Bemerkungen
uͤber
Holland
aus
dem Reiſejournal einer deutſchen Frau
von
Thereſe H.
Leipzig, bei Gerhard Fleiſcher, dem Juͤngern.
1811.
Vorerinnerung.
.... und das hat der Leſer wohl ſchon auf dem
erſten Blatte dieſer Reiſebeſchreibung gemerkt,
daß es mehr das Wie geſehen, als das Was ge-
ſehen iſt, welches der Verfaſſer ihm bringt, mehr
die Ideen und Gefuͤhle, ſo die Gegenſtaͤnde er-
zeugt haben, als eine gemeine Beſchreibung der
Gegenſtaͤnde ſelbſt, welche er gewiß weit beſſer
und ausfuͤhrlicher in andern Buͤchern finden
kann, welche der Verfaſſer von dieſer Reiſe nicht
geſchrieben und nicht geleſen hat.
Oelenſchlaͤger, Wallfahrt nach Rom.
Mehr wie die vorſtehende Erklaͤrung ver-
ſpricht, darf der Leſer auch in den nachfolgen-
den Blaͤttern nicht ſuchen. Eine haͤusliche
Mutter ſchrieb ſie an ihre ſtille lebenden Kin-
der — andere ſolche Muͤtter, ſolche Kinder,
werden ſie mit Mitgefühl leſen. Um ſich zu
unterrichten, finden ſie die Nachrichten von
Reiſenden, vor denen die einfaͤltige Matrone,
welche dieſe Briefe ſchrieb, ſehr beſchaͤmt ſte-
hen wuͤrde, wollte man ſie mit ihren weibli-
chen Gefuͤhlen, ihren phantaſtiſchen Anſich-
ten vergleichen. Sie will nur die Empfin-
dung erwecken, jene wackern Maͤnner moͤgen
dann berichtigen und belehren.
G …
im September 1810.
Th. H.
Inhaltsanzeige.
Erſter Abſchnitt.
Karlsruhe. Erinnerungen. Gaͤrten. Schaffauers Denk-
mal des Erbprinzen. Vergleich mit Herrnhauſen. Meie-
rei bei Karlsruhe. Heidelberg. Neue Anlage auf dem
Schloßberge. Anekdote aus der Geſchichte. Maskerade
der ſtudirenden Jugend. Seite 1.
Zweiter Abſchnitt.
Ankunft in Mainz. Mautbediente. Martinsburg. Dom.
Frohnleichnamsfeſt. Todtenfeier Kaiſer Joſephs. Der
Platz Guttenberg. Neues Schauſpielhaus. Ehemalige
Domprobſtei. Regret der Mainzer. Lycaͤum. Buͤrger-
maͤdchen. Juſtitztribunal. Botany Bay und Zuchthaͤuſer.
St. Emmeranskirche. Rheinallee. Rheinfahrt nach Bi-
berich. S. 16.
Dritter Abſchnitt.
Betrachtungen uͤber das Reiſen. Das Poſtſchiff bleibt aus.
Ausſicht in Biberich. Feldbau. Schloß. Garten. Waſ-
ferkuͤnſte. Das Poſtſchiff. Reiſegeſellſchaft. Vergleich
der Rheinfahrt und des Wegs von Solothurn nach Baſel.
Blicke in die Vorzeit. Alte und neue Ruinen. Nachtla-
ger in Boppart. Aufbruch nach Koblenz. Die Groß-
mutter. Schlechter Wind. Der Schutzgeiſt. Weſelingen.
Ankunft in Koͤlln. S. 31.
Vierter Abſchnitt.
Der Dom. Seelenmeſſe fuͤr ein Kind. Reliquien. Vorbo-
ten hollaͤndiſcher Reinlichkeit. Neuer Marktplatz in Koͤlln.
Kleidung der Baͤuerinnen. Weg nach Cleve. Backſtein-
brennereien um Nuys. Neue Spaziergaͤnge. Hochſtraa-
ten. Koͤnig Ludwig. Bauergaͤrten. Udingen. Back-
ſteinoͤfen. Xanthen. Erſtes hollaͤndiſches Wirthshaus.
Cleve. Erſte hollaͤndiſche Bekanntſchaft. Diligence von
Cleve nach Nimwegen. Reiſegeſellſchaft. Nimwegen.
Spaziergaͤnge. Sprache. Die Waal. Glockenſpiele.
Gaſthof. Hohe Daͤmme. Ankunft in Utrecht. S. 67.
Fuͤnfter Abſchnitt.
Utrecht. Sitten. Univerſitaͤt. Botaniſcher Garten. Na-
turalienkabinet. Dom. Heiliger Martin. S. 116.
Sechſter Abſchnitt.
Reiſe zu Land nach Amſterdam. Erſter Anblick bei einbre-
chender Nacht. Erſte Beſchaͤftigung in Amſterdam. Straſ-
ſen. Kanaͤle. Kaufladen. Obſtmarkt. Kuͤnſtliche Obſt-
zucht. Blumenmarkt. S. 126.
Siebenter Abſchnitt.
Admiralitaͤt. Verſchiedene Geſtalten der Schiffe. Koͤnigliche
Jacht. Spazierfahrt auf dem Y. Koͤnigliches Muſeum.
Portraits. Rembrand. Van der Elſt. Jakoba von Bayern.
Von der Eyk. Neue Kirche. Tromps Denkmal. Luthe-
riſche Kirche. Religioſitaͤt. Sonntagsſtaat. Nordhol-
laͤnderinnen. Menagerie. Botaniſcher Garten. Wagen
auf Schlittenkufen. Felix Meritus. S. 148.
Achter Abſchnitt.
Boͤrſe. Schauſpiele. Sonntagsvergnuͤgen des Volks. Bil-
dung des Volks. Reinlichkeit. S. 205.
Neunter Abſchnitt.
Ruͤckkehr von Amſterdam nach * * *. Landguͤter und Land-
haͤuſer in dieſer Gegend. Trekſchuiten und Waſſerfahrten.
Bettler. Marsden. S. 229.
Zehnter Abſchnitt.
Sehr uͤberfluͤſſiges Raiſonnement. Der Lithauiſche Leibeigne.
Der hollaͤndiſche Landmann. Der Berner Bauer. S. 254.
Eilfter Abſchnitt.
Mordpredigt in Oudewater. Buͤrgerliche Wohnung. Ge-
gend am Leck. Fiſchparthie. Deichbau. Almeiden. S. 271.
Zwoͤlfter Abſchnitt.
Reiſe nach Leyden. Woerden. Ziegelbrennerei. Alphen.
Seine Umgebungen. Kalkoͤfen. Leyden. Pulverexploſion.
Altes Schloß. S. 288.
Dreizehnter Abſchnitt.
Der Haag. Cadettenhaus. Soldatenſchule. Haus im
Buſch. Schewelingen. Das Meer. Weg nach Delft.
Grabmaͤler. Weg nach Rotterdam. Haven. Schiffs-
werft. Arſenal. Quai. Eraſmus Bildſaͤule. S. 318.
Vierzehnter Abſchnitt.
Gouda. Fabriken. Glasmalerei. Kirche. Orgel. Orga-
niſt. Gemaͤlde. S. 371.
Funfzehnter Abſchnitt.
Ruͤckreiſe uͤber Nimwegen und Cleve. Johanna Sebus.
Ruinen am Rhein. Neuer Weg von Koblenz nach Mainz.
Neues Poſthaus in Ingelheim. Ankunft in Mainz. S. 383.
Erſter Abſchnitt.
Im Juli 1809. Elfeld im Rheingau.
Hier brachte ich vor neunzehn Jahren dieſe Som-
mermonate zu, und von dieſem Orte aus, unter
lauter gewohnten Gegenſtaͤnden, finde ich Muſe,
einen Theil meiner Reiſe wieder zu uͤberdenken.
In Carlsruhe betrat ich die erſte Staͤtte der Erinne-
rung. Die Stadt war mir noch ziemlich bekannt,
ich war uͤberraſcht, mich in demſelben Wirths-
hauſe zu finden, welches ich vor achtzehn Jahren
bewohnt hatte. Die mich damals begleiteten,
ſchliefen, um die ich damals weinte, ſchliefen
auch. Schlafen? nein! das iſt eine ſchwere irdi-
ſche Ruhe; ſie umſchwebten mich und laͤchelten
meinem naſſen Blick entgegen. Ich erkannte
Schloßers Haus. Er ſtarb auch. Froh in
A
dieſem Augenblick allein zu ſeyn, ging ich in den
Schloßgarten und dachte jener Zeit. Was ward
ſeitdem zertruͤmmert! was fuͤr Menſchen gingen
unter! ihren Zeitgenoſſen, der Befoͤrderung des
Guten. Und gingen ſie unter? fragte ich mich
beſchaͤmt. Wie ich vor achtzehn Jahren hier wan-
delte, war alles uiedriges Gebuͤſch, es war mir
widrig das kleine Geſtruͤpp zu ſehen, ich hing da-
mals an dem Augenblick, ich glaubte zu wiſſen
was mein Gluͤck ſei, und es war mir verſagt,
und die Welt ſchien mir blutarm, die mir nicht
gab, was mein Sinn ſtoͤrriſch verlangte. Damals
gaben dieſe ſchoͤnen Baͤume mir noch keinen Schat-
ten, dieſe Weiden waren kleine Ruthen, aber ich
bedurfte auch der aͤußern Welt nicht, ich naͤhrte
mich an unendlicher Sehnſucht und allgenuͤgendem
Schmerz. Dann kam eine andere Zeit — ich be-
ſaß, und verlohr. — Verlohr mehr als ich je zu
erſehnen vermochte, und nun wandle ich wieder
hier, ſtatt Sehnſucht Ergebung im Buſen, ſtatt
Streben ins Leben hinaus, Ruͤckblick auf Graͤber,
jetzt umfaſſe ich die Natur, jetzt erkenne ich die
Außenwelt, denn ſie vermaͤhlt mich mit dem An-
denken an alles was ich verlor. Und nun finde
ich die kleinen Straͤuche zu ſchattenreichen Baͤumen
emporgewachſen — und dieſe herrlichen Weiden!
