ſo uͤberſchwaͤnglich gluͤcklich. O
Bruder, du haſt nie ein gluͤcklicheres Geſchoͤpf ge-
kannt, als mich. Wuͤrdeſt du doch eben ſo gluͤck-
lich mit deiner | Mariane! Jch kann dirs nicht
verhehlen, daß ich um deine Liebe weis. Mein
Kronhelm hat es mir erzaͤhlt.
Werd ihm druͤber nicht boͤſe, ich bitte dich, du
wuͤrdeſt mich betruͤben. Er geſtand es mir in der
zaͤrtlichen Vertraulichkeit, in der wir geſtern Abend
in der Laube beyeinander ſaſſen! Er kann und darf
mir nichts verhehlen; ich verhehl ihm auch nichts;
und was er mir ſagte, war ja nur zu deinem Be-
ſten. Doch du kannſt ihm nicht boͤſe werden; wer
das koͤnnte, muͤſte ſelbſt boͤs ſeyn. Jch freue mich
unendlich, liebſter Bruder, uͤber deine Liebe. Ma-
riane muß, nach dem, was mir Kronhelm von ihr
ſagte, ganz deiner Liebe werth, und ein Engel ſeyn.
O ſey recht gluͤcklich mit ihr; mache ſie ganz gluͤck-
lich, und laß deinen Traum vom Kloſterleben fah-
ren! Du kannſt durch den geheimen Rath leicht
ein gutes weltliches Amt im Baieriſchen kriegen.
Wir wollen mit ihm druͤber reden. Wenn doch
alle Welt ſo gluͤcklich waͤr, als ich und Kronhelm!
Wenn doch du und Mariane es am erſten wuͤr-
den! Er ſagte mir, Mariane ſey mir gut. Das
freut mich unausſprechlich; ich bin ihrs gewiß auch
herzlich; — ſag es ihr, und kuͤſſe ſie in meinem Na-
men, und erbitt mir ihre theure Freundſchaft!
Vielleicht ſchreib ich einmal an ſie, wenn ich erſt
aus dieſem Taumel von Seligkeit heraus bin; jetzt
iſt mir mein Kronhelm Alles in Allem, und er
ſoll es ewig bleiben. — Eben gieng er vor mei-
nem Zimmer vorbey. Mein Herz ſchlaͤgt ihm zu;
ich muß aufhoͤren. Leb wohl, theurer Bruder!
nach der Hochzeit ſchreib ich wieder. — Unſer
beſter Vater iſt ſo froͤhlich, als ich ihn in meinem
Leben nie ſah. Er, und der vortrefliche Mann,
der geheime Rath, ſind immer beyſammen, und
begegnen ſich wie Bruͤder. — Gott, wie gluͤcklich
haſt du mich, und uns alle gemacht! Leb wohl,
mein Geliebteſter! Jch bringe meinem Kronhelm
dieſen Brief, und dann kuͤſſen wir uns wieder wie
die Seligen und Heiligen im Himmel.
Leb wohl!
Leb wohl!
Deine
Thereſe.
Siegwart hatte bey dem Leſen dieſer Briefe
hundertmal abſetzen muͤſſen, denn ſeine Freude
war zu heftig, und die Freudenthraͤnen ſtuͤrzten
ihm auf das Blatt hin. Eine Zeitlang vergaß
er ſeiner eignen Leiden druͤber, und hielt ſich ſelbſt
fuͤr gluͤcklich, weil es die waren, die er ſo unaus-
ſprechlich liebte. Aber dann empfand er ſein eig-
nes Ungluͤck nur wieder deſto ſtaͤrker, wenn er die
Kluft ſah, die zwiſchen ihm und ſeinen Freunden
war; wenn er die Donnerwolke ſah, die uͤber ihm
und Marianen hieng, und ſchon herabzudonnern
anfieng, und dort die Flur im hellen Sonnenſchein,
auf der ſeine Lieben ruhig wandelten. Oft ward
er etwas ungeduldig, und rief: Gott, warum
ich allein mit Marianen elend, und die andern
uͤberſchwenglich gluͤcklich? Dann machte er ſich ſel-
ber wieder Vorwuͤrfe: Gott, vergib mir dieſen Un-
muth! Ach, bewahre mich vor Ungeduld und
Murren; vor Neid und Misgunſt! Laß mich uͤber
meiner Freunde Gluͤck ſich freuen, wenn ich ſchon
fuͤr mich nicht gluͤcklich bin! — Dann ſchrieb er
ihnen dieſen Brief:
Unausſprechlich theure Seelen!
Jhr vergebt mir, wenn ich nicht frohlocken kann.
Meine Seele freut ſich Eures Gluͤcks, das wiſt Jhr;
aber meine Freude iſt ſo duͤſter, wie mein Schick-
ſal. O Geliebteſte, Gott ſegne Eure Liebe! Mach
Euch zu den Gluͤcklichſten auf Erden! Jhr verdient
es. Wohl Euch, daß der Herr die Thraͤnen
abgetrocknet hat, die ich rinnen ſah! Freut euch
nun der goldnen Tage, die die Liebe fuͤr euch auf-
gehen heiſt! Roſen muͤſſen euch durchs ganze Leben
bluͤhen, und euch taͤglich einen Kranz geben, euer
Haar damit zu ſchmuͤcken. Euer Grab ſey in einem
Roſenwaͤldchen, wo ihr unter lieblichen Geruͤchen
einſchlummert! Mir iſt ein Cypreſſenwald gepflanzt,
in dem ich weinen muß. Mich hat die Liebe we-
nig Tage nur geſegnet. Jch habe wenig Tropfen
ihres ſuͤſſen Zaubertranks gekoſtet; nun reicht ſie
mir einen Becher dar voll Wehmuth. Vielleicht
hat bald ein andrer Marianens Hand; nicht ihr
Herz, denn das iſt mein, und dieß iſt der Stab,
an dem ich mich im Thal der Leiden halte. —
Seyd geſegnet, meine Lieben, ſeyd geſegnet! Dieß
wuͤnſch ich Euch, mit Thraͤnen in den Augen.
Moͤcht ichs einmal koͤnnen ohne Thraͤnen! Aber,
wie der Herr will, der mir Freuden erſt gegeben
hat, und mir nun Leiden gibt. Segne, liebſte
Schweſter, unſern theuren Vater, aber ſag ihm
nichts von meinen Leiden! daß nicht ſeine Freude
duͤſter, und umwoͤlkt werde! Du biſt mein Schwa-
ger, Kronhelm, und ich liebe dich, wie meine
Seele. Du machſt meine Schweſter gluͤcklich, und
ſie lohnet dir mit ihrer Liebe. Jch wollt euch ei-
nen Brautgeſang ſingen; aber Brautgeſaͤnge ſollten
freudig ſeyn. Jch ſchreib euch aber doch das Lied
ab, ob ich gleich nicht ſagen konnte, was ich woll-
te. Es kam doch aus bruͤderlichem Herzen. Jch
will an eurem Hochzeittage fuͤr Euch beten, und
mein Leid vergeſſen. Liebt Euch treu, und ſeyd
geſegnet! Dieß iſt alles, was ich wuͤnſchen kann.
Betet auch zuweilen in Eurem Gluͤck fuͤr Euren
Bruder! Denn ich glaube, das Gebeth der Gluͤck-
lichen vermag viel. Betruͤbt Euch nicht zu ſehr!
Meine Leiden ſind nicht ewig, und ich glaub an
einen Gott, der unſer aller Vater iſt, auch wenn
Er zuͤchtiget. Hier iſt noch das Lied.
Jch bin ewig
Euer Bruder
Xaver Siegwart.
Auf die Vermaͤhlung meiner theuren Schwe-
ſter und meines theuren Kronhelms.
Keimen ſah ich Eure Liebe,
Wie den Weidenzweig am Quell;
Oft war Euch der Himmel truͤbe,
Oft ſchien Euch die Sonne hell.
Stuͤrme beugten oft Euch nieder,
Drohten Untergang und Tod,
Aber Jhr erhobt Euch wieder
Jm erhellten Abendroth. —
Ach wie gern, Jhr Lieben, freute
Meine Seele ſich mit Euch!
Wenn nicht ein Geſchick mir draͤute,
Eurem, nun verfloßnen, gleich.
Drohende Gewitter draͤngen
Sich in ſchwarzer Nacht daher;
Dunkle Wetterwolken haͤngen
Ueber meine Scheitel her.
Mit der aͤngſtlichbangen Zaͤhre
Steigt ein Seufzer aus der Nacht:
Daß der Tag auf ewig waͤhre,
Der Euch jetzt ſo heiter lacht! —
Blickt aus Eurem Sonnenſcheine
Mir den hellen Troſt herbey:
Daß mein Aug nicht ewig weine,
Und mich Lieb’ auch einſt erfreu!
Den andern Tag, als Siegwart ausgegangen
war, ſagte man ihm bey ſeiner Nachhauſekunft,
daß ein fremder Bedienter nach ihm gefragt ha-
be, der in einer Stunde wiederkommen well-
te. Siegwart konnte nicht begreifen, wer
der Bediente ſeyn, und was er bey ihm zu
thun haben muͤſſe? Er ſann hin und her, und
machte ſich tauſenderley Einbildungen, aͤngſtliche
und angenehme. Nach einer Stunde kam der Be-
diente, und — ſiehe da! Es war Marr, den
Kronhelm angenommen hatte.
O daß ich Sie nur wieder einmal ſehe! fieng er
an. Jch bin weit und breit im Land herumge-
laufen; koͤnnen Sie mir nichts von meinem gnaͤd-
gen Herrn ſagen? — O ja, antwortete Siegwart.
Er iſt wohl auf, und nimmt naͤchſtens eine Frau.
Gott ſey Lob und Dank! rief der Kerl aus, und
ſprang vor Freuden in die Hoͤhe. Hab ichs doch
immer geſagt: ſo einem braven Herrn kanns nicht
uͤbel gehen! Ja, Herr Siegwart, das war ein
Jammer! Sie werden mirs kaum glauben. Da
brachte man den alten Herrn auf einer Tragbahre
heim. Das Blut lief aus Mund und Naſe, wie
ein Roͤhrkaſten; und dabey ſchimpfte und fluchte
er auf meinen gnaͤdgen Herrn, daß ich mich kreu-
zigte und ſegnete. Es hieß, mein Herr ſey
verlohren, und man wiſſ’ nichts von ihm.
Man muͤſſ’ ihn uͤberall aufſuchen. Jch konnte
das nun nicht begreifen, aber ich nahm den erſten
beſten Gaul im Stall, und ritt, wo die Maͤhre
hin wollte, denn ich wuſte — Gott verzeih mirs! —
von meinem Herrn ſo wenig als der Gaul. Keine
Seele wollt ihn geſehen haben, wo ich fragte. Jch
rannte durch Hecken und Stauden, durch dick und
duͤnn; alles nur umſonſt. Endlich ritt ich nach
drey Tagen recht betruͤbt, mochte nichts eſſen und nichts
trinken, in Gottes Namen wieder heim. Da war
nun der Laͤrm erſt recht angegangen. Der alte
Herr war abgeſegelt. Es ſoll entſetzlich anzuſehn
geweſen ſeyn, wie er geſchimpft, dann wieder ge-
bethet, dann geflucht hat, beſonders auf meinen
unſchuldigen jungen Herrn. Die Augen ſoll er im
Kopfe herum gedreht haben, wie ein Uhu. Er
war ganz blau im Geſicht, und die Zung hieng ihm
aus dem Mund heraus, ſechs Zoll lang, daß alle
Menſchen im Dorf ſagten, der Boͤſe — Gott ſey
uns gnaͤdig — hab ihn abgeholt. — Ja, wie ich
eben ſah, daß da nichts zu machen war; denn oh-
ne meinen Herrn mocht ich gar nicht leben — und
daß alles drunter und druͤber gieng — jeder packte
ein, und die ſaubre Jungfer Kunigund am mei-
ſten — da nahm ich eben in Gottes Namen mei-
nen Buͤndel auf den Ruͤcken. Jch haͤtt einen Gaul
aus dem Stall mit nehmen koͤnnen, daß kein Hahn
darnach gekraͤht haͤtt — aber ich bedanke mich da-
fuͤr! Unrecht Gut g’raͤth nie gut! und ehrlich will
ich bleiben, es mag gehn wie’s will! Da gieng ich
eben auf gut Gluͤck uͤberzwerch ins Land hinein,
und dachte: ich will meinen Herrn ſchon finden,
wenns Gotts Will iſt. Freylich giengs ein bißchen
hart her. Die kaiſerlichen Werber wollten mich mit
Gewalt wegnehmen, weil ich keinen Paß hatt’, und
mir ſechzig baare Thaler geben; aber ich rankte
michz hinaus; und weil ich meinen Herrn nicht
auftreiben konnte, da fiel mirs erſt ein, daß ich
mich bey Jhnen Raths erholen wollte; Sie
wuͤrden ſchon Beſcheid wiſſen. Gottlob! daß ich
auf den Einfall kam. Nun bitt ich gar ſchoͤn, ſa-
gen Sie mir gleich, wo er iſt? Daß ich mich
morgen mit dem fruͤheſten auf den Weg machen
kann.
Siegwart ſagte ihm, wo Kronhelm waͤre.
Ey, Ey! ſagte er, das iſt ein bißchen weit ohne
Paß. Jch haͤtte wohl eine Bitte, ob Sie mir
ein kleines Briefchen mit gaͤben, wo drinn ſtuͤnde,
daß ich ein ehrlicher Kerl ſey. Jch fuͤrchte die
Soldaten, wie den Henker. Siegwart gab
ihm einen kleinen Brief an Kronhelm, und ein
offnes Zeugniß ſeines Wohlverhaltens. Der Kerl
kuͤßte ihm die Hand — Aber, fuhr er fort, und
kratzte ſich hinter den Ohren. Nun haͤtt ich noch
eine Bitte! Sie iſt zwar groß, ich weis nicht,
ob Sies mir nicht abſchlagen? Sie wiſſen
ſchon ſo, wie’s auf Reiſen geht! Das Geld
iſt mir eben ausgegangen, und da wollt ich …
Gut, gut! rief Siegwart, wie viel braucht Er? —
O Herr, Sie ſind auch gar zu gut, ſagte Marr
ganz bewegt. Jch daͤchte, wenn ich ſechszehn
Batzen haͤtt. Jch wollts Jhnen in vier Wochen
wieder ſchicken; da krieg ich meinen Monatslohn. —
Siegwart gab ihm zwey Gulden, und ſagte, daß
er ſie ihm ſchenke. Der Kerl wollte das Geld
nicht geſchenkt annehmen, und ließ ſich erſt da-
durch beruhigen, daß ihm Siegwart ſagte: Er
ſey ſeinem Herrn das Geld ſchuldig und wolle
mit ihm abrechnen. Endlich nahm Marr mit
Thraͤnen Abſchied.
Den folgenden Tag brachte Marianens Maͤd-
chen unſerm Siegwart ſeinen Kleiſt wieder. Es
war ein Papier um das Buch geſchlagen, und
als ers wegnahm, fiel ihm dieſer Zettel in die
Haͤnde:
Mein Allerliebſter!
Entreiſſen Sie ſich Jhrer Unruh! Es iſt wie-
der Hofnung fuͤr uns da. Meine Mutter hat
aufs neu mit mir geſprochen. Sie iſt ſehr fuͤr
Sie, und verſprach mir, alles, was zu unſerm
Beſten dienen koͤnnte, zu verſuchen. Sie hat
bereits mit meinem Vater geſprochen, und ihn ſo
weit gebracht, daß nun wegen des Hofraths nicht
weiter in mich geſetzt werden ſoll. Nur ſollen
wir behutſam ſeyn, und unſre Rechnung nicht
zu gewiß machen! Meine Hand ſoll gewiß kein
anderer bekommen; das hab ich Jhnen ſchon ſo oft
geſagt, und ſag es hier auch ſchriftlich. Jch kann
nicht glauben, daß Gott eine ſo reine und un-
ſchuldige Liebe ungluͤcklich machen wird. Bleiben
Sie nur Gott und der Hofnung treu, mein Al-
lerliebſter! Jch wuͤnſche ſehr, Sie zu ſprechen,
denn ich hab Jhnen mancherley zu ſagen. Mor-
gen geh ich mit meiner Freundin in ihren Gar-
ten, und da koͤnnten wir uns ſehen. Es iſt,
wenn Sie bey meinem Garten ſich in das Gaͤß-
chen rechter Hand ſchlagen, der fuͤnfte Garten
auf der linken Seite, mit einem ſchwefelgelben
Haͤuschen. Sie koͤnnen nicht leicht fehlen, und
ich werd auch herausſehen. Schlag Drey gehen
wir hinaus, wenn das Wetter gut iſt. Leben
Sie wohl, mein Allertheureſter! Bauen Sie auf
meine Liebe und auf meine Standhaftigkeit; am
meiſten aber auf die Vorſehung, die unſre Her-
zen ſo feſt vereinigt hat!
Jch bin ihre, bis in
den Tod getreue
Mariane Fiſchern.
Siegwarts Seele war durch dieſen Brief, und
die darinn enthaltne Hofnung wieder wie neu be-
lebt. Er gieng den andern Tag um halb vier Uhr
in den Garten, wo ſeine Mariane ſchon ſeiner
wartete. Sie empfiengen ſich mit einem Entzuͤcken,
als ob ſie Jahre lang getrennt geweſen waͤren.
Mariane ſah wieder ſo heiter aus, wie der Fruͤh-
lingshimmel. Sie pfluͤckte zwo Aurikeln von glei-
cher Farbe; gab die Eine ihm, und ſteckte die an-
dre an ihre Bruſt. Jn Gegenwart ihrer Freun-
din war ſie bis zum Muthwillen luſtig, und hat-
te tauſend muntre Einfaͤlle. Siegwart erzaͤhlte den
beyden Maͤdchen Kronhelms und Thereſens gluͤck-
liche Geſchichte, und meldete ſeinem Maͤdchen den
Gruß ſeiner Schweſter. Mariane ward uͤber die-
ſe Erzaͤhlung noch munterer, und ſagte, mit einem
Blick auf Siegwart: Standhaftigkeit und treue
Liebe bleibt doch ſelten unbelohnt. Mit dieſen Wor-
ten gab ſie ihm ihre Hand, und gieng mit ihm
durch die Johannisbeerhecken einer dunkeln Geiß-
blattlaube zu. Jn ihrem Schatten ſank ſie an ſein
Herz; er neigte ſich herab, kuͤßte ſie auf ihre Stir-
ne, auf ihre ſchoͤne Augen, und auf ihren Mund.
Freudenthraͤnen ſtunden ihm in den Augen, wann
ſie ihren ſchmachtenden und liebevollen Blick zu
ihm auſſchlug. Er laͤchelte; Sie auch, und fuhr
ihm ſanft mit der Hand uͤber ſein Geſicht. Er
umſchlang ſie. Lieber, lieber Engel, ſprach er,
ſind Sie wieder mein? Wollen Sie mein bleiben?
Sie lehnte ihr Geſicht an ſeine Bruſt, und druͤckte
ſeine Hand ſanft. Oft ſaſſen ſie lange ſtillſchwei-
gend da; Geſicht an Geſicht geſchmiegt; Er hoͤrte
ihren Athem, wie er erſt langſam, nach und nach
ſchneller und ſtaͤrker gieng, und zuletzt ein Seufzer
ward. Dann druͤckte er ſie wieder feſter an ſein
Herz, ſeinen Mund an ihren Mund; ſog ihren
Kuß, und ihren ſanften, reinen Athem ein. —
Lieben Sie mich auch? fragte er ein paarmal
ganz leiſe. O unendlich! antwortete ſie, und ihr
Auge, das ſo zaͤrtlich und ſo frey ihn anſah, ſag-
te, daß es wahr ſey.
Ein paarmal blickte Siegwart zum Himmel.
Der ganze Ausdruck ſeines Blicks war Dank.
Gott, ach Gott! dachte er; wie unendlich haſt du
mich geſegnet! Alles, alles, was du meinem Wunſch
auf Erden geben konnteſt, die ganze Welt in mei-
nem Arm! Alles andre iſt mir nichts; iſt Staub!
Laß mir nur Sie, nur Sie! Gott, ach Gott, nur
Sie! Und dann druͤckte er ſie wieder feucrvoller an
ſein Herz. — Warlich! Eine ſolche Liebe muß die
Freude Gottes, und die Luſt der Engel ſeyn! Laß
zwey ſolche Liebende auf Erden auch getrennt wer-
den! Jn der Ewigkeit eilen ſie ſich wieder zu, wo
ewig keine Trennung ſeyn wird! —
Lieben Sie mich auch? fragte ſie nach einiger
Zeit, ganz bewegt. Ueber alles, uͤber alles! gab
er ihr zur Antwort. — Lieben Sie mich, Sieg-
wart? fragte ſie bald darauf, noch bewegter wie-
der. — Warlich! wie mein Leben; mehr noch,
als mein Leben! antwortete er, und ward trau-
rig. — Lieben Sie mich mehr noch, als das Klo-
ſter? fragte ſie zum drittenmal. — Thraͤnen ſtuͤrz-
ten ihm hier aus den Augen; ja, bey Gott! auch
mehr noch, als das Kloſter! rief er aus. Liebſtes,
beſtes Maͤdchen! Jch will naͤchſtens meinem Va-
ter druͤber ſchreiben; denn er weis noch nichts.
Aber er hat nichts dagegen, davon bin ich uͤber-
zeugt. Der geheime Rath von Kronhelm will
mir helfen, und im Baierſchen ein Amt verſchaf-
fen. — Nun, das iſt ja herrlich! ſagte ſie; nun bin
ich ruhig. Meine Mutter machte mir den Ein-
wurf: Sie wuͤrden ja ein Geiſtlicher, und ich
wuſte nichts darauf zu antworten. Er verſicherte
ſie nochmals, daß er bald davon an ſeinen Vater
ſchreiben werde. Und nun goß die Zaͤrtlichkeit von
neuem ihre Freuden uͤber ſie in vollem Maas aus;
jeder Kuß war ein Tropfen aus der Schaale der
Liebe, die nur keuſchen Liebenden gereicht wird.
Eine Nachtigall ſaß auf dem Zweig des naͤchſten
Apfelbaums, und ſang ihnen noch mehr Wolluſt
ins Herz. Endlich kam auch Marianens Freun-
din zu ihnen. Dieß ſtoͤrte ſie in ihrer Freude
nicht. Mariane gab ihrem Siegwart in ihrer Ge-
genwart Kuͤſſe, und blickte ihn noch eben ſo zaͤrt-
lich an; denn ihre Freundin war mit ihr aufs
innigſte verbunden, und hatte ihr auch ehmals die
Geſchichte ihres Herzens anvertraut. Sie ſagte
ihrem Siegwart, er moͤchte das naͤchſtemal wieder
ins Konzert kommen, zumal da es das vorletzte
ſey. Jhre Schwaͤgerinn ſey wieder krank, und
koͤnne alſo nicht auflauren. Dann ſprachen ſie
wieder von Kronhelm und Thereſen; und endlich
gieng Siegwart ſo ſelig und vergnuͤgt wieder nach
der Stadt, als er ſeit langer Zeit nicht geweſen
war.
Zu Haus fieng er ſogleich einen Brief an Kron-
helm und ſeine Schweſter an, der aber, in ſei-
ner Freude, ſo unzuſammenhaͤngend ward, daß er
ihn wieder zerriß. Nun dachte er ernſtlich drauf,
F f f
was er ſeinem Vater ſchreiben wollte? So feſt ers
auch beſchloſſen hatte, ſo ungern gieng er doch dran,
weil es ihm ſchwer fiel, ſeinem Vater ein Ge-
ſtaͤndniß zu thun, das ſein zu zaͤrtliches und aͤngſt-
liches Gefuͤhl lieber nie einer Seele eroͤffnet haͤtte.
Daher ſchob er das Schreiben an ſeinen Vater
von einem Tag zum andern auf. Oft hatte ers
an einem Abend beſchloſſen, und unterließ es den
andern Morgen, unter tauſend, ſelbſtgemachten,
Entſchuldigungen wieder. Wenn er Marianen ſah,
ſo dachte er, nun muß ich ſchreiben! Er fieng zu
Hauſe an, war aber nie mit dem, was er ge-
ſchrieben hatte, zufrieden, ſtrich hundertmal aus,
und zerriß dann das ganze Blatt wieder. Er hat-
te unendlich viele Bedenklichkeiten, daß er ſeinen
Vater beleidigen, oder ſeine Gunſt verlieren moͤch-
te, und machte ſich ſelbſt tauſend Zweifel, die nicht
wirklich waren.
Nach etlich Tagen erhielt er dieſen Brief
von Thereſen:
Zaͤrtlichſtgeliebter Bruder!
Endlich ſind alle Wuͤnſche meines Lebens ganz
erfuͤllt, und ich bin die gluͤcklichſte Frau des Beſten
aller Sterblichen. Vor zwey Tagen wurden wir
getraut. O Bruder, Bruder, meine Freuden ſind
zu groß, als daß eine Zunge, oder eine Feder ſie
ausdruͤcken koͤnnte. Jch kann dir nicht den Schat-
ten von dem zeigen, was ich fuͤhle. Genug, fuͤr
mich hab ich keinen Wunſch mehr, als das Leben
und die Ruhe meines Kronhelms. Und ich hoffe,
daß ihn Gott mir lange erhalten werde, denn er
iſt ein Segen der Welt. Taͤglich lern ich ihn
mehr kennen, mehr bewundern und lieben. Taͤg-
lich lern ich von ihm, und werde doch gewiß in
dieſem Leben nie auslernen. Seine Zaͤrtlichkeit
gegen mich iſt unbeſchreiblich. Unſre Seelen ſind
aufs engeſte vereinigt und haben nur einen Wil-
len. Doch, du kennſt ihn ja ſelbſt. Aber von
feinem Lob moͤcht ich unaufhoͤrlich reden, und du
faſſeſt ſo etwas am beſten.
Bey der Hochzeit waren einige Freunde unſers
theuren Vaters, der unausſprechlich heiter war.
Auch meinen ehrlichen Prediger in Windenheim
hab ich bitten laſſen; er konnte aber, leider, wegen
einer kleinen Unpaͤßlichkeit nicht kommen. Vor fuͤnf
Tagen ſind wir, ich und mein Kronhelm, bey ihm
geweſen. Der gute Mann hatte eine unbeſchreib-
liche Freude, die hellen Zaͤhren ſtunden ihm in den
Augen, und er gab uns einen ſo herzlichen Se-
gen, daß ihn Gott gewiß erhoͤren muß. Der gehei-
me Rath iſt mehr als mein zweyter Vater. Jch
kann dir nicht ſagen, wie liebreich er mir begegnet!
Er nennt mich immer ſeine Tochter, und das thut
ſo wohl. Auch große, nur zu große Geſchenke
hat er mir gemacht, an Juwelen, Diamanten,
Perlen u. d. gl. Karl und ſeine Frau waren auch
bey der Mahlzeit. Wie hat ſich doch alles hier ſo
wunderlich geaͤndert! Sie wuͤnſchte mir ſo viel
Gluͤck, ſchmeichelte mir ſo ſehr, daß ichs zuletzt faſt
uͤberdruͤſſig wurde. Der geheime Rath will, der
Papa ſoll mir gar kein Heyrathsgut mitgeben. Er
will, wie er ſagt, Vatersſtelle bey mir vertreten,
und bat den Papa, ihm dieſe Freude zu goͤnnen,
da er keine eigne Kinder habe. Daruͤber iſt Karl
ganz auſſer ſich vor Freuden.
Deinen Brief, liebſter Bruder, haben wir mit
vielen Thraͤnen geleſen. Gott ſtehe dir bey, und
mache dich mit deiner theuren Mariane gluͤcklich!
Mich deucht, du biſt ein wenig zu furchtſam; we-
nigſtens mein Kronhelm ſagt, du ſeyeſt viel zu
aͤngſtlich. Faſſe doch Muth! Eine ſolche Liebe
kann kaum ungluͤcklich werden. Denk an unſre
Liebe; welche Leiden wir ausgeſtanden haben, und
wie gluͤcklich wir nun ſind! Vielleicht iſt ſchon wie-
der Hofnung fuͤr dich da. Gott geb es! Jch bitte
taͤglich fuͤr dich. Tauſend Dank fuͤr dein Gedicht,
wollte Gott, du haͤtteſt ein freudigeres ſingen koͤn-
nen! Aber doch hat es uns ſehr gefallen. Gruͤß
deine Mariane in meinem Namen herzlich! —
Jch will meinen Kronhelm fragen, ob er dir auch
ſchreiben will? O Bruder, ich bin deine unaus-
ſprechlich gluͤckliche Schweſter
Thereſe Kronhelm.
Am Schluß des Briefes war noch folgendes
von Kronhelm geſchrieben:
Jch kann nicht ſchreiben, Bruder! Mein Herz
iſt zu voll, und tobt vor Freuden. Jch bedaure
dich, Gott weis es, herzlich. Aber faß Muth!
Es wird ſich aͤndern. Marianens Herz iſt ſtark
und ſtandhaſt. Bau darauf! Jch bitte dich, ſey
nicht gar zu muthlos! — Hier iſt alles Freude;
und mich deucht, ich bin der Gluͤcklichſte von al-
len. Koͤnnt ich dir nur den tauſendſten Theil von
meinem Gluͤck geben; und du waͤrſt ſchon froh.
Aber nur getroſt! Du muſt auch noch gluͤck-
lich werden; du biſt gar zu brav. Uebermorgen
reiſen wir mit meinem treflichen Onkel nach Stein-
feld. Unſer Vater iſt gar ein vortreflicher Mann,
den ich mit der groͤſten Ehrſurcht liebe. Sey ein
Mann, Bruder, und kaͤmpf! Die Siegerkrone
kann dir nicht fehlen. Du wirſt ſagen: der hat gut
troͤſten, weil ihm nichts mehr auf Erden uͤbrig iſt,
zu wuͤnſchen; und da haſt du freylich Recht.
Leb
wohl, Beſter, und ſey gluͤcklich! Jch bin ganz
Dein treuer Schwager Kronhelm.
Siegwart war nun wieder von allen Seiten
gluͤcklich. Die Wuͤnſche ſeiner liebſten Freunde wa-
ren ganz erfuͤllt; er beſaß die Liebe ſeiner theuren
Mariane ganz, und die Furcht, ſie zu verlieren,
war wieder groͤſtentheils zerſtreut. Nur der Ge-
danke an das Geſtaͤndniß, das er nun bald ſeinem
Vater thun ſollte, truͤbte noch zuweilen ſeine Ruhe.
Aber in den vielen Freuden, die er hatte, ſuchte
er ihn zu betaͤuben und einzuſchlaͤfern; er ſchrieb
an ſeinen Schwager und an ſeine Schweſter nach
Steinſeld; theilte mit ihnen ihre große Freude,
und erzaͤhlte ihnen auch die Hofnungen, die er fuͤr
ſich und ſeine Liebe hatte. Jm naͤchſten Konzert
ſang er mit Marianen ein paar Arien, die die
Wiedervereinigung zweyer Liebenden zum Jnhalt
hatten. Mit welchem Ausdruck ſie und er geſun-
gen haben moͤgen, kann ſich jedes gefuͤhlvolle Herz
vorſtellen. Jeder Zuhoͤrer war bewegt, und klatſch-
te Beyfall. Ueber ſeinen Blicken wachte er ge-
nau, um den Hofrath und den andern Anwe-
ſenden keine Gelegenheit zum Argwohn zu geben.
Der Hoſrath war ſehr hoͤflich, und lud am En-
de des Konzerts alle, auch unſern Siegwart ein,
nach dem naͤchſten Konzert, weiches das letzte
ſeyn wuͤrde, zu einem Ball da zu bleiben. Sieg-
wart ſprach zwiſchen dieſer Zeit ſein Maͤdchen ein-
mal in dem Garten ihrer Freundin, und brach-
te einen, der liebe heiligen Abend mit ihr zu.
Sie verſicherte ihn wieder, daß ihre Mutter
ganz fuͤr ihn ſey, und daß ſie wegen des Hofrath
Schragers wenig, oder nichts mehr zu beſorgen
habe.
Am naͤchſten Mittewochen ſpielte Siegwart noch
einmal mit dem allgemeinſten Beyfall ein Kon-
zert. Auch Marianens Bruder ſpielte eins mit
ziemlichem Beyfall, weil er ſich, unter Sieg-
warts Anfuͤhrung, ſehr darauf vorbereitet hatte.
Dieſer Umſtand machte, daß auch er unſerm
Siegwart ziemlich zugethan wurde. Nach dem
Konzert gab der Hofrath Fiſcher ein Abendeſſen;
nach demſelben eroͤſnete er, mit ſeiner Frau, den
Ball. Siegwart tanzte zuerſt mit Marianen ei-
ne Menuet, und dann einen Geſellſchaftstanz.
Hierauf tanzte er mit ihrer Mutter, die auſſe-
ordentlich freundſchaſtlich gegen ihn that. Sie
ſetzte ſich nach dem Tanz mit ihm auf ein Ka-
napee, und fieng von ihrer Tochter an, zu re-
den. Es freut mich herzlich, ſagte ſie, daß Sie
ſo viel Freundſchaft gegen meine Tochter tragen;
ſie wird es Jhnen auch ſchon geſagt haben. Nur
um der Leute, und hauptſaͤchlich um meines
Mannes willen, muß ich Sie ſehr um Behut-
ſamkeit bitten. Man iſt im Stillen weit gluͤck-
licher, als wenn man vieles Auſſehen macht. Jch
wurde ſchon von verſchiednen Seiten her gewarnt.
Die Leute hier ſchlieſſen aus jeglicher Bekannt-
ſchaft auf die engeſte Vertraulichkeit, und erdich-
ten aus Langerweile tauſenderley Geſchichten.
Sie ſehen ein, was mir daran liegt, daß mei-
ne Tochter nicht in der Leute Mund kommt.
Meine Schwiegertochter und mein Mann ſind
gar wunderlich. Suchen Sie ein rechtſchaffner
und geſchickter Mann zu werden; das Uebrige
haͤngt von Gott und nicht von uns ab. Jch
hoͤre, Sie wollten geiſtlich werden. Wird es Jhr
Herr Vater wol zufrieden ſeyn, wenn Sie um-
ſatteln? O ja, ganz gewiß! ſagte Siegwart; ich
will ihm naͤchſter Tagen ſchreiben. Ein anderer,
der die Hofraͤthin zum Tanz aufzog, machte dem
Geſpraͤch ein Ende. Er blieb ſitzen, und ſah ſeine
Mariane in einiger Entfernung von ihm, tanzen.
Jhre Augen waren viel auf ihn gerichtet; oft,
wenn ſie glaubte, daß es niemand merkte, laͤchelte
ſie ihm zu. Jhm wars, wie wenn ein Sonnen-
blick im Fruͤhling auf die Flur faͤllt.
Als der Student, mit dem Sie tanzte, ihr, beym
Schluß der Menuet, die Hand kuͤßte, da fuhr
ihms wie ein Dolch durchs Herz. Er ward feuer-
roth, und gleich drauf traurig; denn er hatte viel,
faſt zu viel Anlage zur Eiferſucht. Der freund-
liche Blick, mit dem ſie dem Studenten dankte,
machte tauſend Empfindungen in ihm rege. Er
glaubte, Liebe drinn entdeckt zu haben, ſo unwahr-
ſcheinlich und ungegruͤndet dieß auch war. Die
Vernunft mochte ihm auch tauſendmal ſagen, daß
er ſich ſelbſt ohne Urſach kraͤnke, und Maria-
nen Unrecht thue, er konnte ſich und ſeine Un-
ruhe doch nicht gnug bekaͤmpfen. Mariane merkte
dieſes wohl, und ſetzte ſich, als er ins Zimmer ge-
gangen war, zu ihm. Sie blickte ihn zaͤrtlich an,
und nun kam die Heiterkeit auf Einmal in ſein
Aug, und in ſein Herz zuruͤck. Er ſah die Falſch-
heit ſeines Argwohns ein, machte ſich ſelbſt bittre
Vorwuͤrfe, und konnte eine Thraͤne nicht verber-
gen, die ihm ins Auge ſchoß. Gern waͤr er an
ihr Herz geſunken, und haͤtte ſein beleidigtes Maͤd-
chen um Verzeihung gebeten, aber die vielen Gaͤſte,
die zugegen waren, hielten ihn zuruͤck. Der, ihm
verhaßte Hofrath Schrager, zog ſie nun zum
Tanz auf. Es ward ihm kalt und warm, als er
den Mann ſah. Er tanzte, um ſeine Verwirrung
zu verbergen, mit dem naͤchſten beſten Maͤdchen,
ſeiner Mariane gegen uͤber. Sie tanzte ganz
kalt, und nachlaͤßig mit dem Hofrath, und warf
zuweilen einen liebevollen Blick auf ihren Juͤng-
ling. Als Mariane mit Dahlmund ſchwaͤbiſch
tanzte, ſetzte ſich Siegwart allein in einen Winkel
auf dem Saal, und hatte lauter traurige Gedan-
ken. Mariane legte ihre linke Hand auf Dahl-
munds Schulter, und flog ſo mit ihm auf dem
Saal herum. Dieſer Anſchein von Vertraulich-
keit kraͤnkte ſeine zarte Seele tief, zumal da es
ſonſt kein Maͤdchen auf dem Saal ſo machte. Er
ſah zwar nachher, daß dieſes bey Marianen blos
Gewohnheit war, weil ſie es bey jedem Taͤnzer
ohne Unterſchied ſo machte; aber es that ihm doch
im Herzen weh, daß die Geliebte ſeiner Seele auch
nur ſcheinen ſollte, auſſer ihm mit einem Menſchen
auf der Welt vertraut zu ſeyn. Er haͤtt es ihr
ſo gern geſagt, aber er fuͤrchtete, ſie zu betruͤben,
oder in den Verdacht der Wunderlichkeit bey ihr
zu kommen. Noch trauriger ward er bald dar-
auf, als ſie mit einem andern tanzte, der ſie, wie
ein Raſender herumriß, und mit ihr mehr flog,
als ſprang. Gott! dachte er, wenn ihr dieſe
heftige Bewegung Schaden braͤchte, und ihre Ge-
ſundheit zerruͤttete! Wie leicht koͤnnte ſo ein Au-
genblick mein Liebſtes rauben! Dieſer Gedanke
verſenkte ihn immer tiefer in die traurigſten Vor-
ſtellungen, ſo daß ihm Thraͤnen in den Augen ſtan-
den. Sie kam nach dem Tanz zu ihm. Das iſt
ſchrecklich getanzt! ſagte er; Sie gluͤhen recht!
und ſchien aufgebracht zu ſeyn. Sie ſah ihn weh-
muͤthig, und halb birtend an. Eine Thraͤne drang
aus ihrem Auge. Liebes Maͤdchen, ſagte er, und
war bewegt; wie leicht koͤnnten Sie ſich ſchaden!
Dieſe Vorſtellung hat mich ganz traurig gemacht.
Sie nahm ihn bey der Hand. Es wird mir hof-
fentlich nicht ſchaden, ſagte ſie; aber freylich war
es ſcharf getanzt; ich dachte es ſelbſt; nur kann
ich nicht dafuͤr. Jch thu’s nicht gerne. — Neh-
men Sie mirs nur nicht uͤbel! ſprach er; meine
Warnung kam aus gutem Herzen. Sie ſah ihn
mit der groͤſten Zaͤrtlichkeit an, und waͤr ihm gern
ans Herz geſunken, um an ſeiner Bruſt zu weinen.
Ein paarmal kuͤßte ſie ihn doch, weil ihre Eltern
in dem Nebenzimmer ſaſſen. Jch will ſagen, daß
ich mit Jhnen tanze, ſagte ſie, wenn mich wieder
jemand aufziehn will. — Liebes Maͤdchen! Wei-
ter konnte er nichts ſagen.
Man tanzte wieder franzoͤſiſch, und Siegwart
tanzte nun auch mit den uͤbrigen Frauenzimmern,
und noch ein paarmal mit ſeiner Mariane. Erſt
um 2 Uhr gieng die Geſellſchaft auseinander.
Kurz eh man auseinander gieng, entſtand noch
ein Streit zwiſchen einem Studenten, Namens
Dieling, und Joſeph, Marianens Bruder. Die-
ling war betrunken, und wollte ſchwaͤbiſch tanzen,
als die uͤbrigen eben einen Geſellſchaftstanz ange-
fangen hatten. Joſeph nannte ihn einen Menſchen
ohne Lebensart. Dieß ſtieg dem betrunkenen Die-
ling zu Kopf; er holte ſeinen Degen, und rannte
damit auf Joſeph. Siegwart, der auf der Seite
neben Hofrath Schrager ſtand, der eben weggehen
wollte, riß dieſem den Degen von der Seite, fieng
Dielings Degen auf, und ſchlug ihn ihm aus der
Hand, daß er in das entgegen ſtehende Fenſter
flog. Nun kamen andre hinzu, und ſchafften den
Betrunknen weg. Siegwart hatte ſich nur etwas
an dem Finger geritzt, und blutete. Joſeph, der
nun erſt ſah, wer ſein Retter geweſen war, ſank
ihm in den Arm, und dankte ihm mit hundert
Kuͤſſen. Mariane und ihre Eltern waren indeß
auch hinzugeſprungen; ſie ward todtblaß, als ſie
Blut ſah; er beruhigte ſie aber gleich, indem er
zeigte, daß er nur geritzt waͤre. Sie ſprang in
ihrer Angſt weg, um ein Stuͤckchen Tafft zum
Verband zu holen. Der Hofrath umarmte in-
deß unſern Siegwart, und dankte ihm fuͤr die
Rettung ſeines Sohns. Die Hofraͤthin weinte,
und nannte ihn den Retter ihres Joſephs, ihren
zweyten Sohn. Jndeß kam Mariane wieder, die
ſich nun von ihrer erſten Beſtuͤrzung erholt hatte,
und verband ihm ſelbſt den Finger. Als Siegwart
weggieng, begleitete ihn Joſeph noch bis auf die
Straſſe, umarmte ihn noch einmal, und ſagte:
Bruder, ſag, was kann ich dir fuͤr dieſen Dienſt
thun? Nichts! antwortete Siegwart in der Ruh-
rung; als daß du mein wahrer Bruder bleibeſt,
und mir deiner Schweſter Liebe goͤnneſt! — O
das will ich! o das will ich! rief Joſeph aus, ja
du ſollſt Sie haben! Wenns auf mich ankaͤme, waͤr
ſie heute dein! — Jndem kam Marianens aͤlte-
rer Bruder aus dem Hauſe, ſo daß er Joſephs
Worte noch gehoͤrt haben konnte. Siegwart er-
ſchrack, und gieng weg. Dieſer Umſtand beun-
ruhigte ihn ſehr, weil er fuͤrchtete, daß er uͤble
Folgen fuͤr ihn und Marianen haben koͤnnte. Doch
richtete ihn der Gedanke wieder auf, daß vielleicht
der Hofrath ihm nun guͤnſtiger ſeyn, und ſich ſei-
ner Liebe zu Marianen weniger widerſetzen werde.
Den andern Morgen brachte er damit zu, daß
er ſich alle Auftritte des vorigen Tages wieder ins
Gedaͤchtniß zuruͤckrief. Einigemal ſtunden ihm die
Thraͤnen in den Augen, wenn er uͤberdachte, wie
viel Unrecht ſeine Eiferſucht Marianen gethan hat-
te. Er beſchloß, ſich vor dieſer Marter ſeiner ſelbſt,
und des geliebten Gegenſtandes kuͤnftig recht in Acht
zu nehmen. Nun ſah er aber erſt, wie ſehr er ſei-
ne Mariane liebe; wie ſo ganz unzertrennlich ſei-
ne Seele von der ihrigen ſey. Er hatte nun auch
ihre Liebe ganz geſehen, mit welcher Sorgfalt ſie
ſich um ihn bekuͤmmre; wie genau ſie auf jede
Veraͤnderung in ſeinen Geſichtszuͤgen Acht gebe.
Er fuͤhlte das Gluͤck, ihre Liebe, und ein ſolches
Maͤdchen, zu beſitzen, ganz, ſo daß ſeine Emfindun-
gen faſt immer zwiſchen Entzuͤcken, Andacht, und
Gebeth getheilt waren.
Um eilf Uhr kam Marianens Bruder zu ihm,
und ſagte: ſeine Schweſter wuͤrde heut allein mit
ihm auf ſeinen Garten gehen; ob er nicht auch hin
kommen wolle? Siegwart nahm dieſen Antrag,
der ein Beweis ſeiner Dankbarkeit, und ſeiner Zu-
neigung zu ihm war, mit dem innigſten Vergnuͤ-
gen an; und ward durch dieſes Zeichen ſeiner Liebe
zu der groͤſten Offenherzigkeit verleitet, ſo daß er
ihm die ganze Geſchichte ſeines eignen, und des
Herzens ſeiner Schweſter erzaͤhlte. Joſeph nahm
daran ſehr vielen Antheil, und ſagte: Er ſey ganz
fuͤr dieſe Liebe, und wuͤnſche nur, es recht bald
beweiſen zu koͤnnen. Von ſeiner Schwaͤgerin, und
ſeinem Bruder, ſagte er ſelbſt, waͤr am meiſten
zu befuͤrchten, weil dieſe ihren Vater ſo ſehr ein-
zunehmen wuͤßte. Doch koͤnnte man vor den
beyden dieſe Liebe ſehr wohl verborgen halten, weil
ſie wenig aus dem Hauſe kaͤmen, und vielleicht
naͤhme gar ſeine Schwaͤgerin bald ganz von der
Welt Abſchied.
Den Nachmittag um vier Uhr gieng Siegwart,
wie er beſtellt war, nach dem Garten. Seine Maria-
ne, ſah ſo zaͤrtlich, und ſo ſchmachtend aus, als
er ſie noch nie geſehen hatte. Sie nahm ihn gleich
bey der Hand, fuͤhrte ihn in eine Laube, und ſank
ihm in den Arm. Jhre Kuͤſſe waren feuriger, wie
ſonſt; ihr Mund verweilte laͤnger auf dem ſeini-
gen, und ſog ganz ſeinen Athem ein. Er ſetzte
ſie auf ſeinen Schooß; druͤckte ſie feſt an ſein Herz,
und legte ſein Geſicht an das ihrige. Keines
konnte vor Empfindungen ſprechen. Er kuͤßte ihre
Stirne, dann ihr Auge, und da fuͤhlte er, daß
es naß war, und kuͤßte eine heilige Thraͤne weg.
So eine ſuͤſſe, uͤberirdiſche Empfindung hatte er
noch nie gehabt. Er ſah ihr mit der groͤſten, weh-
muͤthigſten Zaͤrtlichkeit ins Auge; ſie konnts nicht
aushalten, und verbarg ihr Geſicht an ſeinem Bu-
ſen. — Liebſter, liebſter Siegwart! Liebſtes,
beſtes Maͤdchen! war alles, was ſie ſagen konn-
ten. — Endlich kam Joſeph, der indeß auf dem
Gartenhaus geleſen hatte, hurtig auf die Laube
zugeſprungen, und rief, der Bruder und die Schwaͤ-
gerin! Siegwart und Mariane ſprangen auf.
Joſeph wollte wieder zuruͤck. Bleib da! rief Ma-
riane, und nun giengen alle drey nach der Gar-
tenthuͤre zu, wo das liebe Paar eben herein trat.
Das iſt der Herr, ſagte Mariane ganz ent-
ſchloſſen, der geſtern unſerm Joſeph das Leben
gerettet hat. Ey, ſagte die Schwaͤgerin, ſind das
der junge Herr Siegwart? Ja, mich deucht, ich
habe Sie ſchon im Konzert geſehen. Siegwart
machte eine Verbeugung, und betrachtete nun erſt
ihr Geſicht recht. Sie ſah ausgezehrt, und einge-
fallen aus, und hatte ganz die gelbe Farbe des Nei-
des. Jhre kleine, matte, graue Augen lagen tief; ihre
Augenbraunen waren weiß, und fielen ins gelbliche,
daß man ſie kaum ſehen konnte. Jhre Naſe war
ſpitz; ihr Kinn hervorſtehend, und die Stirne nie-
drig, ohne Ecken, weil die Haare rund herum,
tief ins Geſicht herein ſtunden. Sie gieng vor-
waͤrts gebeugt, und der Kopf ſteckte tief in den
Schultern. Jhr Herr Gemahl war ein langer,
hagrer Mann, in deſſen Geſicht man mehr Aengſt-
lichkeit und Kummer ſah, als Bosheit. Sind
Sie nur ſo ganz allein hier, ſagte die Schwaͤgerin
zu Marianen. Dieſe antwortete, ja; aber ihre
Eltern wuͤrden vielleicht dieſen Abend noch heraus
kommen. Sie waren ja wohl geſtern recht ver-
gnuͤgt, Jungfer Schwaͤgerin? fuhr ſie fort. Ja,
ja, freylich, in ſo angenehmer Geſellſchaſt kanns
nicht fehlen. Aber der Hofrath Schrager war
nicht ganz vergnuͤgt. — Mariane ſagte: ſie wuͤß-
te nicht, daß ihm jemand was zu Leid gethan haͤt-
te. Je nu, fuhr die Schwaͤgerin fort, wenn
G g g
man eben den vierzigen naͤher iſt, als den dreyßi-
gen, ſo iſt man bey dem jungen Volk nicht mehr
ſo beliebt. — Sie wollen ja ein Geiſtlicher wer-
den, Herr Siegwart, wie ich hoͤre? Jhre Zeit
iſt wol bald herum! Mich deucht, Sie ſind ſchon
lang hier? Siegwart ſagte, daß er erſt uͤbers Jahr
hier ſey, und noch nicht feſt entſchloſſen ſey, was er
ſtudieren wolle! Es komm auf ſeinen Vater an.
Ey, Sie werden ja der Kirche nicht untreu wer-
den, ſagte ſie, werden Sie ja ein Geiſtlicher, das
iſt der beſte Stand auf Erden. Hoffentlich wird
Sie nichts irdiſches davon zuruͤckhalten. Mit die-
ſen Worten ſah ſie Marianen ſpoͤttiſch an, und
machte noch zwanzig andre Anſpielungen, die nur
zu deutlich zeigten, daß ſie von der Liebe unſrer
jungen Leute manches wiſſe. Siegwart und Ma-
riane kamen oft in die groͤſte Verlegenheit, und
wußten nicht, was ſie ſagen ſollten. Jhr aͤlterer
Bruder mußte ſeiner Frau immer Recht geben,
weil ſie ihn beſtaͤndig anſah, wenn ſie etwas vor-
brachte. Sie affektirte eine laͤcherliche Liebe gegen
ihn, und wich nicht von ſeiner Seite. Oft wur-
den ihre Anſpielungen ſo deutlich, daß Siegwart
ein paarmal roth wurde.
Endlich empfahl er ſich, weil er wohl ſah, daß
das Paar nicht vor ihm gehen wollte. Er
war uͤber das, was vorgefallen war, aufs neu in
der groͤſten Beaͤngſtigung, und ſtellte ſich ſchon
wieder tauſend traurige Begegniſſe in ſeiner Liebe
vor. Noch denſelben Abend ſchrieb er in der hef-
tigſten Bewegung einen Brief an Marianen, wo-
rinn er ihr alle ſeine Beſorgniſſe entdeckte, und ſie
um Gottes willen bat, ihm treu zu bleiben. Zu-
gleich bat er ſie um Nachricht, wie er ſich verhal-
ten ſollte? Den andern Morgen war er ſehr be-
kuͤmmert, wie er ihr den Brief zuſtellen koͤnnte?
Und endlich, als er keinen andern Weg ſah, gab
er den Brief ihrem Maͤdchen, die er auf der
Straſſe antraf, und ſagte ihr, er habe dieſen Brief
geſchickt bekommen; ſie moͤcht ihn ihrer Jungfrau
dieſen Morgen noch, und allein geben! Nun war
er wieder etwas ruhiger.
Endlich entſchloß er ſich auch ernſtlich, ſeinem
Vater zu ſchreiben, ihm ſeine Liebe zu entdecken,
und ihn um die Erlaubniß zu bitten, daß er nun
Jura ſtudieren duͤrfte! Er ſchrieb dieſes alles mit
groſſen Ausholungen und Umſchweifen, oft mit
vieler Ruͤhrung, und bat ſeinen Vater inſtaͤndig,
ſeine Liebe nicht zu verdammen, oder fuͤr leichtſin-
nig zu halten. Er habe ſeinen Entſchluß erſt nach
vielen Kaͤmpfen gefaßt, weil er befunden habe, daß
er im Kloſter und ohne Marianens Liebe nie gluͤcklich
werden koͤnne. Marianen ſchilderte er ihm, mit
aller Begeiſterung eines Liebhabers, und doch
wahr ab, und ſchloß mit der Bitte: Jhn recht
bald durch einen Brief aus ſeiner Ungewißheit zu
reiſſen.
Wegen Marianen war er ſehr beſorgt. Sie
hatte ſeinen Brief nun ſchon drey Tage, und noch
hatte er keine Nachricht von ihr. Am Fenſter ſah
er ſie zwar taͤglich, und ſie ſah auch ſehr heiter
aus, aber die Ungewißheit, in der er, wegen
der letztern Begebenheit im Garten, ſchwebte,
quaͤlte ihn doch ſehr. Endlich kam am vierten Tag
ihr Bruder zu ihm, und ſagte, ſeine Schweſter
wuͤrde den Nachmittag in den Garten ihrer Freun-
din gehen; er moͤchte auch hin kommen. Um vier
Uhr kam er. Mariane war ſehr freundlich. Sie
haben ſich unnoͤthige Beſorgniſſe gemacht, ſagte ſie,
als ſie allein mit ihm in der Laube ſaß; meine
Schwaͤgerin konnte aus dem, daß Sie bey mir
waren, nichts ſchlieſſen, da mein Bruder mit da-
bey war. Um ihre Sticheleyen bekuͤmmre ich mich
wenig, da Sie durch den neulichen Vorfall mit
meinem Bruder ſehr viel in der Gunſt meines Va-
ters gewonnen haben. Und uͤberhaupt, auf mich
koͤnnen Sie ſich verlaſſen. Mein Herz bleibt ewig
Jhr, und auch meine Hand ſoll kein andrer ha-
ben. Sie kennen mich noch nicht genug, was ich
zu thun im Stand bin. Auf unſre gute Sache,
und die Vorſehung duͤrfen wir uns auch verlaſſen.
Das Mistrauen, glaub ich, kann Gott niemals
leiden. Wenn der Menſch das ſeinige thut, dann
thut gewiß die Vorſehung noch mehr das ihrige.
