die Hand küssen, aber P. Philipp gab ihm einen Kuß auf den Mund. -- Da will ich ihm ein kleines Andenken auf den Weg geben, sagte er, und gab ihm die Berliner Ausgabe vom Virgil. Siegwart wuste nicht, was er vor Rührung und Dankbarkeit sagen sollte? Vorn hatte P. Philipp seinen Namen eingeschrieben. Der Famulus brachte unserm Siegwart ein sehr günstiges Testi- monium, das alle seine Lehrer unterschrieben hat- ten. Als ers las, gingen ihm die Augen über. Das ist zu viel! sagte er. Nein, mein Lieber! antwortete P. Philipp; er verdients; er hat sich brav gehalten; bleib er ferner brav, so wird ihms wohl gehen. Als es zehn Uhr schlug, stund Sieg- wart auf, ohne ein Wort zu sagen; gieng ans Fenster, und weinte, und sagte endlich: ja, nun muß ich gehen. Weiter ließ ihn der Schmerz nicht reden. Philipp gab ihm seinen Segen, küßte ihn, und sie schieden.
Siegwart weinte auf seinem Zimmer noch ei- ne Stunde lang. Den Virgil packte er nicht ins Koffre, sondern steckte ihn zu sich. Das Ge- schenk war ihm gar zu lieb. Endlich, als er sich ganz müde geweint hatte, warf er sich aufs Bette, um noch einige Stunden zu schlafen.
die Hand kuͤſſen, aber P. Philipp gab ihm einen Kuß auf den Mund. — Da will ich ihm ein kleines Andenken auf den Weg geben, ſagte er, und gab ihm die Berliner Ausgabe vom Virgil. Siegwart wuſte nicht, was er vor Ruͤhrung und Dankbarkeit ſagen ſollte? Vorn hatte P. Philipp ſeinen Namen eingeſchrieben. Der Famulus brachte unſerm Siegwart ein ſehr guͤnſtiges Teſti- monium, das alle ſeine Lehrer unterſchrieben hat- ten. Als ers las, gingen ihm die Augen uͤber. Das iſt zu viel! ſagte er. Nein, mein Lieber! antwortete P. Philipp; er verdients; er hat ſich brav gehalten; bleib er ferner brav, ſo wird ihms wohl gehen. Als es zehn Uhr ſchlug, ſtund Sieg- wart auf, ohne ein Wort zu ſagen; gieng ans Fenſter, und weinte, und ſagte endlich: ja, nun muß ich gehen. Weiter ließ ihn der Schmerz nicht reden. Philipp gab ihm ſeinen Segen, kuͤßte ihn, und ſie ſchieden.
Siegwart weinte auf ſeinem Zimmer noch ei- ne Stunde lang. Den Virgil packte er nicht ins Koffre, ſondern ſteckte ihn zu ſich. Das Ge- ſchenk war ihm gar zu lieb. Endlich, als er ſich ganz muͤde geweint hatte, warf er ſich aufs Bette, um noch einige Stunden zu ſchlafen.
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die Hand kuͤſſen, aber P. Philipp gab ihm einen
Kuß auf den Mund. — Da will ich ihm ein
kleines Andenken auf den Weg geben, ſagte er,
und gab ihm die Berliner Ausgabe vom Virgil.
Siegwart wuſte nicht, was er vor Ruͤhrung und
Dankbarkeit ſagen ſollte? Vorn hatte P. Philipp
ſeinen Namen eingeſchrieben. Der Famulus
brachte unſerm Siegwart ein ſehr guͤnſtiges Teſti-
monium, das alle ſeine Lehrer unterſchrieben hat-
ten. Als ers las, gingen ihm die Augen uͤber.
Das iſt zu viel! ſagte er. Nein, mein Lieber!
antwortete P. Philipp; er verdients; er hat ſich
brav gehalten; bleib er ferner brav, ſo wird ihms
wohl gehen. Als es zehn Uhr ſchlug, ſtund Sieg-
wart auf, ohne ein Wort zu ſagen; gieng ans
Fenſter, und weinte, und ſagte endlich: ja, nun
muß ich gehen. Weiter ließ ihn der Schmerz nicht
reden. Philipp gab ihm ſeinen Segen, kuͤßte
ihn, und ſie ſchieden.
Siegwart weinte auf ſeinem Zimmer noch ei-
ne Stunde lang. Den Virgil packte er nicht ins
Koffre, ſondern ſteckte ihn zu ſich. Das Ge-
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/116>, abgerufen am 26.11.2024.
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