— Ich ſaß im Schatten, und vor mir auf einem
Teppich von ſchmaragdnen Graſe, ſtand eine hohe
Thraͤnenweide, die Luft bewegte die langen Aeſte,
die Sonne mahlte ſie blaßgruͤn durch helle Be-
leuchtung; die zarten Blaͤtter lispeln nicht, der
ganze Baum wogt wie ein Geiſtergewand, und
der Schatten gleitet ſtumm uͤber den gruͤnen Bo-
den. Reiche fielen, die Edeln gingen unter, al-
les Menſchenwerk wandelte furchtbar ſeit dieſe
junge Schoͤpfung empor wuchs, aber die Natur
ſchritt fort von Leben zu Leben. Heiliges Pfand,
daß nichts untergeht, was ſich je des Daſeins
erfreute!
Ich durchwanderte dieſen ſchoͤnen Garten mit
Wehmuth und Freude. Er iſt ſchoͤn, und das
Gefuͤhl, mit dem man des ehrwuͤrdigen alten Fuͤr-
ſten gedenkt, dem man oft hier begegnet, macht
ihn noch ſchoͤner. Seine Freundlichkeit macht den
Aufenthalt feierlich, ſtatt zu verſcheuchen, und
das iſt ein Lobſpruch, der in dem Herzen ſeines
Volkes als ſchoͤnes Denkmahl ſeiner Guͤte fort-
leben wird. Ich beſuchte auch den andern Garten
wo Scheffauers Monument ſieht. Die gute Fuͤr-
ſtin, die es errichten ließ, dachte wohl nicht, daß
A 2
ſie es dem Andenken jedes geliebten Todten errich-
tete, deſſen Hinterlaßner zu ihm hintritt. Der
hoffende Blick dieſer weiblichen Geſtalt — o, wie
manches naſſe Auge folgt ihm zu den Hoͤhen, die
uns auf unſrer niedern Erde immer wie unſre Hei-
math erſcheinen. Das Denkmahl galt auch mei-
nen Todten. Ich rufte ihre Geſtalten auf aus
den weiten Fernen des Aufgangs und Untergangs,
wo ſie zu Staub wurden, und verſammelte ſie um
dieſe hoffende Geſtalt, und ſo oft ich der klei-
nen Capelle nun denke, iſt ſie meiner Todten
Denkmahl.
Koͤnnte ich doch der huͤbſchen Stadt zwanzig
tauſend Einwohner mehr ſchenken; ſie hat etwas
Freundlichhelles, was mich anſpricht. Man ſag-
te mir, daß die ſchoͤnen Gaͤrten wenig beſucht
werden — das iſt nicht gut, und iſt doch ſo haͤu-
fig. Ich bin ſo gern allein in dieſen Schattengaͤn-
gen, moͤchte ſie aber doch lieber mit Menſchen
angefuͤllt ſehen, und fand ſie nirgends ſo. In
Wien ſoll man dieſen Genuß haben. Erhalte der
Himmel den guten Wienern ihre Leichtigkeit, ſich
zu freuen! Herrenhauſen bei Hannover ſah ich
ehemals recht voll, aber an Gallatagen wenn eine
Prinzeſſin aufzog oder dergleichen. Ich erinnre
mich einen gewiſſen engliſchen General, der die
deutſchen Truppen damals fuͤr den amerikaniſchen
Krieg einhandelte, an der großen Fontaine der
verwittweten Herzog von Braunſchweig vorſtellen
geſehn zu haben. Meinem zwoͤlfjaͤhrigen Kopf
kams damals ganz wunderſchoͤn und praͤchtig vor,
wie der Britte in ſeiner glaͤnzenden Uniform, ein
Knie am Boden der alten Dame die Hand kuͤßte.
Sie hatte eine hohe Fontango und großen Reif-
rock wie alle Damen um ſie her, alles glaͤnzte von
Brillanten, in denen die Sonne blinkerte wie in
den Millionen Waſſertropfen des herrlichen
Springbrunnen. Damals fand ich die Brillan-
ten aber intereſſanter, jetzt ſchwebt der ganze Auf-
tritt vor mir wie ein Guckkaſtenbild, und wuͤßte
ich nicht ſicher, daß ich ihn wirklich ſah, hielt ich
die Hecken, und die Menſchen, und die Handlung
fuͤr einen Guckkaſten-Vorgang. Im Jahre fuͤnf
und neunzig hoͤrte ich unter manchen Zuͤgen, wel-
che unſre ſatte Weichlichkeit ſo gern vergißt, wie
in der Nacht des neunten Thermidor die Gefang-
nen auf die Sturmglocken horchten, und auf die
Laͤrmtrommel, und endlich unterbrach einer dieſe
bange Stille und ſagte: mir daͤucht ich werde heu-
te Nacht achtzig Jahre alt. Wenn ich jene Zeit
meines zwoͤlften Jahres rechne und jetzt, ſo ſollte
ich denken, ich waͤr ein Jahrtauſend alt. Solche
Hofpraͤſentationsauftritte gehoͤren aber nach
Gaͤrten wie Herrenhauſen, wo die Natur unter
der Hand des Gaͤrtners eine willkuͤhrliche Umform
angenommen hat, hierher wuͤnſche ich ein
lach- und eßluſtiges Voͤlkchen, auf die Baͤnke
gelagert, in die Gaͤnge zerſtreut, und ſtatt dem
Hofſtaat in Fiſchbeinroͤcken, Tanz und Geſang.
Das Land war von hier aus herrlich ſchoͤn be-
baut; rechts geht der Schwarzwald fort, und
macht mit ſeinen dunkel gekroͤnten Gipfeln einen
reizenden Contraſt gegen die Ebne, in der goldnes
Saatkorn mit dem ſchoͤnſten Hanf und Klee, den
ich je ſah, abwechſelte. Nahe bei Carlsruhe be-
ſahe mein Reiſegefaͤhrte, ein geſchickter Oekonom,
einen fuͤrſtlichen Meyerhof. Ich ſchlenderte mit,
fand aber wenig Freude dabei, denn es ſah oͤde
aus. Mein Oekonom ging auch mit betruͤbten
Geſichte herum und verſicherte wie der Papagei in
Goͤthes Voͤgeln: daß er unausſprechliche Seelen-
leiden litt, weil hier vierzig Kuͤhe fraͤßen, wo
zwei hundert gefuͤttert werden koͤnnten. Das iſt
allerdings aͤrgerlich, denn da Freſſen der Kuͤhe
Gluͤck iſt, ſo wuͤnſche ich recht viele Gluͤckliche die-
ſer Art. Dieſe Landbauenthuſiaſten ſind ein eig-
nes Geſchlecht. Die ganze Natur iſt fuͤr ſie eine
große Dunganſtalt, und die Allmacht Gottes of-
fenbart ſich ihnen ausſchließend in der Produktion.
Dabei haben ſie ſeit einiger Zeit eine wunderbare
Melodie zu ihrem Texte erfunden, die ihnen aber
rechter Ernſt iſt, ſie nennen ihr Geſchaͤft reine Be-
muͤhung zum Menſchenwohl. Das iſts nun in
ſeinen unendlichen Folgen ganz unfehlbar, aber
durch ihre Abſicht doch nur ſehr mittelbar. Moͤ-
gen ſie aber ihrem Beruf einen Namen geben wie
ſie wollen, hat man es ihrer Wiſſenſchaft zu dan-
ken, daß dieſe Gegenden ſo herrlich bluͤhen, un-
geachtet ſo viele ruͤſtige Arme ihrer Bewohner an
der Donau die Sichel des Todes fuͤhren, ſtatt hier
die fetten Saaten zu faͤllen — ſo ſegne Gott ihre
Wirkſamkeit.
Heidelberg war mir wie ein alter Jugendbe-
kannter, mit dem ich ehemals Freude und Leid
theilte. In den Morgenſtunden meines Lebens
ſaß ich unter ſeinen Ruinen und ſchwelgte in kin-
diſchem Schmerz, und die ehrwuͤrdige Groͤße der
Truͤmmern veredelte mein Gefuͤhl. Mir daͤucht
in der Jugend fuͤhrt Schmerz uns zum Gebet, iſt
Gebet; im Alter thut es die Freude. Denn das
Beduͤrfniß inniger Gemuͤther Schmerz zu em-
pfinden, iſt doch nur Beduͤrfniß von der Erde auf-
waͤrts zu ſteigen; wenn die Sonne des Lebens
dann ſinkt, vergoldet ſie die Hoͤhen, die uͤber den
langen Erdenſchatten noch herausragen, und wir
erkennen ſie, und danken und beten. Dieſe Truͤm-
mern waren nach ſo vielen Jahren das Bild mei-
nes Lebens geworden, eine neue bluͤhende Schoͤ-
pfung ſproßte aus ihnen empor. Es haben gewiß
viele Reiſende von Heidelberg erzaͤhlt, ich glaube
ſogar, daß ich in meinen Waͤldern eines ganzen
Buches uͤber Heidelberg habe erwaͤhnen hoͤren;
hat man denn aber auch recht herzlich geſagt, wie
ſchoͤn die Anlage um das alte Schloß iſt? Sie iſt
ganz das Werk des Oberforſtraths Gatterer. Hat
denn wohl ein Bemuͤhen einen ſchoͤnern Lohn, wie
die Wirkung die aus ihm ſelbſt entſpringt, ohne
Lob, ohne Dank? Der Genuß dieſer herrlichen
Natur muß wohlthaͤtig ſeyn, denn gewiß, gewiß,
unſchuldige Freude macht gut, und das iſt der
Lohn des Mannes, der hier mit einem, jedem
Schoͤnen offenen Sinn das Lokal benutzte. Aber
welches Lokal! das ſchoͤnſte Abendroth ſtrahlte
heute vom Himmel, und zeigte die Truͤmmern in
ihrer ganzen Groͤße. Zu jedem Fenſter blickte die
Auferſtehungsfarbe herein, — denn die Abend-
roͤthe deutet mir immer auf Vollendung, ſo wie
die Morgenroͤthe mir Wehmuth und Sorge er-
weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O
was wartet deiner! ſeufz ich mit vollem Herzen.
Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz ſteigt
auf, und zieht die keinen Wolken in ſich hinein,
und Ruhe gießt ſich aus uͤber den Himmel, ſo
ſchwingt ſich die Seele auf in dieſe Farbenherrlich-
keit, die ſie immer nur als Schleier des Schoͤnern
empfindet, das ſie verbirgt, als Bild des Erhabnern,
das ſie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze ſtand
der praͤchtige geſprengte Thurm im Schatten.
Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die
tiefen Gewoͤlbe, und oben uͤber ihm und neben
ihm aus allen Mauerſpalten nickte gruͤnes und
bluͤhendes Geſtraͤuch und bekraͤnzte die Zerſtoͤrung
mit ſtets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der
Tiefe der abgeriſſene Theil des Thurms, wie ein
maͤchtiger Granitblock auf andre Felſen geſtuͤtzt.
Wie ſchmerzlich muß dieſer herrliche Ort dem
Menſchen ſeyn, die in der Zerſtoͤrung keine neue
Schoͤpfung erblicken. Denn hier iſt alles Zerſtoͤ-
rung, alles neues Leben und Schoͤpfung. Ich
ſtand lange an der aͤußerſten Spitze der Anlage
gegen den Fluß, die erſt neuerlich in Form einer
Terraſſe iſt erbaut worden, wo ſonſt ein jaͤher ſtei-
niger Abhang war. Ich dachte an die Zeit, wo
in lebendiger Wildheit das Waſſer des Neckars
dieſe Schluchten grub, wo es dort, wo jetzt eini-
ge Silberfaden von Suͤden nach Norden glaͤnzen,
mit den maͤchtigen Stroͤmen zuſammen floß, die
von den Alpen herab himmelhohe Berge durch-
brechen; dann dachte ich die Folgenreihe der
Schoͤpfungen, wo ſtets die erſte die folgende
muͤtterlich in ihrem Schooße entwickelte, und
dann unſterblich in ihr ſelbſt unterging. Bis
nun endlich dieſe Menſchenneſter gebaut wurden
von dem vergaͤnglichen Geſchlecht, und es ſich
Jahrhunderte lang mit ſeiner ewig regen Liebe im
Herzen an der Sonne und dem Gruͤn und dem
ſilbernen Fluſſe erfreute, und wie nun dieſe Denk-
mahle abſcheulicher Kriegswuth wieder wohlthun,
indem ſie durch erhabene Bilder das Gemuͤth klein-
lichen Sorgen entheben. Eltern, Vormuͤnder, wer
ihr auch ſeid, wenn ihr eures Zoͤglings Herz geſund
erhieltet, daß es ſich uͤber eine große ſchoͤne Schoͤ-
pfung freuen kann — ſchickt ihn nach Heidelberg!
Ich begreife nicht, wie ein junger Mann, der hier
mit offnem Gemuͤthe herkommt, roh, unſittlich
werden kann.
Das Schloß hat, wie es noch beſtand, gewiß
nicht den ſchoͤnen Anblick gewaͤhrt, den ſeine Truͤm-
mern uns ſchenken. Das Gemiſch von Bauarten
aus verſchiedenen Jahrhunderten, mußte damals
unangenehm ſeyn, jetzt ſtehen ſie beide da, im
Denkmahl vergangner Zeiten. Der ſehr verdiente
Weinbrenner in Karlsruhe ſoll einige Spuren roͤ-
miſcher Vollendung unter den Truͤmmern gefun-
den haben. Welchem Zeitalter gehoͤrte wohl der
ungeheure Thurm, den die Gewalt des Pulvers
nur wie einen Felſen hat ſprengen koͤnnen, ohne
ihn zu zerſtuͤckeln? Das herabgeſtuͤrzte Mauer-
ſtuͤck ſoll ſieben und zwanzig Fuß dick ſeyn. Wo-
zu er beſtimmt war, iſt ſehr raͤthſelhaft, da die
Gewoͤlbe, die er Stockwerkweis uͤber einander
enthaͤlt, gar keine Verbindung unter einander ha-
ben, noch gehabt haben koͤnnen, als durch vier-
eckigte Loͤcher, die in der Groͤße eines engen
Schornſteins, von einem Gewoͤlbe in das andere
gehen. Mich duͤnkt ſie befinden ſich alle auf der-
ſelben Seite. An verſchiedenen Orten finden ſich
große eiſerne Ringe eingemauert, wahrſcheinlich
von der Zeit her, wo der Thurm noch eine Be-
ſtimmung hatte. Von Treppen findet ſich nir-
gends eine Spur, und von einem Eingange am
Fuße des Thurms ſcheint niemand etwas zu wiſ-
ſen. Wie wunderlich, daß wir den Gebrauch ei-
nes ſo muͤhſeeligen, fuͤr die Ewigkeit feſten Ge-
baͤudes, aus doch nicht ſo gar fernen Zeiten, gar
nicht beſtimmen koͤnnen. Mich weht aus dieſen
Gewoͤlben immer Kerkerluft an, und die leiſen
Luͤfte, die durch die Truͤmmern ziehen, rufen
mir zu: Gedenke der Seufzer, die hier ver-
hallten!
Die ſchoͤne Fronte des neuen Schloſſes erin-
nerte mich an einen Auftritt, der kurz nach der
Bartholomaͤusnacht in Paris hier vorfiel. Der
Herzog von Anjou beſuchte auf ſeinem Wege nach
Polen, zu deſſen Koͤnig er erwaͤhlt war, den
Churfuͤrſten von der Pfalz hier auf ſeinem Schloſ-
ſe. Bei ſeinem Eintritt in die Hoͤfe empfing ihn
kein Menſch, er ging beſtuͤrzt bis an den Eingang
des Schloſſes, wo zwei deutſche Edle ihn erwar-
teten, und ſchweigend die Treppe hinauf fuͤhr-
ten. Im Vorſaal erblickte er zu beiden Seiten
einen Haufen franzoͤſiſcher Hugenotten, die, der
Mordnacht entflohen, bei dem Churfuͤrſten
Schutz gefunden hatten, und jetzt ihn mit rache-
fordernden Blicken begleiteten. Er tritt in das
Audienzzimmer, und ſein erſter Blick faͤllt auf
ein Gemaͤlde dem Eingang gegenuͤber, das des
Admiral Coligny grauſame Ermordung darſtellt,
und zu beiden Seiten des Churfuͤrſten ſtehen meh-
rere franzoͤſiſche Große, die jener abſcheulichen
Verfolgung entgingen, und deren Auge der Prinz,
wohin er tritt, begegnen muß. Margaretha
von Valois iſt es, wie mir daͤucht, welche dieſen
Auftritt erzaͤhlt. Er enthaͤlt einen unendlichen
Umfang von Gefuͤhlen. Und es iſt ein Moment!
Und wie viele Menſchengeſchichten ſah dieſes
Menſchengebaͤude vergehen bis zu dem ſchreckli-
chen Augenblick, wo es die franzoͤſiſche Willkuͤhr
zerſtoͤrte. Nun ſchweigt in den oͤden Mauern
Schmerz und Rache und Freude, ſie blicken auf
das bluͤhende Land herab und ſcheinen uns zu ſa-
gen: ſeht wie viel ſchneller Gott wieder ſchafft,
als die Menſchen erbauen.
Indem ich durch die Straßen ging, machte
mich der Lohnbediente auf ein Schauſpiel auf-
merkſam, das er ſehr zu bewundern ſchien.
Verſchiedene Studirende hatten ſich in Juden,
Bauern und alte Buͤrger verkleidet, mit Peruͤcken,
Lumpen und altfraͤnkiſchen Kamiſoͤlern, jagten und
fuhren ſo mehrmals durch die Stadt, worauf ſie
ſich in ein nahgelegenes Dorf begaben, wo ſie,
wie der Lohnbediente innig froh verſicherte, die
Bauern recht plagen wuͤrden. Ich weiß nicht ob
dieſe Juͤnglinge, wenn ſie einſt Maͤnner werden
ſollten, wie unſer blutendes Jahrhundert ſie be-
darf, dieſes Spaßes mit Stolz gedenken wer-
den? Die thoͤrigſte Luſtigkeit iſt unter Freun-
den erlaubt, allein wenn man das Publikum
zu Zeugen macht, veraͤndert ſie die Geſtalt.
Ich achte ein Publikum nicht, dem ich mich ſo
zeige, und ein Publikum, das Achtung verdient,
achtet auch mich nicht, weil ich mich ihm ſo
gezeigt habe.
Dieſes Jahr ſchien mir die Bergſtraße nicht
ſo reizend wie das vorige, wo ich, ungefaͤhr in
denſelben Tagen die Nacht in Heidelberg zubrach-
te, und von ſeinen Schoͤnheiten nichts ſah, als
die Zinnen ſeiner Berge, die, wie mein Wagen
ſich vom Neckar abwendete, der erſte Morgen-
ſtrahl vergoldete. Ich ſuche die mindere Schoͤn-
heit, welche der Weg mir dieſes Jahr bot in der
Verſchiedenheit der Anpflanzungen nahe am Wege,
unter denen wenig Taback und Mais war —
bei weiten die ſchoͤnſten Felder fuͤr das Auge —
und den gaͤnzlichen Mangel an Obſt. Voriges
Jahr belebten die buntgefaͤrbten Fruͤchte das gruͤ-
ne Laub, und deuteten auf die Freuden der Ernd-
te, dieſes Jahr erblickten wir weit und breit kein
Obſt, ja wir fanden auf dem ganzen Weg
den Rhein herab nirgends Kirſchen, um unſern,
durch Staub und Hitze unleidlichen, Durſt zu
loͤſchen.
Zweiter Abſchnitt.
Mainz im Jul. 1809.
Mainz nach ſiebzehn verfloßnen Jahren! — Ich
hatte lange ernſt mit mir gerechnet, ehe ich an die
Rheinbruͤcke trat, vor der ich ausſtieg. Ich ging
an das Ufer hinab, und zog, den ſtillen Fluthen
nachblickend, noch einmal die Bilanz zwiſchen den
geweinten Thraͤnen, und der gewonnenen Zu-
verſicht — ohne daran zu denken, ſchoͤpfte ich
Waſſer mit der Hand, und benetzte meine bren-
nenden Lippen:
Pſyche trinkt — und nicht vergebens,
Ploͤtzlich in der Fluthen Grab,
Sinkt das Nachtſtuͤck ihres Lebens
Wie ein Traumgeſicht hinab.