So lang ich Jhre Liebe habe, bin ich zwar nicht
unbekuͤmmert, aber doch nicht muthlos und un-
ruhig. Jch hoff, es wird alles noch recht gut
gehen. Sie haben mir einen lieben zaͤrtlichen Brief
geſchrieben; aber, beſter Siegwart, er war viel
zu aͤngſtlich; und dann — erlauben Sie mir, es
zu ſagen! — Die Art, wie ich ihn erhalten ha-
be, war mir nicht die angenehmſte. Sie gaben
ihn meinem Maͤdchen. Es iſt ein gutes Ding,
dem man auch wol etwas anvertrauen kann. Es
hat auch unſre Liebe laͤngſt gemuthmaßt, und ver-
ſchwiegen. Aber Dienſtbothen zu Vertrauten brau-
chen, ſcheint mir nicht ſehr thunlich. Man macht
ſich dadurch von ihnen abhaͤngig. Sie glauben,
wenn ſie einmal ein Geheimniß von uns wiſſen,
unentbehrlich zu ſeyn, und thun zu duͤrfen, was
ſie wollen. Wenn man ſie des Dienſts entlaſſen
will, ſo trotzen ſie; und thut mans nicht, ſo
machen ſie Klatſchereyen, und buͤrden ihrer Herr-
ſchaft mehr auf, als wahr iſt. Jch weis, mein
Liebſter! Sie nehmen mir dieſe Erinnerung nicht
uͤbel. Nicht wahr? — Siegwart fiel ihr um
den Hals, und kuͤßte ſie mit Thraͤnen. Er mach-
te ſich wegen ſeiner Zaghaftigkeit ſelbſt Vorwuͤrfe,
und fuͤhlte, daß ein Frauenzimmer, in Abſicht auf
die Liebe, mehr Unternehmungsgeiſt, und mehr
edles Vertrauen hat, als ein Mann. Der Mann
verlaͤßt ſich auf Staͤrke und aufs Geraddurchfah-
ren, welches bey der Liebe wenig thut; das Weib
baut auf Klugheit und Verſchlagenheit, und tau-
ſend Weiberkuͤnſte. Bald werden wir uns recht
genieſſen koͤnnen, ſagte Mariane. Jn wenig Ta-
gen geht mein Vater mit meiner Schwaͤgerin ins
Abacherbad bey Regensburg, und bleibt 5 oder
6 Wochen da. Jch gehe dann mit meiner Freun-
din aufs Land zu ihrer Tante, einer herzlichguten
Frau. Das Guth liegt nur eine kleine Meile von
hier, und Sie koͤnnen taͤglich hinauskommen, wenn
Sie wollen. O, das iſt herrlich! ſagte Siegwart;
da wollen wir ein Goͤtterleben fuͤhren! Sie haben
Recht; alles geht nach Wunſch. Meinem Vater
hab ich nun auch geſchrieben, und in hoͤchſtens vier-
zehn Tagen hab ich Antwort. Lieber Engel! ach,
wir muͤſſen gluͤcklich werden! — Lieb und Selig-
keit umſchwebte nun wieder unſer keuſches Paar. —
Was macht Jhr Finger? ſagte ſie nach einiger Zeit.
Jſt er wieder heil? Sie haben ja nicht mehr den
Tafft drauf, den ich Jhnen gab. Hier iſt er, ſag-
te er, und zog ſeine Brieftaſche heraus; das iſt mir
ein Heiligthum, das ich bey mir tragen werde,
noch im Grab. Und ich dieſes, ſagte Mariane,
und zog ein weiſſes Schnupftuch aus der Taſche,
auf dem ein Tropfen von ſeinem Blut war. Die-
ſen Blutstropfen hab ich aufgefangen; das Schnupf-
tuch geb ich nie aus meiner Hand; auch ſolls nie
gewaſchen werden. — Liebes, liebes Maͤdchen!
rief er aus, und druͤckte ſie ans Herz. Dieſer
Tropfen hat einſt dir geſchlagen; jeder andrer ſoll
dir ſchlagen; bis ich todt bin! — Sie nahmen
hierauf Verabredungen wegen Marianens Reiſe
aufs Land. Sie ſagte, daß ſie ſchon mit ihrer
Freundin druͤber geſprochen habe. Dieſe woll
ihn Einmal einladen, damit er mit ihrer Tante
bekannt werde, und dann koͤnn’ er ohne Anſtand
alle Tage kommen, denn die Tante ſey die billigſte
und munterſte Frau, und werd ihn ſelber fleißig zu
ſich bitten. Dieſer Abend ſchloß ſich fuͤr unſern
Siegwart auſſerordentlich vergnuͤgt. Er gieng,
mit tauſend Kuͤſſen, und Verſicherungen ihrer
Liebe erſt in der Daͤmmerung von Marianen und
ihrer Freundin weg, und war ſo frey von al-
ler Furcht, ſo voll ruhiger Freude, als er noch
nicht leicht geweſen war.
Ein paar Tage drauf bekam er, von Steinfeld
aus, Briefe von Kronhelm und Thereſen, die
von nichts als Zufriedenheit und innigem Bergnuͤ-
gen ſeiner Freunde zeugten. Kronhelm berichtete
ihm die Ankunft ſeines treuen Dieners Marx, und
die Freude, die dieſer uͤber ſein Gluͤck gehabt haͤtte.
Auch erzaͤhlte er ihm Kunigundens Abſchied. Sie
ſey nemlich noch vor ſeiner Ankunft bey Nacht
und Nebel von Steinfeld abgegangen, und habe
ziemlich viele Kleidungsſtuͤcke und Koſtbarkeiten
mitgenommen, die er ihr auf den Weg ſchenken
wolle. Jetzt ſey ſie in Augsburg eine Art von
Hurenwirthin. Dann fragte er ihn nach Maria-
nen, und ermunterte ihn, guten Muth zu faſſen;
ſein Onkel werde ihm gewiß eine anſtaͤndige Bedie-
nung verſchaffen; daher ſoll er unverzuͤglich ſeinem
Vater ſchreiben, und die Rechte zu ſtudieren an-
fangen u. ſ. w.
Thereſens Brief war voll von Lobeserhebungen
ihres Kronhelm; voll Freude uͤber ihr gluͤcklichſtes
Schickſal, und uͤber ihre jetzige Lage. Zugleich
machte ſie eine ausfuͤhrliche Beſchreibung von der
Einrichtung ihrer Lebensart in Steinfeld; und
ſchloß mit der Nachfrage um ſein eignes Schickſal,
und ſchrieb eben das von Marianen, was ihm
ſchon ihr Mann geſchrieben hatte.
Noch dieſelbe Woche gieng der Hofrath Fiſcher
mit ſeinem Sohn und ſeiner Schwiegertochter
ins Bad, und einen Tag drauf reiſte Mariane
zu ihrer Freundin, aufs Land. Gleich zween
Tage drauf erhielt Siegwart von dieſer und von
ihrer Freundinn eine hoͤfliche ſchriftliche Einladung,
welcher Mariane etliche Zeilen beyſetzte, die voll
Zaͤrtlichkeit und Liebe waren. Er gieng gleich
denſelben Tag hinaus, und traf ſeine Mariane,
ihre Freundin, und die Tante vor dem Landguth
in einer Allee von Fruchtbaͤumen mit Kleiſts
Fruͤhling in der Hand an. Alle drey Frauen-
zimmer bewillkommten ihn mit der groͤſten Freu-
de. Das Betragen der Tante, die Frau Held
hieß, nahm ihn ganz ein. Sie war ungefaͤhr
55 Jahre alt. Jhr Geſicht war ſehr regelmaͤßig,
und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schoͤn-
heit. Jhr blaues Auge war etwas truͤb, und ver-
rieth Hang zur Melancholie. Einige Zuͤge zeig-
ten, daß ſie oft geweint, und manchen ſtillen
Kummer getragen haben muſte. Jetzt war ihr
Geſicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer
noch Anlage zur Schwaͤrmerey und Wehmuth.
Jhre Reden zeugten von gleich viel Verſtand,
und Empfindung. Nur die letztere ſchlug noch
zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen
gehoͤrt, ſagte ſie zu Siegwart. Seyn Sie mir
vielmals willkommen! Zwingen Sie ſich vor mir
im geringſten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer
Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer
Fiſchern ſtehen, und es freut mich. Kommen Sie,
Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch
kann mir vorſtellen, was Sie fuͤhlen muͤſſen; ob
ich gleich in der Liebe nie ſo gluͤcklich war. Da ichs
nicht ſeyn konnte, moͤcht ichs doch andre machen
koͤnnen! —
Mariane druͤckte ihrem Juͤngling ſeine Hand
ſtaͤrker, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. Hier
iſt herrlich leben, ſagte ſie, Gottlob, daß Sie da
ſind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen ſchon
geſprochen haben. Die Geſellſchaft gieng nun mit-
einander in den Garten, der ſehr reizend angelegt
war. Statt der vielen todten und einfoͤrmigen
Heckengaͤnge waren Alleen von Apfel-und-Kirſch-
und Naßbaͤumen angelegt. Der Garten war in
vier Haupttheile abgetheilt, die mit Kuͤchengewaͤchs
bepflanzt, und mit ſchmalen Strichen, in denen
Blumen aller Art ſtunden, je nachdems die
Jahrszeit mit ſich brachte, eingefaßt waren. Hin-
ten ſtund ein ſchoͤner Gras- und Baumgarten, der
ſich in ein ſchoͤnes, buͤſchichtes Waͤldchen endigte,
wo Amſeln, Droſſeln, Nachtigallen und Zaunkoͤ-
nige durcheinander ſangen. Ueber dem ſteinernen
und ſimpeln Gartenhaus, das einen großen Saal
hatte, woͤlbten ſich ein paar wilde Kaſtanienbaͤu-
me, die angenehme Kuͤhlung und Daͤmmerung
herabgoſſen. Jn dem Saal ſetzten ſie ſich, und
aſſen friſche Milch, gluͤcklich wie die Menſchen in
dem goldnen Zeitalter. Die Tante erheiterte ſie
noch mehr durch ihren geſunden Witz, der oft
in Empfindung uͤbergieng, ſo daß das Auge, das
eben erſt gelacht hatte, hell von Thraͤnen wurde.
Sie ſind eine vortrefliche Frau, ſagte Siegwart,
daß Sie den Liebenden ſo guͤnſtig ſind, da ſonſt
aͤltere Perſonen, vornehmlich von Jhrem Geſchlecht,
gemeiniglich auf das Gluͤck juͤngerer Perſonen nei-
diſch ſind. Lieber Gott! ſagte ſie, wie koͤnnen
ſie doch das ſeyn, da ſie wiſſen, wie es ihnen eh-
mals war, und wie leid es ihnen that, wenn ſich
jemand ihrer Liebe widerſetzte! Nein, ich freue
mich herzlich, wenn ich andre gluͤcklich ſehe, und
thu alles, was ich kann, ſie in ihrem Gluͤcke
zu befeſtigen. Ach Gott, wenn ich einen ſolchen
Juͤngling, wie Sie ſind, in der Jugend haͤtte lie-
ben duͤrfen, und man haͤtte mir dieß Gluͤck wollen
rauben, was haͤtt ich von ſolchen Menſchen den-
ken muͤſſen! Soll ichs jungen Leuten uͤbel nehmen,
daß ſie Menſchen ſind, und dem Trieb des Schoͤpfers
und der Natur ſolgen? Freun Sie ſich, meine Lie-
ben, es werden auch truͤbe Tage kommen, ob ichs
gleich nicht wuͤnſche. Hier weinte ſie. Sie wa-
ren alſo nicht gluͤcklich, theure Frau? fragte
Siegwart. — Nein, ich wars nicht, verſetzte ſie.
Denken Sie! Jm ſechszehnten Jahr muſt ich ei-
nen Mann heyrathen, den ich nicht kannte und
nicht liebte. Gott hab ihn ſelig. Aber er war
weiter nichts, als Regierungsrath und reich. Von
Seelenliebe wuſt er nichts. Er glaubte, wenn
man ſeine Frau in Geſellſchaft bringe, und ihr
Unterhalt verſchaffe, ſeys genug. Kurz, er war,
was wir im Deutſchen nicht gut geben koͤnnen, ein
bon vivant. Seine Geſellſchafter waren luſtige
Bruͤder, die bey einer guten Mahlzeit und einem
guten Glas Rheinwein ſich uͤber einen kahlen Ein-
fall, oft auch uͤber Zoten, einen halben Abend
faſt zu Tode lachen konnten. Jch indeſſen ſaß auf
meinem Zimmer, hatte ein fuͤhlendes Herz, das
nicht fuͤhlen ſollte; denn ich geſtehe gern meine
Schwachheit, mancher edeln Seele ſchlug mein
Herz zu, mit der ich gluͤcklich haͤtte leben koͤnnen.
Aber ich muſte das Feuer unterdruͤcken, das in
mir auflodern wollte, und ſo verzehrte ich mich in-
nerlich ſelbſt. Traurigkeit und Schwermuth nutz-
ten meine beſten Lebensgeiſter ab, daß ich vor der
Zeit alt wurde. Meinen Kummer konnt ich kei-
nem Menſchen anvertrauen; nur Thraͤnen, Buͤcher,
und am erſten die Religion waren all mein Troſt.
Ganze Tage phantaſirt ich weg, mit Ausſichten
in ein beßres Leben; und da half mir meine Ein-
bildungskraft ſehr. Jch ſchmuͤckte meine Hofnun-
gen ſo gut aus, als ich konnte, und ergoͤtzte mich
daran. Oft erhitzt ich meine Einbildungskraft ſo
ſehr, daß es meinen Nerven, die ſchon ohnedieß
ſtark geſpannt waren, ſchadete. Jch las Dichter,
Jtaliaͤner und Franzoſen, die meine Phantaſie
noch mehr erhitzten; aber, lieber Gott, wenn das
Herz nichts zu thun hat, dann nimmt man ſeine
Zuflucht zu der Einbildungskraft. Erſt vor kur-
zer Zeit lernt ich, durch meine Baſe hier, einige
deutſche Dichter kennen, beſonders den Klopſtock; und
da muß ich geſtehen, hier iſt freylich tauſendmal mehr
Nahrung fuͤr den Geiſt, mehr Wahrheit, mehr
tiefgedachtes, und mehr tieſempfundenes; und jetzt
les ich faſt beſtaͤndig deutſch. Aber noch vor ein
paar Jahren ſah man ja hier zu Lande kaum ein
deutſches Buch, das man ohne Ekel leſen konnte.
Genug, meine Lebenszeit ſtrich hin, ohne mir oder
der Welt Vergnuͤgen zu gewaͤhren. Mein Mann
ſah meinen ſtillen Gram, ohne mit zu fuͤhlen, oder
Antheil dran zu nehmen, und dann ſchmerzt das
Elend doppelt. Vor zwey Jahren ſtarb er; nun bin
ich ſchon ſo an die Einſamkeit gewoͤhnt, daß ich
mich wenig mehr um die Welt bekuͤmmre. Kin-
der hab ich nie gehabt; die haͤtten mir allein mein
Elend noch erleichtern koͤnnen.
Siegwart ſeuſzte und ward ganz wehmuͤthig bey
ihrer Erzaͤhlung. Aber, ſagte ſie, Karoline, (ſo
hies Marianens Freundin,) wir muͤſſen unſer
Paͤrchen auch allein laſſen. Wollen Sie vielleicht
ſpatzieren gehen, Mariane? oder ſollen wirs thun?
Mariane ſtand auf, und laͤchelte. Die Tante
gieng an ihren Fluͤgel, und Siegwart mit Maria-
nen durch den Baumgarten nach dem Waͤldchen.
Hoͤren Sie, ſagte Mariane, was die arme Frau
fuͤr ein trauriges Adagio ſpielt! Jch bedaure ſie
recht herzlich, denn ſie hat unendlich viel ausge-
ſtanden. Hyſteriſche Zuſaͤlle, und ihr kummervol-
les Leben, ſetzten ein paarmal ihrem Verſtande
hart zu, und da nahm die Verleumdung Anlaß,
ihr allerley Boͤſes nachzureden; aber, weis Gott!
ſie iſt die beſte Frau auf Gottes Erdboden, in der
kein boͤſer Blutstropfen rinnt! Es geht immer ſo,
ſagte Siegwart, je beſſer und vollkommener man
iſt, deſto mehr hat man Neider, und wird mis-
verſtanden. Jch wollte auch in ihre Seele ſchwoͤ-
ren, daß nichts boͤſes an ihr iſt. Sie hat mich
ganz bezaubert.
Sie ſetzten ſich auf eine Raſenbank, die unter
einem dickbelaubten Apfelbaum ſehr gluͤcklich ange-
bracht war. Um ſie herum duͤftete in der, nach
und nach herannahenden Abendkuͤhle das Geis-
blatt. Auf einem Baum vor ihnen hatte ein
Eichhoͤrnchen ſein Neſt, wo es bald heraus, bald
hinein ſchluͤpfte, und oft, als ob es neugierig waͤr,
herabſah. Sie beluſtigten ſich lange an ſeinen poſ-
ſirlichen Spruͤngen und Wendungen; druͤckten ſich
dann wieder feſt ans Herz, und freuten ſich ih-
rer Liebe, und des himmliſchen Abends. Siegwart
das ſeinem lieben Maͤdchen Thereſens und Kron-
helms Brief vor; ſie freuten ſich miteinander uͤber
das Gluͤck der Edeln, und phantaſirten ſich in glei-
ches Gluͤck hinein, das ihnen einſt begegnen wuͤr-
de. Unvermerkt ſteckte Mariane unſerm Siegwart
einen Ring an ſeinen Finger. Das iſt fuͤr Klop-
ſtock, ſagte ſie, (den er ihr geſchenkt hat-
te.) Siegwart war vor Freuden auſſer ſich, ſah
bald den Ring an; druͤckte bald ſein Maͤdchen an
ſein Herz; kuͤßte bald den Ring, bald ſie, und
wuſte nicht, was er vor Entzuͤcken und Dankbar-
keit ſagen ſollte. Endlich ſagte er, wie haben
Sies doch ſo treffen koͤnnen, daß der Ring ſo ge-
nau paßt? Das macht man ſo, ſagte ſie; nahm einen
Grashalm; wickelte ihn um ſeinen Finger, und
brach den Grashalm ab. Ach, deswegen, rief er,
wickelten Sie letzthin mir den Grashalm um den
Finger? Liebes herrliches Maͤdchen, moͤcht ich doch
deiner Liebe ganz wuͤrdig ſeyn. — Sie ſind es;
Sie ſind es! verſetzte ſie. Er ſagte, daß er nun
in acht Tagen Antwort von ſeinem Vater erwarte.
Zwar ſey er ſeines Veyfalls, und ſeiner Einwilli-
gung ſchon gewiß. Es ſey blos um des Ceremo-
niels willen. — Sie ſaſſen da bis in die Daͤmme-
rung, und trafen Karolinen mit ihrer Tante an
einem Noſenſtrauch ſitzend an, der ſeine Duͤfte um
ſie her verbreitete. Es kam unſern Siegwart
ſchwer an, ſchon zu gehen, ob er gleich verſpre-
chen muſte, morgen wieder zu kommen. Auf dem
Wege nach der Stadt ſann er hin und her, wie
er ein Mittel ausſuͤndig machte, nicht immer in der
ſchoͤnſten Zeit weggehn zu duͤrfen. Endlich beſchloß
er, auf dem benachbarten Dorf einen Bauren zu
ſuchen, in deſſen Haus er uͤbernachten koͤnnte.
Den Ring von Marianen drehte er immer am
Finger hin und her; beſah und kuͤßte ihn alle Au-
genblicke. Seine Seele war auſſerordentlich ent-
woͤlkt, und ruhig; die Zukunft lag wie ein Fruͤh-
lingsgefild vor ihm da; ſeine Phantaſie zauberte
ſich und Marianen und alles Angenehme hin-
ein.
Den andern Tag gieng er ſchon um zwey Uhr
wieder hinaus, in der Abſicht, auf das Dorf zu
gehn, und ſich einen Aufenthalt aufzuſuchen. Un-
terwegs traf er einen Bauren an, der eben auf
das Dorf zugieng. Siegwart redete ihn an, frag-
H h h
te ihn, ob er in das Dorf gehoͤre? und als der
Bauer es bejahte, frug er weiter, ob ein Wirths-
haus im Dorf ſey, oder ob er nicht ſonſt ein Haus
wuͤſte, wo er fuͤr Geld und gute Wort zuweilen
ſchlafen koͤnnte? Es iſt wohl ein Wirthshaus da,
antwortete der Bauer; aber weil Sie, wie ich
ſehe, ſo ein braver Herr ſind, ſo koͤnnen ſie, um
einen Schlafkreuzer fuͤr meine Magd, in meiner
Huͤtte ſchlafen, ſo oft Sie wollen. Jch hab oben
ein Stuͤblein, und |ein Bett drinn. ’s iſt zwar
ein Biſſel hart, aber aufm Land, pfleg ich ſo zu ſa-
gen, muß man ſich halt nach der Decke ſtrecken.
Was wir ſo im Haus haben, Milch und Butter
und Eyer, das ſteht Jhnen auch zu Dienſt, wenns
anſtaͤndig iſt. Siegwart gieng mit ihm auf das
Dorf, um das Zimmer zu ſehen. Es war reinlich,
und friſch ausgeweißt. An der Wand herum hien-
gen Bilder von Heiligen, vom Kayſer, von der
Kayſerin, vom Churfuͤrſten und der Churfuͤrſtin;
vom General Daun und Laudon. Das Bette war
auch weiß und reinlich. Das iſt ja fuͤrſtlich! ſagte
Siegwart. — Ja ja, verſetzte der Bauer Thomas,
die Herren haben eben ſo ihren Spaß mit uns
Bauersleuten. Nun, nun! die Freud kann man
ihnen ja wohl laſſen. — ’s iſt doch manchem Bauers-
mann woͤhler, als den Leuten in der Stadt. Sieg-
wart verſicherte, daß er nirgends lieber ſey, als
auf dem Dorf. So oft ich hier ſchlafe, fuhr er
fort, geb ich ſechs Kreuzer, und, was ich eſſe,
das bezahl ich beſonders. Der Bauer weigerte
ſich lange, den Vertrag einzugehen, weil das, wie
er ſagte, viel zu viel Geld waͤre. Auf den Abend,
ſagte, Siegwart, komm ich; aber vielleicht etwas
ſpaͤt, weil ich zu meiner Baſe auf das Landhaus
gehe. — So, zu der Frau Held? fiel Thomas
ein. Ja ja, das iſt eine ſeelengute Frau, die
den Armen hier im Dorf viel Gutes thut. Sie
kommt fleißig ruͤber in die Kirche, und bringt alle-
mal der Armuth etwas mit. Ey, Ey! So iſt
das Jhre Bas? Nun, da nimmt michs eben nicht
Wunder, daß Sie auch ſo brav ſind. Sagen Sies
ihr nur, daß man ſie im Dorf hier recht lieb hat!
Siegwart gieng aufs Landhaus, das eine klei-
ne halbe Stunde vom Dorf lag. Die Fran Held
ſpielte gerad im Gartenſaal auf dem Fluͤgel. Er
ſchlich ſich leiſe hinein, um ſie nicht zu ſtoͤren,
und ſetzte ſich zwiſchen Karolinen und Marianen
aufs Kanapee. Die Tante ſpielte mit viel Wahr-
heit und Ausdruck; unſre Liebenden druͤckten ſich,
bey jeder empfindungsvollen Stelle die Haͤnde,
und blickten ſich oft mit Thraͤnen der Zaͤrtlichkeit an.
Endlich, als die Tante ſich umſah, wurde ſie un-
ſern Siegwart gewahr, und hoͤrte auf zu ſpielen,
um ihn zu bewillkommen. Man ſprach etwas
uͤber die Muſik. Fau Held aͤuſſerte den Wunſch,
daß ſie unſern Siegwart, den ihr Mariane auch
als Muſikus ſehr geruͤhmt hatte, einmal hoͤren
moͤchte! Er verſprach, das naͤchſtemal ſeine Floͤte
mitzubringen; aber, ſagte er zu Marianen, dafuͤr
ſingen ſie heut eins. Sie ließ ſich nicht lang bit-
ten, holte ihre Muſikalien, und ſang einige ita-
liaͤniſche und deutſche Arien mit ſolcher Anmuth,
und mit ſo tiefer Empfindung, als ſie im Konzert,
wo die Menge von Zuhoͤrern zuruͤckhaltender macht,
noch nie geſungen hatte. Drauf ſetzte man ſich
ins Gruͤne, und Siegwart muſte, weil er eine
angenehme und volle Stimme hatte, Kleiſts
Fruͤhling vorleſen. Die Frauenzimmer hoͤrten mit
dem innigſten Antheil und herzlicher Aufmerkſam-
keit zu, und weinten zuletzt dem Andenken und
der Aſche des Dichters eine dankbare Thraͤne;
der ſchoͤnſte Lohn, den ſich ein edler Saͤnger nach dem
Tode wuͤnſchen kann! — Jch mache mir jeden
Fruͤhling, ſagte Siegwart, einen ſeſtlichen Tag,
und leſe erſt Kleiſts Fruͤhling, und dann die Ge-
ſchichte ſeines Lebens, und ſeines edeln Heldento-
des. Ein ſuͤſſeres Vergnuͤgen kenn’ ich gar nicht,
als die Thraͤnen des Dankes und der Ruͤhrung,
die ich dann ihm weine. Die Frauenzimmer ba-
ten einmuͤthig, daß er ſein Leben vorleſen moͤchte!
Er thats, und ward hundertmal durch ſeine eig-
nen, und die Thraͤnen der Frauenzimmer unter-
brochen. Hierauf erzaͤhlte er die Nachricht von der
edeln Gauſſin in Frankfurt an der Oder, die ihm
Hauptmann Northern erzaͤhlt hatte, daß nemlich
dieſes Maͤdchen jaͤhrlich Blumen auf des Dichters
Grab ſtreue. O, wir wollens auch thun! ſagte
Mariane, ſprang auf, pfluͤckte Roſen, Geißblatt
und andre Blumen. Karoline, ihre Tante, und
Siegwart machtens nach; und an einem ſchoͤnen,
etwas erhoͤhten Platz der einem Grabhuͤgel aͤhn-
lich ſah, ſtreuten ſie die Blumen aus. Hier will
ich mich begraben laſſen, ſagte Frau Held. Karo-
line! und Sie auch, Mariane! beſuchen Sie
dann jaͤhrlich mit Jhrem Siegwart dieſen Ort,
und denken Sie an mich, und dieſen Abend! —
Alle wurden uͤber dieſe Wendung des Geſpraͤchs
noch wehmuͤthiger. Sie ſetzten ſich auf die Blu-
men ins Gras. Frau Held fieng an mit Begeiſte-
rung von der Ewigkeit und vom Wiederſehn im
Himmel zu reden. Ach, ſo ſchloß ſie, da werd
ich auch den edeln Dichter ſehen, und ihm danken!
Aber heute|, ſagte ſie, indem ſie aufſtand, zu
Marienen und zu Siegwart, heute haben wir Sie
um einen ſchoͤnen Abend gebracht. Wie waͤrs,
wenn ſie hier blieben, und im herrlichen Mond-
ſchein mit uns ſpatzieren giengen? Jch habe
ſchon dafuͤr geſorgt, verſetzte Siegwart, und im
Dorf da druͤben ein Nachtquartier beſtellt. Herr-
lich, herrlich! ſagte Mariane, und gab ihm einen
Kuß. Er gieng nun mit ihr allein ins Waͤldchen
ſpazieren, und ſetzte ſich wieder unter den Apfel-
baum. Jndem er ſich ſetzte, flog aus dem naͤch-
ſten Buſch eine Graſemuͤcke: Er ſah in den Buſch,
und fand ein Neſtchen mit fuͤnf Eyern. Liebes
Maͤdchen, ſagte er, wir wollen uns anderswo
hinſetzen! Das arme Voͤgelchen wagt ſich nicht auf
ſein Neſt, und ſeine Eyer werden kalt. Sie gien-
gen weiter ins Gebuͤſch, und ſetzten ſich unter ei-
ne Fichte, durch die die etwas laute Luft majeſtaͤ-
tiſch, wie ein Strom rauſchte. Hier zwitſcherte
ihnen eine Graſemuͤcke ihren ungekuͤnſtelten Ge-
ſang vor. Horch! ſie dankt dir, ſagte Mariane,
und ſank ihm ans Herz. Eine ſelige Wehmuth
ſuͤllte ihre Seelen. Mariane lag in ſeinem Arm,
und weinte vor Zaͤrtlichkeit. Sie langte nach
dem Schnupſtuch, um die Thraͤnen wegzuwiſchen.
Siegwart hielt ihre Hand; nicht wegwiſchen! ſag-
te er, ich muß ſie wegkuͤſſen! Halbe Stunden
lang ſprachen ſie kein Wort. Das Abendroth
ſchien ihr durch die Hecken ins Geſicht. Die
Sonne geht ſchon unter, ſagte er, wir muͤſſen zur
Geſellſchaft! Sie ſtunden auf, und giengen nach
dem Garten. Siegwart brach von einem Ro-
ſenſtrauch zwo Roſen ab, die auf Einem Zweig
ſtunden. Er wollte ſie voneinander reiſſen, um
die Eine davon Marianen zu geben. Trenne ſie
nicht! ſagte ſie, ſie ſind ein Paar. Er ſteckte
beyde an ihren heiligen Buſen, mit den Worten:
ſo moͤgen ſie denn miteinander ſterben! Karoline
und ihre Tante ſaſſen vor dem Gartenhaus un-
ter den Kaſtanienbaͤumen. Seyd ihr gluͤcklich?
fragte Frau Held. Unausſprechlich! antwortete
Mariane. So daß ich fuͤrchte, ſetzte Siegwart
hinzu, unſer Gluͤck iſt gar zu groß! wir muͤſſens
bald verlieren! Da ſey Gott vor! ſagte Karoli-
ne. Sie giengen in den Gartenſaal, und aſſen
Erdbeeren in Milch. Wenn Mariane eine große
fand, ſo legte ſie ſie mit dem Loͤffel auf Sieg-
warts Teller. Als ſie die ihrigen eher aufgegeſ-
ſen hatte, ſo muſte ſie mit ihm eſſen. Erſt gab
er ihr einen Loͤffel voll, und dann nahm er den
andern. — Der Mond wird wol bald aufgehn-
ſagte die Tante, dort hinten wirds ſchon hell.
Sie giengen in den Garten, und blickten immer
gegen Morgen, wo der Mond aufgieng. Endlich
ward ein Woͤlkchen gantz verguͤldet; ſie giengen
an einen etwas erhoͤhten Ort, und ſtellten ſich
auf die Zehen, um den Mond ſogleich zu
ſehen. Er kommt, er kommt! rief end-
lich Siegwart voller Freuden aus. Ja, er glaͤnzt
ſchon an Jhrem Hut, ſagte Mariane. Nun kam
er in ſeiner ganzen ſtillen Majeſtaͤt herauf, und
beglaͤnzte den ganzen Garten. Die Blumen und
Gewaͤchſe ſchimmerten im Thau, und verbreite-
ten ihren lieblichen Geruch umher. Karoline ſah
ſehr traurig aus. Was fehlt dir, meine Liebe?
fragte Mariane. Ach, antwortete ſie; ich denke
jener Zeiten. Hier gieng ich vor drey Jahren
noch mit meinem Wilhelm, und nun ſcheint der
Mond ſeit zwey Jahren ſchon auf ſein Grab.
Sieh nur! wie er ſo traurig iſt, und hinter Wol-
ken geht! Ach, Mariane, moͤchteſt du das nie
erfahren! Tauſendmal hab ich mir gewuͤnſcht, nie
geliebt zu haben! Alle ſchwiegen, und verlohren
ſich in tiefer Wehmuth. Endlich wollte Siegwart
Abſchied nehmen. Wir begleiten Sie die Wieſe
noch hinauf, ſagte die Tante. Oben an der Wie-
ſe, nah am Dorf, nahmen ſie von einander Ab-
ſchied.
Siegwart kam zu ſeinem Bauren, der vor ſei-
nem Haus auf einer Bank ſaß, und ſchlief. Er
wachte auf, als Siegwart kam, ſtand ganz ſchlaf-
trunken auf, und nahm ſeine Muͤtze ab. Es thut
mir leid, ſagte Siegwart, daß ich ihn ſo lang
aufgehalten habe, ich ward druͤben aufgehalten.
Ey was, ſagte Thomas, das hat nichts zu bedeu-
ten. Jch ſaß da, und ſah den Mond an, bis ich
einſchlief. Es ſchlaͤft ſich gar gut im Mondſchein,
und es traͤumte mir eben, als ob ich geſtorben waͤr,
und in Himmel kaͤme. Da ſchien Sonn und
Mond zugleich. ’s mag auch wol ſo ſeyn! Nun,
nun, wenn der Herr jetzt ins Bett will, ſo kann
ich ihn hinauffuͤhren. Will gleich ein Licht anma-
chen. Siegwart ſagte, daß es gar nicht noͤthig
waͤre, und gieng ohne Licht hinauf. Er ſah noch
etwas aus dem Fenſter in die mondbeglaͤnzte Ge-
gend. Von ferne ſah er das weiße Landhaus durch-
ſchimmern, und ein Licht drinn. Er dachte, daß
dieß vielleicht Marianens Licht waͤre, und ſah hin-
aus, bis es ausgeloͤſcht wurde. Endlich gieng er,
vergnuͤgt wie ein Engel, zu Bette.
Um vier Uhr ward er durch das Horn des Kuh-
hirten, durch das Gebloͤk der Kuͤhe, und das
Schnattern der Gaͤnſe, die man austrieb, ſchon
wieder wach gemacht; auch unten in ſeinem Hau-
ſe war ſchon alles munter. Er zog ſich an, und
gieng hinab. Ey, Ey, ſagte Thomas, auch ſchon
auf? Das haͤtt ich nicht gedacht, daß die Stadt-
herren ſo bald aus den Federn koͤnnten. Komm,
Anne, ſo hieß ſein Weib, gruͤß den Herrn! Du
haſt ihn doch noch nicht geſehen. ’s iſt meiner
Seel ein braver Herr, und ſo gemein; denn er
ſpricht mit unſer einem, wie mit ſeines Gleichen.
Anne war ein freundliches Weib, und both Sieg-
wart an, in die Stube zu gehen, und Haberbrey
mit zu eſſen. Thomas lachte ſie uͤber dieſes Aner-
bieten aus; Siegwart aber ſagte, daß er alles
mitmache, und gieng in die Stube. Das Geſin-
de ſaß um eine große, dampfende Breypfanne herum,
den rechten Arm auf den Linken geſtuͤtzt, und aß
nach Herzensluſt. Sie gafften unſern Siegwart
ſtaunend an, und winkten ſich einander zu, als ob
ſie ſagen wollten: Sieh! das iſt ein rechter Herr!
Er ſah auf ſeine Taſchenuhr, und zog ſie auf. Die
Leute| ſahen einander voll Verwunderung an, weil
ſie nicht wuſten, was das waͤre? Ein Bauerkerl
ſah beſonders neugierig zu, und buͤckte ſich ganz
uͤber den Tiſch herum. Weis er nicht, was das
iſt? ſagte Siegwart; und auf die Antwort: Nein,
machte er das Uhrgehaͤuſe auf, und ſetzte ſich zu
ihnen. Die Knechte und Maͤgde wuſten nicht,
wie ſie ihre Verwunderung uͤber das kuͤnſtliche Ge-
maͤchte genug an den Tag legen ſollten. Sie glaub-
ten, es gieng ohne Zauberey nicht zu, daß ſich die
kleinen Raͤder alle ſo von ſelbſt bewegten. So
eine Uhr, glaubten ſie, waͤre wol viel Jauchert Ak-
kers werth. Anne brachte nun in einer kleinern
Pfanne, Brey fuͤr Siegwart. Das Geſinde gieng
indeſſen mit Thomas ins Feld hinaus zur Heu-
erndte. Anne war ſehr geſpraͤchig und ſehr neu-
gierig. Sie that von fern allerley Fragen, um etwas
von Siegwarts Stand und Umſtaͤnden zu erfahren.
Er ſagte, daß er die Frau Held, die ſeine Baſe ſey,
beſucht habe. Nun brach die Baͤurin in Lobeserhe-
bungen der Frau Held aus, daß ſie ſo fromm und
gutthaͤtig gegen die Armen ſey, und mit jedem
Bauersweibe ſpreche, als ob ſie ſelbſt nicht viel
mehr waͤre. Sie war auch ſchon einmal bey mir,
ſagte ſie, als ich vor einem Jahr im Kindbett lag,
und ſo krank war. Jch hatte da ſo ſtarke Hitzen,
und ſie brachte mir Himbeerſaft, und andre gute
Sachen, daß mir bald drauf beſſer wurde. Jch
ſehe ſie ſeitdem immer drum an, und dank ihr in
der Stille, ſo oft ich ſie ſeh. Sie hat auch ein
paar recht brave Jungfern bey ſich, die man ſich
nicht beſſer wuͤnſchen koͤnnte. Die Eine davon iſt
ihre Baſe, die war ſchon oft bey ihr. Aber die
andre hab ich noch in meinem Leben nicht geſe-
hen. Das iſt gar ein bildſchoͤnes Fraͤulein, ſie hat
ein Geſicht wie Wachs, und Backen wie Milch und
Blut. Jch meyne, ich koͤnne ſie nicht genug anſehn,
wenn ſie in die Kirche koͤmmt. Sie gruͤßt da die Leu-
te ſo freundlich, und iſt ſo andaͤchtig, daß es einen
in der Seele wohl thut. Sie ſoll von vornehmen
Leuten ſeyn, und thut doch gar nicht vornehm.
Erſt letztern Sonntag ſagte ſie zu mir: Guten Mor-
gen, Anne! und kuͤßte meine kleine Kathrine,
als obs ihr eignes Kind waͤre.
Jndem kamen zwey Kinder, die eben aufgeſtan-
den waren, in die Stube; ein Knabe von ſieben,
und ein Maͤdchen von fuͤnf Jahren. Sie ſtutzten
anfaͤnglich, als ſie den fremden Herrn ſahen. Als
aber Siegwart freundlich auf ſie zu kam, wurden
ſie nach und nach vertraulich, und endlich ganz
zuthaͤtig, und erzaͤhlten ihm allerley Geſchichten.
Die Baͤurin ſah Siegwart wie einen Engel an,
weil er mit ihren Kindern ſo freundlich that, und
ſich ſo zu ihnen herabzulaſſen wußte.
Waͤhrend daß er mit ihnen ſpielte, kam
Frau Held mit Marianen und Karolinen, um
ihn zu einem Spatziergang abzuholen. Sie ſpra-
chen noch eine Zeitlang mit Annen, und giengen
dann, durch das naͤchſte Waͤldchen, dem Schloß
zu. Siegwart erzaͤhlte ihnen, wie er ſeine Zeit
in dem Dorf zugebracht habe, und machte ihnen
durch ſeine Schilderung viele Freude. Den Mit-
tag aſſen ſie zuſammen im Gartenſaal, und nach
dem Eſſen ſpielte Frau Held auf dem Fluͤgel. Ge-
gen Abend nahm Siegwart Abſchied, nachdem er
erſt verſprochen hatte, den andern Tag wieder zu
kommen, zumal da Mariane ſagte, ihre Mutter
wuͤrde dann ein paar Tage bey ihnen zubringen,
und alſo wuͤrde er dann nicht herauskommen koͤn-
nen. Er verſprach auch, ſeine Floͤte mitzubringen.
Sie begleiteten ihn noch eine halbe Stunde weit.
Er kuͤßte ſeine Mariane aufs zaͤrlichſte, und nahm
von Frau Held und Karolinen Abſchied.
Den andern Morgen war das Wetter ſehr ſchwuͤl,
und ein Gewitter zog nach dem andern vorbey.
Er ſah alle Augenblicke nach dem Himmel, und
war ſehr beſorgt, er moͤchte nicht aufs Landguth
hinaus gehen koͤnnen. Sein Barometer, den er
jede Viertelſtunde beſah, fiel immer tiefer, und
endlich brach um zwoͤlf Uhr ein heftiges Gewitter
los, das mit Hagel und Schloſſen begleitet war.
Er war daruͤber ſehr betruͤbt, hoffte aber immer,
es wuͤrde ſich noch aufheitern. Jede Waſſerhelle
hielt er fuͤr klaren Himmel, und ſah dann mit Mis-
vergnuͤgen wieder neue Wolken aufſteigen. Einmal
zog er ſich ſchon an, um wegzugehen, weil der Him-
mel etwas hell ward; aber, als er aus dem Hauſe
wollte, kam ein neuer heftiger Gewitterſchauer; und
ſo giengs den ganzen Abend fort; bis er endlich,
wider ſeinen Willen, ſich entſchlieſſen mußte, da
zu bleiben. Er ſtellte ſich immer vor, wie ſie auf
ihn warten wuͤrden, und machte ſich dann ſelber
wieder Vorwuͤrfe, daß er doch nicht, trotz dem
Wetter, hinausgegangen ſey. Der ganze Abend
war ihm laͤſtig und langweilig; er konnte nichts
leſen, und nichts denken. Mariane, mit ihrer
laͤndlichen Geſellſchaft war ſein einziger Gedanke,
bis Dahlmund, ihn zu beſuchen, kam. Dieſer
fragte ihn, wo er doch geweſen ſey? Er hab
ihn ſo lang ſchon nicht geſehen. Siegwart antwor-
tete, er ſey bey Frau Held geweſen. — Bey Frau
Held? ſagte Dahlmund haſtig; von der hab ich
wenig Gutes gehoͤrt; und nun erzaͤhlte er allerley
Verleumdungen, die man ihm von ihr beygebracht
hatte; daß ſie ihrem Mann untreu geweſen, aus
Liebe alle Augenblicke naͤrriſch geworden ſey, und
dergleichen mehr. Siegwart fuhr auf, und wollte
boͤſe werden; aber Dahlmund beruhigte ihn wie-
der durch die Verſicherung, daß er dieſe Ausſagen
ſelbſt nicht glaube, und es ſich zur Regel wolle
dienen laſſen, dergleichen Geſchwaͤtze nicht mehr
anzuhoͤren.
Den folgenden Tag hoffte Siegwart halb und
halb, von ſeinem Vater Antwort zu bekommen,
aber vergeblich. Das Wetter war wieder ſchoͤn
geworden, und er waͤre ſo gern zu ſeiner lieben
Mariane hingeeilt, aber er ſah ihre Mutter weg-
fahren, und wagte ſich alſo nicht aufs Guth hinaus.
Am dritten Tag, als ſie wieder zuruͤckkam, gieng
er noch denſelben Abend hinaus, und kam erſt
in der Daͤmmerung bey ihnen an, als Mariane
mit Karolinen eben die Levkojenſtoͤcke begoß. Sie
ließ vor Freuden die Gießkanne fallen, als ſie ih-
ren Siegwart wieder ſah, und lief auf ihn zu. Er
ſchloß ſie mit Jnbrunſt in den Arm, und entſchul-
digte ſich, daß er letzthin nicht Wort gehalten, und
herausgekommen ſey. Ach, ſagte ſie, ich haͤtte ge-
zittert, wenn Sie bey dem fuͤrchterlichen Wetter
gekommen waͤren. Wir glaubten hier, die Welt
werde untergehn; es war Feuer an Feuer, und
Schlag auf Schlag. Beſonders Einmal kam
ein Donnerſchlag, von dem wir glaubten, er hab
unſer Haus getroffen; wenigſtens muß der Blitz
ganz in der Naͤhe eingeſchlagen haben. Jetzt iſts
ſchon zu daͤmmerig; morgen ſollen Sie ſehen,
wie der Hagel unſre lieben Blumen, und den gan-
zen Garten mitgenommen hat. Frau Held kam
nun auch, und bewillkommte unſern Siegwart.
Sie ſetzten ſich in den Gartenſaal zuſammen. Frau
Held ſpielte den Fluͤgel, und Siegwart ſaß mit
ſeiner Mariane auf dem Kanapee, gab und nahm
tauſend Kuͤſſe; und empfand das Gluͤck der Zaͤrt-
lichkeit gedoppelt, weil er von ſeinem Engel einige
Tage hatte getrennt leben muͤſſen. Nach dem
Abendeſſen giengen ſie im Garten ſpatzieren. Sieg-
wart ſchlich ſich unvermerkt weg; ſetzte ſich auf ei-
nen halb umgebognen Birnbaum, und fieng an,
auf der Floͤte zu ſpielen. Bravo, bravo! riefen
die Frauenzimmer, kamen zu ihm, und ſetzten ſich
ihm zur Seite an den Birnbaum. Der Ton ſei-
ner Floͤte klang wie Silber durch die ſtille Som-
mernacht. Jhre Herzen wurden weich, und weh-
muͤthig. Mariane ſank ihm endlich an ſein Herz.
Er ließ die Floͤte ſinken, und umarmte ſie. Kei-
nes konnte vor Entzuͤcken und Empfindung ſpre-
chen. Nachdem er Marianen gnug gekuͤßt hatte,
mußte er noch drey, oder vier Arien ſpielen, und
gieng erſt um zehn Uhr auf ſein Dorf hinuͤber.
Die Frauenzimmer begleiteten ihn noch. Unter-
wegs freuten ſie ſich uͤber die haͤufigen Johannis-
wuͤrmchen, die wie kleine Feuerfunken durch die
Nacht flogen. Siegwart fieng ein paar Wuͤrm-
chen. Eins davon legte er auf ſeinen, und das
andre auf Marianens Sonnenhut. Als ſie von
einander Abſchied nahmen, blieb er ſtehen, und
ſah das Wuͤrmchen noch lang auf ihrem Hut glaͤn-
zen.
Seinen Bauren Thomas und ſein Weib
traf er noch auf der Bank vor dem Haus
ſitzend an. Er merkte, daß ſie niedergeſchlagen waͤ-
ren, wollte ſie aber heut nicht mehr um die Urſa-
che davon fragen. Auf der Kammer legte er ſich
noch ins Fenſter, und blies, eh er zu Bette gieng,
fuͤnf, oder ſechs Floͤtenſtuͤcke. Um vier Uhr ſtand
er den andern Morgen auf, und gieng zu Tho-
mas hinunter. Dieſer ſaß, die Hand an den Kopf
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geſtuͤtzt, am Tiſch, und ſeine Frau neben ihm.
Wo fehlts, Thomas? ſagte Siegwart. Ach, uͤber-
all, Herr! antwortete der Bauer. Wir ſind eben
geſchlagene Leute, ſeit uns unſer Herr Gott ſo
heimgeſucht, und all unſer Korn durch den Ha-
gel weggenommen hat. Da ſitzen meine Leute
nun, und haben nichts zu thun, als die Aecker, wo
die liebe Saat geſtanden hat, umzupfluͤgen, und
allenfalls Ruͤben oder Wickenfutter drauf zu ſaͤen.
Jch weis nicht, wie’s mir auf den Winter gehen
wird, zumal wenn die Herrſchaft doch die Gebuͤhr
haben will. Stand nicht unſer Feld ſo ſchoͤn, und
als ich da nach dem Hagelwetter hinauskomm, ſteht
kein Halm mehr, und das Waſſer laͤuft mir ſtrom-
weis entgegen, und die Leute liegen auf den
Knien, ſchlagen die Haͤnd’ uͤber’m Kopf zuſammen,
und fangen ein Geheul an, daß ich bald mein
eignes Elend drob vergeſſen haͤtte. Es iſt, weis
Gott! ein Hartes; und, wenns nicht von Gott
herkaͤme, wuͤßt ich mich nicht drein zu finden! Er
klagte noch eine gute Zeit ſo fort, und ſagte: wenn
er nur zwoͤlf Gulden haͤtte, um neues Saamen-
korn einzukaufen, und ſeine Haushaltung etwas
zu beſtreiten, ſo gieng’s noch an, ſonſt muͤſſ’ er
einen Acker verkaufen; und jetzt gebe niemand
nichts drum, weil kein Menſch im Dorf Geld
habe. Siegwart troͤſtete ihn, ſo gut er konnte,
und gieng um neun Uhr aufs Schloß hinuͤber
zu Frau Held und der uͤbrigen Geſellſchaft.
Es war eben ein Bauer aus dem Dorfe da,
der bey Frau Held etwas Geld entlehnte, weil
ihm der Hagel auch ſeine Fruͤchte zerſchlagen hatte.
Der Bauer gieng mit Thraͤnen in den Augen weg,
und dankte. Er mußte den Flachs, den er der
Frau Held hatte verehren wollen, wieder mitneh-
men, und daruͤber war er noch mehr geruͤhrt.
Als er weggegangen war, fieng Siegwart an:
Jch haͤtt auch eine Bitte einzulegen fuͤr meinen
Hauswirth Thomas. Der arme Mann hat kein
Geld zur neuen Ausſaat, und wollte doch nicht
gern einen Acker verkaufen. Mit zwoͤlf bis funf-
zehn Gulden waͤr ihm geholfen. Wollten Sie es
wohl mir zu Gefallen thun, Frau Held? Herzlich
gern, antwortete ſie, und gieng aus dem Saal. —
Kommen Sie! ſagte Mariane zu Siegwart und
Karolinen; wir wollen nach den Blumen ſehen,
die der Hagel verderbt hat. Sie giengen in den
Wurzgarten. Es war ein trauriger Anblick. Den
Levkojenſtoͤcken waren mehrentheils die Zweige ab-
geſchlagen, und die ſchoͤnſten Blumen lagen zerfetzt
im Schlamm. Die Roſen hiengen halb entblaͤttert
am Strauch; die Knoſpen waren zerknickt, oder
die Blaͤtter durchloͤchert, und gelb. Den Aurickel-
ſtoͤcken waren die Herzblaͤtter abgeſchlagen; unter
den Baͤumen lag das Laub, und die unreife Frucht
dickgeſaͤt. Kurz, die Verwuͤſtung war faſt allge-
mein. Siegwart und die Maͤdchen blickten trau-
rig drauf hin. Noch vor wenig Tagen, ſagte
Siegwart, wars hier wie ein Paradies, und
nun! — — — Gott! wie unbeſtaͤndig iſt doch
alles! — Sie werden zu traurig, ſagte Karoli-
ne, und fuͤhrte ſie wieder in den Gartenſaal. Ma-
riane ſetzte ſich an den Fluͤgel, und ſpielte. Frau
Held kam dazu, und ſetzte ſich zu Siegwart.
Nach einer halben Stunde kam Thomas, und
fragte, was die geſtrenge Frau zu beſehlen habe?
Sie erkundigte ſich nach einigen ihrer Aecker, die
Thomas zu beſtellen hatte, ob der Hagel da viel
Schaden angerichtet habe? Endlich fragte ſie ihn,
wie von ungefaͤhr, ob er auch ſehr drunter gelitten
habe? Und als er es bejahete, und ſeine jetzige Ver-
legenheit erzaͤhlte, bot ſie ihm an, ihm 20 oder
25 Gulden vorzuſchieſſen. Der Bauer wußte
nicht, wie ihm war, und was er ſagen ſollte?
Frau Held holte das Geld, und gab es ihm. Er
war ganz auſſer ſich, und konnte vor Thraͤnen
nicht zu Worte kommen. Dankend und weinend
nahm er Abſchied.
Die Geſellſchaft ſprach nun von dem Gluͤck,
Reichthuͤmer zu beſitzen, wenn man auch die Kunſt
weis, ſie wohl anzuwenden. Jch ſchaͤme mich nicht,
ſagte Siegwart, meine Schwachheit zu geſtehen,
und mir viel Vermoͤgen zu wuͤnſchen. Wer viel
hat, kann viel geben! Mariane blickte ihn fuͤr
dieſe Geſinnungen mit Zaͤrtlichkeit an; druͤckte ſeine
Hand, und ſank ſtillſchweigend an ſein Herz.
Eine halbe Stunde drauf gieng man zu Tiſch.
Die Mahlzeit war ſehr einfach. Eßt, meine lieben
Kinder! ſagte Frau Held. Bey mir ſieht man
dem Koch bald unter die Augen. So iſts am
beſten, ſagte Mariane. An den allzuſehr beladnen
Tafeln will mirs nie ganz ſchmecken. Man ißt
auf Koſten ſeiner Geſundheit, und der Gedanke
macht mir jeden Biſſen bitter: Daß von dieſem
Ueberfluß, wenn er in gemeine nahrhafte Speiſen
verwandelt wuͤrde, zwanzig und mehr Arme koͤnn-
ten geſaͤttigt werden. Jch ſah einmal den Hof in
Muͤnchen offne Tafel halten. Die Tiſche waren
voll; die Gaͤſte uͤberſaͤttigt, und hundert Menſchen
mit eingefallenen Geſichtern ſtanden da, denen man
den Wunſch aus den Augen leſen konnte: Wenn
doch meine armen Kinder davon haͤtten! Das gieng
mir durch Mark und Bein, und ich dachte: Jch
moͤchte nie ein Fuͤrſt, oder eine Fuͤrſtin ſeyn, wenn
ich fuͤrſtlich leben muͤßte. Zumal wenn man denkt,
daß mehrentheils der Schweiß der Unterthanen auf
den Tiſch kommt! —
Frau Held hatte nach Tiſch mit Karolinen einige
Haushaltungsgeſchaͤfte zu beſorgen. Siegwart gieng
mit Marianen nach dem Waͤldchen. Sie haben
geſtern Abend, fieng Mariane an, mir mit Jhrer
Floͤte noch viel Vergnuͤgen gemacht. Jch konnts noch
hoͤren, als ich ſchon zu Bette lag. Es war, als
ob ich Jhre Seele ſprechen hoͤrte. Ueberhaupt iſt
der Floͤtenton der Ton der Liebe, oder des guten
Herzens. Wenn ich einen gut die Floͤte ſpielen
hoͤre, ſo iſt mirs kaum moͤglich, zu glauben, daß
dieſer Menſch, wenigſtens in dieſem Augenblick,
etwas Boͤſes denken, oder ausuͤben koͤnne. So
geht mirs faſt bey allen Jnſtrumenten, ſagte
Siegwart.
Sie waren nun im Waͤldchen. Gott! Was iſt
da geſchehen! ſagte Siegwart. Der Apfelbaum,
unter dem ſie auf der Raſenbank geſeſſen hatten,
war vom Blitz entzwey geborſten. Die Aeſte la-
gen umher verſtreut, und die Blaͤtter waren ver-
ſengt. Mariane ſtand blaß und zitternd da. Das
iſt der Donnerſchlag, den wir gehoͤrt haben, ſagte
ſie. Haͤtten wir denken ſollen, daß das unſerm
lieben Baum gelte! Siegwart hatte indeſſen in der
Hecke nach dem Graſemuͤckeneſtchen geſehen. Sieh,
Mariane! ſagte er, und konnte weiter nicht ſpre-
chen. Sie ſah hin. Die Mutter ſaß im Neſtchen
todt auf ihren Jungen. Neben ihr lag das Maͤnn-
chen, mit ausgebreiteten Fluͤgeln, todt. Was half
nun meine Vorſicht? ſagte er. Haͤtt ichs wegge-
jagt vom Neſtchen, und ſie lebten noch! — Ma-
riane ſetzte ſich, ganz betaͤubt, am geſpaltnen Stamm
auf die Raſenbank.
Sie ſchwiegen lang, und ſahn ſich traurig an.
Wo mag geſtern Hofrath Schrager hingefahren
ſeyn? fragte endlich Siegwart. Es war ein Koffre
hinten auf dem Wagen aufgepackt. Vermuthlich
nach Abach, ſagte Mariane; meine Mutter hat
davon geſagt. Nach Abach? fragte Siegwart
ganz tiefſinnig. Weis Jhr Vater was davon?
Vermuthlich; war Marianens Antwort. Mein
Vater hat ihm einen Brief zugeſchickt.
