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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Des Morgens um halb sechs Uhr kam der Thor-
wart, um ihn aufzuwecken. Der Mann war
sehr geschäftig, ihm das noch übrige einpacken zu
helfen. Als Siegwart eben gehen wollte, stand
er in einer Ecke des Zimmers, sah zur Erde hin,
und auf Einmal stürzten ihm die Thränen aus
den Augen. Er drückte unserm Siegwart die
Hand mit der grösten Treuherzigkeit, und küste
sie. Ja, Sie sind so gar ein braver Herr, sagte
er, und es geht mir recht nah, daß Sie fortreisen.
Es muß Jhnen gewiß wohl gehen! Siegwart war
darüber sehr gerührt, gab ihm noch ein Trinkgeld;
der Mann wollte es nicht nehmen. Sie haben
mir schon so viel Guts gethan, und Sie brauchens
jezt auf Jhrer Reise, sagte er in seiner Einfalt.
Siegwart legte das Geld aufs Gesimse, und gieng
mit schwerem Herzen weg.

Nach sieben Uhr gieng der Postwagen ab. Die
Reisenden waren ein junger baierscher Offizier,
ein Jude, und der Kondukteur, ein dicker, star-
ker Mann, dem seine grobe baierische Aussprache
recht drollicht ließ. Siegwart war die erste Stun-
de ganz betäubt. Er dachte an den P. Philipp,
und an alles, was er ihm, und dem ganzen Klo-

M m


Des Morgens um halb ſechs Uhr kam der Thor-
wart, um ihn aufzuwecken. Der Mann war
ſehr geſchaͤftig, ihm das noch uͤbrige einpacken zu
helfen. Als Siegwart eben gehen wollte, ſtand
er in einer Ecke des Zimmers, ſah zur Erde hin,
und auf Einmal ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen aus
den Augen. Er druͤckte unſerm Siegwart die
Hand mit der groͤſten Treuherzigkeit, und kuͤſte
ſie. Ja, Sie ſind ſo gar ein braver Herr, ſagte
er, und es geht mir recht nah, daß Sie fortreiſen.
Es muß Jhnen gewiß wohl gehen! Siegwart war
daruͤber ſehr geruͤhrt, gab ihm noch ein Trinkgeld;
der Mann wollte es nicht nehmen. Sie haben
mir ſchon ſo viel Guts gethan, und Sie brauchens
jezt auf Jhrer Reiſe, ſagte er in ſeiner Einfalt.
Siegwart legte das Geld aufs Geſimſe, und gieng
mit ſchwerem Herzen weg.

Nach ſieben Uhr gieng der Poſtwagen ab. Die
Reiſenden waren ein junger baierſcher Offizier,
ein Jude, und der Kondukteur, ein dicker, ſtar-
ker Mann, dem ſeine grobe baieriſche Ausſprache
recht drollicht ließ. Siegwart war die erſte Stun-
de ganz betaͤubt. Er dachte an den P. Philipp,
und an alles, was er ihm, und dem ganzen Klo-

M m
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[537/0117] Des Morgens um halb ſechs Uhr kam der Thor- wart, um ihn aufzuwecken. Der Mann war ſehr geſchaͤftig, ihm das noch uͤbrige einpacken zu helfen. Als Siegwart eben gehen wollte, ſtand er in einer Ecke des Zimmers, ſah zur Erde hin, und auf Einmal ſtuͤrzten ihm die Thraͤnen aus den Augen. Er druͤckte unſerm Siegwart die Hand mit der groͤſten Treuherzigkeit, und kuͤſte ſie. Ja, Sie ſind ſo gar ein braver Herr, ſagte er, und es geht mir recht nah, daß Sie fortreiſen. Es muß Jhnen gewiß wohl gehen! Siegwart war daruͤber ſehr geruͤhrt, gab ihm noch ein Trinkgeld; der Mann wollte es nicht nehmen. Sie haben mir ſchon ſo viel Guts gethan, und Sie brauchens jezt auf Jhrer Reiſe, ſagte er in ſeiner Einfalt. Siegwart legte das Geld aufs Geſimſe, und gieng mit ſchwerem Herzen weg. Nach ſieben Uhr gieng der Poſtwagen ab. Die Reiſenden waren ein junger baierſcher Offizier, ein Jude, und der Kondukteur, ein dicker, ſtar- ker Mann, dem ſeine grobe baieriſche Ausſprache recht drollicht ließ. Siegwart war die erſte Stun- de ganz betaͤubt. Er dachte an den P. Philipp, und an alles, was er ihm, und dem ganzen Klo- M m

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/117>, abgerufen am 26.11.2024.