So ungefaͤhr war mir, und eine heitere kindliche
Ruhe ſenkte ſich in mein Gemuͤth, ich ging ſtill
wie ein Schatten uͤber die Bruͤcke und betrat das
franzoͤſiſche Gebiet. —
Man hatte mir von der Strenge, der Inſolenz
der Mauthbedienten geſprochen. Sie baten mich
hoͤflich meinen Koffer zu oͤffnen; obenauf lagen
ein Paar Portefeuilles mit Schriften und Land-
karten, einige Buͤcher — darunter war der Kof-
fer geſchnallt. Ich war zur Seite getreten, um
ſie nicht zu ſtoͤren. „Da ſiehts ſehr regelmaͤßig
aus,“ ſagten ſie unter einander. „Sie koͤnnen
fortan gehen,“ wendete ſich der eine zu mir, in-
dem er mit der Hand uͤber einen großen mir ge-
hoͤrigen Nachtſack ſtrich, ohne hinein zu faſſen,
und ſo langte ich ohne einen Sous zu zahlen in
Mainz an.
Von der alten Martinsburg iſt der aͤlteſte
Theil eingeſchoſſen oder niedergeriſſen, und das
Uebrige irgend einem Gewerbe — ich glaube der
Kaufmannſchaft, zur Niederlage uͤberlaſſen.
Wenn man uͤber die Bruͤcke kommt, erblickt man
keine Veraͤnderung; was vom alten Schloß abge-
tragen iſt, kann man keinen Verluſt nennen; es
war ein widrig haͤßliches Gebaͤude. Die Inſel
zur rechten Hand, welche ſonſt die Churfuͤrſtenaue
hieß, war ſonſt bewachſener. Die Truͤmmer eines
kleinen Pavillon blicken durch die duͤnnen Gebuͤſche
— die Haͤuſer der ehemaligen Hollanderei ſtehen
B
noch, und das ſchoͤne Gras der kleinen Inſel naͤh-
ret noch ihre Heerde. Sie gehoͤrt aber Privatleu-
ten. Der Hafen kam mir jetzt lebhafter, das
Ufer mit mehreren Schiffen bedeckt vor, als ich
es ehemals bei einem vierjaͤhrigen Aufenthalte in
Mainz ſah. Meine Blicke ſuchten den zerſtoͤrten
Dom — deſſen Kuppel ich, auf falſche Berichte
hin, fuͤr angeſchoſſen hielt. Wie ſehr ward ich
uͤberraſcht, ihn wieder zu finden, dem Aeußern
nach ganz unverſehrt, die beiden kleinen Thuͤrm-
chen an dem entgegengeſetzten Ende der Kirche ſind
eingeſchoſſen, aber mein großer majeſtaͤtiſcher
Thurm, von dem ich oft die Strahlen der Abend-
ſonne zuruͤckſtrahlen ſah, auf dem ſo oft mein
Blick ruhte, wenn ich im Mondenglanze von mei-
nen ſpaͤten Wanderungen zuruͤck kam — mein
ernſter Thurm ſtand noch! Wie ich dieſe Kirche
zum erſten Male beſuchte. war Frohuleichuamsfeſt
— iſt es nicht ein eignes Schickſal, daß von ſechs
Menſchen, die wir damals, alle in der Jugend-
bluͤthe, dieſes fuͤr uns fremde Feſt beſuchten, nach
neunzehn Jahren niemand mehr lebt, als ich al-
lein? — Es war Frohnleichnam, die Kirche duf-
tete von den emporſteigenden Weihrauchwolken,
die Sonne ſtrahlte blendend auf die reiche Mon-
ſtranz, die von Diamanten und Gold, ſelbſt in
Geſtalt einer ſtrahlenden Sonne, gearbeitet war.
Fruͤhlingswehen ſaͤuſelte in den heiligen Fahnen
wie das Allerheiligſte aus der Kirche uͤber dem
Blumenpfad getragen ward, der uͤber den, mit
zahlloſem Volk angefuͤllten Platz fuͤhrte. Das
ſchoͤne, ſchoͤne Feſt! was koͤnnte aus ihm nicht ge-
macht werden! gebt bei eurer Feſte Feier euern
Hausvaͤtern, euren Matronen, euren Jung-
frauen wieder einen Antheil, eignet ihnen die
Feiertage eurer kirchlichen Helden zu, vereint den
Staatsbuͤrger mit der Staatsreligion, laßt vor
dem Auge des Volkes den Mann das Weib erblik-
ken, und trennt ſie mehr im taͤglichen Leben,
in welchem der Mann jetzt zum Weibe, und das
Weib zum Manne wird, beide entartete Ge-
ſchlechter. — Dann ſah ich dieſe ehrwuͤrdigen Ge-
baͤude wieder bei der Todtenfeier des Kaiſer Jo-
ſeph. Schwarz umhangen die hohen Saͤulen, der
hohe Kataphalk, dieſer und das Chor mit zahllo-
ſen gelben Kerzen erleuchtet, die Prieſter in
Trauergewande gehuͤllt, leiſe uͤber den ſchwarz
belegten Boden gleitend — das dumpfe Summen
der Menge, dann die gedaͤmpften Schmerzentoͤne
von der Orgel herab! — O wer einmal einem
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Hochamt beiwohnte fuͤr einen geliebten Todten,
der bedarf Feßlers ſinnreiche Auslegung des ka-
tholiſchen Ritus nicht, um ſich in ſeinen Ceren o-
nien zu gefallen! Wenn die arme Erde dem be-
raubten Herzen nichts mehr giebt, und die Augen
noch zu ſtroͤmend weinen, um den ewigen Him-
mel klar und rein zu ſehen, was erſetzt da die
menſchliche Vermittelung, die dieſe Kirche in ihrer
erhabnen Symbolik ihnen bietet?
Nun ging ich den Truͤmmern weiter nach in
das Innere des Doms. Einige Denkmahle ſind
beſchaͤdigt, doch wenige, und im Ganzen unbe-
traͤchtlich. Daß der Natur der Sache nach die
Naſen an den Churfuͤrſtenbildern am meiſten lit-
ten, iſt fatal, aber unvermeidlich. Der hohe
Thurm iſt inwendig ganz ausgebrannt, — wenn
das Holzwerk, welches das Feuer verzehrte, zu
ſeiner Erhaltung nothwendig iſt, ſo wuͤnſche ich
ſehr, daß man es wieder herſtelle. Wahrſchein-
lich wuͤrden ſehr einfache Anſtalten zu dieſem
Zwecke hinreichen. Von dem Thiermarkte links
ab, wo ſonſt ein Frauenkloſter, ich glaube, der
heiligen Agnes, ſtand, wird jetzt eine Straße ge-
brochen, bis zu einem ſchoͤnen freien Platze, den
man durch das Hinwegraͤumen einer Kirche ge-
wann. Dieſer Platz iſt durch den Namen Gutten-
berg zu einem beſondern Eigenthum der Stadt
Mainz geſtempelt. An der einen Seite wird das
neue Schauſpielhaus nach einem ſehr großen Pla-
ne gebaut; die Truͤmmern der ehemaligen Dom-
probſtei geben einen Theil der Materialien dazu
her, beſonders zieren die großen Saͤulen, welche
am Eingang jenes Ordensgebaͤudes ſtanden, die-
ſen Tempel der Thalia. Die Domprobſtei ward
bald nach dem Anfang der Belagerung im Jahr
1793 ein Raub der Flammen, ſie war neu er-
baut, reich verziert, und die Wohnzimmer des
geiſtlichen Herrn mit einer Zierlichkeit eingerichtet,
welche ſie weit eher zu dem Aufenthalt einer petite
maitresse eignete. Wie ich einen allerliebſten acht-
eckigen Salon mit himmelblauer Drapperie, ein
elegantes Boudoir, ein ſybaritiſch verziertes Bad-
zimmer daneben, durchſtreifte, fiel mir des Tem-
pelherrn ſtaͤrriges: ein Schwert, ein Rock, ein
Gott — ſehr zur Unzeit ein, und ich dachte mir
den langen Weg, auf welchem die Hoͤhlen der
thebaiſchen Schwaͤrmer endlich ſolche Badezimmer
geworden waͤren. Zwei Palais der Familie Dahl-
berg liegen im Schutt, das eine iſt, wie man mir
ſagte, vor kurzem fuͤr einige zwanzig tauſend Gul-
den von der Stadt gekauft worden, um die Mairie
dahin zu verlegen. Außer dieſen großen Haͤuſern,
die ihres Umfangs wegen das natuͤrliche Ziel der
feindlichen Bomben ſein mußten, fand ich keine
Schutthaufen. An vielen Orten, in vieler Ruͤckſicht
wird die Stadt verſchoͤnert. Die Menſchen, die
vom Hof und Adel lebten, muͤſſen ſehr zuruͤckkom-
men, alles was Dienerſchaft war, und von
ihr lebte, kann ſich mit dem neuen Weſen
nicht vertragen; allein wenn die Stimme der ver-
ſchiedenſten Menſchen, von denen keiner ein Fran-
zos war, etwas gilt, ſo nimmt der Wohlſtand
von Mainz vielmehr zu, als ab. Es iſt immer
ſonderbar, Menſchen ſehnſuͤchtig ſagen zu hoͤren:
„Sonſt, da fuhren ſo viele Equipagen!“ — in-
deß ſie demuͤthig neben dieſen Equipagen zu Fuße
gingen. Oder: „ja, wie bei Hofe noch die Conzerte
und Feſte waren!“ — die beſcheiden von der
Gallerie herab dem Glanz der Erdengoͤtter zuſehen
durften. Der grauſame Verluſt, nicht mehr der
Unterſte im Volke zu ſein! —
Von dem Lyceum ſagte man mir viel Gutes;
die Knaben, welche ich auf den Spaziergang aus-
ziehen ſah, hatten einen muntern Gang und froͤh-
liche geſunde Geſichter. Ich wuͤnſchte, das Lokal
dieſes Inſtituts laͤge auf einem freiern Platze. Die
Erziehung hat in der freien Natur tauſend Huͤlfs-
mittel, welche die groͤßte Sorgfalt innerhalb der
hohen Mauern einer Stadt nicht gewaͤhren kann.
Unter den Lehrern kenne ich ſehr wuͤrdige Maͤnner,
von deren Einfluß ſich das Beſte erwarten laͤßt.
Bis jetzt brachten es die Zeitumſtaͤnde mit ſich,
daß ihre beſten Zoͤglinge dem Kriegsruf folgten.
Eine Sache, die mir auffiel, und die ich von an-
dern Fremden, die Mainz ehemals kannten, be-
urtheilen hoͤren moͤchte, war die ſehr geringe Zahl
ertraͤglich huͤbſcher weiblicher Geſichter, die ich
jetzt hier fand, im Vergleich mit der vergangnen
Zeit. Damals waren die Buͤrgermaͤdchen ſehr
ſchoͤn, jetzt ſchien mir die ganze Claſſe vom ſech-
zehnten bis ins vier und zwanzigſte Jahr ausge-
ſtorben zu ſeyn, und die unjugendlichen Geſichter
wurden von ihrem Kopfputz gar nicht ver-
ſchoͤnert.