Siegwart. Und das ſagen Sie ſo kalt?
Mariane. Warum nicht, mein Lieber? Fuͤrch-
ten Sie ſchon wieder?
Siegwart. Sollt’ ich etwa nicht? Ach Maria-
ne, Mariane! Jhre Gleichguͤltigkeit iſt mir uner-
klaͤrlich. Jch kann nie ohne Zittern an den Hof-
rath denken. Sie wiſſen, welchen Schrecken er
uns ſchon gemacht hat.
Mariane. Und doch giengs voruͤber. Seyn
Sie ruhig! An meiner Liebe werden Sie doch
nicht zweifeln?
Siegwart. An Jhrer Liebe warlich nicht!
Aber ſchuͤtzt dieſe uns vor allem? Jch fuͤrchte, ich
fuͤrchte, das Schickſal, oder Menſchen werden uns
nicht zuſammen leben laſſen.
Mariane. So laͤßts uns doch zuſammen ſter-
ben. Denk an die Voͤgel dort im Buſch! Ach
Siegwart! du haſt viel zu wenig Glauben an die
Vorſehung, und an dich, und mich. Mein Herz
haſt du. Meine Hand noch nicht, aber ſie ſoll
keines andern werden. Jch ſchwoͤr es dir aufs
neu vor Gott und allen Heiligen. Man koͤnnte
dich mir rauben, aber keinem andern geben kann
mich niemand. Dazu gehoͤrt mein Wille, und den
Willen eines Menſchen hat noch kein Menſch
gezwungen.
Karoline und ihre Tante kamen ins Waͤldchen, eh
noch Mariane ausgeſprochen hatte. Sie bedaurten
zuſammen den ſchoͤnen Apfelbaum, und das ganze
Waͤldchen, das von den Schloſſen ſehr viel gelitten
hatte. Ueberall lagen Zweige und Fruͤchte, manch-
mal war die Rinde mit abgeſchaͤlt. Dieſer Anblick
machte ſie traurig, und ſtill. Sie giengen wieder
nach dem Garten. Unterwegs ſagte Mariane ih-
rem Siegwaat, in acht Tagen werd ihr Vater
wieder kommen, und ſie ſelbſt zieh in vier Tagen
wieder in die Stadt. Er mußte verſprechen, we-
nigſtens noch zweymal herauszukommen; denn heut
wollte er in die Stadt, weil er morgen gewiß ei-
nen Brief von ſeinem Vater erwartete.
Gegen Abend gieng er alſo nach der Stadt,
und hatte wegen der Nachricht vom Hofrath
Schrager tauſend unruhige Gedanken, denn er
glaubte gewiß, daß ſeine Reiſe nach dem Bad die
Verheyrathung mit Marianen zur Abſicht habe.
Marianens Verſicherung, daß ſie ihm treu bleiben
wolle, konnte ihn nicht genug beruhigen, denn
er wußte, wie viel Kuͤnſte man anwenden koͤnne,
ein Maͤdchen durch Liſt und durch Gewalt auf
andre Gedanken zu bringen. Er hatte Muth ge-
nug, alles zu unternehmen, aber mehr gegen offen-
bare Gewalt als gegen Liſt und Kunſtgriffe; und
mehr, wenn die Gefahr ſchon da war, als wenn
ſie erſt noch von ferne drohte.
Den Tag darauf wartete er mit der groͤſten
Sehnſucht auf einen Brief von ſeinem Vater.
Der Brieſtraͤger kam endlich. Mit klopfendem
Herzen ſprang er ihm die Treppe hinab entgegen;
nahm den Brief an, ohne die Ueberſchrift zu le-
ſen, und brach ihn auf. Wie erſchrack er, als er
ſtatt der Handſchrift ſeines Vaters, des jungen
Gruͤnbachs ſeine ſah, der ihm berichtete: Er wer-
de nun gewiß an Michaelis nach Jngolſtadt kom-
men, da er an Oſtern daran verhindert worden
ſey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn
ausgeleſen hatte, und machte ſich tauſend ſchreckli-
che Vorſtellungen, warum wol ſein Vater nicht
geſchrieben haben moͤge, da doch ſchon vor vier
Poſttagen ein Brief haͤtte ankommen koͤnnen. Mit
alle ſeinem Nachſinnen bracht er doch nichts heraus,
als tauſenderley Muthmaſſungen, deren immer ei-
ne die andre wieder aufhob.
Voll verdruͤßlicher Grillen und uͤbler Laune gieng
er aufs Landguth hinaus. Mariane ſahs ihm bald
an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete
ſie, er habe einen verdruͤßlichen Brief bekommen;
als ſie aber hoͤrte, daß er gar keinen erhalten habe,
und nur deswegen ſo unruhig ſey, ſtellte ſie ihm
vor, wie unnoͤthiger Weiſe er ſich ſelber quaͤle, da
es ja eben ſoviel gute oder gleichguͤltige Urſachen
geben koͤnne, warum der Brief einen Poſttag laͤn-
ger ausbleibe, als boͤſe, und unangenehme. Jhre
Gruͤnde, und noch mehr ihr freundliches Geſicht
hellten ſeine Seele wieder auf, und bannten alle
Zweifel und Gruͤbeleyen draus weg; und dieſer
Abend war ihm einer der froͤhlichſten, zumal da
ihm auch Mariane noch ſagte, es ſey ihr erſt bey-
gefallen, daß der Hofrath Schrager ſchon vor ei-
nem Jahr geſagt habe, er wolle dieſen Sommer
ins Abacherbad reifen. Er blieb bis nach zehn
Uhr bey Frau Held, und traf ſeinen Bauren
ſchon im Bette an. Es that ihm leid, daß er
ihn wecken mußte, aber Thomas that ganz freund-
lich.
Den andern Morgen fand er auch Thomas
und ſein Weib recht aufgeraͤumt. Sie erzaͤhlten
ihm mit groſſen Freuden, was er ſchon wußte,
daß Frau Held ihnen in ihrer Noth ausgeholfen,
und ihnen mehr vorgeſchoſſen habe, als ſie noͤthig
gehabt haͤtten. Sie brachen in Lobeserhebungen
der gutthaͤtigen Frau Held aus, und Siegwart
freute ſich mit ihnen gemeinſchaftlich druͤber. Als
er ſagte, daß er eben zu ihr hinuͤber gehe, trugen
ſie ihm tauſend herzliche Gruͤſſe und Segens-
wuͤnſche an ſie auf.
Frau Held ſchlug ihrer Geſellſchaft zur Abwech-
ſelung vor, auf einem ſehr ſchoͤnen Teich, der ihr
gehoͤrte, und nicht gar weit vom Schloß lag,
herumzufahren, und zu angeln. Der Teich war
laͤnglicht, und mit einem dicken Geſtraͤuch von
Hagdorn umgeben, welches eben bluͤhte. Die
Bluͤthen, welche ſich im klaren Waſſer ſpiegelten,
der blaue Himmel, und die Sonne, die daraus
zuruͤckſtralten; das ſanfte Luͤftchen, das die Hitze
kuͤhlte, und der Geſang der Voͤgel am Ufer mach-
ten die Fahrt anſſerordentlich angenehm. Sie
fiengen mit der Angel nur ſo viele Fiſche, als ſie
zum Mittagseſſen noͤthig hatten. Drauf nahm
Siegwart ſeine Floͤte, und blies; Mariane ſang
dazu. Sie waren alle ſo heiter, wie der Som-
mermorgen. Die Freude ſtralte aus ihren Geſich-
tern, wie die Sonn aus dem Teich. Am Ufer
beſteckten ſie ihre Huͤte mit Hagdornbluͤthen, und
giengen ſo, Hand in Hand, in den Gartenſaal zuruͤck,
wo ſie bald darauf zuſammen aſſen, und den Nach-
mittag mit Scherz und frohem Lachen zubrach-
ten.
Als Siegwart Abſchied nahm, ſagte Frau Held:
Sie verlaſſen mich nun; Jhre Mariane will in
zween Tagen nachfolgen, und in drey Tagen bin
ich mit meiner Nichte in der Einoͤde. Das waͤre
doch nicht recht, wenn Sie uns ſo ganz allein laſ-
ſen wollten. Zuweilen, daͤcht ich, koͤnnten Sie
uns wol noch einen Nachmittag ſchenken. Wenn
wir Sie gleich nicht ſo gut, wie Jhre Mariane,
unterhalten koͤnnen, ſo wollen wir doch unſer moͤg-
lichſtes thun; ohne daß Mariane Urſache zur Ei-
ferſucht bekommen ſoll. Wollen Sies mir wol in
die Hand verſprechen, noch zuweilen an uns zu
denken? Siegwart gab ihr die Hand, und ver-
ſprach, ſie gewiß oͤfters zu beſuchen. Er nahm
mit tauſend herzlichen Dankſagungen Abſchied, kuͤßte
ſeine Mariane, und gieng tauſendmal vergnuͤgter,
als er herausgegangen war, wieder nach der
Stadt.
Zu Haus fand er einen Brief von ſeiner Schwe-
ſter, der faſt nichts, als ihr unausſprechliches
Gluͤck, die Zaͤrtlichkeit ihres Kronhelm, und Ein-
richtungen auf ihren Guͤtern, und in ihrem Haus-
weſen zum Jnhalt hatte. Er ſchrieb ihr und ſei-
nem Schwager ſogleich wieder, meldete ihnen ſei-
ne jetzige Lage mit Marianen, daß er alle Tage
von ſeinem Vater Antwort erwarte, und dieſen
Brief ſo lang zuruͤckbehalten wolle, bis er ihnen
zugleich die Antwort mit melden koͤnne.
Zween Tage nachher kam Mariane wieder vom
Land zuruͤck. Er ſah ſie ausſteigen, und gruͤßte
ſie vom Fenſter aus. Den Tag drauf erhielt er
endlich den laͤngſt ſo ſehnlich erwarteten Brief von
ſeinem Vater: Aber — Gott! wie erſchrak er,
als er folgendes las:
Theurer Sohn!
Dein Schreiben habe erhalten, und wollte es
ſchon beantworten, als mich Gott mit einer ſchwe-
ren Krankheit heimſuchte, und dem Tod nahe
brachte. Seit ein paar Tagen fuͤhl ich einige Lin-
derung, und der Arzt will von Hofnung ſagen;
aber ich ſuͤhle noch Todesſchwaͤche, und ſchreibe
dieſes, wie du ſiehſt, mit zitternder Hand. Theu-
rer Sohn, du weiſt, was ich auf dich halte, und
wuͤnſche ich daher nichts ſehnlicher, als dich vor
meinem Ende, welches vielleicht vor der Thuͤr iſt,
noch einmal zu ſehen, und dir meinen vaͤterlichen
Segen aufzulegen. Von der bewußten Sache
koͤnnen wir dann auch ſprechen; ſollteſt du mich
aber, nach Gottes Willen, ſchon todt antreffen, ſo
erklaͤr ich mich hiemit, daß nichts dagegen habe,
und es gern ſehe, wenn du weltlich bleibſt, und
durch meines Freundes Tochter gluͤcklich wirſt.
Gruͤß und verſichre ſie meiner gaͤnzlichen Zunei-
gung! Bleib nur fromm und redlich! Dies iſt der
beſte Segen, den dir dein Vater auf der Welt
zuruͤck laſſen kann. Komm ſo bald, als moͤglich,
denn ich bin ſehr ſchwach, und kann nicht weiter
ſchreiben.
Bin dein, auch noch im Tod getreuer
Vater
Siegwart. Amtmann.
Das ganze kindliche Herz unſers Siegwarts
ward im Jnnerſten erſchuͤttert, als er dieſen Brief
erhielt. Thraͤnen ſtuͤrzten ſtromweis auf das Blatt
hin. Er wagte es kaum den Brief zum zwey-
tenmal zu leſen; und doch hatte er ſeinen Jnhalt
noch nicht halb gefaßt. Die dringende Nothwen-
digkeit, ſogleich abzureiſen, machte ihn noch ſtaͤr-
ker, und gewiſſermaßen unempfindlicher, als er
ſonſt geweſen waͤre. Die Einwilligung ſeines Va-
ters in ſeine Liebe, war ein Stral, der ihm die
tiefe Dunkelheit noch in etwas erhellte. Er lief
aus dem Haus, und beſtellte ein Pferd. Dann
gieng er geradezu in Marianens Haus, und ver-
langte, ſie zu ſprechen. Sie kam zu ihm aufs
Beſuchzimmer. Verzeihen Sie! ſagte er, und
gab ihr ſeines Vaters Brief; ich mußte Sie noch
ſprechen. Sie las, konnte den Brief kaum vor
Zittern halten, ward bald roth, bald blaß, gieng
endlich auf ihren Siegwart ſchweigend zu, und
ſank weinend in ſeinen Arm. Gott ſteh Jhnen
bey! ſagte ſie nach einiger Zeit. — Ach, meine
Liebe, antwortete er; ich muß noch heute ſort. —
Aber, vergeſſen Sie mich nicht! O vergeſſen Sie
mich nicht! Jch will ſobald als moͤglich wieder
kommen. Wollten Sie mir wol einmal einen Brief
ſchreiben, meine Liebe? — Wie kann ich das?
fragte ſie. — Durch Jhren Bruder, war die
Antwort. — Gut, ich will es thun, ſagte ſie. Aber
kommen Sie nur bald wieder zuruͤck! Jch will fuͤr
Sie, und fuͤr die Geneſung Jhres Vaters beten.
Er verſprach noch einmal, aufs moͤglichſtbaldeſte
zu kommen, und ihr durch ihren Bruder ſogleich
von Haus aus zu ſchreiben, wie es mit ihm und
ſeinem Vater ſtuͤnde. Sie umarmten ſich noch
einmal aufs zaͤrtlichſte, und konnten vor Schluch-
zen kein Wort ſprechen. Siegwart gieng noch auf
einige Augenblicke zu Marianens Mutter, um
von ihr Abſchied zu nehmen, die ihn aufs freund-
ſchaftlichſte empfieng, und ihm auf die theilneh-
mendſte Art ihr Beyleid bezeugte. Mariane be-
gleitete ihn die Treppe hinab, ſank in der Haus-
thuͤr noch einmal in ſeinen Arm, weinte an ſei-
nem Buſen, und verſprach ihm, alle Tage etwas
an ihn aufzuſchreiben. Er riß ſich aus ihren Ar-
men los, und gieng.
Nach einer Stunde ſetzte er ſich zu Pferd, ſah
noch einmal weinend zu ſeiner Mariane hinauf,
und ritt weg. Schmerz und tiefe Traurigkeit be-
gleiteten ihn auf dem ganzen Wege. Jn einem
Dorf ſtieß er auf ein Leichenbegaͤngnis. Dieſer
Anblick durchbohrte ihm das Herz. Er ritt ſchnell
vorbey, um ſeine Thraͤnen zu verbergen. Er ſtell-
te ſpaͤt bey Nacht ein, und ritt Morgens wieder
fruͤh weg. Den andern Tag kam er, ziemlich
ſpaͤt, in ſeinem Dorf, und vor ſeinem Haus an.
Kein Menſch kam ans Fenſter. Nur im hintern
Zimmer ſah er ein ſchwaches Licht. Er fuͤhrte ſein
Pferd ſelbſt in den Stall, und gieng ins Haus.
Alles war ſtill; kein Menſch begegnete ihm. Zit-
ternd, und mit lautem Herzklopfen gieng er an das
Zimmer ſeines Vaters. Auch da hoͤrte er keinen
K k k
Laut. Er machte leis auf, und trat hinein. Sei-
ne Bruͤder, Salome, und ſeine Schwaͤgerin ſtan-
den ſchluchzend ums Bett’ herum. Schweigend
wichen ſie zuruͤck, als er hin trat. Todtenbleich
lag ſein Vater auf dem Bett, und ſtreckte die Hand
nach ihm aus, die kraftlos wieder niederſank.
Mein Sohn! — ſagte er. Siegwart ſtuͤrzte ſich
mit Thraͤnen uͤber ſeinen Vater, und kuͤßte und
benetzte ſein Geſicht. Gottlob! ſagte der Vater,
leis’ und langſam, daß ich dich noch ſehe, und
legte die Hand auf ſeines Sohnes Haupt. Gott
ſegne dich! … und ſteh dir bey … mein
Sohn! … Leb fromm … und chriſtlich …
du kannſt … Jura ſtudiren … leb .. mit
Marianen … Hier druͤckte er ſeine Hand ſtaͤr-
ker auf ſein Haupt, und ſtarb. Ein allgemeiner
Jammerton erhub ſich in der Stube. Siegwart
ſtuͤrzte ſich wieder uͤber ſeinen Vater, druͤckte ſein
Geſicht feſt ans ſeinige; hub ſich mit ausgeſtreck-
ten Armen auf, ſah mit einem Geſicht, voll des
tiefſten Jammers, gen Himmel, und gieng aus
der Stube. Nach einer Viertelſtunde kam ſein
Bruder Karl mit einem Licht, und fand ihn, auf
einem Geſimſe liegend, das Geſicht in beyde Ar-
me eingehuͤllt. Karl hub ihn auf. Ach mein Va-
ter! mein Vater! rief er, die Haͤnde ringend, und
ein Schnupftuch drinn. Man brachte ihn ins
Wohnzimmer. Er warf ſich in einen Lehnſtuhl,
ſah ſtarr vor ſich hin, ſprang auf, und rang wie-
der die Haͤnde.
Salome und ſeine Schwaͤgerin kamen aufs
Zimmer, ſchrien und heulten. Jhr habt nichts
verlohren, ſagte er, aber ich! aber ich! — Er
verlangte ein Licht auf ſeine Kammer. Eine Stun-
de lang gieng er ſprachlos auf und ab. Endlich
warf er ſich in den Kleidern aufs Bette, und ließ
das Licht brennen. Drey Stunden lang waͤlzte er
ſich hin und her, und konnte kein Auge zuſchließen.
Endlich ſanken ihm vor Muͤdigkeit die Augenlie-
der zu. Bald darauf wachte er von einem Kna-
ſtern und einer ungewoͤhnlichen Helle auf. Das
Licht hatte den Vorhang am Fenſter angezuͤndet.
Er ſprang auf, riß den Vorhang herunter, und
trat darauf. Als das Feuer ſchon geloͤſcht war,
kam das Schrecken erſt; er zitterte an allen Glie-
dern, warf ſich wieder aufs Bette, konnte aber
nicht mehr einſchlafen, und um 5 Uhr ſtand er
wieder auf.
Als er zu ſeinen Geſchwiſtern kam, machten
ſie zuſammen die Veranſtaltungen zu dem Leichen-
begaͤngniſſe ihres Vaters, welches auf den folgen-
den Tag angeſetzt wurde. Karl und Salome er-
zaͤhlten ihm verſchiedenes von der Krankheit, und
den Reden ſeines Vaters auf dem Krankenbette,
von ſeiner Geduld und Gelaſſenheit, und von
ſeiner Freudigkeit zu ſterben, die ihm blos durch
den Gedanken verbittert wurde, daß er ſeine Kin-
der verlaſſen muͤſte. Sie erzaͤhlten ihm, wie oft
er von ihm geſprochen, und wie ſehr er ſich dar-
nach geſehnt habe, ihn |noch einmal zu ſehen.
Siegwart zerfloß bey dieſer Erzaͤhlung faſt in Thraͤ-
nen. Sie ſagten ihm auch den Wunſch ihres Va-
ters, daß man ihn bey ihrer ſeligen Mutter be-
graben, und ihnen einen gemeinſchaftlichen Grab-
ſtein ſetzen moͤchte.
Er gieng in den Garten hinunter, um ſeinem
bangen Herzen etwas Luft zu ſchaffen. Dann
gieng er wieder auf ſein Zimmer, und ſchrieb mit
Haſtigkeit folgendes an Marianen:
Liebſte, Beſte!
Er iſt todt! Jch habe ſeinen Segen. — Sein
letztes Wort war: Leb mit Marianen. … Das:
gluͤcklich ſtarb auf ſeinen Lippen. — Morgen be-
graben wir ihn. — — O Mariane, o Geliebteſte!
was hab ich verlohren! den Beſten, Guͤtigſten,
Zaͤrtlichſten. — O Mariane, ich kann nicht wei-
ter ſchreiben. Sey nun Du mir alles! Bleib mir
treu! So bald als moͤglich komm ich, hoͤch-
ſtens in acht Tagen.
Leb wohl, Engel Gottes!
Jch bin ewig Dein
Xaver Siegwart.
Als er den Brief geſiegelt, und ſelber, mit der
Umſchrift an ihren Bruder, dem Poſtverwalter
gebracht hatte, gieng er wieder in ſeinen Garten,
und lief haſtig auf und ab, und dann ſchnell die
Treppen hinauf, in das Zimmer, wo ſein Vater
lag. Seine ganze Natur ſchauerte zuruͤck, als er
ihn ſo blaß da liegen ſah. Erſt nahte er ſich dem
Leichnam langſam, dann ſtuͤrzte er ſchnell auf ihn
hin, kuͤßte die kalte Lippe, und fuhr aͤngſtlich wie-
der zuruͤck, und verließ ſchnell das Zimmer. —
Nirgends hatte er eine bleibende Staͤtte; zuweilen
ergoſſen ſich ſeine Thraͤnen haufenweis, und dann
war ihm wieder eine Zeitlang wohl. Bey Tiſche
ſprachen alle wenig; eins ſah das andre traurig
an, und dann ſtieg wieder ein tiefer Seuſzer aus
der Bruſt. Auch Salome war tief bekuͤmmert,
denn, da ihre Verwandte in Muͤnchen todt war,
ſah ſie fuͤr ſich die wenigſte Verſorgung. Sie be-
ſchloſſen, den Nachmittag aufs Feld hinaus zu ge-
hen, um ſich etwas zu zerſtreuen. Alle Leute auf
dem Feld ſahen ihnen traurig nach, und weinten
um ihren lieben Amtmann, und um ſeine Kinder.
Salome ſagte: ſie haͤtte vor vier Tagen an ihre
Schweſter Kronhelm geſchrieben. Vielleicht, wenn
ſie koͤnnte, wuͤrde ſie mit ihrem Manne heruͤber
kommen. Sie giengen faſt trauriger wieder nach
Haus, als ſie es verlaſſen hatten. Als ſie in die
Thuͤre traten, weinte Siegwart heftiger. Er war
ungefaͤhr eine halbe Stunde auf ſeinem Zimmer,
als er ein Geraͤuſch die Treppe herauf kommen
hoͤrte. An dem holen Gepolter merkte er, daß
der Sarg heraufgebracht wnrde. Ein kalter Schauer
lief ihm uͤber alle Glieder; ſein ganzer Koͤrper ward
erſchuͤttert, und er wagte es nicht, vor die Thuͤr
hinauszugehen. Das Zimmer, wo ſein Vater lag,
war nicht weit vom ſeinigen entfernt. Er hoͤrte
den Sarg zunageln. Jeder Schlag durchdrang
ſein Herz. Er konnte ſich vor Wehmuth faſt nicht
mehr faſſen. Als die Leute weggiengen, ſuchte er
im Garten wieder friſche Luft, wo er Karl und
Salome in Thraͤnen antraf. Er ward beyden| auf
Einmal wieder ganz gut, weil ſie ſo um ihren Va-
ter Leid trugen. Da er von der vorigen ſchlaflo-
ſen Nacht ſo ſehr abgemattet war, ſo legte er ſich,
nach dem Abendeſſen, von dem er ohnedies wenig
genoß, fruͤhzeitig zu Bette, und ward durch ei-
nen ſanften Schlaf erquickt; nur gegen Morgen
aͤngſtigten ihn fuͤrchterliche Traͤume; und, als er
aufwachte, war ſein Bett von Thraͤnen naß.
Er konnte nun |ſeinen Schmetz ganz ausweinen.
Gott! dachte er, jetzt erwach ich, als eine vater-
und mutterloſe Waiſe. Gott, erbarm dich meiner,
und hilf mir! Leit du mich durchs Leben, weil
mich ſonſt niemand leiten kann! Sey du ganz
mein Vater! Jn deine Haͤnde ſink ich; o verwirf
mich nicht! Sey du mein Schutzgeiſt, o mein Va-
ter! Vergiß deines Sohnes nicht im Himmel. Jch
will dir mein ganzes Leben durch fuͤr deine Liebe
danken. Du haſt alles an mir gethan. Mein
ganzes Leben ſoll Dank gegen dich ſeyn!
Er hoͤrte ſchon im Hauſe ein Geraͤuſch, das
Zuruͤſtungen zum Leichenbegaͤngniß bedeutete. Er
gieng ins Wohnzimmer. Das Geſind im Hauſe
ſah ihn ſtumm und wehmuͤthig an, und gab ihm
einen guten Morgen, der von ihrem Mitleid zeug-
te. Ein paar benachbarte Beamte, die ſein Va-
ter ſehr geliebt hatte, kamen, und bezeugten ihm
ihr Beyleid. Sie wollten ihren todten Freund
noch einmal ſehen. Von den Kindern wollte kei-
nes mit ihnen gehen. Ein Knecht gieng mit,
und nahm den Deckel noch einmal vom Sarg
ab. Jn ſtummem Schmerz, bleich, und mit Thraͤ-
nen kamen die Amtleute wieder, und konnten nichts,
als ſeufzen. Dieſer Ausdruck ihrer Liebe ruͤhrte
unſern Siegwart mehr, als Worte.
Er ſtand am Fenſter, und ſah einige Bauren,
vom Gericht, kommen, die den Sarg tragen ſoll-
ten. Sie ſahn traurig herauf, und wuͤnſchten ihm
einen guten Morgen. Nach und nach kamen auch
andre Bauersleute, um die Leiche zu begleiten,
alle niedergeſchlagen, und mit verweinten Augen.
Auſſen an der Mauer des Hofes ſtanden, in
ſchlechten Kleidern, arme Leute, die vor Traurig-
keit kaum aufzublicken wagten. Sie weinten wie
um ihren Vater, denn der alte Siegwart wars ihnen
durch ſeine Wolthaten geworden. Sein Sohn fuͤhlte,
mitten in ſeinem tiefen Schmerz, noch das große
Gluͤck, als ein rechtſchaffener Mann zu ſterben,
und wegen ſeiner Wohlthaͤtigkeit und Redlichkeit
beweint zu werden. Aber bey dem Gedanken floſ-
ſen ſeine Thraͤnen haͤufiger. — Die Richter des
Dorfs traten nun ins Haus herein, um den Sarg
zu holen. Sie brachten ihn heraus; alte, ehr-
wuͤrdige Maͤnner, mit grauen Haaren, die ſchon
auch dem Grabe zuwankten. Vorne trugen zween,
die dem Tod am naͤchſten zu ſeyn ſchienen. Alle
ſahen mit thraͤnenloſem Schmerz zur Erde. Nur
zuweilen floß eine Zaͤhre zwiſchen den grauen Au-
genwimpern hervor. Die Leidtragenden giengen
nun auch die Treppe hinunter, und folgten der
Bahre nach. Das Laͤuten der Glocken, und der
ſtille Zug, von dem man nur zuweilen ein Schluch-
zen, oder einen Seufzer hoͤrte, war feyetlich.
Von der Seite, aus einer kleinen Huͤtte, ſprang
ein Weib herbey, mit einem Kind auf dem Arm;
ach Jakob, rief ſie; ſchau, da wird dein Vater
hingetragen, der uns ſo viel Guts gethan hat!
Gott vergelts ihm in der Ewigkeit! Sie ſchrie noch
lange fort, bis man ſie ſtillſchweigen hieß. Auf
dem Kirchhof ſtand Siegwart auf dem Grabe ſei-
ner Mutter, und ſah in die Gruft hinab, die nun
auch ſeinen Vater einſchlieſſen ſollte. Ein paarmal
ward er faſt ohnmaͤchtig, und ſchwankte, daß man
ihn halten muſte. Als der Grabhuͤgel aufgewor-
fen war, ſteckte eine arme Frau einen Roſenzweig
darauf. Dies ruͤhrte ihn mehr denn alles. Es war
ein Denkmal, herrlicher, als Marmor.
Jn der Kirche ward vom Prediger des Dorfs
eine kleine, aber ruͤhrende Rede, und dann eine
Seelmeſſe gehalten, und der Zug gieng wieder lang-
ſam nach Haus. Die beyden Amtleute blieben
beym Mittagseſſen da. Siegwart hoͤrte nur zu,
und ſprach faſt nichts mit. Als ſie weggegangen
waren, gieng er auf ſein Zimmer. Jetzt konnte
er erſt wieder mit etwas Ruhe an ſeine Mariane
denken. Seine Seele ſehnte ſich nach ihr. Er
beſchloß, noch heute mit ſeinen Geſchwiſtern davon
zu ſprechen, daß er nun die Rechte zu ſtudiren
gedenke, und daß ihm alſo Geld von der Maſſe,
oder von ſeinem Antheil an der Erbſchaft dazu ge-
geben werde. Allein dieſen Abend konnte er da-
von nicht reden, weil der Pfarrer zum Kondoli-
ren kam, und zum Abendeſſen da behalten wurde.
Den andern Morgen gieng er, nachdem er erſt
mit Salome Kaffee getrunken hatte, mit ihr zu
ſeinem Bruder in ſein Haus hinuͤber. Nach eini-
gen gleichguͤltigen Geſpraͤchen fragte er, ob der ſeli-
ge Vater nichts wegen ſeiner geſagt habe, daß er
nun die Rechte ſtudiren koͤnne? — Was? die Rech-
te? fuhr Karl heraus; was iſt das wieder fuͤr ein
ſchoͤner Einfall? Siegwart erzaͤhlte, daß er ſeinem
Vater deswegen geſchrieben, und ſchon ſeine Ein-
willigung erhalten habe; daß der Vater aber
durch den Tod verhindert worden ſey, ſich, wie
er ihm verſprochen habe, deutlicher daruͤber zu
erklaͤren u. ſ. w. Karl, und noch mehr ſeine Frau,
fielen nun uͤber Siegwart her; nannten ſeinen
Einfall dumm, und gottlos, ſcholten ihn Luͤgen,
und erklaͤrten ſich: ſie wuͤrden dieſes nimmer-
mehr zugeben; Karl ſey ihm nun an Vaters
ſtatt, und ihm muͤß’ er folgen. Ueberdas ſey
gar kein Geld da, um das Studieren noch ein-
mal von neuem anzufangen. Der ſel. Vater hab
auf der Schule und auf der Univerſitaͤt ſchon
mehr an ihn gewendet, als an alle ſeine uͤbri-
gen Kinder zuſammen; die zweyfache Krankheit
hab auch viel gekoſtet, und Thereſens Ausſteuer;
jetzt ſey kein Heller baares Geld da, und das
uͤbrige werd auch ſoviel nicht ausmachen; er ko-
ſte in Einem Jahr ſo viel, daß ſein ganzes
Erbtheil darauf gehn wuͤrde; er koͤnn jetzt ein
Moͤnch werden, denn darauf hab er lange gnug
ſtudiert; ſein Vorgeben ſey auch ſehr verdaͤchtig,
da der ſel. Vater kein Wort davon habe verlau-
ten laſſen u. ſ. w. Kurz; der Schluß war:
Auf ſein Gewiſſen koͤnne er, ſein Bruder, nie
darein willigen, und an Unterſtuͤtzung ſey gar
nicht zu denken. Karls Frau ſprach noch viel von
Gottloſigkeit und Verſuͤndigung an Gott, wenn
man von ſeinem Geluͤbde abgehe, und Gott be-
luͤgen und betruͤgen wolle; ſo daß Siegwart nicht
einmal zu Wort kommen konnte. Salome ſprach
faſt nichts dazu, denn ſie war durch den Tod ih-
res Vaters zu ſehr gedemuͤthiget. Unſer Sieg-
wart war ſo betroffen und beſtuͤrzt, daß er kaum
noch von ſich ſelber wuſte. Er betheurte auf ſei-
ne Ehre, daß ſein Vater ihn habe wollen die
Rechte ſtudiren laſſen; er koͤnne es ſchriftlich
vorweiſen. Aber man uͤberſchrie ihn. Er legte
ſich aufs Bitten; alles half nichts. Endlich rief
er alle ſeinen Stolz zuſammen; warf ſeinem Bru-
der und ſeiner Schwaͤgerin geradezu Geitz und
Niedertraͤchtigkeit vor, und ſagte: Er werde ſich
ſchon vor der Obrigkeit Recht zu verſchaffen wiſ-
ſen. Mit dieſen Worten gieng er weg. Sein
Bruder und ſein Weib ſpotteten, und lachten
ihm ſo laut nach, daß ers vor der Thuͤre hoͤren
konnte, und vor Unwill auf die Erde ſtampfte.
Jn ſeinem Garten, wo er| hin gieng, lief er
haſtig auf und ab. Das ganze Menſchengeſchlecht
war ihm verhaſt, weil es ſo niedertraͤchtige Seelen
drunter gibt. Er knirſchte mit den Zaͤhnen, und
ſtieß ungeduldige Reden aus. Gottlob! ſagte er,
daß ich ſolche Kerls verachten kann, und kein ſo
niedertraͤchtiges Herz habe! Du ſollſt mein ſeyn,
Mariane, und wenn dich alle Welt mir rauben
wollte! Jch will mir ſchon helfen! — Mich ei-
nen gottsvergeſſenen Menſchen nennen! Gott!
du weiſt, wie ichs redlich meyne! — Er lief noch
lang auf und ab, ohne etwas deutliches zu denken.
Endlich, als die erſte Heftigkeit vorbey war, ſtie-
gen ihm doch allerley Zweifel auf, wie er ſich in
dieſer Sache helfen wollte? Er hatte ſich um das
Vermoͤgen ſeines Vaters nie bekuͤmmert, und wußte
alſo nicht, wie viel ihn auf ſeinen Antheil treffen,
und ob er damit die Koſten zu ſeinem Studie-
ren werde beſtreiten koͤnnen? Keine ausdruͤck-
liche Erklaͤrung ſeines Vaters war da, und eine
gerichtliche Behandlung der Sache ſcheute er auch.
Er verlohr ſich alſo in einem Labyrinth von Sorgen
und Bedenklichkeiten. Er mochte hin und her ſin-
nen, wie er wollte, er fand keinen Ausweg. End-
lich ſtuͤrzten ihm Thraͤnen von den Augen; er ſah
gen Himmel, und konnte nichts ſagen, als: Gott!
Gott! —
Salome kam zu ihm, und ſagte: Sie muͤßten
heut bey ihrem Bruder eſſen, weil ſies geſtern
ſchon verſprochen haͤtte. Et thats zwar ungern;
aber doch wollte er nicht feindſelig ſcheinen, und
gieng hin. Bey Tiſche ſprach er nichts; er ver-
achtete die Leute zu ſehr. Karl ſprach, ihm zum
Trotz, viel mit Wilhelm, und ſagte ihm, daß er
ihn nun zu ſeinem Schreiber annehme; ſo waͤren,
bis auf Salome, alle verſorgt; denn Xaver wer-
de ſich nun hoffentlich bald einkleiden laſſen. Wenn
ihn nicht andre weltliche Urſachen davon abhalten,
ſagte ſeine Frau ſpoͤttiſch. — Jch weis ſchon,
was ich zu thun habe, ſagte Siegwart trotzig.
Ja, das wiſſen wir, verſetzte die Swchaͤgerin; und
der Herr Schwager werden wol morgen wieder auf
die Univerſitaͤt zuruͤckreiſen, um ihr Studium
fortzuſetzen. Dieſer Fingerzeig, daß man ihn
ungern hier ſehe, ſchmerzte unſern Siegwart ſo,
daß er ganz blaß im Geſicht wurde, und nicht
antworten konnte. Nach einiger Zeit ſagte er:
Ja, morgen will ich wieder zuruͤck, und mir und
andern Leuten Ruh machen. Wie Sie belieben,
ſagte die Schwaͤgerin. — Die Siegel, fuhr ſie
fort, kann man ja erſt nach ein paar Tagen ab-
reiſſen, und die Theilung vornehmen. Der Herr
Schwager brauchen eben nicht dabey zu ſeyn. Wir
werden ihn nicht vervortheilen, da eine Obrigkeits-
perſon dabey iſt. Auch gut! ſagte Siegwart; alles,
wie Sie wollen! Es fielen noch hundert ſpoͤttiſche Re-
den vor, und um fuͤnf Uhr gieng Siegwart weg.
Nun fuͤhlte er erſt, was er an ſeinem Vater
verlohren hatte. Er gieng auf ſein Grab, und
weinte bitterlich. O, du Heiliger, rief er, ſieh her-
ab, wie mir Unrecht geſchieht, und erbarme dich
meiner! Bitte Gott und die heilige Jungfrau, daß
ſie mich nicht ganz verlaſſen! O Mutter, Vater,
die ihr hier ruht, vergeßt eures armen Kindes
nicht! Und du, Vater im Himmel! Gott und
Vater, ſieh auf eine arme Waiſe! Sieh herab, und
ſende Troſt, oder laß mich auch ins Grab zu ih-
nen ſinken! O Mariane, Mariane! rief er beym
Weggehn, was ſteht uns bevor! O du Engel,
wenn du wuͤſteſt, was ich leide! Gott, ach Gott,
verlaß uns nicht!
Er gieng nach Haus auf ſein Zimmer; und da
fiel ihm ein, ſeinem Kronhelm und ſeiner Thereſe
ſeine. Noth zu klagen. Vielleicht, dacht er, ha-
ben dieſe fuͤr mich Troſt; wenigſtens werden ſie
Mitleid mit mir haben. Er ſchrieb an ſie beyde
einen ſehr ruͤhrenden Brief, und es ward ihm ganz
leicht dabey. Er brachte den Brief dem Poſtver-
walter, und fragte zugleich, wenn die Briefpoſt
von Jngolſtadt komme? Heut iſt ſie gekommen,
ſagte der Poſtmeiſter. — Und kein Brief fuͤr
mich? — Nein. — Ein neuer Donnerſchlag fuͤr
Siegwart. Doch hatte er noch ſoviel Gegenwart
des Geiſtes, zu beſtellen, daß, wenn ein Brief an
ihn kommen ſollte, man denſelben zuruͤckbehalten,
und ihn nach Jngolſtadt Retour ſchicken moͤchte. Es
machte ihm viele Sorge, daß ihm Mariane nicht
geſchrieben habe, doch war die Zeit faſt zu kurz,
als daß er ſchon einen Brief haͤtte erwarten koͤn-
nen, und dieſes beruhigte ihn wieder in etwas.
Sein Entſchluß war nun feſt, morgen wieder
nach Jngolſtadt zuruͤck zu reiten, es moͤchte ihm
auch gehen, wie es wolle, denn die Zeit, ohne
Marianen zu leben, ward ihm viel zu lang. Er
gieng fruͤhzeitig zu Bette, ohne viel ſchlafen zu
koͤnnen. Der Gedanke an ſein dunkles hoſnungs-
loſes Schickſal ließ ſeinem Geiſt keine Ruhe.
Eine Stunde vorher, eh er den andern Mor-
gen wegreiten wollte, kam ein Wagen angefahren.
Siegwart kannte ſogleich den Marx, der vorn auf
dem Bock ſaß; er ſprang an den Wagen, und ſein
Kronhelm und Thereſe ſaſſen drinn. Sie hatten
den Abend vorher auf einem benachbarten Dorf,
wo ſie ſpaͤt angekommen waren, ſchon gehoͤrt, daß
der Amtmann todt ſey, und wollten alſo bey der
Nacht nicht weiter fahren, weil ſie doch nichts mehr
ereilen konnten. Thereſe ſtieg weinend aus dem
Wagen, und ſank ihrem Bruder in den Arm.
Beyde konnten nichts ſprechen. Kronhelm war
auch ſehr bewegt, und umarmte ſeinen lieben Sieg-
wart. Gottlob! ſagte er, daß ich dich wieder
ſehe! Aber leider bey der traurigſten Begeben-
heit! Sie giengen ſchweigend auf das Zimmer.
Als Thereſe ſich von ihrer erſten Erſchuͤtterung wie-
der etwas erholt hatte, mußte man ihr einige Um-
ſtaͤnde von ihres Vaters Krankheit und Tod er-
zaͤhlen. Sie vergoß dabey tauſend Thraͤnen. Kron-
helm zog unſern Siegwart auf die Seite, und
befrug ihn wegen Marianens. Thereſe kam auch
noch dazu. Siegwart erzaͤhlte ihnen alles, daß
ſein Vater es zufrieden geweſen ſey, und was ſich
geſtern zwiſchen ihm und ſeinem Bruder zugetragen;
auch daß er ihnen deswegen geſtern geſchrieben habe.
Kronhelm und Thereſe erſtaunten uͤber die Haͤrte
des Bruders und der Schwaͤgerin. Kronhelm
erklaͤrte ſich ſogleich, alles zu uͤbernehmen, und
die Koſten zum Studieren aus ſeinem Beutel her-
zugeben. Jch will dir keine Wohlthat erzeigen,
L l l
ſetzte er hinzu, fuͤr die du mir danken muſt. Jch
bin dir tauſenmal mehr ſchuldig; hier, meinen groͤß-
ten Schatz (indem er ſeine Thereſe bey der Hand
nahm, und kuͤßte) ohne dich haͤtt ich dieſes Klei-
nod nicht. Was ich thue, kann ich leicht thun,
denn Gott hat mich ja mit Ueberfluß geſegnet; und
dir bin ichs ſchuldig. Siegwart wollte eben dan-
ken, als Karl mit ſeiner Frau ins Zimmer trak.
Sie ſchienen ſehr erſchreckt und betroffen zu ſeyn,
und machten eine tiefe Verbeugung. Kronhelm
und Thereſe dankten ziemlich froſtig. Nach den
vorlaͤufigen Bewillkommungskomplimenten und
Beyleidsbezeugungen fieng Kronhelm zu Karl an:
Aber, Herr Bruder, gegen unſern Xaver handeln
Sie ziemlich unbruͤderlich und gebieteriſch. Jch
haͤtt Jhnen doch mehr zugetraut! Karl fieng an ſich
zu entſchuldigen, es ſey nicht ſo boͤs gemeynt geweſen;
es koͤnr Xavers Wunſch doch noch erfuͤllt werden —
Das wird ohnedieß geſchehen, fiel ihm Kronhelm
ein; ich uͤbernehme die Sache, und ſie geht Sie
weiter nichts an; ich rede nur von dem unbruͤ-
derlichen Betragen zwey Tage nach dem Tod eines
ſolchen Vaters! Karls Frau wollte ſich auch drein
miſchen, und ſagte: Der ſelige Vater habe ſich
doch nicht druͤber erklaͤrt. Mit Jhnen red ich von
der Sache gar nicht, ſagte Kronhelm. Jch habe
das alles, und noch mehr von Jhnen erwartet.
Sie machtens meiner Frau und mir ehedem nicht
beſſer. — Und uͤberdieß iſt es nicht ſo ausge-
macht, daß der ſelige Mann ſich druͤber nicht erklaͤrt
hat; wenigſtens ſchrieb er meiner Frau: in ſeinem
Pult werde man eine ſchriftliche Erklaͤrung finden,
wenn ſein Sohn erſt nach ſeinem Tod ankommen
wuͤrde. Hier blaßte die Schwaͤgerin ab. Doch
wir wollen die verdrießlichen Sachen fahren laſſen,
fuhr er fort. Jch mußte Jhnen nur auf Einmal
meine Meynung ſagen. Jch denke, jetzt waͤre kei-
ne Zeit zu zanken, da wir alle ſo geruͤhrt ſind, oder
doch ſeyn ſollten. — Drauf wendete er ſich zu
Siegwart, und ſprach mit ihm von dem Ende ſei-
nes Vaters. Dieſer war noch zu beſtuͤrzt uͤber die
unvermuthete Wendung ſeines Schickſals, und die
Großmuth ſeines Freundes, als daß er viel haͤtte
reden koͤnnen. Das Geſpraͤch ward wieder allge-
meiner. Man ſprach von der Erbſchaftstheilung,
Kronhelm erklaͤrte ſich: Was das Hausgeraͤthe an-
belange, ſey er damit zum Ueberfluß verſehen, und
wuͤrd es auch nicht gut wegbringen koͤnnen. Auch
den uͤbrigen Antheil am Erbe woll er ihnen uͤber-
aſſen, weil er Gottlob! hinlaͤnglich geſegnet ſey,
und ſeine Frau fuͤr einen Schatz halte, der das gan-
ze uͤbrige Erbe uͤberwiege; nur bitte ſich ſeine
Frau einen Demantring aus, den ihr Vater be-
ſtaͤndig getragen hab’, und den ſie, ihm zum An-
denken, wieder tragen wolle. Hie wurden Karl
und ſeine Frau auf Einmal wieder heiter, und
vergaßen, uͤber den abgetretnen Erbantheil, alle
vorige Verweiſe. Sie wollten Kronhelm danken:
aber er verbat ſichs. Es ward beſchloſſen, auf
den Nachmittag das Pult aufzumachen, das ver-
ſiegelt war, in dem der Ring, und vermuthlich
auch die ſchriftliche Erklaͤrung wegen der Beſtim-
mung unſers Siegwart lag.
Karl und ſeine Frau wurden gebeten, beym Eſ-
ſen da zu bleiben, welches Salome zurecht machte.
Weil die Witterung ſehr gut war, gieng man in
den Garten, um da zu eſſen. Die Zaͤrtlichkeit,
mit der Kronhelm ſeiner Thereſe begegnete, war
unbeſchreiblich. Er wußte ſie ſo liebreich zu troͤſten,
als ſie beym Eintritt in den Garten, wo ſie ſo oft mit
ihrem Vater geweſen war, in neue, noch tiefere
Traurigkeit verfiel. Er wußte ſie ſo gut zu zerſtreu-
en, daß ſie ganz ruhig zu werden ſchien. Sie
nahm hierauf unſern Siegwart auf die Seite,
und ſprach mit ihm uͤber Salome’s Schickſal. Er
ſagte, daß das Maͤdchen ihm jetzt weit beſſer ge-
falle, als ſonſt jemals. Der Kummer uͤber ihres
Vaters Tod ſcheine, ſie ſehr zum Nachdenken ge-
bracht zu haben. Thereſe verſprach, fuͤr ſie zu
zu ſorgen. Drauf mußte er ihr viel von Maria-
nen erzaͤhlen. Dieſes that er mit einer ſolchen Be-
geiſterung, daß er und ſie, ziemlich heiter wurden.
Drauf rief man zu Tiſch.
Nach dem Eſſen ward das Pult geoͤfnet. Es
lag ein verſiegelt Schreiben drinn mit der Auf-
ſchrift: An meinen lieben Xaver. Sein Vater gab
ihm darinnen verſchiedne gute, ſehr ruͤhrende Er-
mahnungen; drauf kam er auf ſeinen Entſchluß die
Rechte zu ſtudieren. Er war damit zufrieden,
und ſchrieb: in einem Schieblaͤdchen im Pult werd
ein verſiegeltes Paͤckchen mit 75 Dukaten liegen.
Dieſes ſey fuͤr ihn beſtimmt. Soviel woll er ihm noch
von dem gemeinſchaftlichen Vermoͤgen geben. Was
er weiter brauche, muͤſſ’ er dann von ſeinem An-
theil an der Erbſchaft nehmen. Es folgte noch eine
zaͤrtliche und liebreichvaͤterliche Aufmunterung zur
fernern Rechtſchaffenheit, und dann ein ſehr be-
weglicher Abſchied, uͤber den Siegwart in lautes
Schluchzen ausbrach! Karl und ſeine Frau machten
uͤber das Vermaͤchtniß groſſe Augen; aber vor
Kronhelm wagten ſie es nicht, etwas druͤber zu
ſagen, weil dieſer ihnen erſt vorher ſeinen Erban-
theil geſchenkt hatte. Man fand das Paͤckchen mit
Dukaten. Kronhelm ſagte: ſteck es ein, und ver-
brauch es, wie, und zu was du willſt! Die Uni-
verſitaͤtskoſten uͤbernehme ich, wie ich ſchon geſagt
habe. Thereſe fand auch den Ring ihres Vaters,
kuͤßte, und ſteckte ihn mit Thraͤnen an den Finger.
Sie giengen wieder in den Garten, und brachten
den Abend groͤſtentheils mit wehmuͤthigen Geſpraͤ-
chen hin. Thereſe wollte das Grab ihres Vaters
beſuchen; aber Kronhelm bat ſie ſehr, es nicht zu
thun, weil er fuͤrchtete, es moͤchte ſie der Schmerz
zu ſehr angreifen, und ihrer Geſundheit, da ſie
ſchwanger war, Schaden thun. Dagegen mußte
er ihr verſprechen, zu andrer Zeit einmal das Grab
mit ihr zu beſuchen. Als Siegwart Gelegenheit hatte,
allein mit ihr zu reden, entdeckte er ihr einen Ent-
wurf, den er in Abſicht auf ſein Geld gemacht
hatte. Salome dauert mich, ſagte er; ſie iſt am
wenigſten unter uns verſorgt, ſeit die Baſe in
Muͤnchen todt iſt. Da dein lieber Mann ſeine
Großmuth ſo weit treibt, daß er mich ganz auf ſei-
ne Koſten will ſtudieren laſſen, ſo kann ich, mei-
ner Einſicht nach, das Geld von unſerm ſeligen
Vater nicht beſſer anwenden, als wenn ich ihr die
Haͤlfte davon gebe. — Behalt dein Geld, gute
Seele! ſagte Thereſe. Fuͤr Salome iſt ſchon ge-
ſorgt. Jch hab mit meinem Mann druͤber ge-
ſprochen. Wir wollen ſie auf unſer Schloß neh-
men, wenn ſie Luſt hat. Will ſie nicht, oder koͤn-
nen wir zuſammen nicht auskommen, ſo will mein
Kronhelm ſie in Muͤnchen unterbringen. O du
himmliſche Schweſter! ſagte Siegwart, und um-
armte ſie. Salome’n ward auch wirklich nachher
dieſer Vorſchlag gethan, und ſie nahm ihm mit
Freuden, und, wie es ſchien, mit der dankbarſten
Ruͤhrung an.
Als Karl und ſeine Frau weggegangen waren,
entdeckte Siegwart Kronhelm und Thereſen ſeinen
Wunſch, morgen nach Jngolſtadt zuruͤckzureiſen,
um wieder bey ſeiner lieben Mariane zu ſeyn. So
gern ihn auch Kronhelm und ſeine Schweſter noch
laͤnger bey ſich behalten haͤtten, ſo konnten ſie es doch
nicht uͤbers Herz bringen, ein paar ſo zaͤrtlich Liebende
laͤnger getrennt zu laſſen; daher willigten ſie in
ſeinen Vorſatz, nachdem er ihnen erſt verſprochen
hatte, ſie gewiß bald, von Jngolſtadt aus, zu be-
ſuchen. Kronhelm ſagte ihm, ſein Onkel habe ihm
verſprochen, ganz gewiß fuͤr ihn zu ſorgen, und
ihm, wenn er fleißig ſtudiere, in zwey Jahren
eine eintraͤgliche Stelle bey einem Regierungskol-
legio in Muͤnchen zu verſchaffen. Darauf koͤnn er
ſich, wenn es noͤthig ſey, beym Hofrath Fiſcher
berufen. Siegwart ward daruͤber noch freudiger,
und ſein Herz waͤre ganz wolkenlos geweſen, wenn
ihm nicht jeden Augenblick der Tod ſeines Vaters
eingefallen waͤre. Sie blieben dieſen Abend lang
zuſammen auf. Siegwart ließ ſich uͤberreden,
morgen erſt nach Tiſch wegzureiten, weil er doch
in einem Tag nicht nach Jngolſtadt kommen
konnte.
Der andre Morgen war ſehr heiter, und unſer
Siegwart ſtand auch heiter auf. Sie tranken zu-
ſammen im Garten Kaffee. Er freute ſich uͤber
die Zaͤrtlichkeit ſeiner Schweſter und Kronhelms.
Sie erzaͤhlten ihm viel von ihrer Gluͤckſeligkeit, und
von der Einrichtung ihres Hausweſens; auch von
einem vortreflichen jungen Edelmann in ihrer Nach-
barſchaft, der viel zu ihnen komme, und vermuth-
lich Kronhelms Schweſter heyrathen werde, die,
wie ſie beyde verſicherten, ſchon viel von ihrer Wild-
heit abgelegt habe. Thereſe erzaͤhlte ihm auch,
welch eine herrliche und auserleſene Buͤcherſamm-
lung ihr Kronhelm ihr angeſchafft habe, u. ſ. w.
Man aß, wegen Siegwarts Abreiſe fruͤher, und
um zwoͤlf Uhr ritt er weg, nachdem er von ſeinen
Lieben mit tauſend Thraͤnen Abſchied genommen
hatte. Mariane, und das Gluͤck, ſie morgen
wieder zu ſehen, war der Gedanke, der ihn auf
dem ganzen Weg begleitete. Als es Nacht wurde,
ſtellte er in einer Dorfſchenke ein. Er hatte keine
Ruhe, weil er ſtets an Marianen dachte, und
ſchlafen konnte er auch ſogleich nicht. Er gieng alſo
in den, an das Wirthshaus ſtoſſenden, ſchoͤnen
Baumgarten. Der Mond ſchien truͤb; er ſah zu
ihm auf, und machte folgendes Gedicht, das er
nachher auf der Stube in ſeine Schreibtafel ſchrieb:
An den Mond.
Meine Seele lebt nicht hier!
Sie iſt hingewandelt zu der Trauten,
Die nun ewig mein iſt!
Sag, o Hauch des Abends mir,
(Du umwehteſt ſie mit deinen Schwingen)
Wo ſie jetzo wandelt?
Stark liebt ihre Seel’, und treu!
Weint ihr Aug jetzt, daß ihr Lieber fern iſt?
Sag mirs, Hauch des Abends!
Sieh, da, tritt der Mond hervor;
Bleich iſt ſein Geſicht, und melancholiſch,
Wie getrennte Liebe.
Warlich, Mond, ſie blickt dich an!
Denkt der Stunden heiliger Umarmung,
Und du weinſt vor Mitleid!
Hell dich auf, und lach ihr zu!
Denn ich eil ihr, mit der Sonn’, entgegen
Lach, o Mond, ihr Troſt zu!
Den andern Morgen ritt er fruͤh weg, und ge-
gen Abend kam er in Jngolſtadt an. Er ſah
Marianen nicht am Fenſter; aber ihr Vater ſtand
halb hinter den Vorhaͤngen verſteckt. Weil es ſpaͤt
war, und er uͤberhaupt dem Vater nicht recht trau-
te, ſo gieng er nicht hinuͤber. Er ſchlief ziem-
lich unruhig, und hatte fuͤrchterliche Traͤume, die
von den vorhergegangenen traurigen Vorſtellungen
erzeugt wurden. Den andern Morgen ſah er Ma-
rianen wieder nicht am Fenſter; der Vater, der
heraus ſah, ſchlug das Fenſter zu, als er ihn er-
blickte; dieſes machte unſern Siegwart noch be-
ſtuͤrzter. — Er gieng aus, ob er vielleicht ihren
Bruder irgendwo antreffe? aber vergeblich. Sein
Herz ahndete viel trauriges; es war ihm nirgends
wohl, und er ſchweifte von einem Ort zum andern.
