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Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811.

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zertheilt wird, ists nicht, was mich betrübt, daß
statt alten Sitten neue eintreten, ists auch nicht,
aber ich vermisse einen gleichen Fortschritt der all-
gemeinen Bildung mit der allgemeinen Verfeine-
rung -- denn Verfeinerung neunt man es ja! --
Ist das überall so, wo man die Fortschritte der
Verfeinerung so deutlich verfolgen kann? Mir
däucht, die Deutschen wären so glücklich gewesen
bei der überhandnehmenden Verfeinerung, auch
eine allgemeinere Verbreitung von Kenntnissen zu
genießen -- ich erinnere mich noch sehr wohl, wie
meine Großmutter sich kleidete, ihres Geräthes,
ihrer Gesellschaft, ihres Tons -- aber wenn das
alles jetzt anders ist, so erinnere ich mich auch was
sie für Vorurtheile hatte, was man damals nicht
wußte, nicht lernte, nicht dachte, was damals
ganz zu denken verboten war, was nur der Spe-
knlation erlaubt war. -- Ob wir darum jetzt bes-
ser daran sind? das muß das nächste Geschlecht
ausweisen. Daß der Luxus des Jahrs 1809 mit
den Ansichten und Begriffen von 1770 verbunden,
ein sehr unerfreuliches Gemälde darstellt, habe ich
wahrgenommen.

Unter den zahllosen Kramläden, die hier oft
ganze Straßen lang fortlaufen, befindet sich in der

zertheilt wird, iſts nicht, was mich betruͤbt, daß
ſtatt alten Sitten neue eintreten, iſts auch nicht,
aber ich vermiſſe einen gleichen Fortſchritt der all-
gemeinen Bildung mit der allgemeinen Verfeine-
rung — denn Verfeinerung neunt man es ja! —
Iſt das uͤberall ſo, wo man die Fortſchritte der
Verfeinerung ſo deutlich verfolgen kann? Mir
daͤucht, die Deutſchen waͤren ſo gluͤcklich geweſen
bei der uͤberhandnehmenden Verfeinerung, auch
eine allgemeinere Verbreitung von Kenntniſſen zu
genießen — ich erinnere mich noch ſehr wohl, wie
meine Großmutter ſich kleidete, ihres Geraͤthes,
ihrer Geſellſchaft, ihres Tons — aber wenn das
alles jetzt anders iſt, ſo erinnere ich mich auch was
ſie fuͤr Vorurtheile hatte, was man damals nicht
wußte, nicht lernte, nicht dachte, was damals
ganz zu denken verboten war, was nur der Spe-
knlation erlaubt war. — Ob wir darum jetzt beſ-
ſer daran ſind? das muß das naͤchſte Geſchlecht
ausweiſen. Daß der Luxus des Jahrs 1809 mit
den Anſichten und Begriffen von 1770 verbunden,
ein ſehr unerfreuliches Gemaͤlde darſtellt, habe ich
wahrgenommen.

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[140/0154] zertheilt wird, iſts nicht, was mich betruͤbt, daß ſtatt alten Sitten neue eintreten, iſts auch nicht, aber ich vermiſſe einen gleichen Fortſchritt der all- gemeinen Bildung mit der allgemeinen Verfeine- rung — denn Verfeinerung neunt man es ja! — Iſt das uͤberall ſo, wo man die Fortſchritte der Verfeinerung ſo deutlich verfolgen kann? Mir daͤucht, die Deutſchen waͤren ſo gluͤcklich geweſen bei der uͤberhandnehmenden Verfeinerung, auch eine allgemeinere Verbreitung von Kenntniſſen zu genießen — ich erinnere mich noch ſehr wohl, wie meine Großmutter ſich kleidete, ihres Geraͤthes, ihrer Geſellſchaft, ihres Tons — aber wenn das alles jetzt anders iſt, ſo erinnere ich mich auch was ſie fuͤr Vorurtheile hatte, was man damals nicht wußte, nicht lernte, nicht dachte, was damals ganz zu denken verboten war, was nur der Spe- knlation erlaubt war. — Ob wir darum jetzt beſ- ſer daran ſind? das muß das naͤchſte Geſchlecht ausweiſen. Daß der Luxus des Jahrs 1809 mit den Anſichten und Begriffen von 1770 verbunden, ein ſehr unerfreuliches Gemaͤlde darſtellt, habe ich wahrgenommen. Unter den zahlloſen Kramlaͤden, die hier oft ganze Straßen lang fortlaufen, befindet ſich in der

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Zitationshilfe: Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/154>, abgerufen am 24.11.2024.