Zufaͤllig hoͤrte ich, daß eine Sitzung des Ju-
ſtiztribunals ſei, und ich eilte einem Auftritt bei-
zuwohnen, den man in Deutſchland noch nicht
kennt. Sonderbar ruͤhrte es mich, das Tribunal
der Gerechtigkeit in dem ehemalig graͤflich Stadion-
ſchen Palais zu finden. Die Gerechtigkeit konnte
nicht wuͤrdiger wohnen, als in dem Hauſe einer
Familie, in der Geiſt und Guͤte ſo lange einwoh-
nend war. Mit dem ganzen Gefuͤhl des unge-
heuern Ganges, den das Schickſal genommen
hat, ging ich vor dem Zimmer voruͤber, wo ich
die alte Graͤfin, von ihren Kindern froh umgeben,
geſehn hatte. — — Die Sache, welche eben vor
dem Tribunale verhandelt ward, hatte kein be-
ſonderes Intereſſe; ein Franzoſe, wie es dem Na-
men und der Sprache nach ſchien, ward beſchul-
digt, fuͤr die Befreiung eines Conſcribirten dreißig
Louisd’or genommen zu haben. Der Klaͤger war
ein Deutſcher, auch die Zeugen waren Deutſche.
Vor den Richtern neben den Secretairen ſtand der
Dollmetſcher, — ein Deutſcher — vor den Gra-
dins, um welche dieſe erhoͤht ſitzen, ſaßen an ei-
nem Tiſche die beiden gerichtlichen Vertheidiger,
welche der Angeklagte ſelbſt waͤhlt. Das Verhoͤr
ward in beiden Sprachen gefuͤhrt, und wenn in
der Verdeutſchung etwas dem Angeklagten Nach-
theiliges geſagt ward, nahm der Vertheidiger das
Wort, ſo wie der Dollmetſcher Bemerkungen
machte, wenn dem Deutſchen nachtheilige Wen-
dungen gebraucht wurden. Der Praͤſident, —
bei dieſer Sitzung Krankheits halber nicht Reb-
mann, den man mit der lebhafteſten Achtung
nennt, ſondern ein Franzoſe, der kein Deutſch
ſprechen konnte — munterte zwei Mal den Deut-
ſchen auf, ſich Zeit zu nehmen, ſich alles deutlich
uͤberſetzen zu laſſen. Der Angeklagte hatte ein lo-
ſes Maul, und redete ſehr gelaͤufig, die Richter
blieben ſehr ruhig, ſehr beſonnen. Der Vortrag
war ruhig, gar nicht redneriſch, und, ſobald man
die Sprache vertraut kennt, ſehr deutlich. Ein
feierlicher Moment war das Aufrufen der Zeugen,
ehe ihr Verhoͤr anging. Sie mußten vor die Rich-
ter treten, wo der Secretair ihnen ſagte, ſie
muͤßten erſt die Wichtigkeit ihrer Verantwortung
hoͤren, ehe ſie zur Ausſage ſchritten. — Man las
ſie ihnen vor, ſie war deutlich und ſtrenge.
Dann fragte ſie der Dollmetſcher, ob ſie alles
verſtanden haͤtten? ſie bejahten es laut. Nun
blieb eine Weile alles in tiefer Stille. Dann
fuͤhrte man ſie, bis auf Einen, in ein entlege-
nes Zimmer, indem nur immer einer auf einmal
verhoͤrt werden mußte. An eben dieſem Platze
war der bei uns ſo beruͤchtigte Schinderhannes
verhoͤrt und verurtheilt. Vor den Schranken er-
ſcheint der Angeklagte ganz frei, ſobald aber das
Urtheil geſprochen iſt, naht ſich ihm der Nachrich-
ter und legt ihm Feſſeln an. Die Hinrichtungen
ſind leider nicht ſelten.
Hat unter den vielen Schriftſtellern, welche
ihren Weltbuͤrgerſinn in Druckſchriften beurkun-
den, noch keiner allen Nationen gerathen ihr
Botany Bay zu haben? Dann waͤr’ es doch we-
nigſtens mit dem einen ſchaudervollen Moment
geſchehen, in welchem der Menſch es wagt zu
nehmen, was ſeine Willkuͤhr nie ſchaffen kann —
der durch das Richtſchwert gefallne waͤr der einzi-
ge Ungluͤckliche ohne Ruͤckkehr. Baugefangene,
Gefaͤngniſſe, Zuchthaͤuſer zeigen ſie uns jetzt zu
Tauſenden, — ja, ſo lange dieſe dauern, iſt es
das Geſetz, welches nicht nur den Leib toͤdtet,
aber auch „die Seele toͤdtet bis zur Hoͤlle,“ wie
die Schrift ſagt. Gilt denn dem Staate das paar
von Schande gelaͤhmte Arme ſo viel? und wenn
der Gebrandmarkte jenſeits der Mittagslinie zum
nuͤtzlichen Menſchen ſich empor arbeitet, wird das
dem Mutterlande nichts nuͤtzen? Wuͤrden die gebil-
deten Nationen nicht gerne alle ihre irre geleiteten
Bruͤder, die kein Zuchthaus je beſſern wird, und ruhte
Howards Geiſt in jedem Erbauer, iedem Aufſe-
her, in ein fernes Land ſchicken, wo die eiſerne
Nothwendigkeit ſie mehr baͤndigte wie Schloͤſſer
und Riegel, wo auf einer neuen Erde unter ei-
nem neuen Himmel der zerknickte Keim buͤrgerli-
cher Ehre fuͤr ſie wieder Wurzel faſſen koͤnnte?
Was mich am innigſten in Mainz anzog, kann
ich nur fluͤchtig erwaͤhnen. Die Emmeranskirche
ſteht unverſehrt, ihren Kirchhof fand ich nicht
mehr, es war ein Blumengarten daraus gemacht.
Ich bat den Eigenthuͤmer hinein treten zu duͤrfen.
— Kurz nachdem meine beiden Kinder vor vielen
Jahren hier begraben wurden, ſtahl ich mich da-
hin, fragte in des Meſtmers Hauſe, wo das klei-
ne Kreuz ſtehe, und dachte, ich wollte es mit
trocknen Blicken betrachten. Die Frau des Meſt-
mers ſah mitleidig, wie wenig ich das vermochte.
„Es waren meine Kinder, ſagte ich ihr leiſe, und
gab ihr Geld, halte ſie die Raſen rein!“ — Wenn
ich das gewußt haͤtte, antwortete ſie geruͤhrt, ſo
haͤtte ich ſie nicht hergefuͤhrt. —
Jetzt wars anders! das ſchwere ſteinerne
Kreuz war hinweg, und Blume draͤngte ſich an
Blume auf der Staͤtte des Grabes. O meine
Blumen! — jetzt iſt Auferſtehung um euch her,
und was nicht in Blumen auferſtand, verließ mich
ja nie! — Meine ſuͤßen Blumen! ich kuͤßte ver-
ſtohlen eure irdiſche Schweſtern um euch her, und
haͤtte ſie alle an mein Herz druͤcken moͤgen, aber
ich pfluͤckte keine. Sie blickten alle hin zum ewi-
gen Lichte, und ich blickte hinauf und wußte von
keinem Tod mehr. — Da waren ſonſt Graͤber,
ſagte der Eigenthuͤmer, der hoͤflich zu mir kam —
da waren ſonſt Graͤber! haͤtte ich gern laut jauch-
zend geantwortet, auf das Allleben deutend, das
mich umgab.
Ich ging einſam durch die Straßen, indem
ich den Lohnbedienten einen Auftrag gab, vor Jo-
hannes von Muͤllers Hauſe voruͤber, dann vor
Blau ſeinem, dann noch einmal uͤber den Aufer-
ſtehungsgarten an der Emmeranskirche links her-
auf — da wohnte Huber, ein paar Gaſſen weiter
war Georg Forſters Wohnung. Jetzt taugte ich
nicht mehr unter Menſchen. — Ich eilte, rechts
vom Muͤnſterthor einen alten Weg zu ſuchen, an
einem kleinen Brunnen, den ich ſonſt kannte.
Alles war anders, aber ſein Waſſer floß noch, und
hier durften auch meine Thraͤnen fließen. Dieſe
Menſchen, wie ſah ich ſie ſtreben, hoffen, kaͤm-
pfen, und endlich die Wogen des Schickſals uͤber
ſie zuſammen ſchlagen, und ſtolz fort ſich waͤl-
zend, wird ſie ihr Andenken vertilgen. Ihr An-
denken, aber nicht die Spuren ihres Wirkens in
der ganzen wunderbaren Verſchiedenheit ihres
Willens und Vermoͤgens. Ruhet ſanft in euren
weit zerſtreuten Graͤbern! auf den verſchiedenſten
Wegen ſtrebtet ihr nach einem Ziel — Licht, Lie-
be, Leben.
Nach dieſem Momente konnte in Mainz mich
nichts mehr anziehen. Ich ging durch das viel
erweiterte Gartenfeld, welches in wenig Jahren
ein Luſtwald ſein wird von Obſtbaͤumen, Blumen
und Alleen, in die nen gepflanzte ſchon herrlich
gediehene Rheinallee. Eine vierfach gepflanzte
Reihe von Linden, Pappeln und Akazien, wird
hier bald die ehemaligen Schatten erſetzen. Dort
nahm ich einen Kahn, und fuhr hinuͤber nach Bi-
berich. Die Abendroͤthe vergoldete den Rhein,
die Wellen ſpielten um das kleine Fahrzeug, ich
verlor mich in den Andenken an die Vergangen-
heit, und der ewigen Erneuung alles Vorhandnen.
Wie die ſpielenden Wellen, ſtets eine der andern
aͤhnlich, immer wieder eine andere iſt, wie der
huͤpfende Lichtſtrahl auf ihr, ſtets blendend auf
unermeßlichem Pfade in jedem Moment ein andrer
zu uns gelangt, ſo war auch des Menſchen Geiſt
immer ſich gleich ſtets anders, alles Gute immer
wandelnd ſtets gut, und jener Maͤnner Leben,
die in Oſt und Weſt nun ſchlafen, nicht vergeb-
lich gelebt. Eine ſanfte Stimme machte mich
hier aufmerkſam. Um die nahe Petersinſel fuhr
ein Nachen her, ein junges Weib ſang darin.