Gegen Abend endlich, als er eben in ſein Haus wollte,
kam Joſeph, Marianens Bruder, hinter ihm drein.
Er that ſehr aͤngſtlich. Nur auf ein paar Worte!
ſagte er. Hier ein Brief von Marianen, und
von mir einer! Wo iſt ſie? fragte Siegwart.
Jch muß fort, war die Antwort. Mein Vater
kommt die Straſſe dort herauf; du wirſt alles in
den Brieſen finden. Mit dieſen Worten ſprangler
weg.
Kaum konnte Siegwart die Treppe hinauf gehen,
ſo ſehr zitterten ihm die Knie, und ſein ganzer
Koͤrper. Er riß ſein Zimmer auf, warf ſich in
ſeinen Stuhl, erbrach zuerſt Marianens Brief,
und las:
Jngolſtadt den 7. Auguſt.
Mein Geliebteſter!
Laß mich die Sprache der Vertraulichkeit reden,
und dich Du nennen! Jch ſchreibe dir, wie ichs ver-
ſprochen habe. Geſtern biſt du fort, und ſchon
find ich nirgends keine Freude mehr. Wenn du
doch bald wieder kaͤmeſt! Mir iſt ſo |bang ums
Herz; und doch weiß ich nicht warum? Nun wirſt
du wol noch auf dem Wege ſeyn. Vielleicht denkſt
du jetzt an mich. Mir deucht, ich fuͤhl es. Jch ha-
be dich geſtern und heut faſt jeden Schritt beglei-
tet. Gott gebe, daß du gluͤcklich ankommſt; und
daß dein Vater wieder beſſer ſey! Jch bete viel fuͤr
ihn, und fuͤr dich. Adjeu, mein Geliebteſter!
Morgen wieder ein paar Woͤrtchen; denn ich ha-
be viel zu thun, noch eh mein Vater kommt. Ue-
bermorgen ſoll er kommen. Meine Mutter kommt
alle Augenblicke auf mein Zimmer; ſie hat Ge-
ſchaͤfte drauf. Drum kann ich dir nicht ſchreiben,
wann und wie viel ich will. Aber morgen wieder.
Adjeu indeſſen, mein Geliebteſter!
Den 8ten Auguſt.
Jch bin heut in meinem Garten geweſen. Da
hab ich viel an dich gedacht, mein Theureſter! Jch
wollt, ich haͤtte Schreibzeug drauſſen gehabt, ſo
haͤtt ich viel an dich geſchrieben. Aber geſprochen
hat meine Seele viel mit der deinigen. Wie wa-
ren alle Plaͤtze mir ſo werth, auf denen ich ehmals
mit dir geſeſſen habe! Alle Worte fielen mir da ein,
die wir miteinander ſprachen. Jch wurde traurig,
daß du nicht auch da wareſt, denn ich war allein.
Auf jede Stelle ſetzt ich mich, und blieb recht lan-
ge ſitzen, weil mir ſo wohl war, da zu ſeyn, wo
mein Geliebteſter einſt geweſen war. Denk! ich
hab deinen Namen in einen glatten, jungen Birn-
baum eingeſchnitten. Als der Name fertig war,
und ich mich genug daruͤber geſreut hatte, daß
mir alles ſo gerathen iſt, da fiel mir erſt ein,
mein Vater koͤnnte den Namen ſehen, weil der
Baum dicht am Gang zur rechten Seite ſtand.
Jch erſchrack recht, als mirs einfiel. Sollt ich
nun den ſchoͤnen Namen wieder auskratzen? Das
waͤre traurig. Und doch muſt es ſeyn. Aber,
Gottlob! daß ich auf den Einfall kam, ihn mit
Erde zu uͤberkleben, die der Baumrinde ganz
gleich ſah. Das will ich nun immer wieder thun,
wenn die Erde wieder abfallen will. Und wenn ich
allein bin, nehm ich ſie ab, um den Namen zu
ſehen. Adjeu!
Den 9ten Auguſt.
Noch ein paar Worte vor Schlafengehen mit
meinem Geliebteſten! Jch ſchreib auf meiner Kam-
mer, weil ich unten nicht ſicher bin. Dieſen Abend
iſt mein Vater angekommen. Er ſaß in einem
Wagen mit Hofrath Schrager, meinem Bruder
und meiner Schwaͤgerin. Er ſah ſtuͤrmiſch und
verdruͤßlich aus. Die Geſellſchaft blieb ungefaͤhr
eine Stunde da. Sie war kaum weg, ſo fragte
er meine Mutter ſehr gebieteriſch: Jſt nichts vor-
gefallen? — Nein. — Hat ſich nichts mit Ma-
rianen zugetragen? Nein. — Er ſah mich von der
Seite vielbedeutend an. Nun, wir wollen ſehen,
ſagte er, und gieng. — Jch bin in der groͤßten
Unruhe. Zum Hofrath Schrager hatte er geſagt:
Morgen alſo, um halb 5 Uhr haben wir die Eh-
re. — Meine Schwaͤgerin ließ auch einige Worte
fallen, und mein Bruder lachte hoͤhniſch dazu.
Beym Weggehen wollte mir Hofr. Schrager die
Hand kuͤſſen. Jch zog ſie zuruͤck. Nu! rief mein
Vater ſehr gebieteriſch, und ich hielt die Hand
hin. — Um Gotteswillen! ſagte meine Mutter,
als wir allein waren, ſo hab ich den Papa noch
nie geſehen! Jch bitte dich bey allem, was heilig
iſt, Mariane, ſey nicht widerſpenſtig! Du weiſt,
was ich drunter leide. Ach Mama, ſagt ich, und
ſank in ihren Arm; bethen Sie fuͤr mich! Jch
brauche Kraft von Gott. Sie wiſſen, ich thu, was
ich kann. Aber ich kann nicht, wenn es darauf
ankommt. — Jch will das Beſte von dir hoffen,
verſetzte ſie; bedenk dich wohl! — Siegwart, Sieg-
wart! Was will aus mir werden? Jch habe fuͤrch-
terliche Ahndungen! Genug, ich bin dein, leben-
dig oder todt! Gott kennt mein Herz; er kann
mich nicht ganz verlaſſen. — Die Haͤlfte meines
Lebens wollt ich geben, wenn der morgende Tag
voruͤber waͤre! Mutter Gottes, und all ihr Hei-
ligen im Himmel helft mir bethen! — Siegwart,
Siegwart! Jch bin dein, es gehe, wie es wolle!
Moͤchteſt du doch jetzt auch fuͤr mich bethen! Aber
du haͤltſt mich fuͤr gluͤcklich. Komm doch bald!
Jch bitte dich. Vielleicht ſehen wir uns nicht mehr
lang! Erbarm dich, Gott!
Den 10ten Auguſt Vormittags um 10 Uhr.
Jeſus, Maria! Welch ein fuͤrchterlicher Auftritt!
Ach, Geliebteſter, ich kann dirs nicht erzaͤhlen.
Samml’ es zuſammen, was ich in der Unordnung
aufs Papier werfe. Dieſen Morgen beym Thee-
trinken gieng mein Vater mit der Pfeife im Zim-
mer auf und ab. Er fragte, ohne mich anzuſe-
hen, iſt der feine Siegwart viel auf dem Land-
haus geweſen? — Nein, Papa — Alſo doch? —
Ja. — Mordieu! ſagte er, und gab mir eine
Maulſchelle. Jch ſank auf meinen Stuhl zuruͤck,
und weis nicht, was er weiter ſagte. Meine
Mutter hielt mir ein Balſambuͤchschen vor. — Du
biſt auch ſo eine alte Kupplerin, rief er, und ſchlug
ihr das Buͤchschen aus der Hand. Licht! rief er
zur Thuͤre hinaus, weil ihm ſeine Pfeife ausge-
loͤſcht war. Dann kam er wieder auf mich zu.
Du willſt dir alſo ſchlechterdings nichts ſagen laſſen?
Willſt uns all in Schand und Unehr bringen? —
Ach Jeſus, Mann! rief meine Mutter. —
Schweig! Jch kenn thre Streiche ſchon. Aber
man wird dir einen Riegel vor die Thuͤre ſchieben.
Das Ding muß anders werden! Du ſollſt mir den
Hofrath nehmen, oder ich ſchlag dich todt. Marſch!
Du kannſt dich beſinnen! Jn zwey Stunden will
ich Antwort, und das ohne alle Umſchweife und
Ausfluͤchte! Fort, auf deine Kammer! — Hier
bin ich nun, mein Geliebteſter, von aller Welt
verlaſſen, in der unausſprechlichſten Angſt. Gott
im Himmel woll ſich meiner erbarmen! Den Hof-
rath kann ich nicht nehmen, wenn auch kein Sieg-
wart auf der Welt waͤre! Er iſt mir in der Seele
zuwider. Gott weiß, daß es kein Eigenſinn iſt.
Jch wollt es ſo gern allen Menſchen recht machen,
aber ich kann nicht. Dein bin ich, lebend oder
todt. Jch kann vor Zittern kaum ſchreiben; ich
muß etwas auf und ab gehen, um mich zu ſam-
meln. —
Es ſey ſo! Jch will alles dulden, auch den Tod!
Meine Seele iſt von der deinen unzertrennlich.
Gott hat mich geſtaͤrkt, und mir Muth und Ent-
ſchloſſenheit eingefloͤßt. Er wird mich auch im
baͤngſten Kampfe nicht verlaſſen. Jch flehe dich
jetzt an, du Gott der Unterdruͤckten, weil ich jetzt
noch flehen kann, um Beyſtand und um Gnade,
auch im baͤngſten Kampf! Wenn meine Seele nicht
mehr flehen kann, ſo hoͤr ihr Stammeln! Wenn
ſie nicht mehr ſtammeln kann, ſo hoͤr das Klopfen
meiner Bruſt! Gib mir Standhaftigkeit, daß ich
meinem Siegwart treu bleibe! denn ich hab ihms
zugeſchworen! Du kennſt unſre Liebe; ſie iſt rein
von allem Boͤſen! Bewahre meinen Mund, daß
er meinem Herzen treu bleibe! daß er nichts rede,
was mein Herz nicht denkt! Jn deinem Namen
will ich vor meinen Vater treten. Mache du ſein
Herz weich, wenn es hart und unbarmherzig iſt;
wenn er die Vaterempfindung vergißt, ſo erinnre du
ihn dran! Laß meinen Mund nichts hartes reden
wider ihn! Von dir allein erwart ich Huͤlfe. Laß
ſie mich von keinem Menſchen erwarten! Staͤrke
meine Mutter, daß ihr Leiden nicht zu ſchwer wer-
de! Sie hat nichts verſchuldet. Schuͤtt alles Elend
uͤber mich allein aus! Gib mir einen Engel zu,
der mirs tragen helfe! Laß den Tod nicht ferne
von mir ſeyn, wenn du, nach deinem weiſen Rath,
ſonſt keinen Troſt auf Erden fuͤr mich haſt! Amen!
Hilf mir Vater, Amen!
M m m
Jch fuͤhle mich geſtaͤrkt, mein Geliebteſter! Jn
einer halben Stunde muß ich hinunter. Jch hoffe
ſtandhaft zu ſeyn, denn ich weiß, ich hab eine gu-
te Sache. Jch will noch einmal bethen.
Nachmittags um 5 Uhr.
Zween fuͤrchterliche Kaͤmpfe hab ich ausgeſtan-
den, mein Geliebteſter! Mich wundert nur, daß
ich noch lebe. Um 11 Uhr ward ich durch den
Bedienten hinabgerufen. Der arme Menſch hat-
te ganz verweinte Augen. Nun wie ſtehts? ſagte
mein Vater. Jſt man nun vernuͤnftiger? Willſt
du dich geben? Noch iſts Zeit. Willſt du den Hof-
rath? Jch ſah ihn bittend an. Keine Antwort?
Alſo ja? — Verzeihen Sie, mein Vater! Jch kann
nicht! — Was? rief er, noch immer auf dem al-
ten Kopf? Fort! Hinauf mit ihr. Jch ſchwoͤr
dirs; auf den Nachmittag um 2 Uhr iſt die letzte
Zeit. Beſinn dich wohl! Wenn du dann nicht Ja
ſagſt, ſo iſts vorbey. Dann magſt du ſehen, wie
dirs geht! Dein Vater bin ich nicht mehr! Schließt
ſie ein oben! Fort mir, aus dem Geſicht, Hure! —
Meine Mutter ſagte mir unter der Thuͤre: Um
Gotteswillen, beſinn dich! Wir ſind alle ſonſt
verlohren! Der Bediente ſchloß mich auf die
Kammer.
Jch konnte dir in dieſer Zwiſchenzeit nicht
ſchreiben. Alles ſchwand vor meinen Augen.
Zuweilen nur konnt ich einen Seufzer zu Gott
erheben. Jch hatte genug zu thun, um nicht ganz
in Muthloſigkeit herab zu ſinken. Der Bediente
brachte mir das Eſſen, etwas Suppe, und einen
Krug mit Waſſer, und ſchloß, ohne ein Wort
zu ſprechen, die Thuͤre wieder hinter ſich zu. Doch
ſah ichs ihm wol an, daß das Herz ihm voll
war. Jch konnte faſt nichts eſſen; aber den
Krug mit Waſſer trank ich rein aus. Um 2
Uhr hohlte man mich hinunter ins Zimmer.
Mein aͤltrer Bruder, und meine Schwaͤgerin
waren auch da. Sie ſtunden um mich herum.
Jetzt wollen wir noch einmal in Guͤte mit dir
reden, ſagte mein Vater. Es war eine Schan-
de, daß du dich mit einem jungen Menſchen ein-
lieſſeſt, von dem ich gar nicht weiß, was an ihm
iſt. (Verzeih, Lieber! Jch ſchreibe, wie er ſprach.)
Aber das wollen wir uͤberſehn, und dir als ei-
nen Jugendfehler anrechnen. Dagegen muſt du
nun zweyerley verſprechen: Erſtlich, ihn auf ewig
zu vergeſſen, und zweytens, dem Hofrath Schra-
ger heute noch dein Jawort zu geben; er iſt um
5 Uhr herbeſtellt. Willſt du das? Gerad heraus
geſprochen, ohne Umſchweife! Hier ward er ſchon
wieder hitzig. — Zitternd antwortete ich: Erlau-
Sie mir erſt, vom Hofrath Schrager zu ſprechen!
Er mag ein Mann ſeyn, der ſeine Vorzuͤge und
Verdienſte hat; aber, Gott! muß er deßwegen auch
ſogleich fuͤr mich ſeyn? Jch kann ihn unmoͤglich …
Teufelskind! rief mein Vater, willſt du mich zu
Tod aͤrgern? du … Laſſen Sie ſie erſt ausreden!
ſagte meine Schwaͤgerin; was ſie denn fuͤr herr-
liche Gruͤnde vorbringen mag. — Jch habe, ſag-
te ich, indem ich mich mit einem gewiſſen Stolz
gegen ſie wendete, ich habe keine Gruͤnde gegen
ihn, als mein Herz. Dein Teufelsherz, rief Papa,
wo der infame Kerl drinn feſtſitzt! — Verzeihn
Sie, ſagte ich, ſolche Namen verdient er nicht. —
Willſt du’s beſſer wiſſen, Kanaille? Genug! willſt
du den Hofrath, oder nicht? — Jch kann ihn nicht
wollen! — Nun ſo holen dich alle T * *! indem er
mit geballter Fauſt auf mich zukam, und ihn mei-
ne Mutter und mein Bruder in den Arm fielen. —
Sie muͤſſen ihn aber wollen, ſagte meine Schwaͤ-
gerin. Was haben Sie denn gegen ihn, als
Jhren ſchaͤndlichen Eigenſinn, und daß der Bettler
Jhnen im Kopf ſteckt? Jch ward hitzig. Madam,
das verbitt ich mir! Was, was? rief mein Bru-
der, thuſt du meiner Frau etwas? Jch ſah ihn
nicht an, und kehrte mich zu meinem Vater: Ha-
ben Sie um Gotteswillen Mitleid! Jch kann und
will mich nicht zwingen laſſen! Wollen Sie mich
ewig ungluͤcklich machen? — Du biſt eine Beſtie!
Jch frage dich zum letztenmal: Willſt du den Hof-
rath? — Jn meinem Leben nicht! — Hier ſchlug
er mich ins Geſicht, daß mir das Blut aus Mund
und Naſe floß. Mir ward ſchwindlich; ich ſank
in meiner Mutter Arm. Mir ward, als ob ich
nur ein entferntes Geliſpel hoͤrte. Aber, als ich
mich wieder erholte, zankten ſie laut mit meiner
Mutter. Jch ſank zu meines Vaters Fuͤßen. Nur
Eine Gnade! rief ich. Laſſen Sie mich nur ins
Kloſter! Er ſtieß mich mit den Fuͤßen von ſich,
daß ich umſank. Wenn ſies nicht beſſer haben
will, ſagte meine Schwaͤgerin, ſo ſperren Sie
ſie in ein Kloſter! Sie wird ſchon anders| werden.
Meinetwegen! rief mein Vater; morgen mag ſie
fort, wenn ſie ſich nicht heut noch eines Beſſern
beſinnt. Der Nickel hat mir doch ſchon Gram
genug gemacht. Willſt ihn alſo nicht? — Nein,
ich kann nicht! — Nun ſo ſcher dich zu allen T * *!
Jch gieng weg. — Viel Gluͤck! rief meine Schwaͤ-
gerin! Jch ſah mich um, und blickte ſie veraͤchtlich
an. Der Bediente, der weinend vor dem Zimmer
ſtand, brachte mich wieder auf die Kammer. —
Jch konnte nicht weinen. Alles auf der Welt war
mir gleichguͤltig. Nur ein paarmal dacht ich an
dich, mein Theureſter, und da ſchoß mirs, wie
ein Strom in die Augen. Jch hoͤre ſie unten,
zuweilen, wenn die Thuͤr aufgeht, ſtark reden.
Als ich dieſes ſchrieb, hoͤrt ich den Schluͤſſel in
meine Thuͤr ſtecken, raffte das Papier ſchnell zuſam-
men, und verbargs in meinem Buſen. Die Fe-
der ſchmiß ich aus dem Fenſter. Der Bediente
kam mit meinem aͤltern Bruder (den juͤngern hatt
ich heut und geſtern nicht geſehen) den Schreib-
zeug her! ſagte mein Bruder. Jch gab ihn ihm,
und die Feder, die daneben lag. Haſt du kein
Papier? ſagte er. — Nein! — Er ſuchte meine
Taſchen durch, und fand nichts. Er ſah ſich in
der Kammer um, und fand auch nichts. Auf dem
Tiſch lag blos mein Schnupftuch, wo dein Bluts-
tropfen drinn iſt. Er hubs auf, ob nichts drunter
liege? und legte es wieder hin. Jſt denn gar
kein Erbarmen zu hoffen? fragt ich. — Morgen
reiſen wir! war ſeine Antwort, und dann gieng
er. — Jch hatte nun nichts mehr zu ſchreiben.
Endlich bog ich ein Bley aus dem Fenſter, und
damit ſchreib ich dir jetzt. Zu gutem Gluͤck hatt
ich eben einen friſchen halben Bogen angefangen. Wie
dir der Brief zukommen wird? das weiß Gott! —
Vor einer guten Stunde, als ich eben dieſes ge-
ſchrieben hatte, kam der Bediente zu mir auf die
Kammer, und ſchloß hinter ſich zu. Er hatte wei-
ſe Waͤſche unter dem Arm. Jungfrau, ſagte er,
und ſtotterte, Sie ſollen ſich auf morgen reißfer-
tig machen! Wenn Sies aͤndern koͤnnen, ſo bitt
ich unterthaͤnig, thun Sies doch! Es iſt unten
ein ſchrecklicher Jammer. Die Frau Mama ſtrei-
tet, man ſoll Sie nicht ins Kloſter ſperren; aber
ſie wird uͤberſchrien. Jhre Frau Schwaͤgerin ſagt:
Sie muͤſſen drein! Sie woll Sie ſelber hinbeglei-
ten! Jhr Herr Bruder ſagt, was ſie ſagt. Konrad,
ſagt ich, ich kann nicht anders. Es ſcheint, er
hat Mitleid mit mir. Will er mir wol eine Bit-
te erfuͤllen? herzlich gern! Was Sie wollen, ſagte
er, und wiſchte ſich die Augen. — Darf ich mich
aber wol ſicher auf ihn verlaſſen? — Ja, bey
Gott, daß duͤrfen Sie! — Da hat er etwas
Geld, ich brauchs doch nicht mehr! Nein, Jung-
frau, Geld nehm ich um alles in der Welt nicht
von Jhnen. Dann koͤnnten Sie mir ja nicht
trauen! — Nun, ſo thu ers umſonſt! Gott wird
ihn dafuͤr belohnen! Jch hab ein paar Blaͤtter Pa-
pier! Morgen, wenn er mich holt, will ichs ihm
zuſtecken. Geb er ſie, ſobald als moͤglich, meinem
juͤngern Bruder. — Aber, ich bitt ihn um Got-
teswillen, laß ers ſonſt keinen Menſchen ſehen!
Jch wuͤrde ungluͤcklich! — Jch ſchwoͤrs Jhnen bey
allen Heiligen! — Nun gieng er wieder. —
Jn Gottes Namen will ich den Brief meinem
Bruder uͤberliefern. Jch hoff, er ſtellt dir ihn zu.
So weiſt du doch etwas von mir. Wo nicht, ſo
iſt nicht viel verdorben. Denn was ich geſchrieben
habe, wiſſen ſie alle ſchon vorher.
Und ſo ſoll ich denn aus einer Welt, wo du biſt,
mein Geliebteſter? Gott! wer haͤtte das je gedacht!
Er, der bisher mich unterſtuͤtzt hat, daß es nicht
gar aus mit mir iſt, unterſtuͤtz auch dich, du
Theurer, dem ich bis ans Ende meines Lebens treu
bleibe. Du ſiehſt, daß ich nicht anders handeln
konnte; denn dem Hofrath meine Hand geben, waͤ-
re mehr, als Tod und Trennung. Wer weiß,
wann wir uns wiederſehen? Jn der Ewigkeit ge-
wiß. Dieſe ſey dein Augenpunkt in allen Leiden,
ſo wie er meiner auch iſt! Hoffe nichts auf dieſer Welt,
und alles in der Ewigkeit! Es kommt ein Tag,
an dem wir nicht mehr weinen werden. Denk
an dieſen in der Dunkelheit des Lebens! Gott ſtaͤr-
ke dich, wie er mich geſtaͤrkt hatl Lang kann ich
unmoͤglich leben. Vielleicht folgſt du mir, mein
Geliebteſter, bald nach. —
Meine Mutter iſt bey mir geweſen. Ach, Ge-
liebteſter, dies war der aͤrgſte Strauß fuͤr mich.
Sie hieng an meinem Hals, bat und flehte mich
mit Thraͤnen, mich wohl zu bedenken, und dem
Hofrath meine Hand zu geben! Was konnt ich
anders thun, als weinen, mein Geliebteſter?
Sie ſag: Sonſt ſehen wir uns das Letztemal.
Das war hart, mein Geliebteſter! Aber, Gott!
es ſteht ja nicht in meinen Haͤnden, es zu aͤndern.
Jch kann meine Hand nicht geben dem, den ich
nicht liebe. Und dir untreu werden — Ach, das
iſt unmoͤglich! Der Hofrath iſt auf heute abge-
ſtellt; aber morgen kaͤm er wieder, wenn ich blie-
be. — Gott trockne die Thraͤnen meiner Mutter
ab! Jch wollte lieber Blut weinen; lieber mich
zu Tode weinen, als ſie meinethalben leiden ſehen;
und doch kann ich es nicht aͤndern. Dieß iſt das
Erſtemal, daß ſie mich um etwas bat; und das
Erſtemal konnt ich ihre Bitte nicht erfuͤllen. Gott
weiß, wie gern ich es gethan, wie gern ich ihr
mein Leben hingegeben haͤtte. — Den Abſchied
kann ich dir nicht ſchildern. Die zum letztenmale
ſehen, die ich, neben dir, uͤber alles liebe, das
geht uͤber alle Leiden. Heilige Mutter Gottes, ſteh
ihr bey!
Alſo waͤr ich denn allein; getrennt von dir und
ihr, und haͤtte keinen Freund mehr, der mir hel-
fen koͤnnte! Fuͤrchterlich, ach, unausſprechlich fuͤrch-
terlich! — O du, den ich nicht ſehe, der aber mich,
und meine Seele ſieht, daß ſie rein iſt; ſieh, ich
bin allein! Verſchleuß dein Ohr nicht! Laß es hoͤ-
ren meine Seufzer! Verſchlouß deinen Himmel
nicht! Laß herabthauen Troſt und Gnade! Denn
ich bin allein. —
Mein Bruder war noch einmal auf Befehl mei-
nes Vaters bey mir: Willſt du dem Hofrath deine
Hand geben? — Nein, ich kann nicht Bruder! — Nun
ſo ſag ich dir im Namen meines Vaters, daß du mor-
gen fruͤh um drey Uhr dich gefaßt halten kannſt, ins
Kloſter zu wandern. Halts fuͤr eine Ehre, daß er
deinen Wunſch erfuͤllt! Aber dein Vater will er
von dem Augenblick an nicht mehr ſeyn. Man
wird dir Kleider bringen! — Mit dieſen Worten
gieng er. Gleich darauf brachte mir Konrad eini-
ge wenige, und ſchlechte Kleider. —
Ach Geliebteſter, du ſaͤumeſt, und kommſt nicht,
deine Mariane zu erretten; wenigſtens ſie noch ein-
mal zu ſehen. Leb denn wohl, du Theurer, den
ich wie mein eigen Leben liebte! Gottes Gnade
leite dich durchs Thal der Leiden! Denk oft an dei-
ne Mariane! Sie wird dein ſeyn, bis ſie todt iſt.
Zwiſchen dunkeln Mauren wird ſie weinen, und
an dich gedenken, wenn der Tag anfaͤngt. Wenn
der Mond in ihre Zelle ſcheint, wird ſie deiner noch
gedenken, und der alten Zeiten, und weinen.
Blick auf zum Mond, ſo oft er ſcheint! Meine
Seele wird ſtets an ihm hangen, und mein Aug
an ihm verweilen; und dann werd ich denken, daß
auch du zu ihm hinauſblickſt, und an mich ge-
denkſt, und an die Stunden unſrer Liebe, und an
meine Thraͤnen. Denke dann auch, daß wir einſt
im Grabe ruhen, und daß unſre Seelen wandeln
werden auf des Mondes lieblichen Gefilden! Daß
uns Gott vereinen wird nach unſerm Tode, weil
er uns vereinigt hat im Leben! — Das Papier
geht zu Ende. Noch ein paar Worte muß ich
unten hin an meinen Bruder ſchreiben. Gott ge-
be, daß du dieſes Blatt bekommſt! Du wirſt wei-
nen; aber es enthaͤlt auch Troſt. — Leb wohl,
leb ewig wohl, Geliebteſter! Hier auf dieſer Welt
zum letztenmale kann ich mit dir reden, und auch
dieſes nur in Briefen. Leb denn wohl, und bleib
mir treu! Daß Gott dich ſtaͤrken moͤg in allen
deinen Leiden! Daß er dich mir wiedergeb im Him-
mel.
Leb wohl, leb ewig wohl, und beth fuͤr
deine
Mariane.
An den Rand war noch folgendes mit groͤſſern
Buchſtaben, um mehr in die Augen zu fallen, ge-
ſchrieben:
An meinen lieben Bruder Joſeph.
Leiſte mir den letzten Dienſt, Bruder, den du
mir in dieſem Leben leiſten kannſt! Gib dieſen
Brief, verſiegelt, an Siegwart, ſobald er zuruͤck-
kommt! Er iſt fuͤr ihn unendlich wichtig. Gott
und alle Heiligen werden dich dafuͤr ſegnen. Gib
ihm auch in etlich Zeilen Nachricht, wie mirs
noch den letzten Tag meines Hierſeyns gieng! Jch
flehe dich mit heiſſen Thraͤnen, die hier auf den
Brief flieſſen, um dieſe einzige, und letzte Wohl-
that. Leiſte ſie um Gottes und um meiner Ruhe
willen! Leb wohl, lieber Bruder! Gott ſegne dich!
Troͤſt unſre Mutter, und wein um deine ungluͤck-
liche Schweſter
Mariane Fiſchern.
Siegwart hatte wol hundertmal bey Leſung die-
ſes Briefes abbrechen muͤſſen. Oft ſchoß ein
Strom von Thraͤnen drauf, daß er keinen Buch-
ſtaben mehr von dem andern unterſcheiden konn-
te. Oft fieng er an zu zittern, daß er den Brief
nicht mehr zu halten vermochte. Oft vergiengen
ihm Geſicht und Gehoͤr, und der kalte Schweiß
ſtand ihm auf der Stirne, daß er halb ohnmaͤch-
tig auf den Stuhl zuruͤck ſank. Oft ſprang er
wieder auf, rang die Haͤnde, und rief: Gott!
Gott! Gott! — Als er endlich den Brief ganz
zu Ende geleſen hatte, ſank er matt und ſinnlos
auf den Stuhl, wuſte nichts mehr von ſich ſelbſt,
und lag ſo bey einer Viertelſtunde da. Als er
wieder etwas zu ſich ſelber kam, und ſah, daß
es ſchon ganz dunkel geworden war, wollt er
aufſtehn, aber er hatte keine Kraͤfte. Alle Glie-
der zitterten ihm, ſein Geſicht war eiskalt, und
es ward ihm wieder einmal um das andre ſchwind-
lich. Endlich grif er mit vieler Muͤhe nach der
Glocke auf dem Tiſch, und klingelte. Die Auf-
waͤrterin kam. Er foderte Licht. Jeſus, Ma-
ria, und Joſeph! rief ſie aus, als ſie das Licht
brachte, was fehlt Jhnen? Sie ſehn ja aus, wie
der Tod! Soll ich zum Herrn Doktor laufen? —
Mir iſt nicht recht wohl, antwortete er; mach ſie
mir eilig eine recht gute und warme Suppe!
Es wird ſchon beſſer werden! Sie bedaurte ihn
von Herzen, zuͤndete das Licht an, und gieng
weg. Er verſuchte indeß den Brief von Maria-
nens Bruder zu leſen; aber die Augen giengen
ihm uͤber, und die Buchſtaben floſſen all vor ihm
ineinander, daß er ſchwarz und weiß nicht von
einander unterſcheiden konnte. Die Aufwaͤrterin
brachte ihm eine gute warme Weinſuppe; er aß,
und fuͤhlte ſich darauf wieder etwas geſtaͤrkt.
Mit vieler Muͤhe brachte er die Magd von ſei-
nem Zimmer, ſie war ſehr beſorgt, und wollte
ihm durchaus einen Doktor holen. Als ſie weg
war, nahm er Joſephs Brief wieder vor ſich,
und las:
Den 11ten Auguſt.
Lieber Siegwart!
Jch erfuͤlle die traurige Bitte meiner Schwe-
ſter, gebe Dir ihren Brief, und ſoviel Nachricht,
als ich von ihr geben kann. Geſtern fruͤh um 3
Uhr wurde ſie, ohne daß ich ſie noch ſprechen
durſte, mein Vater und meine Mutter ſprachen
ſie auch nicht mehr, in den Wagen gefuͤhrt, in
dem meine Schwaͤgerin ſaß, und den mein Bru-
der ſelbſt kutſchierte. Sie fuhren beym Thor hin-
aus gegen Regensburg zu. Weiter weis kein
Menſch nichts von ihnen; denn es durfte kein Be-
dienter mit, und mein Bruder iſt bis dato noch
nicht zuruͤckgekommen. Soviel weis ich, daß mei-
ne Schwaͤgerin hauptſaͤchlich Schuld daran hat, daß
ſie ins Kloſter muß. Sie mag wohl ihre beſondre
Abſichten dabey haben. Meine Mutter weint be-
ſtaͤndig, und um meinen Vater kann man gar
nicht ſeyn, ſo aufgebracht iſt er. Er ſagt, er woll
nun weiter gar nichts von dem Nickel wiſſen. Er
hat Dir auch ſehr aufgedroht; und wollte ich Dir da-
her wohlmeynend gerathen haben, Dich je eher, je lie-
ber von hier weg zu machen. Jch werde dich wol
nicht ſprechen koͤnnen, weil mein Vater immer
auflaurt, und mich todtſchlagen wuͤrde, wenn ers
wuͤßte. Sag daher keinem Menſchen nichts, daß
ich nicht auch noch in Ungelegenheit druͤber kom-
me! Wenn du nur den Brief erſt haͤtteſt! Jch
bedaure dich, und ſie gewiß. Weiter kann ich
aber auch nichts thun,
Dein getreuer Diener
Joſeph Fiſcher.
Eine neue Erſchuͤtterung betaͤubte Siegwarts See-
le. Er fuͤhlte ſich wieder ſchwaͤcher, ließ den Brief
fallen, ſank vorwaͤrts auf den Tiſch, verbarg ſein
Geſicht in beyde Arme, und lag ſo eine halbe Stun-
de, ſeiner nur halb bewuſt da, bis die Aufwaͤrte-
rin wieder kam, ſich nach ihm zu erkundigen. Er
ließ ſich von ihr halb auskleiden, und gieng zu
Bette. Nun, da ſich ſeine Natur wieder etwas
erholt hatte, gieng erſt ſein Seelenleiden an; nun
konnte er erſt ſein Ungluͤck uͤberdenken, und in ſei-
ner ganzen Groͤſſe faſſen. Er ſchauderte zuweilen
zuruͤck, als ob er in einen Abgrund hinabblickte.
Alles war noch Nacht vor ihm. Er konnte nichts
denken, als: ſie iſt verlohren! Die halbe Nacht
quaͤlte er ſich mit dieſem einzigen Gedanken, ohne
all ſein Schrecken halb auszudenken. Oft graͤnzte
ſeine Muthloſigkeit nah an Verzweiflung, und
dann bat er wieder Gott, ihn nicht ganz zu ver-
laſſen! Wie gluͤcklich, dachte er, wenn ich von
meiner Ohnmacht ewig nicht mehr aufgewacht waͤre!
Dann fiel ihm wieder ein, was jetzt ſeine Mariane
leiden muͤſſe; und dann zerfloß ihm das Herz ganz
in Wehmuth. Dann bethete er nur fuͤr ſie, und
nicht fuͤr ſich. Gib mir nur den Tod, o Gott!
ſonſt kenn ich keine Wohlthat mehr! — Die haͤu-
figen Erſchuͤtterungen ſeiner Seele machten endlich
alle Sehnen ſchlaff, und er ſank in einen tiefen
Schlummer, der bis den andern Morgen gegen
acht Uhr daurte, als ſeine Aufwaͤrterin auf die
Kammer kam. Sie machte die Thuͤre leiſe auf,
und ſah herein. Er wachte von dem Knarren der
Thuͤre auf. Was gibts? rief er. Wie befinden
Sie ſich? fragte das Maͤdchen. So ziemlich! war
die Antwort; mach ſie mir nur Kaffee! Dann
ſtand er auf, kleidete ſich an, und gieng aufs Zim-
mer. Hier ſah er Marianens Brief auf dem Tiſch,
und Joſephs ſeinen auf der Erde liegen. Er raffte
beyde ſchnell zuſammen, und ſteckte ſie ein. Er
ſah ſich von ohngefaͤhr im Spiegel, und erſchrack
uͤber ſeine Blaͤſſe. Ach Gott, ſeufzte er, machs
nur bald ganz aus mit mir! — Er wollte etwas nach-
denken, ob er kein Mittel vor ſich ſehe, ſich und
Marianen zu retten? Aber es war ihm nicht moͤg-
lich, nur etwas zuſammenhaͤngendes zu denken.
Endlich ſetzte er ſich nieder, an Kronhelm zu ſchrei-
ben. Mit zitternder Hand ſchrieb er folgendes
an ihn:
Liebſter Bruder und Schwager!
Zu dir nehm ich meine Zuflucht, den einzigen, den
ich nur auf Erden habe. Das Schickſal ſchlaͤgt
mich ganz Boden. Reich mir deine Hand. Aber
N n n
welcher Menſch kann den Ungluͤcklichen retten, der
alles, ach, alles verlohren hat? Ach Geliebter, meine
Mariane iſt verlohren. Dieſes ſag dir alles! Sie
iſt eingeſchloſſen in ein Kloſter, und ich weis den
Ort nicht, wo ſie jammert. Selbſt ihr Vater
war der Grauſame, der ſie verſtieß. Menſchen,
Menſchen! Welch ein Scheuſal ſeyd ihr! Aber ich
vergeh in meinem Jammer. O Geliebter, wenn
ich wuͤßte, wo der Tod waͤr, daß ich ihm entge-
gen gienge! — Komm Geliebter, und erbarm dich
meiner! Oder ich will ſelber kommen, und mein
Leid bey dir verjammern. Goͤnn in deinem Hauſe
mir ein Plaͤtzchen, und ein Grab auf deinem Acker!
Denn in wenig Tagen wird das Grab mich ru-
fen, und mir Ruhe geben in der Erde, weil ich
auf der Erde ſie nicht finden konnte. Sage meiner
Schweſter nichts von meinen Leiden, daß ſich ihre
Seele nicht zu ſehr betruͤbe! — Mariane, Ma-
riane! ach wo biſt du, du Erwaͤhlte meines Her-
zens, daß ich mit dir ſterbe? — Ach Geliebter,
wenn du etwas von ihr hoͤrteſt! Wenn ein Engel
dir die Bothſchaft braͤchte, wo ſie jammert! — Jch
muß fliehen, denn ihr Vater will auch mich ver-
folgen. Darum eil ich zu dir. Nimm mich auf
an deinen Buſen! Nimm mich freundlich auf! Es
waͤhrt nicht lange. Noch bin ich matt und kraft-
los, denn die Todesbothſchaft hat mich wie ein
Sturm erſchuͤttert, und mich hingeworfen, daß
ich meine Kraft verlohr. Wenn ich wieder aufge-
ſtanden bin, dann eil ich zu dir. Jch kann nicht
mehr ſchreiben; meine Augen ſind voll Waſſer,
und mein Herz iſt voll Jammers.
Lebe wohl,
mein Geliebter, habe Mitleid mir, und empfang
mich freundlich, wenn ich komme! Sieh den Him-
mel an, und beth fuͤr deinen armen
Siegwart.
Nachdem er dieſen Brief auf die Poſt ge-
ſchickt hatte, befahl er der Aufwaͤrterin, ihm von
ſeinem Hauswirth die Rechnung machen zu laſſen.
Sie weinte, und fragte, ob er dann ganz wegreiſen
wolle? Nein, ſagte er, aber wie leicht koͤnnt ich
ſterben! Sie weinte noch heftiger. Er bezahlte
drauf die Rechnung, und packte ſeine meiſten Sa-
chen in den Koffre, ohne ſelbſt zu wiſſen, warum?
Zuweilen ließ er ploͤtzlich alles liegen, ſetzte ſich auf
einen Stuhl, und weinte; oder zog Marianens
Brief heraus, kuͤßte ihn, las eine halbe Seite,
legte ihn dann ſorgfaͤltig wieder zuſammen, und
ſteckte ihn in ſeine Brieftaſche. Als er eingepackt
hatte, gieng er zu Dahlmund, kam aber, weil
er ihn nicht zu Haus angetroffen hatte, nach einer
halben Viertelſtunde wieder nach Haus. Er wuͤnſchte
ſich nun keine Wohlthat, als jemand zu haben, in
deſſen Buſen er ſeinen Schmerz ausſchuͤtten, und
mit dem er gewiſſermaßen ſeinen Jammer theilen
koͤnnte; aber keine ſolche Seele war fuͤr ihn in
Jngolſtadt. Es fiel ihm ein, daß der geheime
Rath von Kronhelm verſprochen habe, ihm eine
anſehnliche Bedienung zu verſchaffen. Vielleicht,
dachte er, ſtimmt dieſes den Hofrath Fiſcher um.
Ohne ſich erſt lange zu bedenken, gieng er aus dem
Haus, und ließ ſich bey dem Hofrath melden, mit
dem Anhang: Er habe viel wichtiges mit ihm zu
reden. Der Bediente kam wieder mit dem Auf-
trag: Der Herr Hofrath muͤſſe ſich erſtaunlich
wundern, wie er ſich noch unterſtehen koͤnne,
ihm unter die Augen treten zu wollen, da er wiſ-
ſe, wie ſchlecht er ſich gegen ihn betragen habe. Er
moͤchte ſich ja in Acht nehmen, und dem Herrn
Hofrath nicht zu nahe kommen! Es koͤnnte ſchlim-
me Folgen fuͤr ihn haben. Der Herr Hoſrath
werd ihn nie anhoͤren. Er habe nichts mit einem
ſolchen Menſchen zu reden, und das rathſamſte
waͤre, wenn er ſich recht bald von Jngolſtadt weg
machte. Mit dieſen Worten machte der Bediente
die Hausthuͤre auf, als ob er unſerm Siegwart den
Weg weiſen wollte. Dieſer gieng weg, und zit-
terte vor Zorn und Unwillen. Zu Haus ſtampfte
er auf die Erde. Das ſind Menſchen! ſagte er,
und knirſchte mit den Zaͤhnen. Er weinte vor un-
terdruͤckter Wuth. Pfuy den Hundskerl! ſagte er,
und ſpie aus. So will ich mich denn auf keinen Men-
ſchen mehr verlaſſen! Keiner iſt einen Heller werth,
Pfuy! Je vornehmer, deſto liederlicher und ſtol-
zer, Pfuy! — Zuletzt gieng ſeine Verachtung wie-
der in Wehmuth und in Thraͤnen uͤber. Er dachte
ſich ſeine Mariane, ſeinen Vater, und uͤberließ
ſich ſeinem Schmerz. Abends gieng er bald zu
Bett, und konnte doch nicht ſchlafen. Er ſprach
mit ſich ſelber, redete bald den einen, bald den andern
von ſeinen Freunden an, und klagte ihnen ſeinen
Jammer. Endlich fielen ihm Fran Held und Ka-
roline ein, und, mit ihnen, der Gedanke, ſie
morgen zu beſuchen; und bey ihnen wenigſtens
den Troſt zu finden, ſeinem Schmerz durch Er-
zaͤhlung etwas Luft zu machen. Dieſer Gedanke
beſchaͤftigte ihn noch ſo lange, bis er endlich mit
einem, ganz erleichterten Herzen, einſchlief.
Kaum war er aufgewacht, ſo war dieſes wieder ſein
erſter Gedanke. Seine Seele ſtrebte mit ungewoͤhn-
licher Sehnſucht nach dem Landhaus, und glaubte,
da endlich Erleichterung zu finden. Er ſchloß alle
ſeine Sachen ein, ſagte der Aufwaͤrterin, er werde
erſt in ein paar Tagen wieder kommen, und gieng.
Es war um neun Uhr, und der Sommertag
war ſchoͤn, aber heiß. Er war eine halbe Stunde
noch vom Landhaus, als er querfeldein einen Bau-
ren ſtark gehen ſah, der auf ihn zu kam. Es war
ſein Thomas. Guten Morgen, Herr! ſagte er,
ich hab Sie ſchon lang nicht mehr geſehen. Haben
Sie uns ganz verlaſſen? Siegwart ſagte, er ſey
verreiſt geweſen. — Wo wollt ihr hin, Thomas? —
Jch will da nach der Stadt, und dieſes Felleiſen
einem Herrn bringen, der geſtern bey uns durch-
fuhr. Vermuthlich gehoͤrts ihm. Jch habs hinterm
Dorf in einem Graben gefunden. Der Herr fuhr vor
etlich Tagen fruͤh morgens durchs Dorf, und da war
das Felleiſen auf die Kutſche hinten aufgebunden. Er
kutſchierte ſelbſt, und hatte zwey Jungfern im Wa-
gen. Wo mir recht iſt, ſo war eine davon die Jung-
fer, die bey der geſtrengen Frau auf dem Schloß
war, und die Sie unterm Arm fuͤhrten, als ſie
wieder weggiengen. Sie ſah wol ganz bleich aus,
und das Kutſchenglas war vor, daß ichs nicht
recht ſehen konnte. Gott! Das iſt Mariane! rief
Siegwart. Wo iſt ſie hingefahren? — Da aufs
naͤchſte Dorf zu, gleich drey Viertelſtunden von
uns. Jch hab doch nichts unrechts geredt, weil
Sie ſo bleich druͤber werden? — Nein Thomas.
Wenn fuhr der Herr wieder zuruͤck? Wars nicht
ein groſſer hagrer Herr? — Recht! Es war
ſo ein duͤrrer Herr! Geſtern Abend nach acht
Uhr ſah ich ihn an meinem Haus vorbeyfahren. —
Und er kam wieder von dem Dorf her, wo er hinge-
fahren war? Ja, Herr! das Dorf heißt Altman-
ſtein, wenn Sie hin wollen. Es geht immer grad
aus. Jedes Kind kanns Jhnen ſagen. Adjeu, Tho-
mas! ſagte Siegwart, und lief eilends fort nach dem
Dorf zu. Der Bauer ſah ihm voller Verwunderung
nach. Siegwart kam in Thomas Dorf an, frag-
te nach dem Weg nach Altmanſtein, und lief haſtig fort.
Nun glaubte er, auf der Spur zu ſeyn, und hoffte ſeine
Mariane gewiß auszukundſchaften. Seine ganze Seele
war jetzt von dieſem einzigen Gedanken voll. Er achte-
te nicht der groſſen Sonnenhitze und des Schweiſſes,
der ihm von den Wangen lief. Jn Altmanſtein
fragte er bey etlich Haͤuſern, ob man nicht geſtern
eine Kutſche habe durchfahren ſehn, und wo ſie
hergekommen ſey? Ein altes Muͤtterchen gab ihm
endlich Auskunft, und wies ihn auf das naͤchſte
Dorf rechter Hand. Hier ließ er ſich, weil er
ganz abgemattet war, von einer Baͤuerin ſchwar-
zes Brod und friſche Milch geben; erkundigte ſich
wieder nach dem Wagen, und erfuhr das naͤchſte
Dorf, wo er ſeinen Weg her genommen hatte. Alle
Ausſagen, und Beſchreibungen der Perſonen, die
beym Wagen geweſen waren, ſtimmten uͤberein;
und lieſſen ihn gar nicht mehr zweifeln, daß es der
Wagen mit Marianen geweſen ſey. Nachdem er
ſich wieder etwas erholt hatte, gieng er in der groͤ-
ſten Mittagshitze weiter. Er achtete ſie aber nicht,
auch nicht, daß er ſich die Fuͤſſe ſchon ganz wund
gelaufen hatte. Seine Seele war auf Einen Punkt
geheftet, und ließ ihn alle aͤuſſere Eindruͤcke und Em-
pfindungen vergeſſen. Er kam noch durch etlich Doͤr-
fer, wo er immer Nachricht vom Wagen bekam, und
weiter gewieſen wurde. Gegen Abend fuͤhlte er
endlich ſeine aͤuſſerſte Entkraͤftung, und die Wunden
an den Fußſohlen. Er ſehnte ſich nach dem naͤchſten
Dorf, und konnte es kaum vor Mattigkeit erreichen.
Bey der naͤchſten Huͤtte klopfte er an. Die Leute
drinnen machten ihm auf, thaten ſehr dienſtfertig
und mitleidig, als ſie ihn ſo abgemattet ſahen,
und brachten ihm Brandewein, ſeine Fuͤſſe zu
waſchen. Als er fragte, ob er wol ein Nachtquar-
tier bey ihnen haben koͤnne? ſagten ſie willig Ja,
und fuͤgten hinzu: Wenn er nur vorlieb nehmen
wolle, ſo koͤnn er ſolang bey ihnen bleiben, bis er
wieder friſch und geſund ſey. Aus allem, was er
ſah, konnt er ſchlieſſen, daß die Leute ſehr wohlha-
bend ſeyn. Es war ein Bauer mit ſeiner Frau
und vier Kindern, davon das aͤlteſte ein Knabe
von zehn Jahren, und das juͤngſte ein Maͤdchen
von fuͤnf Jahren war. Auf der Bank herum ſaſ-
ſen zween Knechte und drey Maͤgde. Als Sieg-
wart eine Milchſuppe und ein paar Eyer gegeſſen
hatte, ſo gieng er wegen ſeiner groſſen Muͤdigkeit
zu Bette. Man fuͤhrte ihn eine Treppe hoch in
eine ganz artige, auf Baurenart ſchoͤn ausgeputzte
Stube, wo ein reinliches Bette ſtand.
Wegen der groſſen Hitze, und der heftigen Wallung
ſeines Bluts, die durch ſeine ſtarke Gemuͤthsbewe-
gung noch vermehrt wurde, konnte er erſt nach Mit-
ternacht einſchlafen. Den folgenden Morgen
wachte er erſt um neun Uhr auf, und fuͤhlte ſich ſo
matt, daß er mit vieler Muͤhe kaum allein aufſte-
hen konnte. Als ihn die Baͤuerin unten hoͤrte,
daß er wach waͤre, kam ſie herauf, und erkundig-
te ſich nach ihm. Sie bot ſich an, beym Herrn
Pfarrer Kaffee zu entlehnen, um ihm welchen zu
machen. Er verbats aber, und ließ ſich eine Bier-
ſuppe machen. Eh er ſie eſſen konnte, mußte er
ſich wieder zu Bette legen, denn er ward ein paar-
mal halb ohnmaͤchtig.
Er war ſehr ungeduldig, daß er nun hier ſo
unthaͤtig liegen mußte, und die beſte Zeit, Ma-
rianen nachzuſpuͤren, vorbeygehen laſſen ſollte.
Die Baͤurin ſetzte ſich neben ihm ans Bette, und
war ſeinetwegen ſehr beſorgt. Als er ſie verſicher-
te daß er ſich nun wieder etwas beſſer befinde, ſo
fieng ſie an: Es muß Jhnen wol ſehr uͤbel in der
Welt gegangen ſeyn, denn ich habs ſchon gemerkt,
daß Sie recht betruͤbt ſind, und immer naſſe Au-
gen haben. Man ſollt denken, ſo einem Herrn,
wie Sie ſind, koͤnnts an nichts fehlen. Sie ha-
ben ja ein ſchoͤnes Kleid, und ſind ſonſt ſo wohl
ausſtaffirt, daß es eine Luſt iſt. Geld haben Sie
auch genug, wie ich geſtern ſah, als Sie den
Brandewein bezahlen wollten. — Ach meine lie-
be Frau, ſagte Siegwart, Geld und Gut macht
allein nicht gluͤcklich. Wenn man auch alles ge-
nung hat, ſo gibts noch tauſend andre Leiden, die
man einem nicht ſo ſagen kann. Jch wollt ihr
gern mein Geld und alles geben, wenn mir ſonſt
geholfen werden koͤnnte. — Ja freylich, fiel ſie
ein, macht Geld und Gut allein nicht gluͤck-
lich; und drauf fieng ſie eine lange Erzaͤhlung an
von ihrem erſten Mann, den ſie ſechs Jahre in
ihrem ledigen Stand gekannt, und recht herz-
lich lieb gehabt habe. Sie hab immer nur ge-
dacht, es koͤnn ihr nichts mehr fehlen, wenn ſie
ſeine Frau ſey. Endlich ſey ſies geworden, und
hab ein Jahr lang mit ihm gelebt, wie die Engel
im Himmel. Aber — hier fieng ſie an zu wei-
nen — der Tod hab ihn ihr genommen; ſie ſey
untroͤſtlich geweſen, und habe geglaubt, es ſey kein
Gluͤck auf der Welt mehr, bis ihr Gott ihren
Kaſpar zugefuͤhrt habe. Nun ſey ihr ſeit eilf Jah-
ren wieder recht wohl, und ſie ſehe wohl, daß
man immer wieder gluͤcklich werden koͤnn, es moͤg
mit einem auch ausſehen, wie es wolle! und ſo
muͤſſ’ er eben auch denken! Jch will das beſte hof-
fen, ſagte er; aber ich weis nicht, wie mir gehol-
fen werden kann? Hier weinte er, und die Baͤu-
rin weinte herzlich mit. Nach einer Stunde, als
er verſichert hatte, daß er ſich nun wieder weit beſſer
befinde, gieng ſie hinunter, um ihre Haushaltungs-
geſchaͤfte zu verrichten. Er ſeufzte und betete zu
Gott um Geſundheit oder Tod. Endlich langte er
ſeine Brieftaſche, und ſchrieb einen wehmuͤthigen
und ruͤhrenden Aufſatz darein, wo er ſeine Maria-
ne als gegenwaͤrtig anredete. Um Eſſenszeit, als
er wieder ziemlich geſtaͤrkt war, gieng er in die
Stube hinunter, wo ihm die Baͤurin ein recht
gutes Eſſen zurichtete. Der Bauer war, weil es
Sonnabend war, in das naͤchſte Staͤdtchen ge-
fahren, um Haber zu verkaufen. Nach dem Eſ-
ſen ſpielte Siegwart mit den Kindern, die ſich
gleich um ihn her machten. So uͤbel ihm auch
zu Muthe war, ſo muſte er doch ihre Spiele mit-
machen, und zuweilen laͤcheln. Er ſah einen Ka-
techismus da liegen, und wollte den aͤltern Knaben
etwas drinn leſen laſſen; aber dieſer konnte noch
kaum buchſtabiren, und von der Religion wuſte
er noch nicht das geringſte. So traurig ſiehts oft
auf dem Lande mit dem Kinderunterricht aus.
Siegwart erkundigte ſich drauf nach allen umliegen-
den Kloͤſtern, und beſonders nach den Nonnenkloͤ-
ſtern. Es war deren eine ſo große Menge, daß ihm
bange ward, wie er das rechte ausfindig machen
wollte. Was er anzufangen habe, wenn er das-
jenige Kloſter faͤnde, in welchem Mariane war,
daran hatte er noch gar nicht gedacht. Jn der an-
genehmen Daͤmmerung ſetzte er ſich mit der Baͤu-
rin unter eine Linde vor dem Haus auf einen ab-
gehauenen Baum. Sie war ſehr beſorgt, daß
ihr Mann ſo lange nicht zuruͤckkomme. Er hat
einen Fehler an ſich, ſagte ſie, wenn er an einem
Ort einmal iſt, da kann er ſobald nicht wieder
wegkommen, und da guckt er oft zu tief ins Glaͤ-
ſel. Sonſt aber iſts ein kreuzbraver Mann.
Siegwart ſprach nicht viel, und ſaß in tiefer
Wehmuth da. Er ſah zum Himmel auf, wo nach
und nach einzelne Sterne ſichtbar wurden. Oft
ſtieg ſein Buſen hoch, und ein lauter Seufzer
brach hervor. So lebhaft hatte er, ſeit der trau-
rigen Begebenheit, noch nie an ſeine Mariane,
und an ſein fuͤrchterliches Schickſal gedacht. Jetzt
uͤberſah er es erſt ganz, und ſchauderte vor der
hofnungsloſen Zukunft. Er wuͤnſchte ſich nichts,
als zu vergehen, und auf Einmal ewig aufzuhoͤren.
