Was macht denn Mariane? fuhr er fort. Ha- ben Sie sie heut gesehen? Hat sie gesungen? -- Gesehen hab ich sie, antwortete Siegwart; aber gesungen hat sie nicht. Sie erkundigte sich bey mir nach Jhnen. -- Hat sie das? rief Gutfried hastig, und richtete sich im Bett auf. O der En- gel! Jch muß sie anbeten, ob ich gleich gewiß weis, daß sie ewig nicht die meine wird. -- Er legte sich langsam wieder nieder, und fuhr fort: Alles, lieber Siegwart! alles hab ich ihr zu ver- danken! Jch war ein liederlicher Kerl, eh ich sie habe kennen lernen. Gott vergeb es mir! Jch ward verführt. Als ich hieher kam, wust ich noch gar nichts von der Welt. Sechs Jahre hatt ich in einem Jesuiterkloster gesteckt; muste da die Religion als ein Handwerk treiben, und ganze Stunden lang, ohne Andacht, beten. Das, wozu mich meine Lehrer anhielten, sah ich sie selber mit den Füssen treten. Wie ein Sklave war ich einge- schränkt, und durfte keinen Schritt thun, ohne Vorwissen meiner Lehrer. Wenn ich nun einmal in die Welt hinaus kam, so hielt ich alles, was ich sah, für wünschenswürdig, und schmachtete in meinem Käficht wieder desto mehr darnach. Als ich nun hier ankam, und der Freyheit ganz genoß,
Was macht denn Mariane? fuhr er fort. Ha- ben Sie ſie heut geſehen? Hat ſie geſungen? — Geſehen hab ich ſie, antwortete Siegwart; aber geſungen hat ſie nicht. Sie erkundigte ſich bey mir nach Jhnen. — Hat ſie das? rief Gutfried haſtig, und richtete ſich im Bett auf. O der En- gel! Jch muß ſie anbeten, ob ich gleich gewiß weis, daß ſie ewig nicht die meine wird. — Er legte ſich langſam wieder nieder, und fuhr fort: Alles, lieber Siegwart! alles hab ich ihr zu ver- danken! Jch war ein liederlicher Kerl, eh ich ſie habe kennen lernen. Gott vergeb es mir! Jch ward verfuͤhrt. Als ich hieher kam, wuſt ich noch gar nichts von der Welt. Sechs Jahre hatt ich in einem Jeſuiterkloſter geſteckt; muſte da die Religion als ein Handwerk treiben, und ganze Stunden lang, ohne Andacht, beten. Das, wozu mich meine Lehrer anhielten, ſah ich ſie ſelber mit den Fuͤſſen treten. Wie ein Sklave war ich einge- ſchraͤnkt, und durfte keinen Schritt thun, ohne Vorwiſſen meiner Lehrer. Wenn ich nun einmal in die Welt hinaus kam, ſo hielt ich alles, was ich ſah, fuͤr wuͤnſchenswuͤrdig, und ſchmachtete in meinem Kaͤficht wieder deſto mehr darnach. Als ich nun hier ankam, und der Freyheit ganz genoß,
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Was macht denn Mariane? fuhr er fort. Ha-
ben Sie ſie heut geſehen? Hat ſie geſungen? —
Geſehen hab ich ſie, antwortete Siegwart; aber
geſungen hat ſie nicht. Sie erkundigte ſich bey
mir nach Jhnen. — Hat ſie das? rief Gutfried
haſtig, und richtete ſich im Bett auf. O der En-
gel! Jch muß ſie anbeten, ob ich gleich gewiß
weis, daß ſie ewig nicht die meine wird. — Er
legte ſich langſam wieder nieder, und fuhr fort:
Alles, lieber Siegwart! alles hab ich ihr zu ver-
danken! Jch war ein liederlicher Kerl, eh ich ſie
habe kennen lernen. Gott vergeb es mir! Jch
ward verfuͤhrt. Als ich hieher kam, wuſt ich noch
gar nichts von der Welt. Sechs Jahre hatt ich
in einem Jeſuiterkloſter geſteckt; muſte da die Religion
als ein Handwerk treiben, und ganze Stunden
lang, ohne Andacht, beten. Das, wozu mich
meine Lehrer anhielten, ſah ich ſie ſelber mit den
Fuͤſſen treten. Wie ein Sklave war ich einge-
ſchraͤnkt, und durfte keinen Schritt thun, ohne
Vorwiſſen meiner Lehrer. Wenn ich nun einmal
in die Welt hinaus kam, ſo hielt ich alles, was
ich ſah, fuͤr wuͤnſchenswuͤrdig, und ſchmachtete in
meinem Kaͤficht wieder deſto mehr darnach. Als
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/212>, abgerufen am 21.11.2024.
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