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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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nach der ich mich so längst gesehnt hatte, da glaubt
ich, um mich schadlos zu halten, und das Versäum-
te wieder einzuholen, müss' ich nun der Freyheit
ganz geniessen, und alles mitmachen. Freyheit und
Ausgelassenheit hielt ich für einerley. Alles, was
ich sah, war mir neu, und reizte mich; ich fiel
drauf hin, wie ein Geyer auf den Raub, und
glaubte mich nie sättigen zu können. Sie wissen,
wozu der närrische Begriff von Universitätsfrey-
heit verleitet. Zu allem Unglück waren damals
hier die allerschändlichsten Gesellschaften, in denen
Gewissen und Vernunft durch Zoten und Unflä-
thereyen übertäubt, und durch unmässiges Saufen
geschwächt, oder gar getödtet wurden. Da gieng
ein jeder hin, und that, was ihm gefiel. Mein
Trost ist noch, daß ich niemals Freundesblut ver-
gossen, und nie eine Unschuld verführt habe. Da-
vor hat mich Gottes Gnade noch bewahrt; mir
hab ichs nicht zuzuschreiben. Jch wär bey meinem
tollen, heftigen Temperament, und bey meinen
Grundsätzen zu allem fähig gewesen. Zweymal
ward ein Freund in meiner Gegenwart erstochen;
ich seh noch ihr Blut mit Schrecken rauchen. Dem
Boling, der sonst noch weit schlechter war, wie

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nach der ich mich ſo laͤngſt geſehnt hatte, da glaubt
ich, um mich ſchadlos zu halten, und das Verſaͤum-
te wieder einzuholen, muͤſſ’ ich nun der Freyheit
ganz genieſſen, und alles mitmachen. Freyheit und
Ausgelaſſenheit hielt ich fuͤr einerley. Alles, was
ich ſah, war mir neu, und reizte mich; ich fiel
drauf hin, wie ein Geyer auf den Raub, und
glaubte mich nie ſaͤttigen zu koͤnnen. Sie wiſſen,
wozu der naͤrriſche Begriff von Univerſitaͤtsfrey-
heit verleitet. Zu allem Ungluͤck waren damals
hier die allerſchaͤndlichſten Geſellſchaften, in denen
Gewiſſen und Vernunft durch Zoten und Unflaͤ-
thereyen uͤbertaͤubt, und durch unmaͤſſiges Saufen
geſchwaͤcht, oder gar getoͤdtet wurden. Da gieng
ein jeder hin, und that, was ihm gefiel. Mein
Troſt iſt noch, daß ich niemals Freundesblut ver-
goſſen, und nie eine Unſchuld verfuͤhrt habe. Da-
vor hat mich Gottes Gnade noch bewahrt; mir
hab ichs nicht zuzuſchreiben. Jch waͤr bey meinem
tollen, heftigen Temperament, und bey meinen
Grundſaͤtzen zu allem faͤhig geweſen. Zweymal
ward ein Freund in meiner Gegenwart erſtochen;
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[633/0213] nach der ich mich ſo laͤngſt geſehnt hatte, da glaubt ich, um mich ſchadlos zu halten, und das Verſaͤum- te wieder einzuholen, muͤſſ’ ich nun der Freyheit ganz genieſſen, und alles mitmachen. Freyheit und Ausgelaſſenheit hielt ich fuͤr einerley. Alles, was ich ſah, war mir neu, und reizte mich; ich fiel drauf hin, wie ein Geyer auf den Raub, und glaubte mich nie ſaͤttigen zu koͤnnen. Sie wiſſen, wozu der naͤrriſche Begriff von Univerſitaͤtsfrey- heit verleitet. Zu allem Ungluͤck waren damals hier die allerſchaͤndlichſten Geſellſchaften, in denen Gewiſſen und Vernunft durch Zoten und Unflaͤ- thereyen uͤbertaͤubt, und durch unmaͤſſiges Saufen geſchwaͤcht, oder gar getoͤdtet wurden. Da gieng ein jeder hin, und that, was ihm gefiel. Mein Troſt iſt noch, daß ich niemals Freundesblut ver- goſſen, und nie eine Unſchuld verfuͤhrt habe. Da- vor hat mich Gottes Gnade noch bewahrt; mir hab ichs nicht zuzuſchreiben. Jch waͤr bey meinem tollen, heftigen Temperament, und bey meinen Grundſaͤtzen zu allem faͤhig geweſen. Zweymal ward ein Freund in meiner Gegenwart erſtochen; ich ſeh noch ihr Blut mit Schrecken rauchen. Dem Boling, der ſonſt noch weit ſchlechter war, wie S ſ

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/213>, abgerufen am 24.11.2024.