Es ward ihm, als ob er Marianen wimmern
hoͤrte, und wuͤnſchte, daß ſeine Seele aus dem
Leib eilen moͤchte, um ſie zu troͤſten! Die
Baͤurin ward indeß immer beſorgter um ihren
Mann. Sie ſtund einigemal auf, und gieng ei-
nige Haͤuſer weit, ob ſie noch nichts hoͤre? Sie
kam langſam wieder zuruͤck, und ſagte: Noch
nichts! Endlich hoͤrte man vor dem Dorf drauſſen
einen Wagen ſtark raſſeln, und ein lautes Juch-
zen. Gottlob! nun kommt er, ſagte ſie. Er fuhr
in vollem Gallop ins Dorf herein. Wo biſt du
doch ſo lang, Kaspar? ſagte ſie. Ey was, Narr!
ſagte er, ſprang vom Pferd, und ſchloß ſie in den
Arm; ich hab einen guten Kauf gethan. Heh,
luſtig, Herr! Hier hab ich ihm was! Jndem
zog er zwo Bouteillen Wein aus dem Zwerchſack.
Komm er! nun wollen wir die Grillen verjagen!
Siegwart mochte ſich ſo ſehr weigern, als er wollte;
er muſte noch eine Bouteille mit dem betrunkenen
Bauren trinken, und konnt ihn kaum abhalten,
die andre nicht auch noch anzubrechen. Er er-
zaͤhlte ihm auf die verwirrteſte Art allerley Geſchich-
ten aus der Stadt, und gieng endlich ſo betrunken
zu Bette, daß er kaum allein gehen konnte.
Den andern Morgen gieng jedermann aus dem
Haus, bis auf die Kinder in die Meſſe. Sieg-
wart ſtand auf, und fuͤhlte ſich faſt ganz wieder
hergeſtellt. Aber ſein Gemuͤth war krank, und im
Jnnerſten verwundet. Er ſetzte ſich, und ſchrieb
mit vieler Ruͤhrung ſeine Empfindungen, die voll
Andacht und voll tiefer Schwermuth waren, in
ſein Taſchenbuch. Waͤhrend daß er ſchrieb, krab-
belte etwas an der Thuͤre. Er machte auf, und
die beyden aͤltern Kinder warens. Sie boten ihm
die Hand, und wuͤnſchten ihm freundlich einen gu-
ten Morgen. Er ſetzte ſich aufs Bett, und ſah
ihren unſchuldigen Spielen zu. Gott! dachte er,
wie vergnuͤgt ſind dieſe Kinder! Ehmals war ich
auch ſo; warum blieb ich nicht ein Kind! Haben
wir denn die Vernunft nur zu unſerm Ungluͤck?
Waͤr ich doch noch ein Kind! Er ward dabey ſo
bewegt, daß ihm Thraͤnen aus den Augen ſtuͤrzten.
Das andre Kind, ein Maͤdchen von acht Jahren,
ſah es, und kam auf ihn zu. Es weinte auch,
nahm ſeine Hand, ſtieg auf ſeinen Knien hinauf,
um ihm |die Thraͤnen mit dem kleinen Haͤndchen
wegzuwiſchen, und ſagte: Muſt nicht weinen!
Hab ich dir denn was gethan? Jch bin ja brav.
Der Knabe ſprang auch herbey, blieb ein paar
Schritte weit von ihm ſtehen, ſah ihn mitleidig
an, und ſagte: Was fehlt dir, daß du ſo ein Ge-
ſicht machſt? Soll ich dir Blumen holen? Jch hab
ſchoͤne im Garten. — Du liebes Kind, dachte
Siegwart, und ſetzte es aufs andre Knie; wenn
mir Blumen helfen koͤnnten! Ach guter Gott! mach
mich wieder zum Kind! Deinen Kindern iſt ſo wohl.
Laß mich wieder Freude haben uͤber Blumen! Er
neigte ſich uͤber die beyden Kinder her, und wein-
te. Das Maͤdchen ſpielte mit Marianens Ring
an ſeinem Finger. Sie ſah ihn an, als ſie fragen
wollte, ob ſie ihn abziehen duͤrfte? Nein, den muſt
du mir laſſen, gutes Kind, ſagte er, das iſt alles,
was ich habe. Bald darauf kam die Mutter auf
die Kammer. Der Knabe ſprang auf ſie zu, und
ſagte: Sieh, Mutter, er weint. Frag ihn, was
ihm fehlt? Wir haben ihm gewiß nichts gethan;
ich und Lieſe nicht. Laß nur ſeyn! antwortete die
Mutter, ich weiß ſchon, was dem Herrn fehlt. —
Es iſt Jhnen doch wieder beſſer, Herr? Siegwart
verſicherte ſie, daß er nun wieder ganz geſund ſey,
und morgen weiter wolle. Nur zu Fuß? fiel die
Frau ein. Siegwart antwortete mit Ja; weil er
nicht mehr weit wolle, und wol wiſſe, daß die
Bauren in der Erndte ihre Pferde beſſer brauchen.
Drauf gieng er mit ihr hinunter in die Stube, wo
auch Kaspar war. Auf den Nachmittag lud er
unſern Siegwart aufs Freyſchieſſen ein, der
endlich, um ihn zu beruhigen, wider Willen Ja
ſagen muſte. Kaspar aß heut, nebſt ſeiner Frau,
mit Siegwart, weil er geſtern, wie er ſagte, ſei-
nen Haber ſo gut an Mann gebracht habe. Sie
tranken miteinander die andere Bouteille Wein, die
der Bauer geſtern mitgebracht hatte. Sieg-
wart vergaß bey ſeiner Geſchwaͤtzigkeit eine Zeitlang
ſeiner eignen Leiden, und gewann das Zu-
trauen der beyden Leute ganz. Den Nach-
mittag muſte er mit zum Freyſchieſſen. Kaspar
gab ihm auch eine Kugelbuͤchſe mit, und er muſte
mit ſchieſſen. Die Bauren erwieſen ihm viele
Ehre, und nannten ihn Junker. Er gewann das
Beſte, welches in etlichen Gulden beſtand. Er
wollt es wieder ausſchieſſen laſſen, als die Bauren
dies nicht zugaben, ſo hielt er ſie alle in Bier
und Brandewein frey. Daruͤber wurden ſie ganz
munter, und tranken alle Augenblicke ſeine Ge-
ſundheit. Als er mit Kaspar weggieng, ward er
bis vor ſein Haus hin mit Muſik, einem Dudel-
ſack und zwo Violinen begleitet. Als er ſagte, daß
er morgen weiter wolle, wollte ihn Kaspar durch-
aus zu Pferd begleiten, aber Siegwart nahm es
nicht an. Er wollte, die Baͤurin ſollte ihm die
Rechnung machen fuͤr das, was er bey ihnen ver-
zehrt haͤtte. Anfangs wollte ſie es gar nicht thun.
Zuletzt foderte ſie etwas weniges. Siegwart gabs,
und ſteckte noch jedem Kind einen Sechsbaͤtzner
in die Hand.
O o o
Den andern Morgen um 5 Uhr ſtand er auf,
und fuͤhlte ſeine Geſundheit voͤllig wieder hergeſtellt.
Die Baͤurin wuͤnſchte ihm mit Thraͤnen tauſend
Gluͤck auf den Weg. Kaspar begleitete ihn bis vors
Dorf hinaus, und wies ihm den naͤchſten Weg.
Auf dem erſten Dorf konnt er lange nichts von
Marianens Wagen erfahren; endlich fand er einen
Bauer, der ihn geſehen hatte, und ihm das
Dorf nannte, wo er hergekommen war. Noch
in zwey Doͤrfern bekam er Nachricht. Endlich im
dritten wollte niemand weiter etwas geſehen ha-
ben. Nur eine Frau ſagte: Abends um Eilf Uhr
habe ſie vor etlich Tagen etwas durchs Dorfs fah-
ren hoͤren. Sie habe hinausgeſehen, und da ſeys
eine Kutſche geweſen, die aufs naͤchſte Dorf zu,
das ſie nannte, gefahren ſey. Man geh durch einen
dicken Tannenwald durch, und es ſey eine gute
Stunde dahin. Erſt muͤſſe man ſich, wenn man
halb im Wald ſey, rechts, dann links, dann wie-
der rechts hinum ſchlagen. Siegwart war auf die-
ſe Anweiſung wenig aufmerkſam. Er war zufrie-
den, daß er etwas von dem Wagen gehoͤrt hatte,
und gieng wieder weiter. Durch allerley Phanta-
ſien und Traͤumereyen, daß er nun bald ſeine Ma-
riane wieder finden werde, vertiefte er ſich ſo in
Gedanken, daß er gar nicht mehr auf den Weg Acht
gab, und ſchon ziemlich tief im dicken Tannenwalde
war, als ihm einfiel, ob er wol auch auf dem
rechten Wege ſey? Der Fußpfad, auf dem er gieng,
war ſchmal, oft verlohr er ihn, wo die Nadeln von
den Tannenbaͤumen haͤufiger lagen, faſt ganz. Er
ward nun etwas beſorgt, denn der Wald war dick,
daß man nirgends hinausſehen konnte. Endlich
theilte ſich ſein Weg, und er wuſte lang nicht, wel-
chen Pfad er waͤhlen ſollte? Endlich gieng er den
zur Rechten, weil ihm nur noch dunkel im Ge-
daͤchtniß ſchwebte, daß die Frau geſagt habe, er
muͤſſe rechter Hand gehen! Nach einer Stunde ver-
lohr ſich ſein Fußpfad ganz. Er gieng hin und
her, vor-und ruͤckwaͤrts, und fand nirgend keine
Spur. Endlich gieng er in der Ungeduld auf Ge-
rathewohl gerade fort. Der Wald ward immer
dicker, und unwegſamer, weil, neben den hohen
Fichten, viel niedriges Tannenreiß wuchs. Hoͤren
konnt er auch weder die Glocken in einem Dorf,
noch ſonſt einen Laut von Menſchen, weil die,
etwas laute Luft durch die Tannenwipfel wie ein
großer Strom dahin rauſchte. Zuweilen machte
ihn das uͤbrige tiefe Schweigen, die Abgeſchieden-
heit von allen lebenden Geſchoͤpfen — denn kein Vo-
gel war im Wald — und das Dunkel, durch das
kaum ein Sonnenſtral dringen konnte, ſehr weh-
muͤthig, daß ihm Thraͤnen aus den Augen auf
das Moos ſtuͤrzten. Dann ward er wieder ver-
druͤßlich und zaghaft, weil er gar kein Ende des
Waldes ſah. Wenn es auch zuweilen etwas hell
ſah, ſo kams doch nur daher, daß die Fichten et-
was duͤnner ſtanden; hinten ſchloß ſich gleich wie-
der ein groͤſſeres Dickicht an. Dabey ward er
von dem muͤhſamen Hin-und Herirren immer mat-
ter und kraftloſer. Ein paarmal ſetzte er ſich auf
das etwas erhoͤhte Moos nieder, ſah auf die Uhr,
und fand, daß es ſchon auf drey Uhr gehe. Er
ſtuͤtzte den Kopf in beyde Haͤnde, und dachte: Ach
Mariane, wenn wir hier in dieſer Wildnis, und von
Menſchen abgeſondert lebten, die groͤſtentheils ſo
niedertraͤchtig ſind! Ach, mein Kleiſt hat Recht:
Ein wahrer Menſch muß fern von Menſchen ſeyn!
Wenn in dieſer ſeligen und ſtillen Ruhe unſer Le-
ben unbemerkt, unbeneidet, ungekraͤnkt, dahin
floͤſſe! Ach Mariane, Mariane, wenn du hier
waͤreſt! Aber du traurſt und weinſt — Gott weiß,
wo? — in irgend einem Winkel zwiſchen dunkeln
Mauren um deinen armen Siegwart und ver-
eufzſt dein Leben. Ach, wenn ich dich hier an
meinen Buſen ſchlieſſen, und dich troͤſten koͤnnte,
wo kein Menſch wohnt, wo nur Engel unſre
Liebe ſehen und ſich ihrer freuen wuͤrden! Ach
Mariane, Mariane, wenn du hier waͤrſt! —
Aber ich verſchmacht in dieſer Wildnis, und kein
Menſch beweint mich, und kein Engel kann mich
retten! — Gott, ach Gott, erhalt mich meiner
Mariane!
So dachte er, ſtund dann wieder auf, und
gieng weiter. Je tiefer die Sonn am Himmel
hinunter ſank, deſto dunkler wards im Tannen-
wald, ſo daß ihm endlich zu grauen anfieng.
Je laͤnger er umher lief, deſto weiter verlohr er
ſich im Wald, und er wollte ſchon dran ver-
zweifeln, ſich jemals wieder herauszufinden, als
er endlich unter dem dickſten Tannengebuͤſch eine
Huͤtte wahrnahm. Bey dieſem Anblick ward ihm,
als ob ein Engel ihm erſchiene. Er eilte auf die
Huͤtte zu, fand aber die Thuͤre verſchloſſen. Er
ward daruͤber ſehr betroffen, doch hoffte er, daß
ihr Beſitzer bald zuruͤckkommen wuͤrde, und ſetz-
te ſich auf die gegenuͤber angelegte Raſenbank.
Die Huͤtte war faſt blos von Erde aufgebaut, das
Dach mit Tannenreiß bedeckt, und ſtatt der Fen-
ſter waren an der Seite nur ein paar kleine Oeff-
nungen. Um das Haus herum war ein freyer
Platz, wo etwas Kuͤchengewaͤchſe, und auf der
andern Seite einige, jung heranwachſende Frucht-
baͤume ſtanden. Ein paar Kirſchbaͤume hiengen
ſchon voll Fruͤchte, die, wegen der Dunkelheit des
Waldes erſt jetzt reiften. Siegwart konnte ſich
nicht zuruͤckhalten, einige davon an den unterſten
Aeſten abzupfluͤcken, denn er war vom Hunger
und Durſt zu ſehr abgemattet, und ausgemergelt.
Eine halbe Stunde drauf kam endlich ein Einſiedler,
in tiefen Betrachtungen verlohren, unter den dun-
keln Tannen hergeſchlichen. Siegwart ſtand ehr-
erbietig auf. Der Einſiedler erſtaunte, als er ei-
nen Menſchen in ſeiner Einoͤde wahrnahm. An-
fangs war er ſo betroffen, daß er nicht reden konn-
te. Endlich gieng er auf Siegwart freundlich zu,
und ſagte: Sie ſind gewiß ein Ungluͤcklicher, daß
Sie in dieſe abgelegne Gegend kommen? Ja, ant-
wortete Siegwart, ich bin verirrt, und laufe ſchon
den ganzen Tag in dieſem Wald umher. Armer
Juͤngling! verſetzte der Einſiedler, Sie werden
wol ſehr abgemattet ſeyn? Jch will Jhnen brin-
gen, was ich habe. Mit dieſen Worten ſchloß er
ſeine Thuͤr auf, brachte etwas Brod und Kaͤſe
heraus, und pfluͤckte ihm Kirſchen von den Baͤu-
men ab. Er brachte auch einen Krug mit Waſſer,
und ſetzte ſich neben unſerm Siegwart hin. Als
ſich dieſer etwas erfriſcht hatte, betrachtete er den Ein-
ſiedler genauer, und fand, daß er ein Mann nicht
viel uͤber dreyſig war, obgleich ſein Geſicht von
innerlichem Kummer ſehr abgezehrt zu ſeyn ſchien.
Jn ſeinem duͤſtern Auge war ein Ueberreſt von un-
terdruͤcktem Feuer, und aus dem ganzen Geſicht
ſprach viel Edles. Ueberhaupt verrieth ſein gan-
zes Betragen, und auch ſeine Sprache einen
Mann von nicht geringem Herkommen. Und wie
kommen Sie in dieſen Wald, ſagte er, wenn ich
fragen darf? Jch wollte, antwortete Siegwart,
nach, nach — — Ja, nun hab ich den Namen
des |Dorfs vergeſſen, — und da muſt ich durch
den Wald gehn, und vertiefte mich in meinen Ge-
danken, und verlohr den Weg, und konnte mich,
trotz alles Suchens doch nicht mehr heraus finden. —
Das glaub ich, verſetzte der Einſiedler; der Wald
iſt erſtaunlich groß, zumal in die Laͤnge. Jetzt
wirklich meine Huͤtte iſt vom naͤchſten Dorf zwo
Stunden weit entfernt, und ich habe hier ſeit Jahr
und Tag keinen Menſchen geſehen. Sie ſahen
mirs auch wol an, wie ich uͤber Jhren Anblick ſo
beſtuͤrzt war. Sie kommen wol von einer Univerſitaͤt
her? — Ja, von Jngolſtadt, war Siegwarts
Antwort. — Beyde ſchwiegen nun eine Zeitlang ſtill,
und ſchienen in tiefe Wehmuth zu verſinken. Sieg-
wart betrachtete zuweilen den Einſiedler ſeitwaͤrts,
und bemerkte tiefe Zuͤge der Schwermuth in ſei-
nem Geſicht eingegraben. Je gewiſſer er uͤberzeugt
ward, daß er ein Ungluͤcklicher ſeyn muͤſſe, deſto
mehr Zuneigung fuͤhlte er bey ſich gegen ihn; deſto
mehr wuͤnſchte er, ſein Herz vor ihm ausſchuͤtten zu
koͤnnen. Aber eine gewiſſe ehrerbietige Schuͤchternheit
hielt ihn zuruͤck, wenn er oft ſchon den Mund
oͤffnen, und ihm ſeine Geſchichte entdecken wollte.
Sie leben wohl, fieng er endlich an, an dieſem
ſtillen einſamen Aufenthalt recht ruhig |und zufrie-
den?
Einſiedler. Was der Ort dazu beytragen kann,
das thut er, wenns nicht innre Stuͤrme gibt.
Siegwart. Freylich kommts allein auf unſer Herz,
und nicht aufs Aeußre an, ob man ruhig und
zufrieden lebt! Aber ich denke doch, je weiter man
von Menſchen lebt, deſto mehr innre Ruhe hat
man.
Einſiedler. Recht, mein Lieber! Es ſcheint,
wir haben einerley Grundſaͤtze. Aber es gibt auch
verſchiedne Gruͤnde, warum man ſich von aller
menſchlichen Geſellſchaft los macht.
Siegwart. Liebe zur Ruhe iſts doch immer,
wie mich deucht. . .
Einſiedler. Und Sehnſucht nach Ruhe; oder
daß man ſie an andern Oertern ſucht, wenn
man ſie nicht in ſich ſelbſt hat. Und das, ſcheint
mir, iſt ſehr oft der Fall. (Hier ſeufzte er.)
Siegwart. Leider! mag ers nur zu oft ſeyn!
Vielleicht ſehen Sie mirs an, daß ich auch die
Ruhe auſſer mir aufſuche. Ach, mein theurer
Vater, darf ich Jhnen mich entdecken? Vielleicht
wiſſen Sie ein Lindrungsmittel; und ich weiß,
Sie wuͤrdens mir nicht vorenthalten.
Einſiedler. Nein gewiß nicht! wenigſtens wer-
den Sie mein Mitleid haben, wenns nichts wei-
ter iſt. Jch will Jhnen Jhr Geheimnis nicht
abdringen. Oft iſts Grauſamkeit. Aber wenn
Sie mir es freywillig entdecken wollen, ſo wirds
mich freuen. Jch werde wenigſtens Jhr Zu-
trauen nicht mißbrauchen.
Siegwart erzaͤhlte ihm nun |ſeine ganze Ge-
ſchichte. Der Einſiedler ward oft ſtark dabey er-
ſchuͤttert, und vergoß viele Thraͤnen. An man-
chen Auftritten nahm er beſonders Theil. Zuletzt
umarmte er unſern Siegwart mit den Worten:
Du biſt ein edler Juͤngling, und verdienſt mein
ganzes Mitleid. Oft war mirs bey deiner Er-
zaͤhlung, als ob ich meine eigene Geſchichte hoͤr-
te; nur daß dieſe noch ſchrecklicher und trauriger
iſt. Jch bin dir nun auch Zutrauen ſchuldig.
Morgen ſollſt du meine Geſchichte hoͤren. Heut
iſts ſchon zu ſpaͤt, und der Abend iſt ſehr kuͤhl.
Du biſt muͤd; deine Erzaͤhlung hat dich, wie ich
ſehe, heftig angegriffen, und du haſt des Schlafs
und der Ruhe noͤthig. Komm! Jch fuͤhre dich
in die Kammer.
Siegwart muſte, ſo ſehr er ſich auch weigerte,
in der kleinen Kammer, in dem eignen Bett | des
Einſiedlers ſchlafen. Jch ſchlafe drauſſen, ſagte
er, in meiner Huͤtte; du haſt der Ruhe und der
Waͤrme noͤthiger als ich. Mach keine Umſtaͤnde!
Schlaf wohl! Mit dieſen Worten gieng er, und
ließ ihm das Licht in der Kammer.
Als Siegwart eben in das Bette gehen wollte,
nahm er das Bildnis eines Maͤdchens wahr, das
dem Bette gegen uͤber hieng. Er betrachtete es,
mit dem Licht in der Hand, genauer, und fand
ein ſchoͤnes, ſanftes Geſicht mit ſchmachtenden
blauen Augen, dem Wiederſchein einer himmli-
ſchen Seele. Er ſah es lang mit Entzuͤcken und
mit Ruͤhrung an, dachte dabey an ſeine Mariane,
weinte, und gieng endlich, voll wehmuͤthiger Ge-
danken, zu Bette, Auf die Ermattung des Tages
ſchlief er ruhig, und wachte auf, als ſchon ſeit-
waͤrts durch die Tannenbaͤume einige gebrochne
Sonnenſtrahlen in die kleine Kammer ſchienen. Er
ſtund auf, ſah das Bild wieder eine halbe Stunde
lang, unbeweglich an, kleidete ſich drauf an, und
gieng vor die Huͤtte, wo der Einſiedler tiefſinnig
und traurig auf der Raſenbank ſaß.
Haben Sie wohl geſchlafen, theurer Vater?
fragte Siegwart. Red mehr die Sprache der
Vertraulichkeit, ſagte dieſer, und nenn mich Du!
Wir ſind beyde ungluͤcklich; und Ungluͤckliche ſind
ſich naͤher, und noch mehr Bruͤder, als andre
Menſchen. Du ſiehſt heute friſcher aus. Haſt
du gut geſchlafen? Setz dich zu mir, auf den Ra-
ſen! Wir wollen erſt miteinander bethen! Er bete-
te mit hoher Andacht, und heiligem Feuer, daß
die Seele unſers Siegwart ganz erſchuͤttert, und
zum Himmel empor gehoben wurde. — Drauf
nahm der Einſiedler ſeine Hand, und hub an:
Deine Geſchichte hat mich tief geruͤhrt; |ſie
gieng mir beſtaͤndig nach, und ich konnte faſt die
ganze Nacht nicht davor ſchlafen. Du haſt viel
gelitten, Lieber; aber ſtaͤrke dich! Du kannſt noch
vieles auf der Welt erfahren. Jch hoffe, daß du
Glauben an Gott haſt. Bey allen Leiden, die
ich ausgeſtanden habe — und es ſind gewiß recht
viele — hab ich das gelernt: Ohne Glauben an
Gott und an ſich ſelbſt koͤnnte man kein ſchweres
Leiden uͤberſtehen. Selbſtmord und Verzweiflung
waͤre ſtets die letzte Zuflucht, und ſie iſts auch,
leider! bey ſo vielen. Wer an Menſchen glaubt,
der wird zu Schanden, wie du ſchon erfahren
haſt. Jch traute mir, und noch mehr andern
Menſchen alles zu; ich glaubte, mir allein helfen
zu muͤſſen, und — ach Gott! — Wie tief bin ich
gefallen! — Jch ſah den Himmel an, und alle
Sterne, daß ſich ihre Menge nicht verwirrt. Jch
ſah Stuͤrm’ und Blitz und Donner aufſtehn; ſah
die Elemente miteinander kriegen, und doch alles
bleiben, wie es war. Jch ſah Menſchen mit-
einander kriegen; ſah; wie immer einer gegen den
andern iſt; ſah in mir und andern alles miteinan-
der kaͤmpfen; Leidenſchaften in der Seele toben,
daß es ſchien, ſie muͤſte aufgerieben werden — und
doch blieb im Menſchen Ordnung; Nach den
tauſend Stuͤrmen kam doch wieder Ruhe; und ich
hub mich auf, und ſah gen Himmel, fuͤhlt es, daß
nicht nur ein Gott im Himmel wohnte, ſondern
auch ein Gott, der alles kann, und alles ordnet,
und die Wirrungen zertheilt, und wieder Eins wacht,
und mein Herz fieng an zu glauben. Und ich ſaſte
Muth, und fuͤhlt’ an meinen Kraͤften, daß ſie mir
nicht ſo umſonſt gegeben ſind; und ich fieng an,
ſie zu brauchen, und ich fuͤhlte mich geſtaͤrkt. Jch
uͤberwand mein Herz, wenn es verzagen wollte,
mit Hoffnung, und feſter Zuverſicht, und fand,
daß dem Glauben alle Dinge moͤglich ſind. Mach
du den Gedanken dir zur Stuͤtze, daß du nicht
alleine wuͤrkeſt, du magſt ſtark, oder ſchwach ſeyn!
Dann mein Lieber! wirſt du auch im ſtrengſten
Kampfe nie verzagen.
Und nun |meine Geſchichte. — Du biſt der erſte
dem ich ſie erzaͤle. Ach, ſie wird mich tauſend
Thraͤnen koſten. Du wirſt mit mir weinen. Thuſt
du dieſes recht von Herzen, ſo bin ich uͤberzeugt,
du wirſt ſie keiner Seele, die ſie mißbrauchen koͤnnte,
offenbahren.
Jch bin ein Edelmann, und hab im Krieg ge-
dient: du haſt das Maͤdchenbild geſehen, das in
meiner Kammer haͤngt. Du biſt der erſte, der in
meine Kammer kam, und es geſehen hat. Jhr
Geſicht ſagt dir alles; malt dir ihre ganze Seele
ab. Jch liebte ſie, wie du deine Mariane liebeſt,
und ihr Herz war mein, wie Marianens ihrs dein
iſt. Der Krieg rief mich von ihr. Meine Mutter
fieng die Briefe auf, die ich ihr aus dem Feld ge-
ſchrieben hatte, und ſagte meiner Theuren, daß ich
untreu ſey. Sie ward krank und wahnwitzig, und
ſchloß ſich, als ſie beſſer ward, in ein Kloſter ein.
Jch kam heim; erfuhrs; glaubte nicht; verzwei-
felte, und erſtach meine Mutter; und mein Eugel
ſtarb.
Als Siegwart dieſe Erzaͤhlung, die der Einſied-
ler weit umſtaͤndlicher vortrug, hoͤrte; rief er aus:
Herr Jeſus! Heiſſeſt du nicht Ferbinand? — Ja,
rief der Einſiedler; kennſt du mich? — Jch kenne
dich! meine Schweſter war beym Tode deines
Maͤdchens. Ungluͤcklicher Mann! Jch kenne dich!
Nun ſo erzaͤhl mir alles! rief der Einſiedler.
Reiß noch einmal alle Wunden meines Herzens auf!
Siegwart erzaͤhlte ihm nun alles, was ihm
ſeine Schweſter von der Baroneſſin erzaͤhlt hatte.
Siehſt du, rief der Einſiedler, dieſer Ferdinand,
dieſer Elende, dieſer Verworfne bin ich! Verdamm
mich nun! Verfluch mich! Thu was du willſt!
Jch bin alles werth! — Gott, wie koͤnnt ich das?
verſetzte Siegwart. Bedauren und beweinen kann
ich dich. Mehr nicht, ungluͤcklicher Mann! Du
biſt ein Menſch geweſen, mehr nicht. Gott weiß,
was ich, an deinem Platz, wuͤrde gethan haben?
Der Einſiedler umarmte ihn. Hoͤr! ich ſchwoͤr
es dir! Du biſt noch ein Menſch! Du weiſt noch,
was ein Menſch kann, und nicht kann. Richtet
nicht, | ſo werdet ihr auch nicht gerichtet werden!
Das hat Gott geſagt, und du befolgſt es. Laß
dich feſter an mein Herz druͤcken! Du biſt mir
ein Engel Gottes!
Nach vielen Thraͤnen und Umarmungen ſetzte
der Einſiedler ſeine Erzaͤhlung alſo fort:
Meine Mutter war erſchlagen. Jch wuſt es
kaum, daß ichs gethan hatte, und erfuhr es erſt
nach ein paar Tagen von meinem Bedienten, der
mich im Wald auſſuchte, wohin ich mich gefluͤchtet
hatte. Jch wollte verzweifeln. Es war, als ob
mir Gottes Rache nachſetzte. Mein Bedienter lag
mir an, aus dem Land zu gehn; ich wollte nicht.
Haͤtt er mich nicht zuruͤckgehalten, ſo haͤtt ich mich
bey der Obrigkeit als einen Muttermoͤrder angege-
ben. Zweymal wollt ich mich in die Donau ſtuͤr-
zen. Einmal war ich ſchon bey Nacht darinn. Er
warf ſich mit ſeinem Pferd ins Waſſer, und rettete
mich noch. Nun ſah ich auf Einmal den Abgrund,
an dem ich herumgetaumelt hatte. Jch fuͤhlte die
Schwere des Verbrechens, das ich noch der Laſt
meiner Suͤnden hatte beylegen wollen. Jch ver-
fiel in tiefe Schwermuth und Unthaͤtigkeit, und
ließ mich von ihm lenken, wie er wollte. Er
uͤberredete mich, aus dem Land zu fluͤchten. Jch
wollte bey den Preuſſen Kriegsdienſte nehmen, und
machte mich mit ihm bey Nacht auf den Weg,
nachdem er mir, durch Vermittelung meines Bru-
ders, hinlaͤnglich Geld verſchafft hatte. Die zweyte
Nacht verirrten wir uns in dieſem Wald, und
befanden uns am Morgen drauf hier. Dieſe
Dunkelheit und Stille war ganz fuͤr meinen Zu-
ſtand und fuͤr meinen Gram gemacht. Hier will
ich bleiben, ſagt ich, ſtieg von meinem Pferd ab,
und ſteckte meinen Stock mit den Worten in die
Erde: Hier ſoll mein Grab ſeyn, und unter jenem
Baum dort meine Huͤtte. Mein Bedienter hielt
dieß wieder fuͤr einen Einfall, wie ich ſchon viel
gehabt hatte, und wovon er mich immer wieder
abzubringen wuſte. Aber dießmal war ſein Zure-
den vergeblich. Ein geheimer Zug hielt mich an
dieſem Ort feſt. Was wollen Sie denn werden?
ſagte er. Nichts, antwortete ich; genug ich will
hier bleiben, und mir eine Huͤtte bauen. Als er
ſah, daß ich ſchlechterdings nicht davon abzubrin-
gen war; ſo ſagte er: wenn Sie denn nicht an-
ders wollen, ſo iſts am beſten, wenn wir eine Ein-
ſiedeley anlegen, und Waldbruͤder werden. Gut,
das meyn ich eben, war meine Antwort; laß uns
nur eine Huͤtte bauen! Er erbot ſich, weil man
ihn in dieſer Gegend wenig oder gar nicht kannte,
nach dem naͤchſten Dorf, das er finden koͤnnte, zu
reiten, die Pferde zu verkaufen, und ſich ein Grab-
ſcheit, eine Axt, und einige andre Bauwerkzeuge,
und etwas Nahrungsmittel zu kaufen. Waͤhrend,
daß er weg war, zeichnete ich den Platz zu der
Huͤtte aus, bog einige Tannenzweige zuſammen,
daß ſie eine Art von Laube gaben, unter der wir
uns zur Noth ſo lang aufhalten koͤnnten, bis die
Huͤtte fertig waͤre. Er kam erſt ſpaͤt gegen Abend
wieder, denn er hatte ſich erſt mit den Pferden
kaum aus dem Wald finden koͤnnen, und den
Ruͤckweg fand er faſt gar nicht mehr. Er ſagte
mir, das naͤchſte Dorf liege zwo Stunden weit
vom Walde; Er habe ſich auch von ferne nach dem
Wald erkundigt, und erfahren, er ſey bayeriſch;
aber es wage ſich nicht leicht ein Bauer tief hinein,
P p p
weil man vor einigen Jahren einen Kerl, der ſich ſelbſt
erhenkt hatte, darinn begraben habe, und da ſey
nun die allgemeine Sage, er geh im Wald um,
und thu den Leuten allerley Spuck an; wir koͤnn-
ten alſo hier ganz ſicher wohnen. Er brachte einen
Zwerchſack voll Brod und Kaͤſe, und allerley Bau-
werkzeuge mit. Den andern Tag hauten wir ei-
nige junge Tannen ab, ſchlugen davon vier Pfaͤhle
in die Erde, gruben die Erde auf; flochten Waͤnde
von ſchlankem Tannenreiß, verklebten ſie mit Leim,
legten etlich Stangen quer uͤber die Huͤtte, mach-
ten ein Dach von Tannenreiß, und waren in et-
lich Tagen mit unſrer Wohnung fertig. Den
Platz dort gruben wir zu einem Kohlgaͤrtchen um.
Mein | Heinrich kaufte auf dem Dorf Samen, die
ſehr gut gedeihten, ſo daß wir im Herbſt ſchon
Kohl und Ruͤben und dergleichen hatten. Er
brachte auch zwo Waldbruͤderkleidungen mit, fuͤr
mich, und ihn. Jm Herbſt kaufte er die Obſt-
baͤume, die du hier gepflanzet ſiehſt. Sie ſind
nun bald zwoͤlf Jahr alt, und gedeihen, gottlob!
gut. Wir richteten uns jeden Tag bequemer ein,
ſaͤeten auch etwas Winterfrucht aus, ſo daß wir nun
nicht mehr ſo oft etwas aus dem Dorf brauchten.
Man erfuhrs in den umliegenden Doͤrfern bald,
daß zwey Einſiedler hier im Walde wohnten. Die
Bauren gaben meinem Heinrich haͤufig Almoſen;
aber heraus in den Wald wagte ſich ſelbſt keiner,
wegen der Sage vom erhenkten Kerl, die ſich da-
durch noch mehr beſtaͤrkte, weil mein Heinrich die
Liſt gebraucht hatte, etlichemal, ſowol bey Tag,
als auch bey Nacht im Wald herumzulaufen, und
erbaͤrmlich zu heulen, welches man fuͤr ein Gewin-
ſel des erhenkten Kerls hielt. — Hier leb ich nun
ſeit ungefaͤhr zwoͤlf Jahren, ſo gluͤcklich als es ein
Menſch bey meinem Gemuͤthszuſtand ſeyn kann.
Anfangs hatt ich oft groſſe Beaͤngſtigungen. Bald
ſah ich das Bild meiner ermordeten Mutter, und
gerieth in Seelenaͤngſte; bald den Schatten meiner
unvergeßlichen Geliebten. Zweymal war ich, eh
ſie noch geſtorben war, und eh ich in den Wald
kam, im Kloſtergarten geweſen, um ſie zu entſuͤh-
ren; aber es war, als ob mich Gottes Hand zu-
ruͤckgehalten haͤtte. Meine Stunden ſind hier zwi-
ſchen Gebeth und Andachtsuͤbungen, und Thraͤnen
bittrer Reue getheilt. Jch kaſteye meinen Leib,
nicht als ob ich glaubte, Gott genug damit zu
thun — meine Suͤnden kann ich ſelber durch
nichts abbuͤſſen — ſondern weil ich weiß, daß ich
nichts als Qual und Schmerzen auf der Welt ver-
dienet habe. Jch habe doch noch mehr Freuden,
als ich werth bin, denn meine That iſt fuͤrchterlich,
ſo ſehr ich auch dazu gereizt war. Aber Gott weiß,
wie ich jeden Tag und jede Nacht vor ihm in
Thraͤnen liege, und ihm meine Schuld bekenne.
Den Menſchen wuͤrd ich gerne dienen, wenn ich
nur, ohne Gefahr, unter ihnen leben koͤnnte. Und
mich ſelbſt als einen Moͤrder anzugeben, halt ich
jezt auch nicht mehr fuͤr rathſam. Meiner ganzen
Familie wuͤrd ich dadurch aufs neu einen unaus-
ſprechlichen Schmerz verurſachen; hier hingegen
ſchad ich keinem Menſchen nichts, und kann doch
meine Seele taͤglich mehr auf die Ewigkeit bereiten.
Jch kann keine Belohnung erwarten. Ach Gott!
wenn ich nur um des Verſoͤhners willen, von den
Strafen meines graͤulichen Verbrechens frey geſpro-
chen werde! — Jch glaube, daß es nicht mehr
lange mit mir auf der Welt dauren wird, und
daß ich bald meinem Heinrich nachfolgen werde.
Sieben Jahre lang lebt ich mit der guten Seele.
Jch war kaum hier etwas eingerichtet, ſo lag ich
ihm Tag und Nacht recht herzlich, oft mit Thraͤ-
nen an, ſein Gluͤck in der Welt zu ſuchen. Jch
bot ihm alle mein Geld an, das mir ſchlechterdings
ganz unnuͤtz war. Jch ſtellt ihm vor, daß er ja
nichts verbrochen hab, und alſo meine Schuld nicht
mit tragen koͤnnte. Aber alles war vergebens. Er
wollte mit| mir leben und ſterben, und ſagte: daß
er nun auch der Welt uͤberdruͤſſig ſey, wo ich ſoviel
Hundsfuͤtter angetroffen habe, und er woll mir
dienen. Jch warf ihm noch ein: ich brauche kei-
nen Dienſt; mein kleines Plaͤtzchen koͤnn ich ſelbſt
bebauen, und auch ſicher im Dorf gehen, wenn ich
etwas noͤthig habe, weil mich da, beſonders wegen
meines langen Barts, kein Menſch erkenne, wie
ich denn auch wirklich einigemal mit ihm ins Dorf
geweſen war. Erſt nach einem Jahr, da ich ihm
beſtaͤndig angelegen hatte, ließ er ſich bewegen
mich zu verlaſſen. Er nahm mit tauſend Thraͤnen
von mir Abſchied; und ſagte, daß er blos mir zu
Gefallen gehen wolle, weil ich ihn ſo ſehr darum
bitte; er wiſſ’ aber, daß es mich gereuen werde.
Von dem Geld nahm er, ungeachtet meines Drin-
gens, nur die Haͤlfte mit. Er ſagte, es ſey ihm,
als ob er in die Hoͤlle zuruͤckkehren ſollte. Er wiſſe
nicht, wo er ſich hinwenden muͤſt, und werde mich
gewiß oft beſuchen. Jch glaubte, er ſage dieſes
alles nur um meinetwillen, um mich zu bewegen,
ihn zu meiner Erleichterung bey mir zu behalten.
Es iſt wahr, es gieng mir nah, den guten Kerl
zu verlieren. Anfangs war mir die gaͤnzliche Ein-
ſamkeit faſt unertraͤglich. Nach und nach gewoͤhnt’
ich mich daran. Es war noch kein Vierteljahr ver-
floſſen, da kam er eines Morgens zu mir. Herr,
ſagte er, ich komme wieder; aber nicht nur auf
einen Beſuch. Sie muͤſſen mich bey ſich behalten;
Sie moͤgen nun wollen, oder nicht! Jch kanns in
der vertrackten Welt nicht laͤnger aushalten. Das
ſind mir Menſchen! Man kommt ſchlechterdings
auf keinen gruͤnen Zweig, wenn man nicht ein
Spitzbube werden will. Ueberall iſt nichts, als
Lug und Trug. Man muß entweder ſich betruͤgen
laſſen oder elbſt betruͤgen. Keins von beyden mag ich!
Warum ſollt ich mich alle Tage halb zu Tod aͤrgern?
Da hatt ich mir mit dem Geld, das Sie mir gege-
ben hatten, eine Dorfſchenke gekauft. Fuͤrs erſte
muſt ich ſchon weit mehr dafuͤr bezahlen, als ſie
werth war, und dann hatt ich nichts, als taͤglich
Aerger und Verdruß. Das Saufen und Laͤrmen
nahm kein Ende; taͤglich muſt ich die aͤrgerlichſten
Dinge mit anſehen, und mit anhoͤren. Beym
Spiel ſah ich immer einen den andern betruͤgen;
beym Trunk gabs nichts als Haͤndel; kurz, einer
iſt immer gegen den andern. Da verkauft ich
meine Wirthſchaft wieder an einen armen Schlucker,
ders wol brauchen konnte, denn er hat nicht mehr
als neun Kinder zu ernaͤhren; nahm meinen Wan-
derſtab, und bin nun wieder hier. Mein Lebtag
will ich nun nichts mehr mit Menſchen zu thun
haben. Bey Jhnen iſt mir wohl, denn ich weiß,
daß ſies ehrlich meynen; ob Jhnen gleich auch alles
in der Welt ſchief ging. — Jch nahm den guten
Kerl mit Freuden wieder auf, denn ich konnt ihm
nicht ganz Unrecht geben. Wir lebten im Frieden
miteinander, bis ungefaͤhr vor fuͤnf Jahren; da
bekam er ein hitziges Fieber, und ſtarb. Jch hab
ihn hier begraben, und wir ſitzen hier auf ſeinem
Grab. Jezt leb ich ſo mein Leben hier, bis es
Gott gefallen wird, mich auch abzurufen.
Beyde ſchwiegen eine Zeitlang ſtill. Siegwart
war ſehr bewegt. Endlich ſagte er, wenn ich mei-
ne Mariane nicht mehr finde, und du nimmſt mich
auf, ſo bring ich auch meine Lebenszeit bey dir zu.
Jch bin noch jung, aber ich habe ſchon gnug in
der Welt geduldet, und nach den vielen Stuͤrmen
wird ſich mein Leib auch nicht lange mehr aufrecht
erhalten.
Ferdinand ſagte, daß er ihn mit Freuden auf-
nehmen werde. Er ſoll ſich aber wohl bedenken;
er habe noch Verwandte, denen er Freude machen
koͤnne, und koͤnn’ uͤberhaupt den Menſchen noch
viel dienen, welches bey ihm der Fall nicht ſey. —
Jch muß friſches Waſſer holen. Willſt du mit mir.
Sie giengen ohngefaͤhr 50 Schritte weit von der
Huͤtte an einen etwas vertieften Ort, wo eine klare
Quelle hervor ſtrudelte. Siegwart ließ ſich uͤber-
reden, dieſen Tag noch bey dem Einſiedler zu blei-
ben, um ſich von ſeiner Ermattung wieder zu er-
holen. Ferdinand wieß ihm ſeine Einrichtungen,
wie er im Sommer anbaue, wie er ſich im Win-
ter fortbringe ꝛc. Sie ſprachen viel uͤber die Ver-
haͤltniſſe in der Welt, daß ſie gewoͤhnlich den Men-
ſchen mehr ungluͤcklich, als gluͤcklich machen, beſon-
ders uͤber Stand und Vermoͤgen. Ferdinand gab
ihm allerley gute Lehren, wegen Marianens, wenn
er ſie wieder finden ſollte, und ſo brach unvermerkt
der Abend an.
Sie ſaſſen auf der Raſenbank, als ſie ploͤtzlich
ein Geraͤuſch in der Naͤhe hoͤrten, und einen Reuter
heran ſprengen ſahen, welches Marx war. Sind
Sie da? rief er; nun Gottlob! und eilends ritt er
weg. Der Einſiedler ſah unſern Siegwart voll Er-
ſtaunen an. Sey unbeſorgt! ſagte dieſer. Der
Kerl iſt meines Schwagers Bedienter. Vermuth-
muthlich ſoll er mich aufſuchen. Aber warum er ſo ploͤtz-
lich wieder weggeritten iſt? kann ich nicht begreifen.
Jndem kam Marx wieder mit ſeinem Herrn,
Kronhelm, der auch zu Pferd war. Kronhelm
ſprang von ſeinem Pferd, und umarmte Siegwart
ſtillſchweigend. Was treibſt du? fing er endlich an.
Jch ſuche dich ſeit zwey Tagen im Land herum,
bis man mir von einem Einſiedler ſagte, bey dem
du vielleicht waͤreſt. — Ja, haͤtt ich den Bauer
nicht angetroffen, ſagte Marx, der mir Beſcheid
geſagt hat, wir ritten noch im Nebel herum. —
Kronhelm gruͤſte nun erſt den Einſtedler, und ließ
ſich von ſeinem Schwager erzaͤhlen, wie’s ihm gegan-
gen ſey, und wie er ſich verirrt habe. Das beſte
iſt, ſagte endlich Kronhelm, wir reiten jezt gleich
aufs naͤchſte Dorf, um da zu uͤbernachten. Sieg-
wart wollte Schwierigkeiten machen, aber Kron-
helm nahms nicht an. Marx muſte von ſeinem
Pferd ſteigen, und Siegwart ſetzte ſich darauf. Er ging
mit dem Einſiedler voran, und wies den Weg aus dem
Holz. Als ſie an den Ausgang des Waldes ka-
men, nahm der Einſiedler Abſchied. Siegwart
ſprang vom Pferd, kuͤßte und druͤckte ſeinen lieben
Ferdinand mit tauſend Thraͤnen, und verſprach
ihm noch einmal, zu ihm in ſeine Einſiedeley zu
kommen, wenn er ſeine Mariane nicht mehr finde.
Drauf ritt er mit ſeinem Kronhelm weiter, und
ruͤhmte ihm die Freundſchaft, die der Einſiedler
fuͤr ihn gehabt haͤtte; er erzaͤhlte ihm auch ſoviel von
ſeiner Geſchichte, als er glaubte, daß ihm, nach
ſeinem gethanen Verſprechen der Verſchwiegenheit,
erlaubt waͤre. Auf dem naͤchſten Dorf lieſſen ſie
ſich in der Schenke in das obre Zimmer fuͤhren,
um allein zu ſeyn. Kronhelm erzaͤhlte ſeinem Schwa-
ger, er hab ihn in Jngolſtadt abholen wollen, und
als er nichts von ihm hab erfahren koͤnnen, ſey er
auf Gerathewohl auf den Doͤrfern herumgeritten,
bis er bey dem Bauren Kaspar naͤhere Nachricht
von ihm erfahren habe. Dieſe Nachricht hab ihn
ſeinetwegen ſehr beſorgt gemacht, und nun ſey er
froh, daß er ihn endlich ausgekundſchaftet habe.
Er hoffe nun, daß er mit ihm auf ſein Schloß
kommen werde, um ſich da, ſoviel als moͤglich, wie-
der aufzuheitern, und von ſeinen ſchweren Wider-
waͤrtigkeiten zu erholen. Siegwart ſagte: das gehe
ſchlechterdings nicht an. Er ſey auf der Spur, den
Ort zu entdecken, wo ſeine Mariane hingebracht
worden ſey; dieſer muͤſſ er nachgehen, und koͤnne
nicht eher ruhen, als bis er mit ſeinem Maͤdchen
wieder vereinigt ſey. Kronhelm ſtellte ihm vor:
Was er machen wolle, wenn er auch das Kloſter,
wo ſeine Mariane eingeſperrt ſey, erfahre? Er
werde ſich durch ſeine Nachforſchungen verdaͤchtig
machen, und dadurch, wenn es auch noch moͤg-
lich waͤre, ſie aus dem Kloſter zu entfuͤhren, ſich
ſelbſt den Weg dazu verſperren; es ſey weit beſſer,
wenn Marx, auf den kein Menſch Achtung geben
werde, ſich unter der Hand nach ihr erkundige,
und es ihnen mittheile, wenn er etwas erfahren
koͤnne. Dann ſey es erſt Zeit, Maasregeln zu
nehmen, wie man Marianen retten koͤnne, u. ſ. w.
Siegwart ließ ſich dieſen Vorſchlag endlich nach
langer Zeit gefallen.
Kronhelm ſuchte ſeinem Freund, der ſich nun
uͤber ſein Schickſal zu beklagen anfieng, ſoviel
Muth und Troſt einzuſprechen, als moͤglich. Er
ließ hierauf ſeinen Marx aufs Zimmer kommen,
und trug ihm die Nachforſchung nach dem Wa-
gen und Marianens Aufenthalt auf. Siegwart
beſchrieb ihm das Dorf, wo er das letztemal von
dem Wagen Nachricht erhalten hatte, und welches
zur Linken des Walds lag, aufs genaueſte, und bat
ihn aufs beweglichſte, ſich die Sache recht ange-
legen ſeyn zu laſſen. Marx, der durch ſeine Bitten
ſelbſt im innerſten geruͤhrt war, verſprach alle moͤg-
liche Behutſamkeit und Sorgfalt. Hierauf giengen
Siegwart und Kronhelm zu Bette, um ſich den
andern Morgen fruͤhzeitig auf den Weg machen zu
koͤnnen.
Mit Aufgang der Sonne ritten ſie weg; Marx
nahm ſeinen Weg nach dem beſchriebenen Dorf, und
verſprach nochmals die ſorgfaͤltigſte und ſchleunigſte
Beſorgung ſeines Auftrags. Siegwart beſchrieb nun
ſeinem Schwager die ſchreckliche Unruhe, in der er
bisher geſchwebt hatte; erzaͤhlte ihm weitlaͤuftiger, aus
Marianens Brief, die Begegnung, die ſie von ihrem
Vater hatte ausſtehen muͤſſen; und die Geſchichte
des Einſiedlers Ferdinand, von der er wußte, daß
fein Schwager ſie keinem Menſchen entdecken wer-
de. Auch fragte er ſeinen Kronhelm um Rath, was
er anzufangen haͤtte, wenn er den Aufenthalt Ma-
rianens auskundſchaften koͤnnte? Kronhelm ſagte:
Zeit und Umſtaͤnde koͤnnten hier allein die beſten
Mittel an die Hand geben; inzwiſchen hoffte er, es
dann ſo zu ordnen, daß man ſie aus dem Kloſter
entfuͤhren koͤnnte, zumal, da ſie hoffentlich ſelber
dazu ſehr geneigt ſeyn wuͤrde. Alsdann werd es
das Beſte ſeyn, wenn er ſich mit ihr aus dem
Lande fluͤchte, und dazu woll’ er mit Rath und
That behuͤlflich ſeyn. — Durch ſolche, und aͤhn-
liche Traͤume und Entwuͤrfe wußte er das unruhi-
ge Gemuͤth ſeines Freundes etwas in Schlummer
zu wiegen, ſo daß dieſer uͤber den Traͤumen ſeine
Leiden groͤſtentheils vergaß, und in einer Art von
ſuͤſſem Taumel fortritt, bis ſie endlich Abends in
der Daͤmmerung zu Steinfeld ankamen. —
Thereſe kam ihnen eine Stunde vor dem Schloß
in ihrem Wagen entgegen. Sie hatte ſchon zwey
Tage umſonſt auf ihren Kronhelm gewartet, und
die ſchrecklichſten Beaͤngſtigungen ausgeſtanden.
Sie ſprang aus dem Wagen, als ſie ihren Mann
wieder ſah, und fiel faſt vor Freuden in Ohn-
macht. Nach dieſem ſah ſie erſt ihren Bruder,
und umarmte ihn. Der Bediente, der auf dem
Wagen ſtand, mußte die beyden Pferde nach Haus
bringen, und Siegwart und Kronhelm ſetzten ſich
zu Thereſe in den Wagen. Mit der Einen Hand
hielt ſie ihres Mannes, und mit der andern ihres
Bruders Hand, und zitterte vor Freuden, beyde
wieder zu haben. Das erſte, was ſie nun nach
ihrer Beſtuͤrzung fragen konnte, war nach den Um-
ſtaͤnden ihres Bruders. Sie ward durch das
traurige Gemaͤlde, das er davon machte, ſehr nie-
dergeſchlagen und traurig. Doch ſuchte ſie ihm
Muth und Hoffnung einzufloͤſſen, und war in ih-
rer Bemuͤhung nicht ganz ungluͤcklich. Ein Ungluͤck-
licher hofft gern, und hoͤrt nichts lieber als Traͤu-
me von Gluͤckſeligkeit, die ihm andre beybringen.
Auf dem Schloß entſtand eine groſſe Freude,
als Kronhelm wieder kam. Alle Dienſtbothen
drangen ſich hinzu, den Bruder ihrer gnaͤdigen
Frau, die ſie ſo ſehr liebten, zu ſehen. Fraͤulein
Sibylle, Kronhelms Schweſter, kam auch mit
Salome, und bewillkommte ihn. Salome hatte
ſich in vielen Stuͤcken geaͤndert, und that jetzt weit
zaͤrtlicher gegen ihren Bruder, als ehemals. Sie
ſaſſen noch ein paar Stunden beyſammen, und gien-
gen dann, weil Kronhelm und Siegwart von der
Reiſe etwas muͤde waren, fruͤhzeitig zu Bette.
Siegwart traͤumte dießmal von ſeiner Maria-
ne. Er ſah ſie in einem langen Schleyer zu ihm
kommen. Sie ſprach nichts; ihr Geſicht war
blaß; ſie legte ihre kalte Hand auf ſeine Schulter,
gieng dann weg, und winkte ihm, ihr zu folgen.
Er folgte ihr durch einen langen duͤſtern Gang, bis
an die Thuͤr, zu einem Gottesacker, wo ſie in ein
offnes Grab ſank, das ſich uͤber ihr ſchnell zuthat.
Er ſtand auf dem Grab, jammerte mit emporge-
hobnen Haͤnden, und wachte ſo, von der heftigen
Bewegung, auf. Er war in der aͤuſſerſten Be-
ſtuͤrzung; das Bild wollte nicht aus ſeiner Seele
zuruͤckweichen, und ſobald er ſeinen Schwager und
ſeine Schweſter ſah, erzaͤhlte er es ihnen. Dieſe
gaben ſich alle Muͤhe, ihm die traurige Vorſtellung
aus dem Herzen zu verbannen, und ihn zu uͤber-
zeugen, wie wenig man auf einen Traum gehen
muͤſſe, da ſich dieſer gewoͤhnlich nach der vorher-
gegangenen Lage des Gemuͤthes bilde. Er vergaß
den Traum zwar etwas, aber nur, ſolang er in
Geſellſchaft war; in der Einſamkeit ſtand er im-
mer wieder lebhaft vor ihm da, und verfolgte ihn
mit ſeinen Schrecken. Sein Schwager und ſeine
Schweſter gaben ſich alle moͤgliche Muͤhe, ihn zu
zerſtreuen, und nur in etwas aufzuheitern. Sie
wieſen ihm ihr Schloß, wo alles neu, und ſehr
bequem eingerichtet war, ohne ins Praͤchtige zu
verfallen. Sie fuͤhrten ihn in den Garten, wo
ſie alles umgraben, erweitern, und mit einem
Geſchmack hatten anlegen laſſen, der der Natur
ſoviel, als moͤglich, nahe kam. Siegwart, dieſer
ſonſt ſo eifrige Freund der Natur, ſah alles mit
einer kalten und erzwungenen Bewunderung an,
ſo wie ein Kranker die Speiſen anſieht, die er
ehmals in geſunden Tagen ſehr geliebt hatte, und nun
nicht genieſſen kann. Oft zwang er ſich, ſeinen
Freunden zu Gefallen, munter zu thun; aber
man ſah allen ſeinen Handlungen den Zwang an.