Ich haͤtte ſie ſchon laͤnger hoͤren ſollen, meine
Betrachtungen hatten mich daran verhindert,
jetzt waren es die letzten Worte von Theklas Ge-
ſang, die ich vernahm: „ich habe gelebt und ge-
liebet.“ Sie ſchwieg, alles ſchwieg. Die
Schiffer hielten eine Weile mit ihren Rudern
inne, und meine Wehmuth ward zur himmli-
ſchen Ruhe. —
Dritter Abſchnitt.
Ende Jul. 1809.
Ich folgte dem Rath meiner Freunde und ließ
mir in Mainz fuͤr mich und meine lieben Reiſe-
gefaͤhrten ein paar Plaͤtze in dem Poſtſchiff nach
Coͤlln zuſichern. Es ſollte angenehm, ſicher, be-
quem ſein, es war wunderſam oͤkonomiſch, und
es war mir als gehoͤre es mit zu der voͤllige Ent-
fremdung meiner jetzigen Umgebungen, auch ein-
mal eine voͤllig fremde Art zu reiſen zu verſuchen.
Frau von Stael ſagt in der Corinna einige ſehr tief
gefuͤhlte Worte uͤber die Empfindung beim Reiſen:
„Reiſen iſt, was man auch ſagen mag, eines
„der traurigſten Vergnuͤgen des Lebens. Wenn
„man ſich in einer fremden Stadt wohl fuͤhlt,
„ſo iſt es immer, weil man ſchon anfaͤngt da
„einheimiſch zu werden. Aber unbekannte Laͤn-
„der durchſtreifen, eine Sprache reden zu hoͤ-
„ren, die man nur nothduͤrftig verſteht, menſch-
„liche Geſtalten ſehen, die ſich weder an unſre
„Vergangenheit noch an unſre Zukunft knuͤpfen,
„das iſt Einſamkeit und Abſonderung ohne
„Ruhe, ohne Selbſtgenuß. Denn dieſes Stre-
„ben, dieſe Eile, da anzukommen, wo uns
„niemand erwartet, dieſe Unruhe, wovon
„Neugier der einzige Grund iſt, kann uns we-
„nig Achtung fuͤr uns ſelbſt einfloͤßen, bis zu
„dem Augenblick, wo die neuen Gegenſtaͤnde
„ſchon ein wenig alt werden, und um uns her
„einige ſanfte Bande des Gefuͤhls und der Ge-
„wohnheit ſtiften.“
Wie viel ließ ſich noch hinzuſetzen, beſonders
von der Wirkung der gaͤnzlichen Vereinzelung, die
ein Weib auf Reiſen in ganz fremden Gegenden
empfindet. Wir haben gleichſam gar keine Buͤr-
gen unſrer eignen Perſoͤnlichkeit, wenn wir von
unſern gewohnten Umgebungen getrennt, ſei es
auch noch ſo ſicher geſchuͤtzt, in der Welt ſtehen.
Zuruͤckhaltend, ſchweigend, unſer Innres vor dem
fremden Auge verſchließend, wie es Sitte und
weibliches Gefuͤhl uns auflegt, verlieren wir ge-
gen die Außenwelt alle Individualitaͤt, wir er-
ſcheinen gleichſam im abſtrakten Begriffe als Weib.
Daher ſich auch Maͤnner nicht karakteriſtiſcher zei-
gen, als gegen eine anſtaͤndige einſame Fremde,
bei zufaͤlligen Zuſammentreffen auf Reiſen. Allein
mich koͤnnte eine ſolche Vereinzelung, wenn ſie
dauerte, um den Verſtand bringen. Nach drei
Tagen iſt mirs, als waͤre ich ein abgeſchiedener
Geiſt, und alles was ich bin und mich angeht,
fremde Dinge, wie alles andre um mich her. Die
ſtete Veraͤnderung der aͤußern Gegenſtaͤnde und
das ſtete Schweigen uͤber ihre Wirkung auf mein
Gefuͤhl, mein lebhaftes Eindringen in alles frem-
de Intereſſe, und ſtarres verhuͤllen alles meini-
gen, laͤhmt alle ſchnellen Uebergaͤnge meiner
Phantaſie, verhindert das ſich Aneignen der
Wahrnehmungen, ſie ſtehen alle erſtarrt vor mei-
nem Verſtande, und die Welt erſcheint mir end-
lich wie ein chineſiſches Gemaͤlde ohne Perſpek-
tive, ohne Luft, ſchauderig, als ſtuͤnde ich außer-
halb des Lebens, und blickte in ſeine bunten Sce-
nen hinein.
Unſre Koffer waren gepackt, unſre Geraͤth-
ſchaft geruͤſtet. Den … Juli nahmen wir Ab-
ſchied von unſern gaſtfreien Freunden in Moos-
bach, und gingen nach dem einige hundert Schritt
entlegenen Bibrich, wo, der Abrede gemaͤß, das
Poſtſchiff landen ſollte. Die Beſtellung war ſe
C
vorſichtig gemacht, war durch die Haͤnde eines
Mannes gegangen, dem ſein Amt Einfluß auf
die ganze Schiffergilde giebt, wir glaubten uns
alſo ganz geſichert. Der Morgen war ſchoͤn, und
nach dem geſtrigen Regen kuͤßte die Sonne uͤber-
all blitzende Juwelen von den Blumen und uͤppi-
gen Weinranken hinweg. Man hatte uns gera-
then, doch lieber um ſechs Uhr ſchon an dem Ufer
zu ſeyn, damit die andern Reiſenden, die von
oben herab kaͤmen, nicht warten muͤßten. Durch
unſre Puͤnktlichkeit getrieben, waren wir denn
auch wirklich vor ſechs Uhr ſchon ſchwimmfer-
tig, und waren es noch um neun Uhr, ohne daß
ein Poſtſchiff ſich blicken ließ. Von ſechs bis neun
Uhr warten! — und waͤr es auf den Auen Eli-
ſiums, und waͤr es in Abrahams Schooße, ſo
hielt das keine menſchliche Geduld aus. Daß die
meinige ſchon laͤngſt erſchoͤpft war, merkte kein
Menſch, denn ich machte es den Leuten ſo an-
ſchaulich, daß es ein wahrer Genuß ſei, hier mit
Muſe die ſchoͤne Natur zu bewundern, daß keiner
ſich unterſtehen durfte auf die Schiffer zu fluchen,
ſondern, wenn auch mit Galle im Herzen, ſich
uͤber die ausgedehnte Gelegenheit, ſie zu genießen,
freuen mußte. Das nun abgerechnet, daß wir in
dieſem Augenblick gar nicht berufen waren, ſie
drei Stunden lang aus dieſem Standpunkt zu
beobachten, war ſie wirklich unendlich ſchoͤn.
Mainz lag ſo ruhig an der ſtillen Fluth, die ſeine
Mauern mit Lichtſtroͤmen umſpielte, das Ufer,
die Inſeln blickten ſo jugendlich froh der ſteigen-
den Sonne ins Antlitz — man begriff nicht, daß
dieſer liebliche Schauplatz je von Kanonendonner,
je von Kriegsgeſchrei beunruhigt worden war.
Die gute Mutter Erde hatte fleißig gearbeitet, und
es war ihr wohl gelungen, die Spuren aller Wun-
den zu decken, welche die rauhe Hand ihrer Kin-
der ihr ſchlug. Aber dieſe Kinder hatten auch thaͤ-
tig geholfen. Wie viel beſſer ſind beide Ufer an-
gebauet, als vor zwanzig Jahren! Um Moosbach
her hat der Ackerbau ausnehmend gewonnen. Hier
ſah ich auch eine Bauart angewandt, von der
mir bisher nur in Oberſachſen einige Verſuche vor-
gekommen waren. Ein ſehr verdienter Landwirth
dieſer Gegend hat naͤhmlich Mauern und Haͤuſer
von Erdmauern, was im Franzoͤſiſchen pise heißt,
aufgefuͤhrt, die nach mehrjaͤhriger Dauer ihrem
Endzweck vollkommen entſprechen. Die Mauer
iſt ſo ſcharf gezogen, und ſteht ſo feſt, daß ſie
dem Aeußern nach muſterhaft iſt, eine Scheune
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und ein Wohnhaus widerſtehen eben ſo wie dieſe
dem Wetter, und ſind aͤußerſt trocken und warm.
Der Anwurf muß ohne Zweifel ſehr ſorgfaͤltig,
und das Material dazu ſehr gut ſeyn; wenn die-
ſes beruͤckſichtigt wird, iſt dieſe Bauart fuͤr viele
Gegenden gewiß ein unſchaͤtzbarer Vortheil. Die
Gebaͤude waren bis unter das Dach von Erdwaͤl-
len aufgefuͤhrt, und das Dach hatte bei der
Scheune anchauch noch eine ungewoͤhnliche Form,
durch welche der ſinnreiche Eigenthuͤmer viel Raum
zu gewinnen hofft. Der Giebel iſt nicht im Win-
kel mit dem Gebaͤude, ſondern ſteigt bogenfoͤrmig
auf wie ein gothiſches Fenſter, ſo, daß die ganze
Woͤlbung fuͤr den Raum gewonnen wird. Natuͤr-
lich kann das Dach bei dieſer Figur nicht von Bal-
ken gezimmert werden, ſondern die Stuͤtzen wer-
den von ſechs- oder achtfachen Brettern zuſam-
mengeſetzt, die mit Naͤgeln feſt verbunden und
durch ihren Bau den Quatern eines Gewoͤlbes aͤh-
nelnd, eine aͤußerſt feſte Stuͤtze fuͤr die Ziegel aus-
machen. Bauverſtaͤndige werden dieſe Bauart,
ihre Vortheile und Nachtheile wohl kennen, da
ich aber an Layen ſchreibe, und wir in unſern Ge-
genden keine Steine, und viel elende Huͤtten ha-
ben, ſo wird euch, ihr Lieben, dieſer Bericht
nicht ohne Intereſſe ſeyn. Ein paar ſo fleißige
und einſichtsvolle Landbauer, wie der Beſitzer die-
ſer Haͤuſer, koͤnnten unſrer Gegend unendlich
wohlthaͤtig werden. Dieſer Mann geht einen ſo
weiſen Weg in der Anwendung neuer Methoden,
und beibehalten, oder doch wenigſtens beruͤckſich-
tigen alter Gebraͤuche. Er iſt einige Monate bei
Fellenberg in Hofwyl geweſen, hat manches
Ackergeraͤthe dort gebrauchen lernen, und ange-
ſchafft, und fuͤhrt es behutſam, ohne Eile und
beſonders ohne Geraͤuſch, in den Faͤllen, wo es
nutzen kann, in ſeiner Feldwirthſchaft ein. Bei
ihm ſah ich auch den erſten Branntweinkeſſel von
Holz, wo die Maſſe durch einen in der Mitte des
hoͤlzernen Keſſels geheizten Ofen, zum Kochen
gebracht wird. Seine Branntweinbrennerei iſt
ſehr anſehnlich, und er findet bei dem Gebrauch
dieſes Keſſels alle Vortheile der ehemaligen me-
tallenen, und eine Holzerſparniß, die dieſe Erfin-
dung ſehr empfehlenswuͤrdig macht.