Am liebſten ſprach er von ſeiner Mariane, ob ihm
dieſes gleich ſo traurig war, und ihn tauſend
Thraͤnen koſtete. Wenn ſich davon das Geſpraͤch
anfieng, ſo konnt er gar nicht aufhoͤren. Es war
ihm immer noch zu kurz, wenn es auch ſchon gan-
ze Stunden gedauert hatte. Seine einzige Hoff-
nung gruͤndete ſich jetzt auf Marxens Nachſuchun-
gen. Er ſah ganze Stunden lang aus dem Fen-
ſter, ob er ihn nicht kommen ſehe. Er machte es
im Geſpraͤch immer zweifelhaft, ob er etwas von
Marianen erfahren werde? um nur ſeine Zweifel
und Einwuͤrfe widerlegt zu ſehen. Bald war er
wehmuͤthig, bald verdruͤßlich und ungeduldig; bald
pries er das Einſiedlerleben als das gluͤcklichſte auf
Erden, und ſagte, daß er bald wieder zu ſeinem
Einſiedler in den Wald zuruͤckkehren werde.
Thereſe und ſein Schwager betruͤbten ſich
daruͤber ſehr, und ſannen tauſend Mittel aus, ſei-
ne Gedanken etwas zu zerſtreuen, und ihm heiterere
beyzubringen. Sie giengen oder fuhren taͤglich
mit ihm ſpatzieren; er gab ſich Muͤhe, munter zu
ſcheinen, aber ein unvermutheter Seufzer verrieth
ihnen bald wieder den Gram, der an ſeinem Her-
zen nagte. Sie fanden, daß man fuͤr ihn
nichts angenehmers thun, als von Marianen
mit ihm ſprechen, und ihn allein durch Hofnungen
aufrichten koͤnne. Allein ſie ſahen auch ein, wie
gefaͤhrlich ihm dieſes werden koͤnne, wenn die Hof-
nungen, wie nur gar zu wahrſcheinlich zu vermu-
then war, fehlſchlagen ſollten. Daher zitterten ſie
auch vor Marxens Zuruͤckkunft, weil ſie, faſt mit
Zuverſicht, beſorgten, ſeine Nachſuchungen moͤchten
fruchtlos abgelaufen ſeyn!
Endlich kam Marx nach ſechs Tagen wieder,
ohne daß ihn Siegwart wahrnahm; denn Kron-
helm hatte allen Hausbedienten befohlen, wenn
Marx kaͤme, ſollte man ihn ſogleich in das untere
Zimmer im Hof fuͤhren, ohne jemanden, auſſer
ihm, etwas davon zu ſagen. Marx zitterte, als
Kronhelm zu ihm kam, und ſagte: er habe ſich
kaum getraut, wieder zu kommen, weil er in ſei-
nen Nachſuchungen nicht gluͤcklich geweſen ſey. Er
habe nur auf Einem Dorf etwas von dem Wagen
erfahren, und da ſey er Nachts um eilf Uhr durch
gekommen. Vermuthlich ſey er um Mitternacht,
da die Bauren ſchliefen, durch die andern Doͤrfer
gefahren. Jn einem Bezirk von acht Stunden
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ſeyen wenigſtens vier Nonnenkloſter. Jn keines
davon duͤrf eine Mannsperſon kommen, alſo hab
er, ohngeachtet aller Muͤhe, nicht das mindeſte
erfahren koͤnnen, ob in einem von den Kloͤſtern
ein junges Frauenzimmer angekommen ſey. Einmal
hab er ſchon geglaubt auf der Spur zu ſeyn; aber
am Ende hab es ſich gezeigt, daß das angekomme-
ne Frauenzimmer ſchon eingekleidet, und eine Non-
ne aus einem benachbarten Kloſter geweſen ſey.
Kronhelm richtete ſeinen Bedienten ab, was er
ſagen ſollte. Nemlich: Er habe zwar nichts ge-
wiſſes von Marianen erfahren koͤnnen; aber doch
ſey ſie wahrſcheinlich in einem Kloſter, das er ihm
nannte. Er hoffe in etlich Wochen Gewißheit
davon zu erlangen, denn er habe ein paar Spio-
nen beſtellt, die ihm von Zeit zu Zeit Nachricht
geben wuͤrden.
Durch dieſe Nachricht ward Siegwart zwar in
etwas beruhigt; aber doch konnte ſich ſein Gemuͤth
nicht damit beruhigen. Es ſtiegen ihm immer
Zweifel auf, und taͤglich erkundigte er ſich bey
Marx, was er fuͤr neue Nachrichten erhalten habe?
Dieſer ſagte ihm, was ihm Kronhelm eingegeben
hatte, nemlich weitausſehende Hofnungen, und
halbe Aufklaͤrungen, die er aber ſo aͤngſtlich und
ſo ungeſchickt vorbrachte, daß jeder andrer, der we-
niger gehofft haͤtte, als Siegwart, die Liſt haͤtte
einſehen muͤſſen.
Er wurde von Kronhelm faſt taͤglich ſpatzieren
gefuͤhrt, damit er Abwechslung und Zerſtreuung
haben moͤchte. Sie beſuchten jetzt oft zu Pferd die
benachbarten Landedelleute, weil Thereſe, wegen
ihrer herannahenden Niederkunft ſelten mehr mit-
fuhr. Herr von Rothfels, (ſo hieß der junge Edel-
mann, von dem ihm Kronhelm geſchrieben hatte,
daß er ſeine Schweſter Sibylle heyrathen wuͤrde,)
kam ſehr oft nach Steinfeld, und blieb manches-
mal zwey bis drey Tage da; oft beſuchten ſie ihn
auch auf ſeinem Schloß. Er war ein angenehmer
junger Mann, der in Wien, wo er ſtudiert
hatte, ſich viel gelehrte und noch mehr Welt-
kenntniſſe geſammelt hatte. Er fuͤhlte viele Zu-
neigung gegen Siegwart, und nahm an ſeinen
traurigen Schickſalen vielen Antheil. Er wuͤrde
auch Siegwarts Herz und Zutrauen ganz gewon-
nen haben, wenn er minder heiter, oder wenn
Siegwart in einer gluͤcklicheren Lage geweſen waͤre.
Aber der junge Rothfels genoß bey Sibyllen das
voͤllige Gluͤck der Liebe; daher war ſein Herz und
ſein Blick immer munter; und ein froͤhliches Gemuͤth
iſt nicht fuͤr ein ungluͤckliches geſchaffen. Der Un-
gluͤckliche fuͤhlt den Abſtand zu ſehr; er will alles
traurig um ſich her ſehen, und glaubt, daß ein
Gluͤcklicher an ſeinem Kummer keinen, oder doch
keinen voͤlligen Antheil nehmen koͤnne. Daher
ſchließt er ſich nicht an, und theilt ſich nur dem
mit, der gleiche Leiden mit ihm hat. Rothfels
ſah dieſes, und hielt es bey Siegwart fuͤr Ab-
neigung von ihm; daher vermied er es, viel mit
ihm allein zu ſeyn, und ihre Seelen kamen ſich,
durch dieſen Misverſtand, nie ganz nahe.
Eines Tages ſaß Siegwart allein und ſchwer-
muͤthig in einer Laube im Garten, wo Marx
eben die Blumen begoß. Siegwart rief ihm;
Marx, hat er denn noch keine Nachricht von dem
Frauenzimmer? — Nein, junger Herr! — Red
er einmal aufrichtig mit mir! Glaubt er wohl,
daß ich bald etwas gewiſſes erfahren werde? Hin-
tergeh er mich nicht! Es iſt mir alles an der Sa-
che gelegen; ich muß ſie zuverlaͤßig wiſſen! —
Marx fieng an zu weinen, und ihm langſam
naͤher zu treten. Ach, junger Herr! Es mag nun
gehen, wie es will, ich kanns ſo nicht laͤnger aus-
halten; es muß heraus! Jch weis gar nichts von
der Jungfer; man kann in der ganzen Gegend
keine Nachricht von ihr geben. Jch weis nicht,
iſt ſie todt, oder — Aber werden Sie nur nicht
boͤſe! Lieber Gott, ich mußte ja ſo ſagen — Geh
nur, ſagte Siegwart, ich will nichts weiter wiſſen!
Er legte ſich mit dem Kopf zwiſchen ſeine Haͤnde
auf den Tiſch, und fieng an zu weinen. Weis
man nichts von ihr? Jſt ſie todt, oder — Gott,
ach Gott! Warum bin ich doch nicht auch todt?
Warum muß ich mich denn ewig leiden? — So
jammerte er fort, bis Kronhelm, ohne daß ers
merkte, in die Laube trat. Was fehlt dir, Bru-
der? fieng er endlich an. Siegwart fuhr auf, ſah
ſeinen Schwager eine Zeitlang ſtarr an; weiſt du
ſchon, daß alles nichts iſt? daß ſie und ich ver-
lohren iſt? — Wer denn, Bruder? Mariane!
Wer denn? Es iſt alles nichts! Alles erdichtet
und erlogen! Wer weis, wo ſie iſt! Vielleicht
todt! Vielleicht … O, ich halts nicht laͤnger aus!
Jch muß aus der Welt! Heut noch, oder morgen!
Jn die Einſiedeley! Da ſoll mich keine lebendige
Seele mehr zuruͤckhalten! Jhr meynts nicht ehrlich,
daß ihr mich ſo hintergeht; daß ihr mir nicht ſagt:
Pack dich aus der Welt! — Kronhelm hatte
viele Muͤhe, ihn nur etwas zu beſaͤnftigen, und
ihm begreiflich zu machen, daß ſie zu ſeiner Ruhe
ſo hatten handeln muͤſſen. Siegwart ſagte, das
ſey ſchon recht; er glaub es auch; aber er wolle
nun in die Einſiedeley, und man ſollt ihn nicht
laͤnger mehr zuruͤckhalten! Kronhelm geſtand ihm
jetzt, um ihn nur ein wenig zu beruhigen, alles
zu; bat ihn aber, wenigſtens noch acht Tage bey
ihm zu bleiben, welches endlich Siegwart zuge-
ſtand.
Er gieng auf ſein Zimmer, weinte bitterlich,
und ſchrieb endlich folgendes, an Marianen, nieder:
O du, biſt du noch auf Erden? Duldeſt du
noch unterm Joch des Lebens? Schmachtet deine
Seele noch in ihrer Huͤlle? Oder biſt du, Engel
Gottes, aufgeflogen in die Wohnſtatt der Erwaͤhl-
ten? Trinkſt du ſchon die Sonne, die nicht unter-
geht und keine Thraͤnen ſieht? Sind ſie abge-
trocknet dir von Engeln, und haſt du vergeſſen
aller Seufzer, die die Menſchheit druͤcken? O
du, ſag, wie nenn ich dich, du Theure, du Ge-
liebte, deren Seele mein war! Schwebt dein
Geiſt um mich im Lichtgewande? Hoͤrſt du meine
Seufzer? Truͤbt ein Woͤlkchen deinen Sonnen-
ſchimmer? O ſo rauſch mit deinen Fluͤgeln, daß
ichs hoͤre, und mich freue, daß dein Schmerz im
Grab liegt, daß ich hingeh auf dein Grab, und
ſterbe! — Oder ſchmachtet deine Seele noch in
ihren Banden; iſt der Kerker des Lebens noch nicht
durchgebrochen; o ſo bring ein Engel dir die Seuf-
zer, und den Hauch der Liebe, den ich hier aufs
Blatt hin hauche!
Engel, oder Menſch, ich gruͤſſe dich, umarme
dich mit meiner Seele. Ach, wir leiden viel, Ge-
liebte! Doch mir waͤre wohl, wenn du nur
uͤberwunden haͤtteſt! Wiß! ich habe dich geſucht
mit Thraͤnen, und dich nicht gefunden! Wiß! ich
rannte Waͤlder durch, und lechzete vor Ohnmacht,
und ich hab dich nicht gefunden! Ach, ich glaubte
dich zu finden, aber eine Wolke barg dich meinen
Augen. Nun iſt meine Seele truͤb, und wuͤnſcht
zu ſterben.
Jch hab eine Ruheſtatt gefunden, fern von Men-
ſchen. Dicke Waͤlder haben ſie umzaͤunt, daß kein
ſtorblich Auge durchdringt. Neid und Stolz und
Bosheit haben dieſe Staͤtte nie betreten. Nur ein
Grab iſt da, und eine Huͤtte, und ein Leidender.
Auf dem Grabe hab ich juͤngſt geſeſſen, und der
Leidende hat mich umarmt, und iſt mein Bruder.
Er wuͤnſcht auch zu ſterben. Und nun will ich hin-
gehn, und mit ihm vom Tode reden, und dann
ſoll er mich begraben, und das Grab nicht ſchlieſ-
ſen, denn am Throne des Allmaͤchtigen will ich
fuͤr ihn bethen, daß er bald zu mir hinunterſinke,
und vergeſſe ſeiner Leiden!
O Geliebte, wenn du ſchon entflohen biſt der
Erde, ſo ſteig nieder auf den Abendwolken, wenn
der Wind durch meine Tannenwipfel ſaͤuſelt; oder
wenn der Mond durch ſie herabſcheint, und der
Wind ſchweigt; ſteig hernieder, um mir Troſt
und Ahndung meines nahen Todes zuzuliſpeln;
um mein Herz zu unterſtuͤtzen, bis ich ausgerun-
gen habe, daß die Seele, wenn ſie ſcheidet, dir
entgegen eile, und in deinem Arm zuerſt des Him-
mels Seligkeit empfinde! — Oder wenn du noch
im Thal der Thraͤnen weineſt; und ich lieg
und ruh im Grabe, o ſo fuͤhre dich dein Engel
an die Staͤtte, wo mein Grab iſt, daß du weineſt,
und dann ſterbeſt! — Wenig Tage bleib ich
noch bey meinen Freunden. Ach, ſie leiden viel
um meinetwillen, und ſie ſollten gluͤcklich ſeyn.
Jch will ſie verlaſſen, daß ihr Thraͤnenquell
verſiege, daß mein Gram nicht ihre Freuden ſtoͤre!
Denn die Liebe hat, was ſie ſo ſelten thut, mit
ihren Freuden ſie geſegnet. Meine Thraͤnen ſollen
ihren Kranz von Freuden nicht benetzen; darum
eil ich in den Wald und ſterbe. —
Kronhelm kam dazu, als er dieſes ausgeſchrie-
ben hatte. Hier, Geliebter, ſagte Siegwart, wenn
noch Mariane leben ſollte, und du einſt von ihr
erfuͤhreſt, gib ihr dieſes Blatt! Sie wird es kuͤſ-
ſen, und drauf weinen, und das Blatt durch
ihre Thraͤnen heiligen. — Kronhelm las das
Blatt, und ward ſehr dabey bewegt. Er
ſah wohl, daß die Seele ſeines Schwagers rief
gebeugt, und ſchwer zu heilen ſey. Daher wag-
te er es auch nicht, ihm Troſt einzuſprechen, und
ihm von ſeinem Vorhaben, in die Einſiedeley zu
gehen, abzurathen. Vielleicht, dachte er, in den
acht Tagen, die er noch zu bleiben verſprochen
hatte, ein Mittel ausfindig zu machen, ihn zu-
ruͤck zu halten, und ſeine duͤſtre Schwermuth et-
was zu zerſtreuen.
Ein paar Tage drauf fand er, in Thereſens
Gegenwart, Gelegenheit, von der Sache wieder
anzufangen. Er drang ſehr in ihn, wenn er
doch ja ſich von der Welt abſondern wolle, lie-
ber, ſeinem erſten Vorſatz zufolge, in ein Kloſter,
als in eine Einſiedeley zu gehen, weil er doch
als Moͤnch der Welt noch mehr nutzen koͤnne,
als wenn er ein Einſiedler werde. Er rieth ihm
dieſes hauptſaͤchlich um ſeiner Geſundheit willen,
und weil er hoffte, ſein Schwager wuͤrde vielleicht
in dem Probjahr am Kloſter genug kriegen, und
gern wieder in die Welt zuruͤck kehren. Er wu-
ſte dieſes, von den Bitten ſeiner Frau unter-
ſtuͤtzt, ſo annehmlich vorzutragen, daß Siegwart
endlich in dieſen Vorſchlag willigte. Kronhelm
wollte ihn auch uͤberreden, in ein benachbartes
Auguſtiner Kloſter zu gehen, theils, weil das Klo-
ſter ſeinem Schloß ſo nahe lag, theils weil die
Regel dieſes Ordens minder ſtreng iſt, aber Sieg-
wart wollte ſchlechterdings in das Kapuzinerklo-
ſter zu *** treten; und hierinn muſte ihm ſein
Schwager nachgeben, und ihm auch verſprechen,
naͤchſtertagen ſeinetwegen an den dortigen Guar-
dian zu ſchreiben.
Allein er ward durch eine ungluͤckliche Begeben-
heit daran verhindert. Seine Thereſe ſollte nieder-
kommen, und die Geburt war ſo ſchwer, daß ſie
in die aͤuſſerſte Lebensgefahr dabey kam. Das Kind,
ein Knaͤblein, war gebohren; aber zween geſchick-
te Aerzte, die herbey gerufen waren, zweifelten
am Aufkommen der Mutter. Der arme Kron-
helm gieng verzweifelnd und halb todt im Schloß
herum, rang die Haͤnde, und wuſte nicht, wo
er bleiben ſollte? Das ganze Schloß war ein Haus
des Jammers. Siegwart kam faſt nie vom Bet-
te ſeiner Schweſter, und zerfloß in Thraͤnen. Die
Dienſtbothen ſahen alle blaß aus, wie der Tod, wein-
ten in allen Ecken, und wagtens kaum, laut zu
ſprechen, oder ſich um das Beſinden ihrer beſten
Frau zu fragen, weil jeder fuͤrchtete, die Todes-
poſt zu hoͤren. Kronhelm wollte nicht vom Bette
weggehen; als er aber einmal uͤbers andre ohn-
maͤchtig wurde, ſo brachte man ihn endlich, auf
den Rath der Aerzte, in einer Ohnmacht auf ſein
Zimmer, und bat unſern Siegwart, ihn zuruͤck
zu halten, nicht wieder vors Krankenbette zu kom-
men, weil ſein Aechzen ſeine ohnedies ſchon ge-
nug geſchwaͤchte Frau noch mehr entkraͤftete.
Thereſe lag, mit himmliſcher Gelaſſenheit, das
Geſicht ſchon faſt mit Todesſchweiß bedeckt, auf
ihrem Bette; ſah bald mit halbgebrochnen Augen
gen Himmel, bald ſuchte ſie mit aͤngſtlicher und
liebvoller Sorgfalt ihren Kronhelm, haͤtt ihm gern
gerufen, wenn ihr die Stimme nicht entgangen
waͤre; dann weinte ſie, daß ſie umſonſt ihn ſuchte.
Sie verlangte durch einen Wink ihr Kind, ſchloß
es mit ſchwachen Haͤnden an ihr muͤtterliches Herz,
kuͤßte es, und ſah gen Himmel, als ob ſie ihren
Liebling in die Haͤnde des Allmaͤchtigen empfoͤhle.
Drauf ſah den ſie Arzt bittend an, und winkte mit
den Haͤnden, vermuthlich, daß man ihren Kron-
helm ſuchen ſollte. Der Arzt ließ Siegwart rufen.
Er kam zitternd, leiſe und todtbleich ans Bette,
nahm ihre Hand, und wandte das Geſicht weg.
Der Schmerz uͤberwaͤltigte ihn, daß er laut ſchluchzte;
Er wollte ſich losreiſſen; Sie klammerte ſich aber
mit der Hand feſt in die ſeinige, und ließ ihn nicht
los. Er ſah ſie an; mit unausſprechlicher Weh-
muth blickte ſie ihn an; aus dem halbgeſchloſſenen
Auge drang eine Thraͤne; der Mund oͤffnete ſich,
und man konnt es ſehen, daß ſie ſagen wollte:
Kronhelm!
Siegwart riß ſich mit Gewalt los, ſprang weg,
und hohlte ſeinen Kronhelm. Sie ſah ihn an,
laͤchelte ihm zu, und indem floſſen wieder Thraͤnen
aus dem Auge. Kronhelm ſtuͤrzte ſich halb ohn-
maͤchtig uͤber ſie hin, ſchrie und ſchluchzte laut, be-
deckte ihr Geſicht mit Thraͤnen und Kuͤſſen, und
ward ſo, in ihren Armen, ohnmaͤchtig. Man
brachte ihn ſinnlos weg.
Sie befand ſich ſehr entkraͤftet. Der Artzt ver-
bot, jemand wieder vor ſie zu laſſen. Kronhelm
ſchickte alle Augenblicke einen Bothen nach ihr;
dieſer kam immer nur mit Achſelzucken wieder.
Der Geiſtliche kam, und gab ihr die letzte Oelung.
Kronhelm und Siegwart beweinten ſie als todt,
und waren troſtlos. Die ganze Nacht floß ihnen
ſchrecklich hin. Kronhelm verwuͤnſchte ſich, und
ſein Geſchick, und das Kind, das ihm ſein Liebſtes
raubte. Thereſe hatte die Nacht uͤber ein paar
Stunden Schlaf, und befand ſich am Morgen ein
klein wenig beſſer; die Aerzte verboten aber, ih-
ren Mann zu ihr zu laſſen, weil ſie eine zu heftige
Gemuͤthsbewegung fuͤr ſie fuͤrchteten. Sie konnte
nun zuerſt wieder etwas ſtaͤrkende Bruͤhe zu ſich
nehmen. Jhrem Manne ward etwas wenig Hoff-
nung gemacht; man ließ ihn aber nicht zu ihr.
Auf ſein anhaltendes Bitten lieſſen ihn endlich die
Aerzte in ihr Zimmer, als ſie eben in einem klei-
nen Schlummer lag. Man konnte ihn bey ihrem
Anblick kaum zuruͤck halten, daß er nicht vor Freu-
den laut aufſchrie, und uͤber ſie hin fiel, und ſie
kuͤßte. Als ſie wieder aufwachte, ließ man ihren
Bruder zu ihr kommen. Jhr erſtes Wort war:
Was macht mein Kronhelm? Er iſt wohl, war
die Antwort, und hofft auf deine Geneſung. —
Gott geb es! ſagte ſie. Jch befinde mich um ein
Gutes beſſer. Sprich ihm Muth, und Vertrauen
ein, und gib ihm dieſen Kuß in meinem Namen,
wenn ich ihn nicht ſelber kuͤſſen darf!
Die Aerzte bekamen nun immer beſſre Hoffnung;
aber Kronhelm durfte ſie noch nicht anders ſehn,
als ſchlaſend. Einmal wachte ſie auf, als er noch
vor ihr ſtand. Sie ſtreckte ſtillſchweigend ihren
Arm nach ihm aus; er ſank darein. Beyde konn-
ten vor zaͤrtlichem Entzuͤcken nichts thun, als wei-
nen. Jhre Kraͤfte nahmen nun ſichtbar wieder zu.
Kronhelm und Siegwart kamen nicht von ihrem
Bette. Siegwart freute ſich von ganzem Herzen
uͤber ihre Geneſung; aber dem ohngeachtet nahm
doch ſeine Schwermuth, und ſeine Abneigung von
der Welt mit jedem Tage mehr zu. — Schreib
doch bald ins Kloſter! ſagte er einmal zu Kron-
helm, als ſie beyde vor Thereſens Bette ſaſſen.
Die Welt wird mir taͤglich mehr zum Ekel; ich
ſehe, daß ſie nichts als ein Sammelplatz von
Noth und Elend, und ununterbrochner trauriger
Abwechſelung und Unbeſtaͤndigkeit iſt. Du haͤltſt
dich jetzt wieder fuͤr gluͤcklich, Kronhelm, du haſt
keinen Wunſch mehr uͤbrig, als die voͤllige Gene-
ſung meiner theuren Schweſter. Armer Mann!
Warſt du nicht noch vor zehn Tagen der al-
lerunſeligſte unter allen Menſchen; und vier Tage
vorher der allerſeligſte? Siehſt du nicht, daß, je
naͤher man dem Gluͤck zu ſeyn ſcheint, deſto naͤher
iſt man dem unabſehlichſten Elend. Aber, lieben
Freunde, ich will jetzt euren ſuͤſſen Traum nicht
ſtoͤren. Jhr ſeyd gluͤcklich; ihr druͤckt euch jetzt
mit unausſprechlicher, vorher nie gefuͤhlter Wolluſt
ans Herz. Jhr glaubt jetzt im Himmel zu ſeyn.
Moͤchte dieſer Himmel ewig waͤhren, wie der,
dem ſich meine ganze Seele zuſehnt! Laßt nur mir
meinen Jammer! Laßt mich eilen, und mich ihn
in meiner Einſamkeit auswetnen, wo ich kein le-
bendiges und gluͤckliches Geſchoͤpf ſtoͤre. Jch ſe-
he, dieſe Welt iſt nicht fuͤr mich: oder ich bin
nicht fuͤr ſie. Jch kann nicht gluͤcklich werden;
aber ich will auch keinen ungluͤcklich machen! Wenn
ich heute Marianens Hand bekaͤme — wenn der
Engel nicht ſchon ausgerungen hat — wenn ſie heu-
te ganz mein wuͤrde; morgen waͤre ſie mir gewiß
wieder entriſſen. Laßt ſie mir auch viele Wochen!
Wer buͤrgt mir fuͤr eine Krankheit, wie die war,
die dich, meine theureſte Thereſe, bald den Armen
meines liebſten Kronhelms entriſſen haͤtte? Ach,
ich kann, ich kann nicht gluͤcklich werden! Laßt
mich in mein Kloſter, daß ich meine Lebenszeit
verweine! Wenn ich mich ermannen kann, komm
ich zu euch, und beſuch euch. Laßt mich in mein
Kloſter! Jch will fuͤr euch bethen!
Kronhelm und Thereſe weinten, und konnten
ihn nicht troͤſten. — Ja, du ſollſt ins Kloſter!
ſagte Kronhelm; morgen will ich dahin ſchreiben.
Armer Freund, wir koͤnnen nichts, als dich be-
dauren. Kronhelm ſchrieb auch wirklich den fol-
genden Tag an den Guardian, und ſchickte den
Brief weg.
Thereſe erholte ſich nun taͤglich mehr, und
konnte ſchon zuweilen ſich ein paar Stunden auſ-
ſerhalb dem Bett aufhalten. Sie und ihr Kron-
helm empfanden nun das Gluͤck der Zaͤrtlichkeit
zehnſach mehr, als vorher, ehe das Ungluͤck der
Trennung ſie bedrohet hatte. Es war ihnen,
als ob ihre Liebe ſich nun erſt recht anfinge, und
alles vorherige Gluͤck war in ihren Augen nur
ein Traum.
Einen Abend ſaſſen ſie beyſammen, und Herr
von Rothfels kam dazu. Siegwart fieng vom
Kloſter zu reden an, daß die Antwort ſich ſo lang
verzoͤgere — Weil wir eben vom Kloſter und
von Kapuzinern reden, ſagte Rothfels, ſo faͤllt
mir eine Geſchichte ein, die ich dieſer Tagen
von einem Kapuziner hoͤrte. Sie betrifft ein
Frauenzimmer und iſt ſehr traurig. Das weni-
ge, mein Siegwart, was ich von Jhrer Ge-
ſchichte, und von Jhrem Maͤdchen weiß, paßt
ziemlich auf Sie. Ein Kapuziner, er heißt Bru-
der Klemens, kommt zuweilen zu mir, weil er
unter guten Freunden ein Glaͤschen Wein nicht
verſchmaͤht. Neulich, eh das ſtarke Gewitter kam,
war er bey mir, und ward durch den Rheinwein
etwas munter. Jch bat ihn, die Nacht bey mir
zuzubringen, weil der Regen anhielt, und der
Weg ſehr verdorben war. Er ließ ſichs gefallen.
Als der Wein ihm noch mehr zu Kopf ſtieg,
und wir auf die Nonnen zu ſprechen kamen, fieng
er an: Geſtern hab ich in einem gewiſſen Kloſter
eins der ſchoͤnſten und ungluͤcklichſten Frauenzim-
mer geſehen; denn ſie hat, ſo oſt ich ſie noch
ſah, immer geweint, und graͤmt ſich gewiß bald
zu Tod, und doch iſts ein Maͤdchen, rein und
unſchuldig und ſchoͤn, wie die Mutter Gottes.
O ich moͤchte Blut weinen, wenn ich ſie ſeh, oder
an ſie denke, denn ihr Schickſal iſt ſehr hart! —
Er wollte mir nichts weiter ſagen. Endlich erfuhr
ich doch ſoviel: Sie ſey mit Gewalt ins Kloſter
geſteckt worden, oder wenigſtens hab eine ungluͤck-
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liche Leidenſchaft ſie dahin getrieben; ſie ſey jetzt
bald ein Vierteljahr da, und von ihrem Bruder
und ihrer Schwaͤgerin, die ſehr hart mit ihr um-
gegangen ſeyn, dahin gebracht worden. — Das
iſt ſie, das iſt ſie! rief Siegwart, indem er auſ-
ſprang, und dem jungen Rothfels um den Hals
fiel. Um Gotteswillen, Rothfels, wo iſt der
Pater? Wo iſt ſie? Bringen Sie mich hin! Um
Gotteswillen thuns Sies! Das iſt Mariane; das
kann niemand anders ſeyn u. ſ. w. Er zog Roth-
fels faſt mit Gewalt aus der Stube, daß er ihn
zu Marianen bringen ſollte. Kronhelm und Roth-
fels hatten nur Muͤhe, ihn zuruͤck zu halten, und
ihm vorzuſtellen, daß hier die groͤſte Behutſam-
keit noͤthig ſey, zumal da der Pater weder den Na-
men des Kloſters, noch des Frauenzimmers, noch
andre zuverlaͤßige Kennzeichen angegeben habe.
Jnzwiſchen glaubten Kronhelm und Thereſe auch,
daß das Frauenzimmer Mariane ſey. Sie baten
Rothfels, den Pater, ſobald als moͤglich, noch ge-
nauer auszuforſchen, und auf alle Umſtaͤnde auf-
merkſam zu ſeyn. Deswegen erzaͤhlte ihm Sieg-
wart ſeine ganze Geſchichte, beſchrieb ihm Maria-
nen aufs kenntlichſte, und bat ihn faſt auf den
Knien, ſich die Sache, wie ſeine eigne, angelegen
ſeyn zu laſſen, und die Unterhandlung aufs ſchleu-
nigſte zu betreiben. Kronhelm und Thereſe, die,
natuͤrlich! bey der Sache kaͤlter waren, riethen ihm
die groͤßte Heimlichkeit und Behutſamkeit an, und
Rothfels verſprach, alles aufs moͤglichſte zu beob-
achten.
Siegwart war nun wieder wie neugebohren.
Alle ſein Ueberdruß der Welt und der menſchlichen
Geſellſchaft war vergeſſen. Er ſah und hoͤrte nichts,
als Marianen; konnte keinen Augenblick an einem
Ort bleiben, und kannte ſich vor Freuden und un-
geduldiger Erwartung ſelbſt nicht mehr. Es war
ihm jetzt ſchon genug, nur etwas von Marianen
zu wiſſen. Alle andre Schwierigkeiten, wie er
ſie aus dem Kloſter kriegen, und wie ſie ſein
werden koͤnnte, bedachte er jetzt gar nicht.
Alles auf der Welt ſchien ihm moͤglich; nur die
Zeit gieng ihm viel zu traͤg; er ſchien ſie mit ſeinen
Sehnſuchtsſeufzern forthauchen zu wollen. Roth-
fels, der die Nacht in Steinfeld hatte bleiben wol-
len, muſte, auf ſein Zudringen, noch denſelben
Abend auf ſein Schloß zuruͤckreiten, um nur bald
den Pater Klemens zu ſprechen, und ihm ſogleich
weitere Nachricht zu geben.
Kronhelm und Thereſe hingegen ſahen noch tau-
ſend Schwierigkeiten vor ſich. Denn fuͤrs erſte war
es noch nicht ausgemacht, daß das beſchriebne Frauen-
zimmer Mariane ſey; und dann, wenn ſies waͤre,
wie wollte Siegwart ſie ſprechen, und wie ſie wie-
der aus dem Kloſter los bekommen? Alle dieſe und
noch hundert andre Bedenklichkeiten ſchwebten vor ih-
nen; ſie beredeten ſich daruͤber miteinander, und
wuͤnſchten nur, dieſelben nach und nach unſerm
Siegwart beyzubringen! Aber dieſes war unendlich
ſchwer. Wenn ſie ſich nur von ferne etwas mer-
ken lieſſen, ſo baute er entweder vor, oder gerieth
in die heftigſte Bewegung daruͤber; nannte ſie klein-
muͤthig und aͤngſtlich, oder warf ihnen vor, ſie
nehmen an ſeinem Schickſal keinen Antheil, und
wollten ſich ſeinem Gluͤck entgegen ſetzen. Alles,
was ſie bey ihm ausrichten konnten, war, daß er
ſeine Ungeduld etwas minderte, und ein klein we-
nig behutſamer wurde; denn er ſprach immer, auch
in Gegenwart der Bedienten, von Marianen und
ihrer Entfuͤhrung.
Zween Tage drauf, die er in der ungeduldigſten
Erwartung zugebracht hatte, kam Rothfels wieder.
Siegwart ſprang ihm mit lautem Herzklopfen in
den Hof hinab entgegen, und rief ihm zu: Wie
ſtehts? Rothfels winkte mit der Hand, weil zween
Bediente gegenwaͤrtig waren. Siegwart eilte mit
ihm die Treppe hinauf, und konnt es kaum er-
warten, bis ſie miteinander im Zimmer waren.
Sie iſts! ſagte Rothſels. Es iſt weiter gar kein
Zweifel. Jſt ſies, iſt ſies? rief Siegwart, und
fiel ihm um den Hals; aber weiter, weiter, be-
ſter Rothfels! Der Pater, fuhr dieſer fort, war
geſtern Abend bey mir, und da erfuhr ich durch vie-
le Umſchweife, daß er der Beichtvater des Frauen-
zimmers ſey, daß das Kloſter Marienfeld, und
das Frauenzimmer Mariane heiſſe, und eine Hof-
rathstochter aus Jngolſtadt ſey; daß ſie unaufhoͤr-
lich beth und weine, und kuͤnftiges Fruͤhjahr ein-
gekleidet werden ſolle. — Aber weiter, weiter! ſagte
Siegwart. Das iſt nicht genug! — Weiter hab
ich nichts erfahren koͤnnen, antwortete Rothfels,
aber doch hab ich den Pater Klemens ſo weit ge-
bracht, daß er mir, nach vorhergegangenem Ver-
ſprechen der tiefſten Verſchwiegenheit, verſprach,
wenn er wieder ins Kloſter komme, ein Briefchen
von mir an das Frauenzimmer abzugeben, weil
ich vorgab, ich ſey nah mit ihr verwandt. An-
fangs wollt er lang nicht dran, weil er ſagte: Jch
wolle wol der Kirche eine Braut ſtehlen, aber als
ich ihn auf meine Ehre verſicherte, daß dieſes gar
nicht meine Abſicht ſey, weil ich ja ſchon eine Braut
habe, gab er ſich endlich zur Ruhe. Ueberhaupt
hat er mehr den Schein eines eifrigen Religioͤſen,
als ers in der That iſt. Wenn er ſich nur von
ſeiner Seite in Sicherheit weiß — und darauf
ſchwur ich ihm — ſo kann ich ihn brauchen, wie
und wozu ich will; denn der Schalk weiß wohl,
daß er von mir viel zu genieſſen hat. — Wir
muͤſſen jezt nun ſehen, was zu thun iſt? Siegwart
muß mir zufoͤrderſt einen Brief an Marianen ge-
ben; das uͤbrige muͤſſen wir von Zeit und Um-
ſtaͤnden erwarten.
Siegwart war vor Freuden auſſer ſich; er um-
armte Rothfels und Kronhelm tauſendmal, und
doch, als der erſte Taumel vorbey war, ſchien ihm
alles viel zu langſam zu gehen. Er wollte am
Ziel ſeyn, eh er den Weg dahin betraͤte. Seine
Freunde ſprachen ihm ſoviel als moͤglich Geduld
und Gelaſfenheit ein, und baten ihn, nur erſt an
Marianen zu ſchreiben. Er ſchrieb auch noch den-
ſelben Abend dieſen Brief, und gab ihn Rothfels
mit:
„Alſo lebſt du noch, du Engel, und ich hab um-
ſonſt dich als todt beweint? Dank, ewiger Dank
ſey dem Geber des Lebens und des Todes, daß er
dich mir nicht entriſſen hat, und daß ich hoffen
kann, noch einmal dein zu werden! O du Theure,
der lichte Stral der Hofnung hat mein dunk-
les Leben wieder aufgehellt, und mir gewinkt in
meiner Trauer, daß ich wieder geh ans Licht des
Tages, und mich froher Ausſicht freue! Zwar du
Engel traurſt in duͤſtrer Zelle? Aber deine Trauer
ſoll nicht ewig waͤhren! Der dich mir erhielt, der
Gott der Liebe, wird dich wieder geben meinen
Wuͤnſchen. Menſchen wollten einem andern Braͤu-
tigam dich geben; und du haſt ſchon einen Braͤu-
tigam, und er traurt und weint um dich. — Sey
nicht treulos, meine Liebe! Eil ihm wieder zu mit
deinen Kuͤſſen, die der Himmel billigt! — Bald
will ich ſuchen, dich zu ſprechen und zu retten.
Hilf mir ſelbſt dazu, und gib mir Antwort, nur in
wenig Zeilen! Jch bin dir nah, bey meinem
Schwager und bey meiner Schweſter, die mit gu-
tem Rath mich unterſtuͤtzen. Bleib ſtandhaſt, o
Geliebte, und vergiß mich nicht! Jch bin jeden
Augenblick bey dir; meine Seele iſt ſtets auſſer
ihrem Koͤrper, und umſchwebt dich. Bald hoff ich
ganz bey dir zu ſeyn. Beth und glaub an die Vor-
ſehung, und uͤberlaß die Bedenklichkeiten mir!
Fuͤrchte nichts vom Pater Klemens! Gib ihm nur
bald deine Antwort! Sag, ſie ſey fuͤr Herrn von
Rothfels deinen Anverwandten! Er iſt ein junger
Edelmann, hier in der Nachbarſchaft, der die
Schweſter meines Kronhelm heyrathet, und ſich
unfrer treulich annimmt. Ewig dein Siegwart.‟
Rothfels nahm den andern Morgen den Brief
mit, und verſprach, ihn aufs fruͤheſte und genaueſte
zu beſorgen. Er hofte, den Pater Klemens noch
ſo auf ſeine Seite zu bringen, daß man ihm einen
Theil der Geheimniſſe anverirauen koͤnne; denn
gaͤnzliche Verſchwiegenheit ſey die einzige Bedin-
gung; wenn er dieſer verſichert ſey, ſo ſey er auch
im Stand, alles zu unternehmen. Siegwart ver-
ſprach von ſeiner Seite die moͤglichſte Behutſam-
keit und Vorſicht, nur bat er um die aͤuſſerſte Be-
ſchleunigung der Sache, denn zitternde Ungeduld
belebte jezt jede ſeiner Handlungen.
Thereſe erholte ſich nun immer mehr, und konnte
bey den ſchoͤnen Herbſttagen ſchon zuweilen wieder
einen halben Nachmittag im Garten zubringen.
Kronhelms und ihre Gluͤckſeligkeit war nun wie-
der auf dem hoͤchſten Gipfel. Seine Thereſe bluͤhte
wieder auf, wie eine Blume, die in der Sonnen-
hitze dahin gewelket war, und ſich nun im Abende
und Morgenthau mit neuer Kraft und neuen Duͤf-
ten wieder aufrichtet. Kronhelm ſah ſein Ebenbild,
den jungen Wilhelm an ihrer muͤtterlichen Bruſt
liegen, und wenn er ſich einen Augenblick entfer-
nen muſte, ſo kuͤßte Thereſe in dem kleinen Liebling
ihren theuren Kronhelm. Die Freude uͤber ihre
Wiedergeneſung war im Schloß und im Dorf all-
gemein. Die Baͤurinnen kamen eine nach der an-
dern, um ihre liebe gnaͤdige Frau wieder zu ſehen,
und ihr Gluͤck zu wuͤnſchen. Die Bauren hielten
an, ob ſie nicht einen Tanz deswegen halten duͤrf-
ten? Kronhelm ließ ihnen Bier und Wein
und Fleiſch genug geben. Sie ſchickten durch etlich
junge Maͤdchen, die ſie, auf Anordnung ihres
Geiſtlichen, als Schaͤferinnen gekleidet hatten, un-
ter Muſik von Geigen und Schallmeyen, einen,
mit Kornblumen durchflochtenen Aehrenkranz, und
ein Schaf, das das aͤlteſte Maͤdchen an einem
rothen Band fuͤhrte, wobey ſie zugleich eine artige
Gluͤckwuͤnſchungsrede an Thereſen hielt.
Siegwart ward durch dieſe allgemeine Freude,
und noch mehr durch die Hofnung, ſeine Mariane
bald wieder zu erhalten, wieder neu belebt. Er
war mit der Welt faſt ganz wieder ausgeſoͤhnt,
empfond die Schoͤnheit der Natur, und das Gluͤck
der menſchlichen Geſellſchaft wieder; ſeine Wan-
gen wurden wieder roth, ſeine Augen wieder helle,
und ſein Herz erweitert. Aber die Ungeduld ſtuͤrmte
doch beſtaͤndig in ihm, und ſein Herz war immer
nur halb da, wo ſein Leib war.
Die Zeit, daß er nichts von Rothſels und von
ſeiner Mariane hoͤrte, ward ihm endlich zu lang.
Er wollte eben an einem Nachmittag weg reiten,
als Rothfels ſelber kam. Schon ſein heitres Aus-
ſehn verkuͤndigte gute Nachricht. Munter, mein
lieber Siegwart! ſagte er. Es wird alles gut ge-
hen! Der Pater iſt nun ganz auf unſrer Seite.
Hier ein Brief von Marianen! Siegwart riß ihn
zitternd auf, und las, ſo geſchwind, daß er nach
dem erſten Durchleſen kaum den Jnhalt des Brie-
fes wuſte.
Mein Geliebteſter!
Wie erſtaunt ich nicht, als mir der Pater einen
Brief von Jhrer Hand gab! Jch ward faſt ohn-
maͤchtig bey dem Leſen. So ſind Sie mir ſo
nah, mein Theureſter? Ach, was hab ich ausge-
ſtanden, ſeit ich von Jhnen getrennt bin! Doch Sie
ſollen nicht mit mir leiden. Und nun, mein Theu-
reſter, was iſt anzufangen? Jch habe das Geluͤbde
noch nicht abgelegt; aber ich werde hier ſtreng be-
wacht. Jch warf mich Gott in die Arme, um der
Grauſamkeit der Menſchen zu entgehen; aber auch
im Kloſter ſind Menſchen, und es geht mir hart.
Retten Sie mich, wenn Sie koͤnnen! Jch weiß,
Gott will nicht, daß der Menſch ſich quaͤle; und
hier halt’ ichs nicht lang aus. Jch bin ſehr ſchwach
und entkraͤſtet. Man verſpottet mich, und haͤlt
mich hart, weil ich geliebt habe; weil ich dich ge-
liebt habe, du Vollkommener! Gott kann nicht ſo
grauſam ſeyn, wie Menſchen ſind; darum darfſt
du mich aus ihrer Hand erretten.
Thun Sie, was Sie koͤnnen! Jch kann nichts
thun. Jch habe nur Eine Freundinn hier, der ich
halb trauen kann, weil ſie Mitleid mit mir hat.
Es iſt die Schweſter Brigitta, die die Aufwartung
im Kloſter verſieht. Machen Sie ſich mit ihr
bekannt; vielleicht kann ſie ein Werkzeug meiner Er-
loͤſung werden. Aber um Gotteswillen behutſam!
Sonſt muß ichs entgelten. Sie darf nichts wiſſen,
als daß wir uns zu ſprechen ſuchen. Leb wohl,
Theureſter! Vielleicht gibt dich Gott mir wieder.
Und das iſt mein Gebeth, Tag und Nacht.Sonſt
kann ich nichts wuͤnſchen, als den Tod.
Leb wohl,
Geliebteſter!
Weinend gab Siegwart den Brief ſeinem Kron-
helm in die Hand; Er ſelbſt gieng ans Fenſter,
ſah gen Himmel, weinte laut, und flehte Gott um
Beyſtand an, Matianen zu erretten! — Rathet,
Rathet! ſagte er zu ſeinen Freunden, was ich thun
muß? Der Gedanke, daß ſie leidet, und um mei-
netwillen leidet, iſt mir unertraͤglich; Rathet! daß
ich bald ſie retten kann. Soll ich mit Gewalt ſie
holen, oder mit Liſt? Jhr muͤſt rathen! Denn ich
weiß mir nicht zu helfen; Jch bin auſſer mir vor
Freud und Schrecken.
Um Gotteswillen, nicht mit Gewalt! riefen
Kronhelm und Thereſe. Du wuͤrdeſt ſie nach einer
Stunde wieder verlieren, und in Ewigkeit nicht
wieder ſehen. Ohne Behutſamkeit und Liſt wird
ſie niemahls dein. — Jch habe ſchon daruͤber nach-
gedacht, fiel Rothfels ein. Siegwart muß ſich in
verſtelter Kleidung nahe bey dem Kloſter aufhalten,
und auf Zeit und Umſtaͤnde paſſen. Es fiel mir
eine Liſt ein, als mir Pater Clemens den Brief
uͤbergab, und ich ſuchte die Sache ſogleich bey ihm
einzufaͤdeln. Wie waͤrs, wenn Siegwart eine Zeit-
lang als Gaͤrtner bey mir waͤre. Jch wuͤrde denn
einmal mit dem Pater reden, daß er ihn im Klo-
ſter, wo man eben einen Gaͤrtner noͤthig hat,
empfoͤhle? — Schoͤn! Schoͤn! riefen Kronhelm
und Thereſe. Dieſe Liſt kann gehen, wenn du
Klugheit und Geduld haſt, Bruder! — Jch will
alles thun, verſetzte Siegwart, was ihr mir be-
fehlt. Wenns nur hurtig geht!
Es ward ſogleich beſchloſſen, daß Siegwart noch
denſelben Abend mit Rothfels in Gaͤrtnerkleidung
auf ſein Schloß fahren ſollte. Man rieth ihm alle
moͤgliche Behutſamkeit an; ſeine ſchoͤnen langen
Haare wurden ihm abgeſchnitten; eine Gaͤrtners-
kleidung ward ihm angelegt, und er fuhr mit
Rothfels weg, nachdem er mit tauſend Thraͤnen
von ſeinen Freunden, die ihm alles moͤgliche Gluͤck
anwuͤnſchten, Abſchied genommen hatte. Rothſels
erfuhr unterwegs von Siegwart, daß er die Gaͤrt-
nersgeſchaͤfte ſehr gut verſehen koͤnne, weil er in
ſeiner Jugend mit Thereſen beſtaͤndig den Garten
ſeines Vaters gebaut habe. Rothfels verſprach,
ihm bald Gelegenheit zu verſchaffen, mit dem Pa-
ter zu reden, ſo, daß er noch dieſen Herbſt in die
Kloſterdienſte treten koͤnne. Siegwart bekam den
Namen Georg, und trat gleich den folgenden Tag
ſeinen Dienſt in Rothfels Garten an. Er arbei-
tete den Tag uͤber ſehr aͤmſig, und wußte ſich ſo
gut in ſeinen neuen Stand zu ſchicken, daß kein
Menſch auf den Einfall kam, ihn fuͤr eine ver-
kappte Perſon zu halten. Rothfels ließ ihn oft auf
ſein Zimmer kommen, oder ſprach Abends mit ihm,
und redete mit ihm ab, wie er ſich im Kloſter zu
betragen habe. Siegwart gab ihm ein kleines Brief-
chen, worin er Marianen auf dieſe Liſt vorbereitete,
und auf den Gaͤrtner Georg aufmerkſam machte.
Rothfels verſprach ihm, bald den Pater in den Gar-
ten zu bringen; dann ſoll er ſich traurig ſtellen,
daß der Pater auf ihn aufmerkſam werde, und
ihm dann ſein Anliegen vorbringen.
Einige Tage drauf kam Rothfels mit dem Pa-
ter in den Garten. Er entfernte ſich bald darauf,
unter dem Vorwand von Geſchaͤften, und ließ
den Pater allein. Siegwart machte ſich in dem
Gang, wo der Pater gieng, etwas zu ſchaffen;
ſtellte ſich ſehr traurig an, wiſchte ſich die Augen,
und weinte. Der Pater fragte ihn, was ihm
fehle? Ach lieber, wohlehrwuͤrdiger Herr, antwor-
tete Siegwart: Da hat mir heut mein Herr ge-
ſagt, er ſey zwar mit meiner Arbeit ſehr zufrieden,
wie Sie ihn ſelbſt fragen koͤnnen; aber, weil er
mit ſeinem vorigen Gaͤrtner wieder eins gewor-
den ſey, ſo koͤnn er mich nicht laͤnger behalten; es
ſall ihm zu ſchwer, zwey Gaͤrtner zu bezahlen;
und er iſt ſo gar ein braver Herr; das geht mir
nun nah, daß ich ihn verlaſſen ſoll! Und der Winter
iſt vor der Thuͤr, und ich habe keinen Dienſt und
kein Brod. — Hier fieng er an, heftiger zu wei-
nen — Ach, lieber wohlehrwuͤrdiger Herr, Sie
ſind bey ſoviel Herrſchaften und in Kloͤſtern wohl
bekannt, wuͤßten Sie mir nirgends ein Dienſtlein?
Sie koͤnnten ein recht gutes Werk verrichten. Jch
wollte mich gewiß billig finden laſſen; und meinen
Dienſt kann ich verſehen, ſo gut als ein Gaͤrtner
im ganzen deutſchen Reich, wie mein gnaͤdiger
Herr gewiß ſelbſt bezeugen wird. Wenn Sie mir
doch helfen koͤnnten! P. Klemens ward durch die
Thraͤnen des Gaͤrtners geruͤhrt, und verſprach, in
Marienfeld ein gutes Wort fuͤr ihn einzulegen.
Rothfels kam, wie von ohngefaͤhr dazu, und miſchte
ſich ins Geſpraͤch. Er lobte den Gaͤrtner Georg
ſehr, ſagte, er wuͤnſch ihm ſelbſt einen recht guten
Dienſt, wo er beſſer ſtuͤnde, als bey ihm, und
empfahl ihn dem P. Klemens. Dieſer verſprach,
das Beſte fuͤr ihn in Marienfeld zu thun, wo man
eben einen Gaͤrtner noͤthig habe, und in drey
oder hoͤchſtens vier Tagen wieder Antwort zu
bringen.
Siegwart freute ſich mit Rothfels uͤber den
guten Erfolg ſeines Unternehmens, und am dritten
Tage kam P. Klemens wieder, mit der Nachricht,
die Aebtiſſin zu Marienfeld wolle den Gaͤrtner
Georg ſprechen, und werde ihn vermuthlich in
Dienſt nehmen. Siegwart reiſte mit der freudig-
ſten Hofnung ab, und kam noch denſelben Nach-
mittag zu Marienfeld an. Die Aebtiſſin ließ ihn
ans Sprachzimmer kommen; er gefiel ihr, und
ward auf P. Klemens Zeugniß mit einem anſehn-
lichen Lohn zum Obergaͤrtner angenommen. Sieg-
wart haͤtte ſich vor uͤbermaͤßiger Freude faſt ſelbſt
verrathen, und ſeine Rolle vergeſſen. Er dank-
te der Aebtiſſin aufs feurigſte, ſein Herz ſchlug
ihm ſichtbar, und er ſprang mehr, als er gieng,
an ſeine Arbeit.
Wenn er im Garten arbeitete, ſo ſah er ſich wol
tauſendmal um, ob er ſeine Mariane nicht er-
blicke? Wenn er oben an den Kloſterfenſtern, die
mit hoͤlzernen Jalouſieladen vermacht waren, ſich
etwas bewegen ſah, ſo blickte er unbeweglich hin,
weil er glaubte, ſeine Mariane ſtehe dran. Sei-
ne Bruſt war den ganzen Tag von einem unruhi-
gen Sehnen belebt; es war ihm zu Muth, wie
einem Neuverliebten; bald war er heiter, bald
wieder traurig und weinte. Alle Abend legte er
der Aebtiſſin am Sprachgitter Rechenſchaft von
ſeiner Arbeit ab. Sie ſchien taͤglich mit ihm zu-
friedener zu ſeyn. Zuweilen ſah er noch mehrere
Nonnen in dem Sprachzimmer. Die heftigſte
Unruhe quaͤlte ihn, ob nicht ſeine Mariane mit
unter den Nonnen ſey? Aber vor dem Schleyer
konnt’ er ſie nicht erkennen. Einmal hub eine von
den Nonnen, die in der Ecke des Sprachzimmers
ſtand, ihren Schleyer etwas auf. Es war Maria-
ne. Jhr Geſicht war todtbleich. Er ward durch
den Anblick wie vom Donner geruͤhrt. Bald
ward ſein Geſicht feuerroth, bald todtblaß, er
ſtotterte, gab der Aebtiſſin lauter verwirrte Ant-
worten; ſeine Knie zitterten, daß er kaum mehr
ſtehen konnte. Zu allem Gluͤck ließ ihn die Aeb-
tiſſin ſogleich von ſich. Er lief auf ſeine Kammer,
und fiel halb ohnmaͤchtig aufs Bette. Ein Strom
von Thraͤnen ſchaffte ihm endlich Erleichterung.
Er warf ſich auf ſeine Knie, und bethete ſo in-
bruͤnſtig, als er faſt noch nie in ſeinem Leben ge-
bethet hatte, daß ihm Gott beyſtehen wolle, ſei-
nen Engel bald aus dieſem Kerker zu erretten!
Nun wußte er faſt gar nicht mehr, was er that.
S s s
Mariane ſtand unaufhoͤrlich ſo vor ihm da, wie
er ſie im Sprachzimmer erblickt hatte; ſie erſchien
ihm ſo in Traͤumen; aber nur ſelten konnte er
ſchlafen. Noch Einmal glaubte er ſie unter den
Nonnen zu erblicken, aber ſie hub ihren Schley-
er nicht auf, und er blieb in der Ungewißheit.
Am naͤchſten Feyertag gieng er in die Kirche.
Nach der Meſſe, welche P. Klemens las, mach-
ten die Nonnen auf dem Chor eine Muſik. Erſt
ward ein Tutti geſungen, dann ein Solo. Ma-
riane ſangs. Er glaubte bey dem Klang ihrer
Stimme zu vergehen; konnts nicht laͤnger aushal-
ten, und gieng aus der Kirche, weil er fuͤrchtete,
man moͤchte ihm ſeine heftige Bewegung anſehen! —
Mit der Schweſter Brigitte, die er oft im Gar-
ten und im Kloſter ſah, machte er ſich bald bekannt.
Das arme Maͤdchen ſchien an dem artigen Gaͤrtner
nur gar zu viel Wohlgefallen zu finden, und gieng
ihm alle Schritte und Tritte im Garten nach.
Siegwart kam dadurch in eine ſehr unangenehme
Lage, und mußte ſich ſtellen. als ob ihm an Bri-
gitta ſehr viel gelegen ſey. Oft lag ihms ſchon
auf der Zunge, daß er ſich nach Marianen erkun-
digen wollte, aber Furchtſamkeit, ſich zu verrathen,
hielt ihn immer wieder zuruͤck.. Er fragte nur
von fern nach den verſchiednen Kloſterfrauen. Bri-
gitte machte ihm eine allgemeine. Beſchreibung da-
von, und ſagte, zu ſeinem groͤſten Misvergnuͤgen,
gerade von ſeiner Mariane am wenigſten, auſſer,
daß ſie immer ſehr blaß ausſeh, und unaufhoͤrlich
traurig ſey. Weil ers noch nicht fuͤr rathſam an-
ſah, ſich Brigitten anzuvertrauen, ſo ſchrieb er ein
paarmal an Marianen, legte den Brief an einen
Ort, wo ihn Rothfels, dem der Ort bezeichnet
war, entweder ſelber abholte, oder durch einen al-
ten Bedienten abholen ließ, und ihn ſo, durch
Pater Klemens Hand, Marianen zuſchickte. Sie
wußte nun, daß ihr Geliebter ihr ſo nah, und als
Gaͤrtner im Kloſter ſey; aber ſie fand doch keine
Gelegenheit ihn allein zu ſehen, oder gar zu ſpre-
chen, weil man auf ſie ſehr genau Acht gab, und
ihr, welches Siegwart nicht wußte, Brigitten noch
beſonders zur Aufſeherin beſtellt hatte.
Einmal kamen die Nonnen, an einem ſehr hei-
tern Herbſttage, nach dem Mittagseſſen mit ihrer
Aebtiſſin in den Garten, als Siegwart eben
hinter der Hecke ſtand, und die losgerißnen Zweige
wieder an den Stangen feſt machte. Er hatte ſie
noch nicht wahrgenommen, und ſang bey der Ar-
beit ſein Gaͤrtnerlied, das| er einſt an einem trau-
rigen Abend gemacht hatte, und ſeitdem beſtaͤndig
ſang, in der Hofnung, daß ihn Mariane vielleicht
zuweilen hinter dem Fenſter zuhoͤre. Das Lied
hieß ſo; und er ſangs nach einer ſehr traurigen
Melodie:
Es war einmal ein Gaͤrtner,
Der ſang ein traurigs Lied.
Er that in ſeinem Garten
Der Blumen fleißig warten,
Und all ſein Fleiß gerieth.
Und all ſein Fleiß gerieth.
Er ſang in truͤbem Muthe
Viel liebe Tage lang.
Von Thraͤnen, die ihm floſſen,
Ward manche Pflanz begoſſen.
Alſo der Gaͤrtner ſang!
Alſo der Gaͤrtner ſang!
„Das Leben iſt mir traurig,
Und gibt mir keine Freud!
Hier ſchmacht’ ich, wie die Nelken,
Die in der Sonne welken,
Jn bangem Herzeleid, „
Jn bangem Herzeleid.
„Ey du, mein Gaͤrtnermaͤdchen,
Soll ich dich nimmer ſehn?
Du muſt in dunkeln Mauren
Den ſchoͤnen May vertrauren?
Muſt ohne mich vergehn,
Ach, ohne mich vergehn?„
„Es freut mich keine Blume,
Weil du die ſchoͤnſte biſt.
Ach, duͤrft ich deiner warten,
Jch lieſſe meinen Garten,
Sogleich zu dieſer Friſt,
Sogleich zu dieſer Friſt!„
„Seh’ ich die Blumen ſterben,
Wuͤnſch ich den Tod auch mir.
Sie ſterben ohne Regen,
So ſterb’ ich deinetwegen.
Ach waͤr’ ich doch bey dir!
Ach waͤr’ ich doch bey dir!„
„Du liebes Gaͤrtnermaͤdchen:
Mein Leben welket ab.
Darf ich nicht bald dich kuͤſſen,
Und in den Arm dich ſchlieſſen,
So grab’ ich mir ein Grab.
So grab’ ich mir ein Grab.„
Ey wie ſchoͤn, Gaͤrtner! rief eine Stimme, als
er ausgeſungen hatte; und indem er aufſah, er-
blickte er jenſeits der Hecke in einem andern Gang die
Aebtiſſin mit den andern Nonnen. Sein Schrecken
war doppelt groß, theils wegen des Liedes, das
er geſungen hatte, theils weil keine Mannsperſon
im Garten ſeyn ſollte, wenn die Nonnen drinn
waren. Aber die Aebtiſſin hatte dießmal ſelbſt
das Laͤuten vergeſſen, welches das Zeichen war, daß
die maͤnnlichen Bedienten ſich entfernen ſollten.
Er ſtand zitternd, und todtenbleich da, hielt die
Muͤtze in die Hand, und bat ſtotternd um Ver-
gebung. Ploͤtzlich erblickte er zuhinterſt eine Non-
ne, die der ganzen Stellung nach ſeine Mariane
war; aber er ſah auch ihr himmliſches, blaſſes Ge-
ſicht durch den Schleyer ſchimmern. Er konnte vor
Zittern kaum mehr ſtehen, und ward noch verwirrter.
Zum Gluͤck fuͤr ihn hielt man die ploͤtzliche Ueber-
raſchung fuͤr die Urſache ſeiner Verwirrung. Die
Aebtiſſin ſprach noch ein paar Worte mit ihm, und
ließ ihn dann gehen, welches ihm recht herzlich lieb
war. Mariane befand ſich auch in der aͤuſſerſten Ver-
legenheit, und hatte Muͤhe, ihre Unruhe zu ver-
bergen.
Brigitta hielt ſich immer mehr zu Siegwart,
und ſuchte, ihn ſo viel als moͤglich war, zu ſpre-
chen. Da er ihr Zutrauen ſo ſehr gewonnen hatte,
ſo hielt er dafuͤr, es ſey nun Zeit, ſich wegen Ma-
rianens etwas genauer gegen ſie herauszulaſſen; und
dazu both ſich nach etlichen Tagen die Gelegenheit
von ſelbſt an. Siegwart mußte, weil die Witte-
rung rauh zu werden anfieng, die Blumentoͤpfe,
und die Kuͤbel mit den Pomeranzen- und Lorbeer-
baͤumen ins Gewaͤchshaus bringen. Brigitte hatte
dazu den Schluͤſſel, und war gegenwaͤrtig, als er
die Kuͤbel in Ordnung ſtellte. Weil die Handlan-
ger ab- und zugiengen, um die Toͤpfe zu holen, ſo
that ſie, wenn ſie allein mit ihm im Gewaͤchshaus
war, ziemlich vertraut gegen ihn, und ließ nicht
undeutlich eine Neigung merken, das Kloſter mit
ihm zu verlaſſen. Siegwart warf dieſes nicht weit
weg, und machte ihr einige Hofnung dazu. Sie
war daruͤber vor Freuden auſſer ſich; und nun
fragte er, wie von ohngefaͤhr, ob nicht ein Frauen-
zimmer von Jngolſtadt in dem Kloſter ſey, die ei-
nem Hofrath Fiſcher angehoͤre? Auf ihre Beja-
hung, ſagte er, er kenne ſie wohl, und habe ſechs
Jahre bey ihrem Vater als Gaͤrtner gedient. Er
wuͤnſche nichts mehr, als ſie einmal allein zu ſpre-
chen, weil er ihr wichtige Dinge von ihrem Vater
zu entdecken habe. Zu dieſer Unterredung koͤnnte
ihm Brigitte am beſten verhelfen. Sie machte
anfangs groſſe Schwierigkeiten, wegen der Gefahr,
verrathen zu werden; endlich aber, als er ihr zu
ſchmeicheln und zu liebkoſen wußte, gab ſie nach,
und verſprach, ihm die folgende Nacht in einem
Winkel des Gartens eine Unterredung mit Maria-
nen zu verſchaffen. Daruͤber war er vor Freuden
ganz auſſer ſich, umarmte und kuͤßte Brigitten,
die dieſes ſehr willig geſchehen ließ, und ihn noch-
mals verſicherte, ihm dieſe Gefaͤlligkeit gewiß zu
erzeigen.
Anfangs glaubte er, Marianen ſchon in dieſer
Nacht entfuͤhren zu koͤnnen; aber bey laͤngerer
Ueberlegung fand er noch Schwierigkeiten. Es war
ſchon ziemlich ſpaͤt am Abend, und er zweifelte,
ob er noch an Rothfels koͤnne Nachricht gelangen
laſſen, daß dieſer mit einer Kutſche vor dem Kloſter
warten moͤchte, um ihn mit Marianen aus dem
Land zu bringen. Zudem war die Mauer des
Kloſtergartens hoch, und er wußte noch kein Mit-
tel, wie er uͤber dieſe kommen koͤnnte. Daher
mußte er ſich dießmal damit begnuͤgen, ſeine Ma-
riane nur zu ſprechen, und hofte, bald wieder ei-
ne Gelegenheit zu finden, ſie zu ſprechen, und
alsdann zu entfuͤhren.
Die laͤngſt gewuͤnſchte Nacht kam. Siegwart
ſtand im Garten, und zitterte vor Ungeduld. Nach
zehn Uhr, da die Nonnen alle ſchon im Bett la-
gen, ward die Kloſterthuͤre, die in den Garten
gieng, geoͤfnet. Mariane ſchlich ſich in der Dun-
kelheit, dicht am Kloſter, nach dem Winkel des
Gartens, wo ihr Siegwart ſtand. Brigitte hielt
innerhalb der Thuͤre Wache. Er ſchloß ſie ſtill-
ſchweigend in den Arm, und waͤre vor uͤbermaͤſſi-
gem Entzuͤcken faſt zu Boden geſunken. — Ach
Mariane! Ach Siegwart! war alles, was die
zaͤrtlichen Verliebten ſagen konnten. Nach den er-
ſten feurigen Umarmungen konnten ſie mehr ſpre-
chen. Gottlob! ſagte er, daß ich dich wieder ſpre-
chen kann! Bald, bald ſollſt du ganz mein ſeyn!
Wie iſt dir? Wie lebſt du? Traurig! war die
Antwort. Ach Siegwart, ohne dich! Jch muß
vergehen. Oft war ich ſchon ſehr krank. — Bald
wirds beſſer werden, meine Liebe! Wenig Tage
noch. Hab Geduld, und hoffe! — Ach, Sieg-
wart, was iſt Hofnung? Doch, ich will Geduld
haben. Ach, daß ich dich wieder habe! Kaum
kann ichs glauben. Siegwart, Siegwart! ach
was haben wir geduldet! Aber alles, alles iſt ver-
geſſen, da ich dich, dich wieder habe! — Jch kann
nicht ſprechen, meine Liebe! Gott im Himmel,
meine Mariane hab ich wieder. Kuͤß mich! Kuͤß
mich! Moͤcht ich doch vor Liebe ſterben! Mein,
mein, mein! — Er druͤckte ſie |an ſich, als ob
er Eins mit ihr werden wollte. Sie weinten, und
ſchluchzten laut. — Gott wird unſer Schutz ſeyn,
ſagte er, und uns wieder vereinigen! Ach Maria-
ne, ich weis nicht, wie mir iſt? Jch moͤchte nur
im Augenblicke ſterben! — Und ich auch, du Theu-
rer! Ach, mein Herz iſt ſo beklommen! Wenn wir
uns nur wieder ſehen! — Gewiß, gewiß! und
bald, und ewig! ach Mariane, Mariane! —
Siegwart ſagte kurz, daß er ſie in wenig Tagen
wieder ſehen, und alsdann befreyen werde. Alle
Anſtalten ſeyen ſchon gemacht. Sie warnte ihn,
gegen Brigitten behutſam zu ſeyn, und ihr nichts
zu ſagen, denn ſie wage viel, und koͤnnte ſie leicht
aus Angſt verrathen. Sie trennten ſich nach ei-
ner halben Stunde. Mariane wollte ihn nicht
loslaſſen. Dreymal kehrte ſie ſich um, als ſie
ſchon gegangen war, und ſank wieder an ſein Herz.
Mir iſt, ſagte ſie, als ob ich dich zum letztenmale
ſaͤhe! Ach, mein Herz iſt ſo beklommen! Er ſuchte
ſie mit der nahen Hofnung zu troͤſten, und riß ſich
endlich mit Gewalt von ihr los, weil er fuͤrchtete,
Brigitten ungeduldig zu machen. Mariane kam
weinend zu ihr; ſie habe, ſagte ſie, traurige Din-
ge von ihrem Vater erfahren. — Siegwart ſchlich
ſich nach ſeiner Kammer. Die ganze Nacht konn-
te er nicht ſchlafen. Unauſhoͤrlich weinte er vor
Zaͤrtlichkeit und Liebe, und aͤngſtlicher dunkler Ahn-
dung vor der Zukunft.
Den andern Morgen ſprach er mit Brigitten.
Mariane iſt ſehr niedergeſchlagen und halb krank,
ſagte ſie; er muß ihr traurige Dinge entdeckt ha-
ben. — Ja wohl traurige, war ſeine Antwort;
das arme Frauenzimmer leidet viel. Nur noch
Einmal machen Sie, daß ich ſie ſprechen kann! Bis
dahin hoff ich, ihr angenehmere Nachrichten geben
zu koͤnnen; und dann wollen wir ſuchen, dieſen
Auſenthalt zu verlaſſen. Er nahm ſie bey der Hand,
und blickte ſie zaͤrtlich an. Sie erwiederte dieſe
Blicke, und verſprach, ihm noch einmal eine Un-
terredung mit Marianen zu verſchaffen. Er war
nun voll froher Hofnungen. Taͤglich eekundigte
er ſich nach Marianens Geſundheit. Sie ſey ſehr
ſchwaͤchlich, war die gewoͤhnliche Antwort, doch
ſey ſie immer ſo geweſen. Brigitte lag ihm im-
mer mehr an, Anſtalten zu ihrer Flucht zu machen.
Er verſprach ihrs zuverlaͤßig, und ſagte, er erwar-
te nur noch eine Nachricht von Marianens Vater,
und wenn er ſie ihr gegeben habe, woll er ſuchen,
mit ihr zu entkommen. Er ſey Marianen ſchul-
dig, ſein Verſprechen zu halten, weil er ſie als
Kind noch gekannt, und viel Gutes von ihr ge-
noſſen habe. Durch dieſe Liſt machte er Brigitten
immer begieriger, ihm bald noch eine Unterredung
mit Marianen zu verſchaffen, weil ſie glaubte,
nach derſelben halt ihn nichts mehr im Kloſter zuruͤck.
Etlich Tage drauf kam er endlich einmal des
Morgens mit Freuden zu Brigitten, und ſagte,
nun hab er Nachricht fuͤr Marianen und zwar eine
ſehr frohe; ſie moͤchte nun machen, daß er ſie
auf den Abend ſprechen koͤnnte; und um dem Maͤd-
chen alle aͤngſtliche Unruhe zu benehmen, moͤchte ſie
ihr doch dieſes verſiegelte Blatt worinn er ihr vorlaͤu-
fig Nachricht gebe, zuſtellen. Brigitte nahm das
Blatt in die Hand, verſprach, es Marianen zu-
zuſtellen, und ſie Abends um 10 Uhr in den Gar-
ten zu bringen. Jndem ſie das Blatt noch in der
Hand hielt, kam die Aebtiſſin um | die | Ecke | des
Kreuzganges, wo ſie ſtanden, herum; Siegwart
lief erſchrocken davon; Brigitte ſteckte das Blatt
ſchnell ein, und ſprach mit der Aebtiſſin.
Siegwart gerieth in die ſchrecklichſte Angſt; er
fuͤrchtete, die Aebtiſſin habe das Blatt geſehen, und
ſich zeigen laſſen, und nun ſey alles verrathen.
Jn dem Blatt ſtanden dieſe wenigen Worte:
„Bald, bald kommt die Stunde der Erloͤſung.
Dieſe Nacht, meine Theureſte, ſoll uns ewig ver-
einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung.
Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be-
ſtimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott
um Beyſtand zur Erloͤſung! Verbrenne dieſes
Blatt!‟
Er dachte hin und her, was aus dieſer Ueber-
raſchung werden wollte? Alles Schreckliche ſtellte
ſich ſeiner Seele vor. Er verwuͤnſchte den Augen-
blick, in dem er dieſe Zeilen geſchrieben hatte. Ein
paarmal wollte er ſchon zur Aebtiſſin eilen, ihr al-
les offenbaren, ſich ihr zu Fuͤßen werfen, und ſie
um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder:
Vielleicht ſtell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat
die Aebtiſſin auf das Blatt nicht geachtet. Jn
dieſer ſchrecklichen Unruhe gieng er im dunkelſten
Gang des Gartens hin und her, als er Brigit-
ten mit rothgeweinten Augen kommen ſah. Er
gieng zitternd auf ſie zu. Gott, wie ſtehts?
rief er, hat die Aebtiſſin es entdeck? — Ach nein,
ſagte ſie, die Aebtiſſin hat nicht das geringſte ge-
merkt; aber einen andern Schrecken hat er mir
gemacht. Was muß er doch Marianen geſchrie-
ben haben? Sie ward ohnmaͤchtig, als ſie den
Brief las, und iſt jetzt noch ſehr matt. Haͤtt ich
mich doch niemals damit eingelaſſen! Waͤren wir
doch ſchon fortgegangen! Morgen, morgen! ſag-
te Siegwart haſtig; aber kan denn Mariane auf
den Abend doch kommen? Sie will, antwortete
Brigitte, wenn ſie Kraͤſte genug hat. Halt er
ſich nur um zehn Uhr gefaßt! Aber aus unſrer
Flucht wird nun wohl nichts werden. Jch be-
ſchwoͤr ihn bey der Mutter Gottes! daß er kei-
ner Seele nichts entdeckt! Jch waͤr auf mein
ganzes Leben ungluͤcklich. Siegwart ſuchte ſie,
wegen dieſer Sache, ſoviel als moͤglich, zu beru-
higen, ſie wollte ſich aber keinen Muth einſpre-
chen laſſen, und bat ihn nur, ſie nicht zu ver-
rathen! Er ſchwur es ihr bey allen Heiligen, und
bat ſie fuͤr Marianen Sorge zu tragen, und ſie
auf den Abend gewiß zu bringen!
Er gieng in noch groͤſſerer Unruhe weg, und
konnte ſich ihr Betragen nicht erklaͤren. Doch
machte er alle moͤgliche Anſtalten, ſchrieb an Roth-
fels, daß er um 10 Uhr mit der Kutſche an der
Gartenmauer warten ſoll, und gieng in das
Wirtshaus im Dorf, um den Brief durch einen
Knaben, den er ſchon oͤfters bazu gebraucht hat-
te, nach Rothfels zu ſchicken. Zu gutem Gluͤck
traf er da Rothſels alten Bedienten ſelbſt an,
der von Zeit zu Zeit an dem beſtimmten Ort
ſah, ob kein Brief da liege? Er nahm den Be-
dienten auf die Seite, und bat ihn, den Brief
ſogleich ſeinem Herrn einzuliefern. Jm Garten
hatte er ſchon ſeit ein paar Tagen die Vorſicht
gebraucht, an der Mauer, in dem Winkel, wo
Mariane hinkam, hinter alten Brerern eine
Leiter zu verbergen. Er gieng wieder ins Klo-
ſter, und ſprach gegen Abend Brigitten noch ein-
mal. Sie weinte wieder, verſicherte ihn aber
doch, daß es mit Marianen beſſer ſtehe, und daß
ſie um 10 Uhr in den Garten kommen werde.
Er lag in ſeiner Kammer auf den Knien, und
bat Gott um Marianens Geneſung, und um ſei-
nen Beyſtand. Als es dunkel wurde, legte er die
Leiter an die Mauer an, und blieb in der unru-
higſten Erwartung im Garten. Die Nacht war
ſehr dunkel, ſtuͤrmiſch, und regneriſch. Um 9
Uhr ſah er alle Lichter im Kloſter ausloͤſchen.
Um halb 10 Uhr hoͤrte er auſſerhalb der Mauer
ſich etwas bewegen. Er ſtieg auf die Leiter, und
ſah auſſen die Kutſche, und einen zu Pferd da-
bey, und auch auſſerhalb eine Leiter angelegt. Um
10 Uhr gieng endlich die Kloſterthuͤre auf. Sein
Herz ſchlug ihm laut, er konnte ſich nicht halten,
und gieng einige Schritte weit vorwaͤrts in den
Garten. Eine Nonne kam heraus: er hielts fuͤr
Marianen und lief zitternd auf ſie zu; aber es
war Brigitte. Jeſus, Maria! ſagte ſie; eben
liegt Mariane in den letzten Zuͤgen; mach er,
daß er fort kommt. — Gott im Himmel! rief er
aus. — Jndem ward die Thuͤre wieder geoͤfnet,
und drey oder vier Nonnen ſtuͤrzten heraus. Er
ſprang, ohne daß ers wuſte, fort, indem Brigitte
einen Schrey that. Wie der Wind flog er die
Leiter hinauf, warf ſie mit dem Fuß um, und die
Leiter auf der Auſſenſeite hinab. Fort, fort! rief
er, ſie iſt todt! Zween Bedienten nahmen ihn in
den Arm, ſchmiſſen die Leiter um, und ſchleppten
ihn in den Wagen. Kommt nichts mehr? ſagte
der Mann zu Pferd. Nein, rief Siegwart, fort,
fort! Jndem flog der Wagen, wie der Wind da-
von. Siegwart lag ohnmaͤchtig drinnen. Sie
waren eine Stunde weit gefahren, als der Mann
vom Pferd abſtieg, einen Bedienten drauf ſitzen
ließ, und ſich in den Wagen ſetzte. Es war Roth-
fels. Siegwart war wieder etwas zu ſich ſelbſt
gekommen. Wo iſt denn Marians? fragte Roth-
fels. — Todt, todt! verſetzte Siegwart. — Fahrt
nach Steinfeld! rief Rothfels zum Kutſcher; ſo
ſchnell, als ihr koͤnnt! Der Wagen fuhr uͤber
das Feld hin nach der Landſtraſſe.
Gegen zwey Uhr morgens kamen ſie in Stein-
feld an, ohne daß Siegwart uͤber zwanzig Worte
mit Rothfels geſprochen hatte. Man weckte den
Bedienten, der unten ſchlief, mit ſo wenig Laͤrm,
als moͤglich; ſo, daß Kronhelm und Thereſe nicht
aufgeweckt wurden. Man legte unſern Siegwart
in ein Bette, wo er in einer Art von Schlummer
bis gegen Morgen halb ſinnlos lag. Bey Anbruch
des Tages erwachte er; nun ſah er erſt, daß er
in Steinfeld war; alles uͤbrige, was ſich die ver-
gangne Nacht mit ihm zugetragen hatte, kam ihm
noch wie ein Traum vor. Nach und nach kam
zu ſeiner Qual alles in ſein Gedaͤchtniß wieder zu-
ruͤck, und er fuͤhlte nun die Gewißheit und die
Groͤße ſeines Verluſtes nur zu lebhaft. Der G-
T t t
danke an den Tod ſeiner Mariane fuhr wie ein
Blitz durch ſeine Seele, und er ſtuͤrzte ſich auf ſei-
ne Knie und rief, indem ihm dicke Thraͤnen aus
den Augen ſchoſſen: Heiliger Gott, du haſt ſie
mir genommen! Nur noch Einen Wunſch hab ich
auf Erden: Laß mich ſterben! Heilige Mutter
Gottes, bitt fuͤr mich, und laß mich ſterben! —
Ach Mariane, Mariane, rief er, indem er aufſprang,
und die Haͤnde rang. Ach Vollendete, dieſe erſte
Thraͤne widm’ ich dir. Bald wird auch die |letzte
rinnen. — Noch vor wenig Tagen .. ach du
Heilige .. vor wenig Tagen lagſt du mir am
Herzen .. und nun biſt du todt, todt, todt! — —
Troſtlos gieng er nun aufs neu umher; warf ſich
wieder auf die Erde, bethete ſtill, doch ſo, daß die
Lippen ſich bewegten; und nachdem er ausgeweint
hatte, ſank er in einen Seſſel, und fiel in eine
Art von Betaͤubung ..
Kronhelm, der von Rothfels ſchon vorbereitet
war, trat nach einer Stunde leiſe in ſein Zimmer.
Siegwart ſah ihn ein paar Sekunden ſtier an, fuhr
auf, gieng eilig auf ihn zu, druͤckte ihn feſt ans
Herz, und rief mit groſſer Heftigkeit: Bruder,
Bruder! Kronhelm konnte lange nichts ſprechen,
und fuͤhrte ihn wieder nach dem Stuhl. Endlich
ſagte er: Jch bedaure dich unendlich. Gott was
iſt das fuͤr ein Schickſal! Siegwart ſah ſeinen
Schwager lang unbeweglich an. Endlich ſchoſſen
ihm die Thraͤnen in die Augen; er ſtand auf, und
verbarg ſein Geſicht an Kronhelms Buſen. Bru-
der, ſagte er, haſt du Trauerkleider? Jch bitte
dich, leih ſie mir! — Kronhelm ließ ſie ihm, nach
langem Weigern, bringen. Siegwart zog ſich
ganz ſchwarz an, und verlangte, ſeine Schweſter
zu ſprechen. Kronhelm ſagte, ſie ſchlafe noch; als
aber Siegwart ſich nicht abhalten laſſen wollte,
ſo ſprang er voran, um ſeine Frau auf die trauri-
ge Nachricht vorzubereiten. Thereſe war eben auf-
geſtanden, und ihr Bruder trat ins Zimmer. Er
umarmte ſie, ſprach kein Wort, und weinte bit-
terlich. Thereſe konnte vor Thraͤnen auch nicht
ſprechen. Endlich erzaͤhlte er in wenig Worten
ſeine ganze traurige Geſchichte, und verſank wieder
in| Stillſchweigen, und anſcheinende Gefuͤhlloſig-
keit.
Jm ganzen Schloß war eine allgemeine Trauer,
weil Kronhelm und Thereſe traurig waren. Roth-
fels hatte noch die Vorſicht gebraucht, Kronhelms
Bedienten, Marx, nach Marienfeld zu ſchicken,
und ſich heimlich zu erkundigen, ob eine junge
Nonne im Kloſter geſtorben ſey? Er kam den an-
dern Tag mit der Nachricht wieder: Eine junge
Nonne ſey geſtorben, und die Schweſter Brigitte
ſey — man wiſſe nicht warum? — ihres Dienſtes
entſetzt, und eingeſchloſſen worden. Man erzaͤhlte
dieſes unſerm Siegwart nicht, um nicht ſeinen
Schmerz aufs neu rege zu machen. Er fragte
auch nicht darnach, weil er Marianen |ſchon ge-
wiß fuͤr todt hielt.
Kein Menſch wagte es, den niedergedruͤckten
Siegwart zu troͤſten; denn fuͤr ihn war kein Troſt
auf Erden mehr. Mann konnte auch faſt gar nichts
mit ihm ſprechen, weil er von zehn Fragen kaum
Eine beantwortete. Er ſah immer ſeine Trauer-
kleider an, und weinte. Am dritten Morgen
ſuchte er ſeine Briefſchaften ſehr ſorgfaͤltig durch,
verbrannte alle ſeine Papiere, und band blos die
Briefe von Marianen mit einem perlenfarbnen
Band zuſammen, das ſie ihm einmal geſchenkt
hatte; auch legte er das Suͤckchen Tafft dazu, das
ſie ihm einmal gegeben hatte, ſeinen Finger zu ver-
binden. Jhren Ring trug er am Finger.
Hierauf gieng er zu Kronhelm, und ſagte: Haſt
du Briefe von — —? Kann ich nun ins Kloſter?
Kronhelm, der indeſſen Briefe bekommen hatte,
wagte es nicht, ein Wort zu ſagen, um ihn von
ſeinem Entſchluß abzubringen, und ſagte: Ja, ich
habe Briefe vom Pater Guardian; man erwar-
tet dich. Hier iſt auch ein Brief vom Pater An-
ton. Siegwart brach ihn auf, las ihn haſtig
durch, weinte heftig, und druͤckte ihn mit den
Worten an den Mund: O du Heiliger, wie bin
ich ſolcher Liebe werth? — Nach einer Pauſe wen-
dete er ſich zu Kronhelm: Willſt du mir morgen
deinen Wagen nach dem Kloſter leihen? — Schon
ſo fruͤh? fragte Kronhelm. Ach Geliebter, war
die Antwort; hab ich doch genug in dieſer Welt
gelebt. —
Kronhelm ſagte Thereſen, daß ihr Bruder mor-
gen ſchon ins Kloſter wollte. Sie weinte, aber
ſie wagte es auch nicht, ihrem Bruder abzura-
then. Alſo machte man die traurige Anſtalt zu
ſeiner Abreiſe. Siegwart bat ſich von Kronhelm
als die letzte Gabe die Trauerkleider aus, die er
hatte. Kronhelm konnte ihm vor Thraͤnen nicht
antworten. Er, ſeine Frau, ihr Bruder, und
Rothfels ſaſſen den letzten traurigen Abend beyſam-
men. Keines konnte ſprechen; endlich fieng Sieg-
wart, ſehr geruͤhrt, ſelber alſo an: Meine Lieben!
Weinet nicht zu ſehr! Bald hats ein Ende. Kron-
helm, du haſt viel gelitten, und auch du, Thereſe;
und doch nahms ein Ende. Und doch ſeyd ihr
noch ſo fern vom Grab, wo alles Leiden aufhoͤrt,
und ich bin ihm ſchon ſo nah. Hat doch Maria-
ne ausgelitten; warum ſollt ich nun nicht alles
tragen? Damals wars noch ſchwer, als ich mit
ihr trug, und ſie mit mir, aber nun … iſt alles
leicht ..... Ach, daß ich euch troͤſten muß!
Jhr verliert nur mich, und Jch habe ſie verloh-
ren … Lieben Freunde, ihr habt viel gethan an
mir .. und beſonders Sie, mein Rothfels, in den
letzten Tagen. Gott vergelts Euch! … waͤrs
auf Euch angekommen, ich waͤre gluͤcklich. Gott
hats anders gewollt, und ich mutre nicht. Jſt
ſie doch in der Hand des Allmaͤchtigen, und wird
mir bald entgegen kommen .. Darum troͤſtet Euch!
Jch werde gluͤcklich .. Glaubet mir, im Himmel
werd ich ihr erzaͤhlen, was ihr an mir thatet.
Gott wirds ſegnen. Jch kann nichts |vergelten.
Dieſe kurze Zeit noch, daß ich lebe, will ich fuͤr
Euch bethen. — .. Warum weineſt du, mein Kron-
helm, und du, meine Schweſter? Soll ich mit
euch weinen? Ja, ihr wart mir lieb und theuer;
ach, ihr wißt es ſelbſt, wie mein Leben euch zu
Dienſte ſtand! … Aber nun iſts aus; nun ge-
hoͤr ich Gott .. und meinem Engel .. und es wird
bald ausgeweint ſeyn. .. — Hier konnt er vor
Schluchzen nicht weiter reden. Allen wars, als ob
das Herz ihnen berſten wollte .. Siegwart nahm
ein Glas mit Wein, und ſagte: Seht! meine
Thraͤnen flieſſen in den Wein. Es ſind Thraͤnen
der Freundſchaft, der Trennung und des Danks.
Jedes trink’ und wein’ in das Glas! Trink, mein
Kronhelm, und du, meine Schweſter, und du,
mein Rothſels! … Gebt nun mir das Glas,
und laßt michs vollends leeren! .. Und nun gebt
mirs mit, daß es mir heilig ſey bis an mein En-
de! … O, Gott ſegn euch, meine Lieben, fuͤr
die vielen Thraͤnen! .. Kronhelm, du begleiteſt
mich, das weis ich .. Und dich, meine Schwe-
ſter, ſeh ich wieder. Du beſuchſt mich, wenn du
ſtaͤrker biſt: und auch meinen Rothfels ſeh ich wie-
der. Vielleicht zieht ſich noch mein Leben ein paar
Jahre hin. Jch bin nah bey euch, und ſeh euch
wieder. .. Darum weint jetzt nicht ſo ſehr! ..
Thereſe, morgen kuͤß’ ich noch einmal dein Kind,
wenn es ſchlaͤft. Allen Segen des Himmels will
ich ihm erflehen. .. Jch bitte dich, ſieh mich mor-
gen nicht mehr! Du biſt ſchwach, und ich muß
ſtark ſeyn, denn ich geh ja ein ins Land der Ruhe. —
Thereſe verſprach, ihn Morgen nicht zu ſehen.
Er druͤckte ſie mit Schluchzen an ſein Herz.
Beyde konnten nicht ſprechen.
Den andern Morgen um vier Uhr gieng Sieg-
wart in das Zimmer, wo Thereſens Kind ſchlief.
Er kuͤßte den kleinen Engel, und muſte weggehn,
um das Kind durch ſein Schluchzen nicht zu wek-
ken. Gott, rief er aus, wie ruhig ſchlaͤft es! war-
um koͤnnen wir nicht Kinder bleiben? — Hierauf
ſetzte er ſich mit Kronhelm in den Wagen, und
fuhr weg. Sein uͤbriges Vermoͤgen, was er nicht
ins Kloſter mitnahm, vermachte er ſeiner Schweſter
Salome die ihm tauſend Thraͤnen nachweinte.
Rothfels blieb zuruͤck, um Thereſen zu troͤſten.
Er war im Wagen ruhiger und ſtaͤrker als
man erwarten konnte. Der Gedanke ans Kloſter
war etwas Neues, und beſchaͤftigte ſeine Seele;
auch der Gedanke an den nahen Tod troͤſtete ihn.
Seine Seele ward ſtaͤrker, je ſchwaͤcher er ſeinen
Koͤrper fuͤhlte.
Kronhelm rieth ihm, ſeine Geſchichte ſorgfaͤltig
zu verbergen|, weil ſie ihm im Kloſter ſchaden
koͤnnte. Siegwart verſprachs; nur meinem |lie-
ben Pater Anton, ſagt’ er, kann ich nichts ver-
helen. Er ſoll der Vertraute meines Jammers
ſeyn, bis das Grab mich einſchlieſt.
Den Nachmittag kamen ſie im Kloſter an.
Kronhelm ließ dem Guardian durch den Thorwart
ſeine, und ſeines Schwagers Ankunft melden. Der
Guardian empfieng ſie mit der groͤſten Freund-
ſchaft, und erinnerte ſich unſers Siegwarts wieder
mit Vergnuͤgen. Wir dachten ſchon, ſagte er, Sie
haͤtten uns vergeſſen, weil uns Pater Philipp keine
Nachricht mehr von Jhnen geben konnte. Beym
Namen: Pater Philipp fieng unſerm Siegwart
das Herz an, zu ſchlagen; denn er hatte wirklich
bey den mancherley Zerſtreuungen, und den vielen
Leiden der Liebe, ſchon ſeit langer Zeit kaum an
Pater Philipp gedacht, geſchweige denn an ihn ge-
ſchrieben. Weil Kronhelm ſah, daß dieſe Anrede
ſeinen Schwager in Verlegenheit ſetzte, ſo
nahm er an ſeiner Statt das Wort, und ſagte:
Siegwart habe eine Zeither viel gelitten; aber doch
ſey ihm das Kloſter niemals aus dem Sinn gekom-
men, ob er gleich nicht im Stand geweſen ſey, dem
Pater Philipp Nachricht von ſich zu geben.
Sie waren kaum etliche Minuten da, ſo kam
der redliche Pater Anton der von Siegwarts An-
kunft gehoͤret hatte, ins Zimmer. Siegwart flog
ihm entgegen und in ſeinen Arm. Mein Vater!
Mein Sohn! riefen ſie zu gleicher Zeit aus, und
weinten.
Der Pater Guardian fragte hierauf unſern
Siegwart, ob er nun im Ernſt geſonnen ſey, ins
Kloſter zu treten! und auf ſeine Bejahung ließ er
ihm ſeinen Aufenthalt bey zwey |andern Novizien
anweiſen. Kronhelm blieb noch denſelben Tag da,
und ſchlief drauſſen vor dem Kloſter bey dem Klo-
ſteramtmann. Nachdem er mit dem Guardian
wegen des Geldes, das Siegwart mit ins Klo-
ſter bringen ſollte, alles in Richtigkeit gebracht hatte,
ſo gieng er am Abend mit dem Pater Anton und
ſeinem Schwager im Kloſtergarten ſpatzieren. Die-
ſem kamen alle die Empfindungen wieder ins Ge-
daͤchtniß, die er ehemals in ſeiner gluͤcklichern Ju-
gend hier gehabt hatte. Er erinnerte ſich ſeines
ſeligen Vaters, mit dem er das erſtemal hier gewe-
ſen war, und des verſtorbnen rechtſchaffnen Pater
Gregors. Gott, wie war jezt alles ganz anders!
Es war ihm nicht moͤglich, ein Wort vorzubringen;
er konnte nichts als ſchluchzen. Der Schmerz
und die gewaltige Bewegung druͤckten ihn faſt zu
Boden. Pater Anton und ſein Kronhelm, zwi-
ſchen welchen er gieng, konnten auch nichts ſpre-
chen; Anton, vor groſſer Freude, weil er ſeinen lie-
ben jungen Freund wieder ſah; Kronhelm, weil er
ſeinen Schwager, ſeinen innigſten und treuſten
Freund, hier in ſeinem troſtloſen Jammer allein
zuruͤcklaſſen ſollte.
Kronhelm kam den andern Morgen zu ſeinem
Siegwart, um Abſchied von ihm zu nehmen.
Lange ſtund er bey ihm, und konnte doch kein Wort
ſagen. Oft wollte er anfangen, aber die Worte
ſtarben ihm auf der Zunge. Endlich fieng Sieg-
wart ſelber an: Unſre Thereſe wird wohl auf dich
warten. Gib ihr dieſen Kuß in meinem Namen!
Bruder, du bedaurſt mich; aber komm ich doch
dem Grabe immer naͤher. Jſt doch ſchon das Klo-
ſter ein Grab auf der Welt fuͤr die Lebendigen …
Leb wohl, hab Dank fuͤr alle Liebe! … Hier er-
ſtickten Thraͤnen ſeine Reden. Kronhelm fiel ihm
um den Hals. Leb ewig wohl! ſagte er, beſuch
uns! Gott ſtaͤrke dich! … Er riß ſich von ihm
los, und wollte allein wegeilen. Aber Siegwart
folgte ihm nach bis an den Kutſchenſchlag. Sie
umarmten ſich; Kronhelm ſtieg ein, zog das Kut-
ſchenglas auf, und fuhr weg.
Nun eilte Siegwart auf die Zelle ſeines lieben
Pater Anton, und ließ ſeinem Schmerz und | ſeinen
Thraͤnen freyen Lauf. Anton ließ ihn ausweinen,
und verſuchte es nicht, ihn zu troͤſten. — Ver-
zeihen Sie, ſagte Siegwart, ich weine nicht um
die Welt; ſie hat keine Freuden mehr fuͤr mich.
Jch habe viel gelitten, theurer Vater! ach, unaus-
ſprechlich viel. Sie ſollen alles wiſſen, aber jetzt
nicht! Jetzt kann ich nichts, als weinen. — Ge-
troſt, mein Sohn! ſagte Pater Anton; Du ſollſt
Ruhe finden! Jch hab auch viel gelitten. Will
dirs auch erzaͤhlen. Du ſollſt viel aus meiner Ge-
ſchichte lernen. Sie iſt auch traurig; aber fremde Lei-
den ſind ein Troſt fuͤr den Ungluͤcklichen. Jch hab
endlich Ruh gefunden; Gott gebe ſie dir auch!
Siegwart gieng auf ſeine Zelle, ſtuͤtzte ſich auf
ſeine Hand, und dachte nun zum erſtenmal wieder
an ſeine Mariane. Er ſah alles in der Zelle an.
Gott! dachte er, in einem ſolchen engen, truͤben
Aufenthalt hat mein Engel, die Vollendete, gedul-
det und ausgerungen. Gott! um meinetwillen! —
Gern will ich auch alles dulden. Hier auf dieſem
Bette ſoll mein Geiſt den letzten Kampf kaͤmpfen,
und ſich dann, aus dieſer Zelle, aufſchwingen, und
auf ewig bey ihr ſeyn... Ewig, Ewig..! O!
was ſind die Leiden dieſer Zeit: Heilige, gern will
ich dulden; denn ich ſoll ja ewig, ewig, bey dir
ſeyn! — So ſchwaͤrmte er ſich in uͤberirrdiſche
Empfindungen hinein, und vergaß Welt, und alles
um ſich her.
Der Guardian und die andern Paters begegne-
ten ihm mit Freundſchaft und Liebe, und unter-
ſchieden ihn, da er mehr Vermoͤgen mit ins Klo-
ſter brachte, ſehr von den beyden andern, die mit
ihm das Noviziat antreten ſollten. Der Eine, Bru-
der Porphyr, war ein feuriger, oft ausgelaſſener
Juͤngling, der eher zum Herrſchen, als zum Ge-
horchen gebohren war, und beſſer einen Officier,
als einen ſtillen und geduldigen Moͤnch abgegeben
haͤtte. Aber ſein Vater hatte mehrere Kinder, und
ein maͤſſiges Vermoͤgen. Alſo hielt ers fuͤr ein Gluͤck,
daß ſein Sohn hier eine Verſorgung finden ſollte. —
Der andre Bruder Jſidor, war ein dummer,
ſchlaͤfriger Menſch, der ſein Leben ſo hintraͤumte,
ohne viel dabey zu denken. Seine Mutter, ein
bigottes Weib, hatte ihn, weil ſie bey ſeiner Geburt
faſt ſtarb, von Jugend auf zum Moͤnch beſtimmt,
und ihm ſchon, als Knaben, eine Kapuzinerkutte
angelegt. Fragte man den Knaben, was er wer-
den wollte? ſo ſagte er: ein geiſtlicher Herr. Die
Mutter ſagte ihm, im Kloſter koͤnn er ohne viele
Muͤh ein Heiliger werden; und dem Knaben war
alles recht, was nicht viele Muͤhe koſtete. Der
Beichtvater ſeiner Mutter, ein Kapuziner, kam
oft in ſein Haus. Sein dicker Bauch gefiel ihm,
und ſeine Erzaͤhlungen von der Ruh im Kloſter
wurden von dem Knaben begierig angehoͤrt. Man
that ihn auf die Schule; er lernte da ſo wenig,
als er brauchte; auf der Univerſitaͤt in Dillingen
trank er ſein Glas Bier in Ruhe, und gieng nun,
als er alt genug war, ins Kloſter.
Keiner von beyden war fuͤr unſern Siegwart
geſchaffen. Bruder Porphyr wollte immer nur luſtige
Univerſitaͤtsſtuͤckchen von ihm wiſſen, und war ihm
mit Erzaͤhlungen ſeiner Streiche, die er in der
Welt getrieben hatte, laͤſtig. Wenn Siegwart in
tiefer Melancholie da ſaß, und mit ſeiner Seele
ganz bey Marianen war, ſo ruͤttelte er ihn, und
wollte ihn durch Spaß munter machen; und einem
Traurigen iſt nichts widriger, als eine unzeitige
Luſtigkeit. — Jſidor ſprach gar nichts, ſchlief groͤ-
ſtentheils, oder ſaß unthaͤtig und gedankenlos da,
und nahm an gar nichts Antheil. Siegwart nahm
alſo ſeine Zuflucht zur einſamen Andacht, der er, ſo
lang die Witterung noch gelind war, in einer Grotte
im Garten pflegte; oder er ſchrieb kurze Aufſaͤtze,
die an Gott oder Marianen gerichtet waren; oder
er ſaß bey ſeinem lieben Pater Anton auf der
Zelle. Gleich in den erſten Tagen erzaͤhlte er ihm,
mit tauſend Thraͤnen, und aufs unpartheyiſchſte
ſeine Geſchichte. Der alte Mann, der der Welt
ſchon ganz abgeſtorben war, wurde oft im Jnner-
ſten dabey bewegt, und nahm an Marianens und
an ſeines jungen Freundes Schickſal ſoviel Antheil,
als ein Juͤngling. Er war offenherzig genug, un-
ſerm Siegwart verſchiedne Abende nach einander
ſeine ganze Geſchichte, die oft ſehr traurig war, zu
erzaͤhlen, und ihm auch die Verirrungen, in die er
ſich verwickelt hatte, nicht zu verſchweigen. Unſer
Siegwart hoͤrte ihm mit tiefer Ruͤhrung zu; oft
vergaß er dabey ſeiner eignen Ungluͤcksfaͤlle; oft
aber ward er wieder durch die entfernteſte nur an-
ſcheinende Aehnlichkeit aufs lebhafteſte an ſeine eig-
nen Schickſale erinnert, ſo daß Anton manche
Viertelſtunde in der Erzaͤhlung inne hielt, und
mit ihm weinte.
Siegwart konnte nicht begreifen, wie ein Mann,
der ſoviel ausgeſtanden hatte, wie Pater Anton,
mit ſeinem empfindungsvollen, tieffuͤhlenden Her-
zen nicht nur ſolche Leiden| uͤberleben, ſondern wie-
der zu einer ſolchen Ruh| gelangen koͤnnte; er
aͤuſſerte auch ſeine Verwunderung daruͤber, und
glaubte, ihm wuͤrde dieſes nicht moͤglich ſeyn. Lie-
ber Xaver, ſagte Anton, ich habs auch nicht
geglaubt, als der Schmerz noch neu in meiner
Seele, und ich noch ein Juͤngling war. Jn der
Jugend fuͤhlt man alles noch ſo ſtark, und traut
ſich auf der einen Seite zu wenig, und auf der an-
dern zu viel zu. Leiden glaubt man nicht tragen
zu koͤnnen. Jede Leidenſchaft, glaubt man, muͤſſe
dieſen Koͤrper gleich zertruͤmmern; aber in der
Jugend kann der Koͤrper weit mehr tragen, als
im Alter. Drum gab Gott, dem das Leben eines
Menſchen theuer iſt, uns gewoͤhnlich nur ſo lang
ſtarke Leidenſchaften, als der Koͤrper ſtark genug
iſt, ihre Erſchuͤtterungen zu tragen. Mit dem
Wachsthum der Jahre nehmen ſie ab, und die
Reizbarkeit der Empfindung auch. Siehſt du,
Freund, ſo wird der Alte ruhig, in deſſen Bruſt es
vorher noch ſo ſehr geſtuͤrmt hat. Die Jugend
half ihm die Stuͤrme aushalten, und nach dem
Sturm kommt Ruhe. Alſo iſt ſie ſehr natuͤrlich,
ob es gleich auch eine kuͤnſtliche Ruhe giebt, die
von guten Grundſaͤtzen, von Erfahrung, Philoſo-
phie, und Anwendung der Religion erzeugt wird.
Der Welt waͤre ſchlecht geholfen wenn Ungluͤck
des Herzens jeden Juͤngling ſogleich toͤdtete; denn
mehrentheils ſind die Juͤnglinge, die tief empfin-
den, deren groͤſtes Ungluͤck ihr zu fuͤhlendes Herz
iſt, die edelſten, die der Welt am meiſten dienen
koͤnnen. Du biſt alſo dich der Welt noch ſchuldig,
und muſt auf deine Selbſterhaltung denken! Jch
weiß wohl, daß der Wunſch nach dem Tod, und
das heißt Sehnen darnach, dir, und dem Juͤngling
uͤberhaupt ſehr natuͤrlich iſt. Der Juͤngling liebt
alles Neue, Ungewoͤhnliche und Feyerliche, und
was iſt feyerlicher als der Uebergang aus dieſem
Leben in ein anderes, uns ſo wenig Bekanntes!
Der oͤftere Gedanke an den Tod wird uns zuletzt
gewoͤhnlich; das Lachende verliert ſich, und wir
ſehn den Tod als ein Beingerippe an, vor dem
man ſich deſtomehr entſetzt, je naͤher man ihm
kommt. — Jch geſtehs, du haſt viel ausgeſtanden;
Marianens Verluſt muß dir unausſprechlich ſchmerz-
lich, und der Gedanke, wieder mit ihr vereiniget zu
werden, muß dir der ſuͤſſeſte ſeyn; aber, lieber
Freund, zu ſehr und zu lebhaft muſt du ihm nicht
nachhaͤngen! Denn daruͤber wuͤrdeſt du unbrauch-
bar fuͤr die Welt und fuͤr das Kloſter, in dem du
jetzt doch ein Mitglied werden willſt. Du wuͤrdeſt
nach und nach deine Geſundheit und dein Leben
U u u
ſchwaͤchen, uͤber das du doch nicht ſoviel Gewalt
haſt, daß du es ablegen kannſt, wann du willſt.
Glaub nicht, daß fuͤr dich kein Gluͤck und keine
Ruhe mehr auf Erden iſt! Gott, der dieſes
dir genommen hat, kann dirs wieder geben, und
aus Erfuͤllung unſrer Pflichten fließt die meiſte Ruhe.
Siegwart weinte, und verſprach, ſeinen Ver-
druß des Lebens, wo moͤglich, zu beſiegen, we-
nigſtens nichts vorzunehmen, was ſeinen Tod be-
ſchleunigen koͤnnte. Er ſprach jetzt weniger vom
Tode, wenn er bey ſeinem lieben Pater Anton
war. Er ſah wohl ein, daß er ſchuldig ſey, fuͤr
ſeine Erhaltung zu ſorgen, und ſich nicht dadurch
zu ſchwaͤchen, daß er ſeinem Gram beſtaͤndig nach-
hieng. Aber doch betaͤubte ſein Gefuͤhl ge-
woͤhnlich ſeine Ueberzeugung; er konnte ſich, zu-
mal wenn er allein war, ſelten aus ſeiner Melan-
cholie herausreiſſen; oft dachte er halbe Naͤchte
durch an ſeine Mariane; ſie ſchien ihm wachend
und im Schlummer zu winken, und dann bemaͤch-
tigte ſich ſeiner ein ungeduldiges Sehnen nach dem
Tod; er bat Gott darum mit lautem Weinen;
und dann machte er ſich ſelber wieder Vorwuͤrfe,
und bath Gott ſeinen Fehler ab.
Nach drey Wochen, die er nun im Kloſter zu-
gebracht hatte, ward ihm vor dem Altar die Klei-
dung angelegt. Sein ſchwarzes Kleid, das er in
der Kirche ablegte, ward mit einer braunen Kutte
vertauſcht, und das Noviziat fieng ſich an. Er
bekam den Kloſternamen Georg. Er mußte nun alle
die Geſchaͤfte und Uebungen des Gehorſams an-
treten, die ein Neuangehender im Probejahr aus-
zuhalten hat. Der damalige Novizmeiſter war ein
ſtrenger und wunderlicher Mann, der den Novi-
zien oft laͤcherliche Uebungen auflegte. So mußten
ſie, zur Uebung im Gehorſam, Holz aus der
Holzkammer holen, und wenn ſie ziemlich viel
geholt hatten, mußten ſie es wieder zuruͤcktragen.
Es ward ihnen warmes Eſſen vorgeſetzt, und wenn
ſie eben eſſen wollten, ward es wieder weggenom-
men, und ſie mußten trocknes Brod eſſen. Jn
der Bibliothek mußten ſie im kalten Winter die
Buͤcher |aus einem Schrank in den andern ſetzen,
und dann wieder zuruͤck in den vorigen Schrank
tragen; kurz: immer Arbeiten ohne Zweck ver-
richten.
Dem Bruder Porphyr gefiel dieſes ſehr uͤbel.
Er beklagte ſich oft daruͤber gegen unſern Sieg-
wart, und ſagte, daß er dieſes nicht aushalte, und
in einem halben Jahre geh er wieder aus dem Klo-
ſter. Er wolle lieber jeden andern Stand, als
dieſen Sklavenſtand erwaͤhlen, da er blos allein von
dem Eigenſinn und den Grillen eines naͤrriſchen
Novizmeiſters abhaͤnge. Siegwart aber ertrug
ſein Loos, mit Gelaſſenheit, ob er wol ſonſt frey
genug dachte. Er glaubte, dieſe Unterwerfung
Gott ſchuldig zu ſeyn, und dieſes Schickſal verdient
zu haben; denn bey ſeinen beſtaͤndigen Andachts-
uͤbungen, und in der fortdaurenden Einſamkeit
bekam ſeine lebhafte Einbildungskraft wieder einen
neuen Schwung, und lenkte ſich auf die Seite der
Andaͤchtigen, wohlgemeynten Schwaͤrmerey. Es
ſtiegen ihm allmaͤhlich verſchiedne Zweifel und
Gewiſſensſcrupel wegen ſeines vorigen Lebens auf,
da er ſich Gott ſchon einmal gewidmet hatte, und
ſich nun durch die Liebe zu Marianen wieder von ihm
ab, und zur Weltliebe hatte verleiten laſſen; da er
ſogar auf den Vorſatz gefallen war, Gott und der
Kirche eine Braut zu entziehen. Dieſe Vorſtellun-
gen machten ihn aͤngſtlich, und brachten eine neue
Art von Melancholie in ihm hervor, die noch tie-
fer, als die vorige, ſich in ſeine Seele eingrub.
Er machte ſich nun ein Gewiſſen und ſogar ein Ver-
brechen daraus, an ſeine Mariane zu denken, die
ihm doch unwillkuͤhrlich und beſtaͤndig vor der See-
le ſchwebte. Verſchiedne Aufſaͤtze, die er hinter-
laſſen hatte, zeugen von dieſem neuen und ſchreck-
lichen Kampf ſeiner Seele, unter dem er faſt er-
lag, und unter welchem ſeine Geſundheit ſehr litt.
Er hatte nicht einmal das Herz, ſeinem P. Anton
etwas davon zu entdecken. Er glaubte nun dafuͤr
buͤſſen zu muͤſſen, und trug alle Proben des Ge-
horſams, die ihm der Novizmeiſter auflegte, mit
Gelaſſenheit und Stille. Die Klagen des Bruder
Porphyrs ſuchte er zu widerlegen, und gab ſich
Muͤhe, ihn zu bekehren, und in ihm den Ent-
ſchluß hervorzubringen, vom Kloſter nicht abtruͤn-
nig zu werden. Aber ſeine Vorſtellungen halfen
nichts bey dem ziemlich leichtſinnigen Porphyr.
Er wendete ſich alſo mit ſeinen Bemuͤhungen an
den ſchlaͤfrigen Bruder Jſidor, der ſich auch oft
uͤber die vielen Arbeiten und Beſchwerlichkeiten be-
klagte. Seine geiſtliche Vorſtellungen halfen bey
dieſem wenig; aber deſto mehr die Winke, die er
ihm gab, daß dieſe Probe ja nur ein Jahr daure, und
daß dann Ruhe und Bequemlichkeit nachfolge; er
duͤrfe nur die Paters anſehen, welch ein ruhiges
Leben dieſe fuͤhrten. Dieſes gefiel dem phlegmati-
ſchen Jſidor; er ſchielte bey ſeinen Arbeiten immer
auf die andern Paters, die in Ruh und groͤſten-
theils in Faulheit und Unthaͤtigkeit ihr Leben hin-
brachten. Er ſehnte ſich alſo nach dem Ende dieſes
Probejahrs, um dann ausruhen, und als Pater
ſein Leben in ewiger Unthaͤtigkeit hinbringen zu
koͤnnen. Jn dieſer Hofnung verſprach er unſerm
Siegwart, das Probejahr auszuhalten und im Klo-
ſter zu bleiben. Daruͤber triumphirte Siegwart
bey ſich ſelbſt, und hielt es fuͤr eine Frucht ſeiner
frommen Vorſtellungen, ſo daß er glaubte, durch
dieſe Bekehrung ein groſſes gutes Werk gethan zu
haben.