Bibrich hat ein ſehr ſchoͤnes Schloß. Gegen
den Rhein zu iſt in deſſen Mitte eine Art Rotun-
da, welche im Innern auf porphirartigen Saͤulen
mit goldner Verzierung ruhet, und beim Kerzen-
ſchein, mit glaͤnzenden Leuten angefuͤllt, recht
ſchoͤn ausſehen muß, indem ſie zugleich gegen den
Rhein die bezauberndſte Ausſicht den Strom auf-
und abwaͤrts, und auf das gegenuͤber liegende
Ufer hat, deſſen Anbau den diſſeitigen bei weitem
noch uͤbertrifft, und beſonders durch die zahlloſen
jungen Obſtbaͤume den angenehmſten Eindruck
hervorbringt. Es iſt ein lieber, ſanfter Wohnort,
dieſes Schloß! Hinter ihm ein artiger Garten, mit
alten hohen Baͤumen und recht reichen, ſprudeln-
den, plaͤtſchernden Waſſerkuͤnſtchen, die ich nie
verwerfe; das freie Element ſieht immer aus, als
wenn es nur ſo zum Spaße den Kinderhaͤnden,
die es leiten froͤhnen wollte — ſo wie es aber mit
ſeines Gleichen an Freiheit und Groͤße, mit Luft
und Licht in Beruͤhrung kommt, da ſpricht es mit
ihnen ſeine myſtiſche Sprache, und blitzt und lis-
pelt und rauſch in die Harmonien der ewigen Na-
tur. — Da ſah ich anderswo, bei einer meiner
Wanderungen ein Spiel mit Waſſer, das ſo kin-
diſch war, ſo kindiſch! — und mich doch in ſeiner
Eigenheit feſſelte, und ahndende Gefuͤhle in mir
erweckte. Ich ſah einen kleinen Springbrunnen,
wie er in allen Schweizergaͤrten zu finden iſt, der
einen zolldicken Waſſerſtrahl aus einem blechernen
runden Becken empor ſchoß. Auf dieſe Roͤhre
legte man eine ſehr leichte, in der Groͤße eines
kleinen Apfels, vergoldete Kugel; der Waſſer-
ſtrahl hob ſie Stoßweiſe bis zu ſeiner Hoͤhe, und
oben blieb ſie, ihr Streben herab zu ſtuͤrzen mit
dem Strahl des Waſſers kaͤmpfend, in einer
huͤpfenden Bewegung lange, lange ſchweben, in-
deß der Sonnenſtrahl ſie und das ſchaͤumende
Waſſer wunderbar erleuchtete; nun legten wir ei-
ne zweite Kugel in den Waſſerſtrahl, ſie ſtieg und
ſtieg bis ſie die erſte erreicht hatte, und nun mit
ihr den wunderlichſten Tanz begann. Das dauer-
te ſo lange, bis eine geringe Urſache das Gleich-
gewicht ſtoͤrte, und eine oder beide Kugeln aus
dem Strudel herab in das Becken fiel, worauf
wir unſer kindiſches Spiel erneuerten. Ich glau-
be ihr findet das ſehr geringfuͤgig, und dennoch
hatte das Kaͤmpfen der Kugel in den huͤpfenden
Waſſertropfen ihr Streben nach Unten, und das
aufgedrungene Gleichgewicht, in dem ſie ſchweb-
te, und das glaͤnzende Flimmern des goldnen
Apfels in den cryſtallnen Tropfen, etwas ſehr
Anziehendes fuͤr meine ſpaͤhende, ahnende
Phantaſie.
Nun, mir daͤucht die drei Stunden, die wir
warteten, ſind mit dieſem Geſchwaͤtz wohl ausge-
fuͤllt worden. Wir brachten ſie mit keinen wichti-
gern Betrachtungen zu, und erhielten endlich die
artige Nachricht, das Poſtſchiff ſei vor andert-
halb Stunden hinter den Inſeln am jenſeitigen
Ufer voruͤber gefahren. Die ganze Geſellſchaft
ſah jetzt etwas dumm aus. Unſer guͤtiger Wirth
ſagte uns einige verbindliche Dinge uͤber die Freu-
de, uns wieder nach ſeinem hauſe zuruͤckzufuͤh-
ren, die nur bedingt wahr waren, die wir mit
eben ſolchen nur bedingt wahren beantworteten,
worauf wir mit anſcheinender Seelengroͤße wieder
nach Moosbach zuruͤckzogen. Meine Papiere wa-
ren eingepackt, meine Buͤcher, unſer ganzes Ge-
paͤck blieb in Bibrich, um den folgenden Morgen
bei einem zweiten Verſuch abzureiſen, gleich bei
der hand zu ſein, und nun hatte der Tag noch
viele Stunden, die ich auszufuͤllen gar kein Mit-
tel hatte, als mein Strickzeug. Das iſt eine be-
ſchraͤnkte Beſchaͤftigung! Ploͤtzlich lernte ich die
Wege des Schickſals verſtehen. Dieſes mir aufge-
drungene Geſchenk von vier und zwanzig muͤßigen
Stunden, war zu einem Beſuch in Elfeld bei
eurer alten Bonne beſtimmt. Ich folgte dem
Winke der waltenden Macht, und traf Anſtalten,
daß mich das morgende! Poſtſchiff nicht zu Bibrich,
ſondern im Rheingan zu Elfeld abholen ſollte.
Nachmittags nahm ich mit meiner lieben * * in
Bibrich einen Nachen, lud all unſer Gepaͤck dar-
auf, und ſo ſchwammen wir auf der braͤunlichen
Fluth fort. — Den Ruf der Schmaragdgruͤnheit
hat der Rhein dieſes Jahr voͤllig verloren, er war
truͤbe, und blieb es je weiter wir herunter fuhren,
beſonders war der Einfluß der bei Bingen einſtroͤ-
menden Nahe ſo uͤbermaͤchtig, daß es mir ſchien,
als erholte ſich der große Fluß gar nicht mehr von
dieſer Mesallianz, bis ihm ſein ſeichtes Bert gegen
die Niederlande zu ohnehin alles Karakteriſtiſche
benimmt. Unſer kurzer Aufenthalt in Elfeld haͤt-
te ſich zu einer ruͤhrenden Epiſode in einem mora-
liſchen Roman geeignet. Wiederſehen, Dankbar-
keit, jugendliche Zuneigung, Erinnerung an Kin-
derjahre — es freute mich herzlich, dieſen Weg
genommen zu haben. Indeß * * mit der guten
Alten ein paar Gaͤrten beſuchte, ſaß ich, und
ſchrieb einen langen Brief an euch, meine Lieben,
und am folgenden Morgen rufte uns das Poſt-
ſchiff zur Fortſetzung unſrer Reiſe ab.
Alſo waren wir nun wirklich auf dem Poſtſchiff.
Dieſes Mal, meine guten Lieben, macht die all-
gemeine Beobachtung zu ſchanden, daß anderer
Erfahrung niemand klug mache — geht nie auf
das Mainzer Poſtſchiff! — Man hatte mir das
Ding eine Jagd genannt, und hatte mir von Ca-
juͤte und Verdeck geſprochen, und von promeniren
auf dem einen, und ſeine Bequemlichkeit haben in
der andern. — Hilf Himmel, wie ward mir!
Nachdem wir bei rauhem Wind und Regenſchauer
vom Ufer, wo unſrer Alten ihre ganze Sippſchaft
verſammelt war, um uns Heil und Segen zu
wuͤnſchen, in einem kleinen Nachen an das Schiff
gerudert waren, ſchob man uns in einen Ver-
ſchlag, wo auf zahlreichen Buͤndeln einige ver-
wundete franzoͤſiſche Soldaten lagen. Dagegen
hatte ich nichts, ſie kamen von der Donau, und
jedes Geſchoͤpf, was daher kommt, haͤtte ich gern
ſanft gebettet. Nun drang ich durch eine enge
Pforte in einen ſchmalen Raum, wo auf hoͤlzer-
nen Baͤnken gegen zehn Perſonen uns neugierig
ohne hoͤflich zu ſeyn, entgegen ſahen. Drei
ſchwangere Frauen, ein paar dem Handelsgotte
gewidmete Juͤnglinge, und einige problematiſche
Weſen, von denen allen ich jedoch einen Maire
einer Stadt vom linken Ufer ausnehmen muß, der
ein feiner Mann zu ſeyn ſchien, und ſich ſehr ab-
geſondert und unabhaͤngig hielt — daraus’beſtand
die Geſellſchaft. Dennoch kann ich von allen wie
Antonius bei Caͤſars Leiche verſichern, ſie waren
ſehr ehrenwerthe Maͤnner, und auch der eine von
ihnen, der einen großen Ulmer Pfeifenkopf ſo un-
aufhoͤrlich im Munde fuͤhrte, daß ich auf den
Verdacht kam, er ſey mit ihm geboren worden,
war auch gewiß ein ſehr ehrenwerther Mann —
allein demungeachtet blickten wir aͤngſtlich nach
den ziehenden Wolken, die bei unſerm Eintritt mil-
de uͤber unſer Schickſal geweint hatten — ihr Au-
ge ward trocken — ſie gaben uns wahrſcheinlich
den Unterirdiſchen dahin, und wir ſchluͤpften auf
wunderlichen Wegen zu dieſer Hoͤhle heraus auf
das naſſe Verdeck. Da nahm nun der Maſt die
Mitte eines ſechs bis acht Schuh breiten Raumes
ein, ein Brett, welches angelegt wurde um zu lan-
den, lag queer uͤber die wackeligen Baluſtraden
des Verdecks, die, nur einen Schuh hoch, keinen
Menſchen, noch Dinge verhinderten ins Waſſer zu
rollen. Auf dieſem naſſen Brette ſchlugen wir
unſre Reſidenz auf. Aus der Schlucht, welche
in die Unterwelt fuͤhrte, tauchte von Zeit zu Zeit
einer ihrer Bewohner auf, und fragte — erinner-
ten ſie mich doch an Dantes Hoͤlle! — nicht: was
iſts an der Zeit? ſondern: was iſts fuͤr Wetter?