Die Poͤnitenzen oder Bußuͤbungen waren auch
ſehr ſtreng, beſonders das Faſten und das Geiſſeln.
Die Paters mußten oft bey Nacht in ein dunkles
Gewoͤlde gehen, und ſich mit den Stricken, die
ſie an ſich haͤngen hatten, auf den bloſſen Ruͤcken
geiſſeln. Das Schlagen gab ein Getoͤſe, daß das
ganze Gewoͤlbe wiederhallte. Unſer gewiſſenhafter
Siegwart ſchlug ſich allemal blutruͤnſtig, ſo daß er
eine Menge Bluts verlohr. Darunter litt ſeine
Geſundheit, bey dem ohnedieß immer nagenden
Seelenkummer, noch mehr. Seine Geſichtsfarbe
verlohr ſich voͤllig, und ſeine Kraͤfte nahmen zuſe-
hends ab. Umſonſt warnte ihn P. Anton, ſich zu
ſchonen, und gegen ſeinen eignen Koͤrper nicht mehr,
als noͤthig waͤre, zu wuͤten. Bruder Porphyr
lachte ihn oft aus, denn er hatte gemerkt, daß
ſich die Paters entweder blos mit der Hand auf
den Ruͤcken, oder mit den Stricken blos an die
Saͤulen, oder an die Wand ſchlugen. Dieſe Liſt
machte er nach, und rieth unſerm Siegwart an,
es auch nachzumachen. Dieſer hielt aber ſeinen
Rath fuͤr gottlos, und betruͤbte ſich uͤber ſeinen
Leichtſinn. Jſidor hingegen war das eine angeneh-
me Entdeckung, die er ſich ſehr zu Nutze machte.
Siegwart ſah nun auch ein, daß das Kloſterle-
ben — wie das meiſte auf der Welt — von auſſen
ſchoͤn glaͤnzt, wenn mans aber genauer kennen
lernt, tauſend Maͤngel und Unvollkommenheiten
hat; er ſah taͤglich mehr den innern Krieg, den
Neid, und die Misgunſt, die unter den Paters
gewoͤhnlich herrſcht. Er ſah, daß faſt keiner ein
aufrichtiger Freund des andern, und daß das Klo-
ſter ein Sammelplatz faſt aller haͤßlichen menſchli-
chen Leidenſchaften iſt. Faſt alle Tage gab es Zank,
und Sticheleyen, und Verhetzungen. Er betruͤbte
ſich heimlich daruͤber, hielt ſich aber deſto mehr ver-
bunden, ſich von dieſen Schlacken rein zu halten,
und ſein Herz unter den Unheiligen Gott zu wid-
men und zu heiligen.
Den meiſten Kummer aber, der am ſchmerzlich-
ſten heimlich an ſeiner Seele nagte, machte ihm,
daß er, zumal an den truͤben, einſamen Winter-
tagen, ſo unthaͤtig in ſeiner Zelle ſitzen mußte,
ohne in einem nuͤtzlichen und vernuͤnftigen Buche
leſen zu duͤrfen; denn die Bibliothek enthielt faſt
groͤſtentheils Legenden, und er durfte noch dazu nur
die Buͤcher leſen, die ihm der Novizmeiſter gab,
und die ſehr ſchlecht gewaͤhlt waren. Seine Dich-
ter, und uͤberhaupt kein Buch hatte er mit ins
Kloſter bringen duͤrfen. Jedes Buch, das ins
Kloſter kam, wurde erſt viſitirt, und unter dieſen
durſte nie kein Dichter, am wenigſten ein prote-
ſtantiſcher Schriftſteller ſeyn. Tauſendmal ſehnte
er ſich nach ſeinem lieben Klopſtock, zu dem er
ſonſt in Freud und Leid ſeine Zuflucht genommen
hatte. Auch ſchmachtete er oft, wenn ſeine Seele
truͤb und wehmuͤthig war, umſonſt nach ſeiner
treuen Freundin, der Muſik, um ſeinen Schmerz
auf der Violine weinen, oder toben, oder auf der
ſanften Floͤte ſchmachten zu laſſen. Denn im Klo-
ſter durfte man keinen Laut von einem Jnſtrument
hoͤren laſſen. Seine einzige Beſchaͤftigung war,
die Stellen, die ihm aus Haller, Kleiſt, und Klop-
ſtock im Gedaͤchtniß geblieben waren, und kleine
Auſſaͤtze an Gott und Marianen, und beſonders
eine ziemliche Anzahl melancholiſcher, elegiſcher Ge-
dichte, die ſeine ganze Geſchichte und den Zuſtand
ſeines Herzens ſchilderten, niederzuſchreiben.
Pater Anton ſah den guten Juͤngling ſchmach-
ten, und ſichtbar nach und nach dahin ſterben, ohne
ihn troͤſten zu koͤnnen. Er litt mit ihm, und oft
ſaſſen ſie ganze Stunden beyſammen, |ſahn ſich
wehmuͤthig und ſchmachtend an, und fuͤhlten jeden
Augenblick der Zeit, wie er truͤb und freudenleer
dahin ſchlich.
Jm Fruͤhjahr nahm ihn Pater Anton gewoͤhn-
lich auf die benachbarten Doͤrfer mit, wo er All-
moſen einſammelte, predigte, und dem Bauervolk
in geiſtlichen und weltlichen Anliegen guten Rath
ertheilte. Unſer Siegwart war bey den Bauren
ſehr beliebt, weil er ſie auch auf eine ruͤhrende
und eindringende Art zur Froͤmmigkeit ermahnte.
Sie nannten ihn in der ganzen Gegend den ſchwer-
muͤthigen Bruder Georg. Aber die Liebe dieſer
guten Leute war nicht im Stande, einen Stral
von Heiterkeit und Ruhe in ſein truͤbes Herz zu
gieſſen. Faſt alles ließ ihn kalt; auch ſogar der
Fruͤhling, und die wieder auflebende Natur, die
ſein Herz ſonſt immer mit |neuer Wonne angefriſcht
hatte. Statt der Freude, die der Fruͤhling jeder
jugendlichen Seele, auch ſogar dem Alter bringt,
brachte er ihm nichts als Seufzer, aͤngſtliches
Schmachten, und wehmuͤthige Wiedererinnerung
an den verbluͤhten Fruͤhling ſeines Lebens, und die
ehemaligen Freuden und ſuͤſſen Schmerzen ſeiner
ungluͤcklichen Liebe. Er gieng kalt und fuͤhllos, oder
weinend auf bebluͤmten Wieſen und zwiſchen bluͤ-
henden Fruchtbaͤumen hin; die Nachtigall ſang ihm
Grablieder; er ſah aus den Bluͤthen Tod hervor-
keimen, wenn er ihre kleinen Blaͤtter, vom Wind
abgeſchuͤttelt, haufenweiſe, wie Schnee herabſin-
ken ſah; er legte ſich unter die Kirſchbaͤume, ließ
von den Bluͤthen ſich bedecken, und dachte: ſtuͤrb’
ich doch auch mit ihnen! Wenn er auf der Wieſe
einen Haufen Blumen bey einander ſtehen ſah, ſo
erhub ſich ein Sehnen in ſeiner Bruſt, unter die
Blumen ſich zu legen, und zu ſterben. Sein Blick
war immer mehr zum Himmel gekehrt, als auf die
Erde; wenn er hoͤrte, daß ein Menſch geſtorben ſey,
ſo pries er ihn gluͤcklich, und wuͤnſchte ſich an ſeine
Stelle. Wenn ihn Pater Anton Abends nicht im
Garten antraf, ſo ſuchte er ihn auſ dem Gottesacker,
wo er ihn gewoͤhnlich auf dem Grab des P. Gre-
gors fand. Er fuͤhlte, daß ihn der innerliche Gram,
das viele Faſten, und das ſtrenge Geiſſeln nach und
nach abzehrten und entkraͤfteten, und fuͤhlte es gern.
Wenn der Schlaf, das Bild des Todes kam, ſo
flehte er zu Gott, ihn bald in den ewigen Schlum-
mer einzuwiegen, aus dem kein Aufſtehn mehr zu
Schmerz und Thraͤnen ſeyn wird. —
Als ein halbes Jahr um war, gieng Bruder Por-
phyr wieder aus dem Kloſter. Man ließ ihn gern
gehn, weil er allerley ſchlechte und muthwillige Strei-
che gemacht hatte. Als man aber unſern Siegwart
fragte, ob er bleiben wollte? ſo ſagte er mit Freuden
Ja, ohngeachtet ihn der Novizmeiſter ſo hart hielt.
Kronhelm beſuchte ſeinen lieben Siegwart ein
paarmal im Kloſter. Er erſchrack, als er ihn ſo blaß
und abgezehrt fand. Er wendete alle Muͤhe an, ihn
zu uͤberreden, das Kloſter wieder zu verlaſſen, und
ſich nicht ſelbſt ins Grab zu bringen; aber alle ſeine
Zaͤrtlichkeit und Liebe war vergeblich angewendet.
Siegwart haͤtte es fuͤr einen Kirchenraub gehalten,
wenn er haͤtte wieder in die Welt zuruͤck kehren wol-
len. Die Furcht ſeines Kronhelms, daß er bald
ſterben moͤchte, ſchmeichelte ihm, und er hoͤrte von
nichts lieber reden, als von ſeinem Tode. Einmal
bekam er auch die Erlaubniß, ſeine Schweſter The-
reſe zu beſuchen. Dieſe, ſo gluͤcklich ſie auch in der
Liebe ihres Kronhelm war, konnte doch, ſo lang ihr
Bruder gegenwaͤrtig war, nichts als weinen. Sie
ſah ihren Bruder, den ſie ſo unausſprechlich liebte,
nach und nach dem Tode welken; dieſer Anblick war
ihr unertraͤglich. Das ganze Schloß, das ſonſt ſo
gluͤcklich war, gerieth in Trauer. Siegwart ſaß ei-
nen Abend bey Kronhelm und Thereſen, die ihr
Kind auf dem Schoos liegen hatte. Das Kind
ſchlief; Siegwart ſah es an, mit Thraͤnen in den
Augen. Armes Knaͤbchen, ſagte er, du ſchlummerſt
jetzt ſo ruhig, und laͤchelft im Schlaf. Wenn du
aufwachſt, wird die Welt dir entgegen lachen, denn
du ſiehſt nirgends keine Sorge. Moͤchteſt du doch
ewig ein Kind bleiben, oder ſterben, eh das Juͤng-
lingsalter kommt! Wenn der Juͤngling aufwacht,
ach dann iſts gar anders. Tauſend Sorgen wachen
mit ihm auf, Leiden werden ſtets mit ihm geboh-
ren, deren Keim ſchon in der Seele liegt. Gebt
mir euren Kleiſt her, daß ich mein Lieblingsſtuͤck
wieder einmal leſe: Weh dir, daß du gebohren
biſt ꝛc. — So ſprach er oft bey ihnen, und Kron-
helm und Thereſe wagtens nicht, ihn zu troͤſten.
Er ward auch auf die Vermaͤhlung des braven
Rothfels mit der Schweſter Kronhelms geladen,
aber er kam nicht, und ſchrieb ihnen:
Laßt mich, lieben Freunde, in der Zelle mei-
ner Leiden! Bittet man den Tod zu Gaſt beym
Freudenmahl? Soll mein Anblick Euch erinnern
an die Stunde Eurer Trennung, und daß alle
Freuden dieſes Lebens nichts ſind? Jch will Gott
flehn, daß er Euren Blick nicht dringen laſſe in
die Zukunft! Daß ihr nur die Blumen, die der
Fruͤhling darreicht, aufkeimen, und nicht ſterben
ſeht! Flechtet keinen Kranz von Blumen, denn ſie
welken, eh der Abend anbricht! Hier ſchick ich Euch
einen Kranz von Jmmergruͤn! Er vergeht auch,
aber ſpaͤter, als die Blumen. Wenn es Ruhe
gibt, und Gluͤck, ſo fleh ichs Euch von Gott
herab. —
Sein Schmerz ward immer duͤſterer und ſtum-
mer. Anton wars faſt allein, mit dem er ſprach.
Sein Leben war eine beſtaͤndige Andacht, und da-
bey war er am heiterſten, denn ſein Blick drang
immer ſchaͤrſer in das Leben jenſeits des Grabes.
Oft weinte er Freudenthraͤnen, wenn er im zuver-
ſichtlichſten Vertrauen ſein nahes Ende ſah. Er
fuͤhlte die Gegenwart Gottes aufs lebendigſte, und
ward faſt bis zum Anſchauen uͤberzeugt, daß Gott
den Menſchen nur eine Zeitlang fuͤr die Leiden,
nach dieſen aber fuͤr ein ewig gluͤckliches und ruhi-
ges Leben geſchaffen habe. Und dann dankte er
Gott fuͤr ſein Daſeyn, auch ſogar fuͤr ſeine Leiden.
Aber freylich ſind dieſe Stunden der heiterſten und
zuverlaͤßigſten Gewißheit bey dem Menſchen, dem
ſein Koͤrper alle Augenblicke dran erinnert, daß
er noch auf der Welt iſt, ſelten. Oft konnte er
ganze Tage lang nichts denken, als die Trennung
von ſeiner Mariane, ohne die Wonne des Wiederſe-
hens, und der Wiedervereinigung zu fuͤhlen, und
dieſe Tage waren ihm die traurigſten und baͤng-
ſten. —
Sein Andenken an Marianen und der damit
verbundne Schmerz wachte wieder neu auf, als
man bey folgender Veranlaſſung einige Tage lang
im Kloſter von nichts als von Nonnen ſprach.
Man hatte nehmlich etlich Naͤchte vorher am Him-
mel eine ſtarke Roͤthe, als das Zeichen einer groſſen
Feuersbrunſt, wahrgenommen. Zwey Tage drauf
kam die Nachricht, daß in Adlingen, einem acht
Stunden weit entfernten Nonnenkloſter, ein hefti-
ges Feuer ausgebrochen ſey, daß das ganze Gebaͤude
in die Aſche gelegt habe. Die Nonnen fluͤchteten
ſich, ein paar ausgenommen, die die Gelegenheit
wahrnahmen, und entwiſchten, in ein benachbar-
tes Benediktinerkloſter. Dieſe Nonnen wurden
nun in die benachbarten Frauenkloͤſter vertheilt.
Pater Hildebrand, der in dem naͤchſten Nonnen-
kloſter Bergkirch Beichtvater war, erzaͤhlte bey
Tiſch, es ſeyen dahin auch vier Nonnen von den
verungluͤckten gekommen, von denen zwo bey dem
Brand vielen Schaden gelitten haben. Er ſchil-
derte ihren Schrecken, der noch immer fortdaure,
ſehr ruͤhrend, und beſchrieb die Nonnen, deren
eine noch ſehr jung und aͤuſſerſt ſchwermuͤthig ſey.
Bey dieſer Beſchreibung ſtellte ſich unſerm Sieg-
wart das Bild ſeiner lieben verſtorbnen Mariane
wieder ſo lebhaft vor Augen, daß er in Gegen-
wart der Paters zu weinen anfieng, und ſo ſehr
vom Schmerz ergriffen wurde, daß er, um ſein
Geheimniß zu verbergen, unter dem Vorwand einer
ploͤtzlichen Uebelkeit von Tiſche weggieng, ſich in
ſeiner Zelle niederlegte, und ſeinen Thraͤnen freyen
Lauf ließ. Etlich Tage lang konnte er nicht ruhig
bethen; ſeine Gedanken waren immerdar zerſtreut;
Marianens Bildniß folgte ihm aller Orten nach,
und ſtellte ſich ihm faſt jede Nacht im Traum vor.
Erſt nach etlich Wochen bekam er ſeine vorige Ru-
he wieder.
Sein Probejahr war ſchon beynah zu Ende, als
der Guardian ſtarb, und das Kloſterkonvent faſt
einmuͤthig den rechtſchaffnen Pater Anton zu ſei-
nem Vorſteher und Guardian erwaͤhlte. Der bra-
ve Mann nahm dieſe Ehre am Ende ſeiner Tage
ungern an. Er haͤtte lieber ſeine noch wenigen
Tage in der Stille beſchloſſen, aber das Zureden
ſeiner Mitbruͤder uͤberwand endlich ſeine Beſchei-
denheit, und er nahm die Wuͤrde an, die er aufs
treulichſte, und ohne ſein Betragen oder ſeine
Denkungsart im geringſten zu veraͤndern, verwal-
tete.
Siegwart haͤtte ſich nun ſehr gut ſein Schickſal
erleichtern, und ſich bey dem Guardian, der ſein
Freund, und noch mehr, ſein zweyter Vater war,
uͤber die Strenge und Unbilligkeit ſeines Noviz-
meiſters beſchweren koͤnnen; denn dieſer ſtolze und
fuͤhlloſe Mann vermehrte ſeine Haͤrte, je mehr ſich
das Probejahr ſeiner Untergebenen dem Ende nah-
te; aber Siegwart ſagte kein Wort, und trug ſein
Schickſal mit Stille und Gelaſſenheit. Oft fragte
ihn P. Anton, ob er mit ſeinem Zuſtand zufrieden
ſey, und ſich uͤber nichts zu beklagen habe? und
allemal antwortete er, er ſey mit jedermann ufrie-
den, und wuͤnſche ſich keinen beſſern Zuſtand.
Am Ende ſeines Probejahrs legte er feyerlich in
der Kirche, zur Ruͤhrung aller Anweſenden, den
Profeß ab, bekam die Prieſterweihe und die Ton-
ſur, ward zum Pater aufgenommen, und trat,
nachdem er ſeine erſte Meſſe geleſen hatte, alle
Verrichtungen eines Paters an.
Kronhelm und Rothfels waren bey der Einwei-
hung mit zugegen, und wurden auch beym Mit-
tagseſſen behalten. Siegwart, dem das Feyerliche
der Handlung noch immer vor der Seele ſchwebte,
ſprach ſehr wenig, und hatte faſt beſtaͤndig Thraͤnen
in den Augen. Seine beyden Freunde ſahen ihn
wehmuͤthig an. Sein mattes, halberloſchnes
Auge, ſeine blaſſe Farbe, ſein eingefallenes Ge-
ſicht, die Gleichguͤltigkeit, mit der er ſogar ſie be-
trachtete, weiſſagten ihnen ſeinen nahen Tod, und
daß ſie ihn vielleicht ſchon heut zum letztenmale
ſehen wuͤrden. Kronhelm, der einen ziemlichen
Theil ſeiner Jugend mit ihm zugebracht hatte,
der ihn ſo ganz kannte, und es wußte, daß we-
nige Menſchen in ſo hohem Grad verdienten gluͤck-
lich zu ſeyn wie er; und doch auch alle ſeine Lei-
X x x
den kannte, deren manche Menſchen in ihrem
ganzen langen Leben nicht den zwanzigſten Theil
davon erfahren, ſaß im duͤſterſten Nachdenken da,
ſchlug zuweilen ſeine Augen auf zum Himmel, un-
terdruͤckte einen Seufzer, und dachte zitternd an
die Unbegreiflichkeit der goͤttlichen Rathſchluͤſſe in
den Schickſalen eines Menſchen. Beym Weggehen
druͤckte ihn Siegwart feſte und feuriger als ge-
woͤhnlich ans Herz. Bruder, ſagte er, ich ſahs
heut, daß du meinen Zuſtand ganz fuͤhlſt. Bald
wirds beſſer werden. Hab Dank fuͤr deine viele
bruͤderliche Liebe! Jch bethe ſtets fuͤr dich und
meine Schweſter, und dein Kind. Sag ihr, mir
ſey wohl, und werde bald noch beſſer werden. Jch
gehoͤre nun ganz Gott an, und in ſeiner Hand
koͤnne man nicht ungluͤcklich ſeyn. Gib ihr dieſen
Kuß! Sag ihr nicht, daß ich ſchwach bin, die gu-
te Seele moͤchte ſich betruͤben. Wenn du hoͤrſt,
daß ich todt bin, dann troͤſte ſie, und ſag ihr, daß
mir ganz wohl ſey! — Kronhelm konnte nichts ſpre-
chen, und riß ſich von ihm los. Rothfels nahm
auch weinend von ihm Abſchied, und die beyden
reiſten traurig weg.
Siegwart theilte nun ſeine ganze Zeit in ſeine
Moͤnchsverrichtungen und in ſelbſterwaͤhlte An-
dachtsuͤbungen ein. Er war fleißig bey den Land-
leuten, bey denen er auſſerordentlich beliebt war.
Er predigte viel bey ihnen und ſtiftete ſehr groſſen
Nutzen, denn ſein Vortrag war ſo faßlich, daß
ihn jedes Kind verſtehen konnte. Er hatte den
Grundſatz, den jeder Prediger haben ſollte: Wenn
mich der gemeinſte Mann vom ſchwaͤchſten Ver-
ſtand verſteht, ſo verſteht mich auch der Aufgeklaͤr-
te, und ich werde allen nuͤtzlich. Da er die Ge-
meinden, und die einzelnen Glieder derſelben ge-
nau kannte, ſo war ſein Vortrag immer ſo we-
nig allgemein, daß er nur auf die Gemeinde, der
er predigte, allein paßte. Alle ſeine Betrachtun-
gen, Bewegungsgruͤnde und Gleichniſſe waren vom
Landleben und vom Ackerbau hergenommen, und
paßten auf keine Stadtgemeinde. Dieſe Kunſt
hatte er von Chriſto gelernt, der die Veranlaſſun-
gen zu ſeinen Reden immer von denen Gegenſtaͤn-
den hernahm, die ſeine Zuhoͤrer vor ſich ſahen,
oder womit ſie ſich beſchaͤftigten. Wenn er Leute
auf dem Feld antraf, ſo machte er ſie auf die Na-
tur, und auf den Segen aufmerkſam, den Gott
uͤberall ſo reichlich ausgeſtreut hat. Dadurch floͤßte
er ihnen Liebe und Vertrauen gegen Gott ein, die
die beyden Hauptquellen eines reinen und aufrich-
tigen Gottesdienſtes ſind. Wenn er zur Geduld
im Leiden ermunterte, ſo war ſein eignes Beyſpiel
die beſte Aufmunterung und Lehre, denn er war,
bey ſeinem abgezehrten, matten Koͤrper immer hei-
ter, wenn er mit den Leuten ſprach, und ſeufzete
blos in der Stille.
War er allein, ſo war der Gedanke an den
Tod und an ſeine Mariane ſein beſtaͤndiger Gefaͤhr-
te. Wenn er uͤber eine Wieſe |gieng, ſo dachte er
mit Sehnſucht: Vielleicht ſeh ich dieſen Ort zum
letztenmal; wenn er einem Sterbenden die letzte
Oelung gab, ſo dachte er: O der Gluͤckliche! Er
kommt zu Gott, bey dem meine Mariane iſt. Moͤcht
ich doch mit ihm mich hinlegen und ſterben! Gan-
ze Stunden lang hieng ſein Aug am ſtillen melan-
choliſchen Mond. Seine Phantaſie uͤberredete ihn,
Marianens Seele ſey im Mond; dieſer Gedanke
ward ihm oft Gewißheit, und er ſchwang ſich auf
den Fluͤgeln ſeiner Schwaͤrmerey in den Mond
hinauf, und vergaß daruͤber Welt und alle Leiden,
hielt lange Geſpraͤche mit ſeinem lieben Maͤdchen,
und ſah oft erſt ſpaͤt hernach zu ſeinem Verdruß
ſeine Taͤuſchung ein, und daß er noch auf der Welt
ſey. Dann ſchrieb er wieder Gedichte, oder kleine
Aufſaͤtze an ſie nieder.
Unter den wenigen Buͤchern, die er ſich auf der
Bibliothek ausgeſucht hatte, war ihm keins lieber,
als eine lateiniſche Bibel. Darin, und beſonders
im neuen Teſtament las er unaufhoͤrlich. Als er
fand, daß die Religion Jeſu in ihrer Quelle ſo
auſſerordentlich rein und einfach iſt, und ſie mit
der Art verglich, wie ſie heutzutage bey den Ka-
tholiken gelehrt und ausgeuͤbt wird, da ſtiegen ihm
wegen der vielen Menſchenſatzungen und willkuͤhr-
lichen eigenmaͤchtigen Zuſaͤtze viele Zweifel und Be-
denklichkeiten auf, mit denen er lang zu kaͤmpfen
hatte, eh er ſich etwas beruhigen konnte. Endlich
dachte er, wenn ich nur blos auf die Ausuͤbung
der Religion nach dem Sinn Chriſti dringe, und
die Zuſaͤtze der Kirche ſtillſchweigend gelten laſſe,
ohne ſie fuͤr goͤttliche Satzung auszugeben, ſo kann
ich ja doch mehr Nutzen ſtiften, als wenn ich mich
dem reiſſenden Strom widerſetze; denn ſonſt wuͤr-
de man ſich mir wieder entgegenſetzen, oder mich
gar verketzern, und dann waͤre mir aller Weg, Gu-
tes zu thun, abgeſchnitten. Mit dieſen, und aͤhn-
lichen Betrachtungen beruhigte er ſich wieder; aber
doch ſtiegen ihm in ernſthaften Stunden des Nach-
denkens oft wieder neue Gewiſſenszweifel auf, die
ihn oft ſo aͤngſtigten, daß er nicht wuſte, was er
thun ſollte, und oft den dunkeln Gedanken bey ſich
ſpuͤrte, zu den Proteſtanten uͤberzugehen. Aber
theils kannte er die Lehrſaͤtze dieſer Kirche nicht
genug, theils hielt ers auch nach ſeinen Begriffen
fuͤr ſtrafbar, die vaͤterliche Lehre, in der er ge-
bohren und erzogen war, abzuſchwoͤren, und un-
ter ſeinen Bruͤdern ein Aergernis zu ſtiften, da
er ohnedies nur noch eine kurze Zeit, die er zu
leben hatte, vor ſich ſah. Er wagte es auch
nicht, ſeine Zweifel irgend einem Menſchen, auch
nicht einmal ſeinem lieben P. Anton vorzutra-
gen.
Sonſt aber war er viel bey dieſem theuren
Mann, der alles auf ihn hielt, und ihn durch
ſeine Freundſchaft ſoviel aufzuheitern ſuchte, als
moͤglich. Dieſe Achtung, die der Guardian ihm,
als einem noch ſo jungen Pater erwies, lud ihm
den Neid und Haß faſt aller andern Paters auf
den Hals. Sie ſtichelten auf ihn bey aller Ge-
legenheit; ſie ſaſſen oft beyſammen und machten
allerley Kabalen gegen ihn; andre ſchmeichelten
ihm, und glaubten durch ſeinen Fuͤrſpruch die
Gunſt des Guardian zu gewinnen; heimlich wa-
ren ſie aber doch ſeine Feinde, und machten ihm
hinterruͤcks tauſenderley Verdruß. Siegwart merk-
te dieſes wohl; weil er aber ſich ſeiner Unſchuld
bewußt war, ſo blieb er daruͤber ruhig, und ver-
galt ſeinen Bruͤdern ihre boshaften Kuͤnſte mit
Freundſchaft und ungeheuchelter Liebe.
Der zweyte Winter und der Fruͤhling waren
ihm nun auch dahin geſchlichen. Seine Traurig-
keit um Marianen war nun eine ſtille Melancho-
lie geworden, die ihn zwar nie verließ, die aber
doch unmerklicher geworden war, und ſeltner in
laute Klagen ausbrach. Er trug den Tod in ſei-
nem Buſen, wo er, wie der Wurm in einer Ro-
ſe, immer weiter um ſich fraß. Seine Kraͤfte
nahmen allmaͤhlich ab; nur ſeine ſtrenge Diaͤt,
und die, immer einfoͤrmige Lebensart erhielten
noch den Koͤrper aufrecht, daß er nicht auf Ein-
mal hinſank. Noch ein paarmal war er bey ſei-
nem Kronhelm und bey ſeiner Thereſe geweſen.
Die beyden lieben Seelen waren auſſerordentlich
gluͤcklich. Thereſe hatte ihrem Kronhelm nun
auch noch ein Maͤdchen, das ihr Ebenbild war,
und auch Thereſe hieß, gebohren. Der kleine
Wilhelm fieng ſchon an, Worte zu ſtammeln, und
machte durch ſeine Liebkoſungen, und durch ſeine
unſchuldige Fragen ſeinen Eltern tauſend Freude.
Kronhelm und Thereſe liebten ſich noch wie am er-
ſten Tage ihrer Verbindung. Zwey reine Herzen
koͤnnen einander niemals uͤberdruͤßig werden. Jh-
re Tugend nimmt taͤglich zu, zeigt ſich taͤglich von
einer neuen Seite, und Tugend iſt ein Quell
unaufhoͤrlicher Freuden. Die beyden Eheleute wa-
ren unerſchoͤpflich an Erfindungen, die ihnen taͤg-
lich neue Vergnuͤgungen brachten. Sie machten
ihre Unterthanen und alle Leute um ſich her gluͤck-
lich, und wurden zum Dank von ihnen aufs zaͤrt-
lichſte geliebt. Wohlthun und geliebt werden iſt
das Gegengift aller Unzufriedenheit und alles Mis-
vergnuͤgens. Der Garten und das Schloß ward
jedes Jahr verſchoͤnert, und die Gegend umher
verwandelte ſich nach und nach durch den Fleiß ih-
rer Bewohner, durch die Guͤtigkeit ihres Beſitzers,
und durch den Segen, den der Himmel uͤber ſie
herabgoß, in ein Paradies. Rothfels war mit
ſeiner Frau auch gluͤcklich, und beſuchte ſeine noch
gluͤcklicheren Freunde oft. Siegwart ſah die Freu-
den ſeiner Lieben mit der reinſten Freude, und der
innigſten Empfindung. Er fand hier, daß das
Gluͤck noch nicht ganz aus der Welt entflohen iſt,
und daß Lieb und Zaͤrtlichkeit, wenn ſie Einmal
gluͤcklich machen, unausſprechlich gluͤcklich machen
koͤnnen. Er hob ſein Aug zum Himmel auf und
dankte; aber wenn er wieder auf die Welt und
ſich herabſah; wenn er auf ſeinen Zuſtand und
die Bahn der Leiden blickte, die er ſchon zuruͤck-
gelegt hatte, und auch jetzt noch immer wandelte;
ach, dann floß die Thraͤne der Wehmuth, die er
nicht verbergen konnte, und doch wollt er ſie ver-
bergen, um die Quelle der Seligkeit, aus der
ſeine Lieben tranken, nicht zu truͤben. Darum
kehrte er oft wieder auf dem Weg um, wenn ihn
ſein Herz ſchon zu ſeinen Freunden fuͤhren wollte;
denn er ſahs, ſein Anblick, ſein eingefallenes Ge-
ſicht, ſein truͤbes Auge machte ſeine Freunde trau-
rig. Er wollte allein ungluͤcklich ſeyn. Seine
Freuden haͤtt er gern mit andern getheilt, aber
nicht ſeine Leiden.
Nur mit ſeinem lieben Anton weinte er zuwei-
len, weil ihn dieſer ſelbſt zu Thraͤnen aufrief, und
gern in die Vergangenheit, die fuͤr ihn auch trau-
rig war, zuruͤckblickte. Einmal giengen ſie an ei-
nem ſchwuͤlen Sommernachmittag im Garten.
Zur Linken thuͤrmte ſich ſchon ein Gewitter auf,
das in weißgrauen Wolken daher ſchwebte, und
alle andre Woͤlkchen an ſich zog. Zuweilen ſah
man ſchon einen blaſſen Blitz den fernen Wetter-
ſchwall theilen, und ein Donner murmelte am fer-
nen Gebirg hinab. Die Sonne ſchien matt und
ſchwuͤl. Die Luft ſtand ganz ſtill, und kein Blatt
bewegte ſich. Die Voͤgel, die das nahe Gewitter
fuͤhlten, huͤpften aͤngſtlich von Zweig zu Zweig, und
wagtens kaum, einen ſchwachen Laut zu geben.
Anton und Siegwart ſahen eine Zeitlang ſtillſchwei-
gend in das, ſich langſam fortwaͤlzende Gewitter;
Gott gebe, ſagten ſie, daß es keinen Hagel mit-
bringt! und dann giengen ſie, um der Schwuͤle
auszuweichen, in eine kuͤhle Grotte, die in dem
kleinen Tannenwaͤldchen angelegt war. P. Anton,
den die Hitze, und das Alter niederdruͤckten, ſchlum-
merte etwas ein. Siegwart ſetzte ſich leiſe an den
Eingang der Grotte, ſah zuweilen nach dem Ge-
witter; dann kehrte er ſich wieder um, und betrach-
tete mit ſtiller Ehrfurcht und mit Thraͤnen in den
Augen den redlichen ſilberhaarichten Greis, der,
ohne Furcht vor dem nahenden Gewitter, ruhig
ſchlummerte. Ploͤtzlich riß ſich das Gewitter, das
bisher wie angeheftet uͤber einem Wald geſchwebt
hatte, los; die Sonne ward verfinſtert, und rings
umher im Tannenwaͤldchen ward es finſter. Sieg-
wart weckte den P. Anton auf; ſie wollten nach
dem Kloſter eilen, aber durch die Tannen fuhr
ein Sturm daher, der ſie auszureiſſen drohte; der
Staub kreiſte ſich in wilden Wirbeln vor ihnen,
und ſie flohen wieder in die Grotte zuruͤck; ein-
zelne und ſtarke Regentropfen fielen. Ein Blitz theil-
te die Dunkelheit, der die Beyden faſt blendete; ein
ploͤtzlicher ſtarker Donner folgte drauf, daß die Grot-
te zitterte, und nun ergoß ſich ein ſtarker Regen, der
beynah einem Wolkenbruch glich. Das Gewitter
daurte eine Viertelſtunde lang; die ganze Natur
ſchien im Aufruhr, der Sturm bog die Tannen-
wipfel; eine ſchlanke Tanne brach mit groſſem Kra-
chen mitten entzwey, und zwiſchen dem Getoͤs brauſte
der Donner ununterbrochen fort. Die beyden
Moͤnche lagen auf den Knien, ſchlugen ſich an die
Bruſt, und betheten. Endlich wards wieder etwas
ſtill; die Wolken hatten ausgeregnet und zertheil-
ten ſich; ein blaſſer Schimmer brach zur Linken
durch das Gewoͤlk. Endlich ſtralte die Sonne
wieder etwas hervor, und das Gewitter zog ſich
zur Rechten ſchwer und fuͤrchterlich weiter.
Als der Regen aufhoͤrte, giengen P. Anton
und Siegwart aus der Grotte. Anton hub ſeine
Augen glaͤnzend gen Himmel; ſein ganzes heitres
Angeſicht ſprach Dank und Freude. Wie nun al-
les ſo ſchoͤn und froh iſt, fieng er an, nach dem
Gewitter! Vorher konnte man in der Luft kaum
athmen; nun iſts einem ſo leicht, und man zieht
nichts als Blumenduͤfte und liebliche Geruͤche ein.
Sieh den Regenbogen dort, den Zeugen von der
Huld des Allbarmherzigen. Alles um uns her iſt
nun ſo friſch, und einer neuen Schoͤpfung gleich.
Wie das Gras ſo hell iſt, und die tauſend Regen-
tropfen auf den Blaͤttern, und die Sonne drinn,
und alle Farben! Und der liebliche Geſang der
Voͤgel, wie er nun ſo hell toͤnt! Ach, mein lieber
Siegwart, immer denk ich da an unſer Schickſal,
wie es auch oft um und in dem Menſchen ſtuͤrmt,
und doch ein Ende nimmt, und wieder heiter wird.
Es geht beym Menſchen zu, wie’s in der Natur
zugeht; Sturm und Regen, Sonnenſchein
und Ruh; und Ruh iſt immer doch das letzte;
denn Gott hat uns lieb, und will uns gluͤcklich;
und das Gluͤck der Ruhe fuͤhlt man nach dem Sturm
am beſten. — Das fuͤhlt’ ich eben auch, theurer
Vater, fiel ihm Siegwart ein. Eben dacht ich
an mein Schickſal, daß es bisher wild in mir ge-
ſtuͤrmt hat, und ein Ende nehmen wird. Hat
uns Gott doch ſelber Ruh in jener Ewigkeit ver-
heiſſen, und ich fuͤhl es, daß ich bald zu ihr ein-
gehen werde. So hell und zuverſichtlich hab ich
nie noch hinuͤbergeblickt, wie heute. Anton ſchwieg,
und wollte ihn in ſeinen wehmuͤthigen Gedanken
nicht ſtoͤren.
Jndem ſie ſo in Betrachtungen vertieft, durch
die ſtille Feyer der Natur dahin giengen, kam ein
Bothe aus dem Nonnenkloſter Bergkirch ſchnau-
bend |hergelaufen, und verlangte den Guardian zu
ſprechen. P. Anton gieng mit ihm auf die Seite,
und kam dann wieder zu Siegwart, der langſam
vorausgegangen war. Jch habe, ſagte er, einen
Auftrag am dich, mein lieber Siegwart. Eine
Nonne liegt in Bergkirch in den letzten Zuͤgen,
und verlangt ihren Beichtvater und die letzte Oe-
lung. Du muſt eilig hinuͤber, weil P. Hilde-
brand krank iſt.
Siegwart nahm den Auftrag willig an, ob ihm
gleich das Herz ſchlug, als er von einem Nonnen-
kloſter hoͤrte. Mit den lebhafteſten und traurig-
ſten Gedanken an ſeine Mariane gieng er nach dem
Kloſter, und kam mit Untergang der Sonne an.
Die Aebtiſſin ließ ihn vor ſich kommen. Er ſagte,
der ordentliche Beichtvater P. Hildebrand ſey krank,
und ſein Guardian hab ihm aufgetragen, ſeine
Stelle zu verſehen. Man fuͤhrte ihn in eine dunkle
Zelle, wo eine junge Nonne aͤuſſerſt ſchwach auf
einem Bette lag, um das ein paar andre Nonnen
herum ſtanden. Als man der Kranken ſagte, der
Beichtvater ſey da, ſo verlangte ſie zu beichten;
die anderu Nonnen giengen alſo weg, nachdem ſie
erſt eine duͤſtre Lampe auf den in der Ecke der Zelle
ſtehenden Tiſch geſetzt hatten. Siegwart ſetzte ſich
zu ihr ans Bette, um die Beichte zu hoͤren. Der
Ton ihrer Stimme ſchien ihm bekannt zu ſeyn. —
Gott im Himmel! Es war Marianens Stimme!
Mariane war die Nonne! — Mit einem lauten
Schrey, und dann ſprachlos ſtuͤrzte er uͤber ſie her,
und hielt ſie feſt in ſeinen Armen. — Erſt nach
einer Viertelſtunde kam er wieder zu ſich ſelber.
Biſt dus? Biſt dus? rief er. — Mit gebroche-
ner Stimme ſagte ſie: Siegwart! Jch bin Ma-
riane… Lebſt du noch? — — Er taumelte
auf, nahm die Lampe, hielt ſie ihr vors Geſicht.
Es war Mariane, todtenbleich, und abgezehrt.
Auf ihrer Bruſt lag das weiſſe Schnupftuch, mit
dem Blutfleck von ſeiner Wunde. Sie ſchlug ihr
mattes Aug auf, und ſah ihn an. Er ließ die Lam-
pe fallen, und ſtuͤrzte wieder uͤber ſie her. — —
Man hat dich getaͤuſcht, ſagte ſie, in Marien-
feld — — ich war nicht geſtorben — — —
hier lies! .. (Jndem ſie aus ihrem Buſen etlich
verſiegelte Blaͤtter langte, und ihm gab.) …
Siegwart! Siegwart! … Leb wohl … Komm
nach! … Sie ſprach noch etlich Worte, ohne
zu merken, daß er ohnmaͤchtig im Stuhl lag.
Erſt nach ein paar Stunden giengen die Non-
nen, denen es zu lang dauerte, mit einem Licht
in die Zelle. Mariane lag todt auf dem Bette-
Siegwart war, noch halb ohnmaͤchtig und ſprachlos
im Seſſel zuruͤckgelehnt.
Die Nonnen waren voll Beſtuͤrzung, wußten
nicht, was vorgefallen war, und brachten ihn in
einem andern Zimmer aufs Bette. Die ganze
Nacht durch fiel er von einer Ohnmacht in die an-
dere. Den andern Morgen that man ſogleich Be-
richt an ſein Klofter. Pater Anton kam ſelbſt
nach ein paar Stunden.
Jeſus, Maria! ſagte er, indem er ins Zimmer
trat, was hat ſich mit dir zugetragen, Siegwart? —
Nichts, antwortete dieſer ganz matt. Das Ge-
witter iſt voruͤber … und die Sonne lacht ..
und der Tag bricht an .. und Ruhe … Anton bath,
man moͤchte ihn mit Siegwart allein laſſen! Nun
erfuhr er von ihm, Mariane ſey die Nonne ge-
weſen. — Lebt ſie noch der Engel? ſagte
er, und richtete ſein Aug auf Anton, indem er
ſeine Hand ausſtreckte, als ob er die Hand ſeines
Freundes ſuchte. — Sie hat ausgelitten, ſagte
P. Anton. — Nun Gottlob! ſagte Siegwart,
und faltete die Haͤnde; bald auch ich. …
Und wo bin ich jetzt? — fragte er nach einiger
Zeit wieder .. Jn ihrem Kloſter, war die Ant-
wort. . — Jhr ſo nah? … Gott ſey Dank! ..
Jhr ſo nah …
P. Anton war im tiefſten Schmerz. Siegwart
wurde immer ſchwaͤcher; ſprach zuweilen nur ganz
abgebrochen: Gottlob! .. Engel! … Mariane!
Gott ſey Dank! Jeſus!, bald! …! u. ſ. w.
Man hatte nach einem Arzt geſchickt. Dieſer
machte hoͤchſtens noch auf fuͤnf bis ſechs Tage Hof-
nung. Kann ich nicht noch meinen Kronhelm ſe-
hen, und Thereſen? ſagte Siegwart.
Man ſchickte nach ihnen, und ſie kamen. Sieg-
wart hatte wieder etwas wenige Kraͤfte bekommen,
als ſie kamen, und ſaß in einem Lehnſtuhl. P.
Anton, der beſtaͤndig um ihn war, hatte ſich nur
etliche Stunden entfernt, um nach ſeinem Kloſter
zu gehen. Alſo war Siegwart allein, als Kron-
helm und Thereſe ins Zimmer traten. — Bruder!
riefen beyde, giengen auf ihn zu, und lehnten ſich
zu beyden Seiten ſchweigend an den Lehnſtuhl.
Er troͤſtete ſie, und ſagte, ſie ſollten ihm Gluͤck
wuͤnſchen, denn er ſey am Ziel.
Als ſie ſich von ihrem Schmerz etwas erholt
hatten, erzaͤhlte er ihnen kurz den Vorfall; zog
das verſiegelte Papier, das ihm Mariane gegeben
hatte, hervor, und gabs ſeinem Kronhelm, mit
der Bitte, es ihm vorzuleſen.
Unter tauſend Thraͤnen, die er, und Siegwart
und Thereſe vergoſſen, las es Kronhelm. Es wa-
ren abgebrochne ruͤhrende Aufſaͤtze an Siegwart,
und eine kurze Erzaͤhlung ihrer Geſchichte, deren
Hauptinhalt dieſer war:
Die Aebtiſſin zu Marienfeld hatte von Brigit-
ten alles erfahren, wer der Gaͤrtner ſey; was er
vorhabe; daß er Marianen zu entfuͤhren denke ꝛc.
Mariane ward ſogleich eingeſchloſſen. Brigitte
mußte vorgeben, ſie ſey nicht recht wohl; mußte
ihm aber doch verſprechen, Marianen Abends in
den Garten zu bringen, wo die Nonnen im Sinn
hatten, ihn zu greifen und feſtzuſetzen. Brigitte,
die beſorgt war, er moͤchte es entdecken, daß ſie
ſich von ihm hab entfuͤhren laſſen wollen, ſuchte
ihn aus dem Kloſter zu bringen, und betaͤubte ihn
deßwegen mit der Nachricht von Marianens Tod.
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Als er entflohn war, gab man ihren Tod auch im
Kloſter vor, um allen ſeinen fernern Verſuchen Ma-
rianen zu entfuͤhren, vorzubeugen. Brigitte ward
zur Strafe eingeſchloſſen. Marianen brachte man
ſogleich heimlich nach einem andern Kloſter, und,
als dieſes Kloſter abbrannte, wurde ſie mit drey an-
dern Nonnen nach Bergkirch gebracht.
Als Kronhelm dieſes vorgeleſen hatte, war Sieg-
wart durch die vielen Thraͤnen und die heftige Be-
wegung aufs neue ganz entkraͤftet, und mußte ins
Bette gebracht werden. Nach einer halben Stunde
erholte er ſich wieder etwas, und bat ſeinen Kron-
helm, folgendes zu ſchreiben, und es nach ſeinem
Tod dem P. Anton zu geben, mit der Bitte, ihm
den letzten, darin gefoderten Freundſchaftsdienſt ja
nicht abzuſchlagen.
Theurer Vater!
Die letzte Bitte deines ſterbenden Sohnes, laß
ſie ja nicht unerfuͤllt ſeyn! Jch hab auf Erden ſonſt
nichts mehr zu bitten. Laß mich ruhen neben ihr,
fuͤr die ich ſterbe! Gott im Himmel lohne Dich da-
fuͤr, und fuͤr alle Deine Liebe, daß Du bald mir
folgeſt! Hoͤre mich!
Leb ewig wohl, Du Theurer!
Hoͤre mich! Gott ſegne Dich, Amen!
Mit zitternder Hand unterſchrieb er ſeinen Na-
men, ließ das Blatt ſiegeln, und bat nochmals, ſei-
nen P. Anton aufs dringendſte anzuliegen, ſeinen
Wunſch zu erfuͤllen!
Er lag da, ohne viel zu ſprechen. Kronhelm
und Thereſe ſchwiegen, und giengen wechſelsweiſe
weg, um ihre Thraͤnen vor ihm zu verbergen. Er
war nicht mehr traurig; die Hofnung ſeines nahen
Todes ward ihm Zuverſicht. Seine Seele war
ſchon mehr im Himmel, als auf Erden. Nur die
Liebe zu ſeinen theuren Freunden machte, daß er
noch zuweilen einige Augenblicke an die Welt dachte,
und auf ihr verweilte. P. Anton war auch wieder-
gekommen, und ſaß unaufhoͤrlich ihm zur Seiten.
Eine Bitte hab ich, theurer Vater, ſagte Sieg-
wart zu ihm, die du erſt nach meinem Tod erfuͤllen
kannſt. Mein Kronhelm wird ſie dir entdecken.
Ach, verſprich mir, daß du ſie erfuͤllen willſt, da-
mit ich ruhig ſterbe! — P. Anton verſprach, die
Bitte zu erfuͤllen; wenn ſie nichts, fuͤr ihn un-
moͤgliches enthalte.
Gegen Abend, als Siegwart wieder etwas auf
war, und nah am Fenſter ſaß, hoͤrte er unten vor dem
Fenſter, ein Geraͤuſch. Er ſah hinaus, und da war
der Gottesacker unten, und die Nonnen waren da, um
ſeine Mariane in das Grab zu legen. Thereſe, die
auch hinausſah, erſchrack uͤber den Anblick, und
ihr Bruder ſank ihr ſchweigend in den Arm. Man
brachte ihn wieder aufs Bette, wo er ein paar
Stunden lang faſt ſinnlos lag. Endlich ſchlug er
die Augen auf. Thereſe, ſagte er, iſt ein Kreuz
auf dem Grab? — Ja lieber Bruder, war die
Antwort, ein kleines ſchwarzes Kreuz. — Nun, ſo
hab ich auch die letzte Bitte an dich. Flicht mir
einen Kranz von Blumen und Cypreſſen, und gib
ihn mir! Wenn er mit meinen Thraͤnen gnug be-
netzt iſt, dann haͤng ihn du am Kreuz auf, und weine
auch druͤber! — Thereſe brachte ihm einen Kranz;
er weinte drauf, druͤckte ihn einigemal ans Herz,
und legte ihn dann fuͤr ſich aufs Bette hin.
Den andern Tag ſprachen Kronhelm und Anton
mit dem Arzt, und fragten ihn, wie lang er glau-
be, daß Siegwart noch leben koͤnne? — Laͤnger,
als ich anfangs dachte, ſagte dieſer. Er hat eine
ſtarke Natur. Wenn er nicht zu heftige Bewe-
gungen hat, ſo kann er noch ſechs bis ſieben Tage
leben. Eine Veraͤnderung des Aufenthalts waͤre
gut, denn hier ſcheint er zu viele traurige Gegen-
ſtaͤnde um ſich zu haben. Die beyden beſchloſſen, ihn
den folgenden Tag in einer Saͤnfte nach ſeinem
Kloſter bringen zu laſſen, um ihn von dem Grab
ſeiner Mariane zu entfernen, denn er wollte immer
ans Fenſter, um hinabzuſehn. Sie thaten ihm alſo
den Vorſchlag, ob er ſich nicht den andern Tag
nach ſeinem Kloſter wolle tragen laſſen? Anfangs
erſchuͤtterte ihn der Vorſchlag, weil er ſich nicht
vom Grab ſeiner lieben Mariane entfernen wollte.
Doch gab er ſich endlich drein, denn nach und
nach ward ihm alles auf der Welt gleichguͤltig, und
Pater Anton ſtellte ihm vor, er moͤchte beſtaͤndig
um ihn ſeyn, und koͤnne ſich doch nicht ſo lang
von ſeinem Kloſter entfernt halten. Bringt mich
hin, wo ihr wollt, ſagte er; lange koͤnnt ihr mich
doch nicht mehr von ihr trennen. Wenn mir nur
Pater Anton nach meinem Tod meine Bitte er-
fuͤllt. — Den Tag uͤber lag er immer in anſchei-
nender Ruhe auf dem Bette. Seine Freunde
hieltens fuͤr ein Zeichen der Beſſerung, aber im
Grunde wars Entkraͤftung.
Gegen Abend ſank er in einen feſten Schlaf.
Der Arzt, der eben kam, und ihm im Schlaf den
Puls beruͤhrte, ſagte, daß er ſehr gut gehe. Man
moͤchte nur recht ſtill und ruhig ſeyn, um ihn nicht auf-
zuwecken, weil er durch den Schlummer neue Kraͤfte
bekommen koͤnne. Thereſe und Kronhelm entfern-
ten ſich alſo in ein anliegendes Zimmer, wo ſie
alle Bewegungen zu hoͤren hoften. Siegwart ſchlief
bis gegen eilf Uhr aneinander fort. Thereſe war
ein paarmal leiſe ins Zimmer gekommen, um nach
ihm zu ſehen. Als ſie fand, daß er immer noch
ſehr feſt ſchlief, ſo gieng ſie wieder auf ihr Zimmer,
ſetzte ſich in einen Lehnſtuhl, und ſchlief endlich,
weil ſie von dem vielen Wachen, und dem tiefen
Schmerz aͤuſſerſt abgemattet war, ein.
Um eilf Uhr wachte Siegwart von einem ſehr
lebhaften Traum, indem ihm ſeine Mariane er-
ſchienen war, und ihm zuwinkte, auf. Sein Blut
war in ſtarker Wallung. Er fuͤhlte ſich von dem
langen Schlaf geſtaͤrkt. Seine Phantaſie war von
dem Traume, und dem ſchnellen Umlauf des Ge-
bluͤts ſtark erhitzt. Er ſtand auf, und gieng ans Fen-
ſter. Der Mond, der durch duͤnne Woͤlckchen halb
duͤſter ſchien, warf etlich blaſſe Strahlen an das Kreuz
auf Marianens Grab. Es ſchoſſen ihm Thraͤnen
in die Augen, und ein unwiderſtehlicher Zug trieb
ihn, auf das Grab zu gehen. Er gieng, mit dem
Kranz am Arm, an die Thuͤre, machte ſie leiſe
auf, gieng durch den Kreuzgang, und ſuchte einen
Ausgang nach dem Gottesacker. Zu gutem Gluͤck
fand er eine Thuͤre dahin; haſtig lief er aufs Grab,
ſtuͤrzte ſich drauf hin, umarmte das Kreuz, hieng
den Kranz dran, und weinte laut. — O Mariane,
Mariane! rief er, auf deinem Grab, auf deinem
Grab! … Nimm mich zu dir! Nimm mich
zu dir, Engel! — Von der heftigen Bewegung,
und der ſchnellen Verkaͤltung entkraͤftet, ſank er ohn-
maͤchtig an dem Kreuz nieder.
Thereſe wachte erſt um Ein Uhr wieder auf. Sie
erſchrack, weil ſie dachte, lang geſchlafen zu haben,
ſprang auf, und eilte auf das Zimmer ihres Bru-
ders. Die Thuͤre war offen, zitternd trat ſie hin-
ein, und — Jeſus Maria! Das Bette war leer. —
Siegwart! Bruder! Siegwart! rief ſie laut und
aͤngſtlich. Kronhelm ſprang herzu; auch ein paar
Nonnen. Er iſt fort, fort! Mutter Gottes! ſagt,
wo iſt er? — Die Beſtuͤrzung ward allgemein.
Thereſe riß ihre Haare auseinander. Alle liefen
umher und ſuchten, und wußten nicht, was ſie
wollten und ſuchten. —
Auf dem Grab! Auf dem Grab! rief endlich
Kronhelm, der am Fenſter ſtand. Alle flogen
hinab auf den Kirchhof, und der edle Juͤngling
lag erſtarrt und todt im blaſſen Mondſchein auf
dem Grabe ſeines Maͤdchens, dem er treu geblie-
ben war bis auf den letzten Hauch.
Man brachte ihn aufs Zimmer. Kronhelm flog
auf ſeinem Pferd zu Pater Anton mit der ſchauder-
vollen Nachricht, und der letzten Bitte ſeines tod-
ten Freundes. Anton las ſie. Ja ſie ſoll dir ge-
waͤhrt werden, rief er, Theurer, Unvergeßlicher! —
Mit Tagesanbruch war er ſchon in Bergkirch,
und ſprach mit der Aebtiſſin. Sie wars zufrie-
den, daß Siegwart bey Nacht in aller Stille neben
ſeiner Mariane ſolle begraben werden.
Die Nacht drauf begrub man ihn. Die beyden
Maͤrtyrer der Liebe ruhten bey einander. Auch auf
ſein Grab ward ein Kreuz geſetzt. Thereſe ver-
einigte die beyden Kreuze durch eine Blumen- und
Cypreſſenkette.
Jhr und ihrem Kronhelm und dem frommen
P. Anton war ihr Andenken heilig, bis auch ſie
ins Land der Ruhe eingiengen, wo Zaͤrtlichkeit und
Menſchheit keine Thraͤnen mehr vergieſſen.