ich antwortete ihnen aber immer wie Dantes Teu-
fel: ſchlechtes Wetter, ſchlechtes Wetter! Denn
damit hoffte ich ſie unten zu halten in ihrem
Schwefelpfuhl. Nach und nach ward ich doch
mit ihnen bekannt, ohne ſelbſt aus meiner Stumm-
heit herauszugehen. Die Mercuriusſoͤhne mach-
ten ſich beſonders bemerklich, denn das iſt ein
gar zuverſichtliches Geſchlecht, das ſich, ſo lange
es Duͤtchen macht und Ballen bindet, ſehr ſorgen-
los uͤber die Welthaͤndel und zufrieden mit ſeiner
Miniatur-Individualitaͤt umher bewegt. Das
leichte junge Blut erzaͤhlte ſich von den Frankfurter
ſchoͤnen Damen, las ſich endlich gar Verſe von ihnen
vor und ſchrieb ſie ſehr muͤhſelig ab — ich denke ihre
Handelsbriefe ſchreiben ſie ſchneller, ſonſt haͤtten
ihre Herrn Prinzipale klagen muͤſſen. Wie die
Sonne heraus kam, krochen die franzoͤſiſchen Sol-
daten auf das Verdeck, ſie waren alle verwundet,
und gingen in ihr Depot, die Verſtuͤmmelten in
ihre Heimath zuruͤck. Der eine erregte wehmuͤthi-
ge Empfindungen in mir. Ich bezeigte ihm mei-
ne Theilnahme wegen ſeinen lahmen Fuß. „Das
iſt nichts, antwortete er bitter, Ermuͤdung zu
tragen und Wunden, das iſt leicht, aber Verach-
tung, das thut weh. Auf meine Antwort, die ihr
euch denken koͤnnt, ſagte er: Doch, man verachtet
heut zu Tage den Krieger; wo wir hinkamen miß-
handelte man uns und unſer Blut und Leben er-
kauft uns Undank — warum ſchlagen ſich dieſe
Menſchen nicht ſelbſt, wenn ſie unſre Huͤlfe nicht
wollen?„ — Ein anderer trug den Arm in der
Binde und ſang froͤhlich in die Luͤfte; ein paar
andere ſaßen und ſcherzten von ihren Schlachten,
und erzaͤhlten ſich wo ſie gefochten hatten, denn
hier fuͤhrte ſie der Zufall zuſammen. Der Miſan-
throp ward in Regensburg verwundet und hatte
dann zwei Monate in Ulm im Hospital gelegen,
der andere ward bei Landshut verabſchiedet. Der
eine Handelsmann im Keime, ſetzte ſich zu ihnen,
und ließ ſich erzaͤhlen. Nun gings an ein
Schwatzen, von dem ich, beim Wellen- und Ru-
derſchlag in der Entfernung nichts Zuſammenhaͤn-
gendes verſtand; es mußte von einer Anrede, oder
irgend einer andern Perſoͤnlichkeit des Kaiſers die
Rede ſein, denn ſie riefen mehrere Male: vive
l Empereur! und die beiden einarmigen ſchwan-
gen dabei was ſie noch an Armen uͤbrig hatten. Das
iſt ein wunderliches Volk! Der Miſanthrop erzaͤhlte
eben ſo lebhaft wie die andern — er mochte den Punkt
fuͤhlen, der ſein verletztes Gefuͤhl heilte.
Das Wetter, obſchon es nicht recht freundlich
war, erlaubte uns, den ganzen Tag auf dem Ver-
decke zu ſein; allein mein Plan, recht viel auf dem
Schiffe zu ſchreiben, recht ſtill in mich gekehrt der
Gegend zu genießen, war ganz unausfuͤhrbar.
Oft gelang es mir zwar, mich von den widrigen
Toͤnen und Geſtalten um mich her, ganz abzu-
ziehen, und dann ſchaute ich um mich, und war
bei euch, und ſchweifte in der Vergangenheit um-
her, deren reiche Erinnerung ſich vielfach an die
Gegenwart anknuͤpfte. — Ja, ich haͤtte wahr-
ſcheinlich bei den guͤnſtigſten Umſtaͤnden die Feder
nicht angeruͤhrt, nur mit mehr Ruhe und Genuß
haͤtte ich geſchwaͤrmt. Gewiß giebt es kein ſiche-
reres Mittel jeden Eindruck zu ſchwaͤchen, als
wenn wir jeden vorkommenden Gegenſtand mit
einem groͤßern aͤhnlicher Gattung vergleichen. Mir
hat mancher Reiſebeſchreiber damit boͤſe Laune ge-
macht, wenn er den plauiſchen Grund eine Alpen-
gegend, und die Elbe eine Silberfluth nannte.
Eine Menge ſolcher Vergleiche und Exklamationen
vom Ungeheuern, Majeſtaͤtiſchen, Himmelhohen
und Grauſenvollen, draͤngten ſich mir bei unſerer
Annaͤherung nach Bingen in das Gedaͤchtniß, und
ich mußte recht eigentlich uͤber mich wachen, um
nicht aus heiliger Auflehnungsſucht gegen die de-
klamatoriſchen Beſchreibungen der Rheinfarth,
dieſe Gegend nun wirklich mit der Schweiz zu
vergleichen. Durch einen beſondern Umſtand ver-
anlaßt, drang es ſich mir aber doch, obſchon oh-
ne alle Partheilichkeit, auf. Der Weg von Solo-
thurn nach Baſel hat wirklich eine ſonderbare
Aehnlichkeit von der Rheinfarth von Bingen nach
Coblenz, in ſo weit ſchroffe Felſen, und alte
Schloͤſſer ihn karakteriſiren. So wie man hier auf
dem Rhein, als der Tiefe eines Felſenthals faͤhrt,
faͤhrt man dort auf der Chauſſee. Am Rhein ſind
alle Fleckchen fruchtbarer Erde muͤhſelig mit Re-
ben bepflanzt, auf der Schweizerſtraße waͤchſt auf
ihnen frei und froͤhlich gruͤnes Gras. Hier ſtehen
hart am Felſenufer rauchige Steinklumpen, wo
die Menſchen aus ſchmutzigen Mauerloͤchern her-
ausgucken; dort freundliche Huͤtten auf den klei-
nen Auen am klaren Bach. Dort fahre ich auf
ſtaubigem, brennenden Felsweg, klimme herauf,
und klettre herab; hier gleitet der Nachen auf der
kraͤuſelnden Fluth. Aber der Unterſchied zwiſchen
den hohen Ufern, zwiſchen denen ich hier durch-
fahre, und den untern Stufen majeſtaͤtiſcher
Bergreihen, zwiſchen denen ich dort hinſchreite,
ward mir beſonders merklich bei dem Anblick der
alten Burgen. Dort am Solothurner Wege ſte-
hen die maͤchtigen Truͤmmern in der Naͤhe des
Weges — der auch zur Zeit ihrer Erbauung einer
der Durchzuͤge von Deutſchland nach Italien ſeyn
mochte, — auf hohen Huͤgeln wie die anſcheinen-
de Kleinheit der Thuͤrme beweißt, an denen man,
wenn man nahe dabei iſt, dennoch den Kopf hoch
aufhebt, um ſie zu meſſen; aber dieſe Huͤgel mit
ihren hohen Thuͤrmen, reichen den hinter ihnen
liegenden ganz nahen Bergen nicht bis an das
Drittheil ihrer Hoͤhe. Ernſt und dunkel ſteigen die-
ſe hoch, hoch uͤber das Menſchenwerk hinaus, und
wo ihre Tannen und Felswaͤnde aufhoͤren, ragen
die Schneefelder der noch hoͤhern Gebirge glaͤn-
zend im Aether uͤber ſie alle empor. Auf dem
Rhein ſind uns die Gegenſtaͤnde, um wahrhaft
maleriſch zu ſeyn, ſchon in zu großer Naͤhe —
die Ufer, die Mauern beaͤngſtigen mich, und ſo
wie ich herauf und herab eine der Ruinen betrach-
te, gewahre ich, daß ich nicht in einem
Gebirgsthale, ſondern zwiſchen einem ho-
hen Ufer fahre — die Truͤmmern haben uͤber-
all den Himmel zum Grunde, ſie ſind der
hoͤchſte Punkt.
Hoͤchſt erquickend iſt die Wirkung, wenn man
ſich ganz von der gegenwaͤrtigen Zeit abziehend,
in jene Zeiten verſetzt, wo dieſe Burgen bewohnt
waren. Wie in allen dieſen Felſenneſtern die Ge-
waltſamkeit herrſchte, die Selbſtrache zum Rich-
ter geſtempelt war; wie alle dieſe Huͤtten am Ufer
mit ihren arbeitſamen Bewohnern der Willkuͤhr je-
ner ausgeſetzt waren; wie die Betglocke der einzi-
ge Friedenston war, und Prieſterkuͤnſte das ein-
zige feindliche Regiment. Ich ſah die alten Rit-
ter in ihren verworrenen Begriffen von Freiheit
und Vorrechten — zwei unvereinbaren Anſpruͤ-
chen — aus ihren Schloßpforten ausreiten, ſah
die Hausfrau aus den kleinen ſchmalen Fenſter-
chen, den Roſenkranz in der Hand, ihnen betend
nachblicken; hoͤrte den Pilger an dem Thore laͤu-
ten und ihn gaſtfrei bewirthet den Wiſſenstrieb
des Hofgeſindes mit abentheuerlichen Erzahlungen
naͤhren, die dazumal unter ſo vielem Falſchen, den-
noch den zarten Keim der Wiſſenſchaften zu erhal-
ten beitrugen. Mir wars als ſaͤhe ich Abends
noch das kleine Laͤmpchen aus dem dunkeln Gema-
che herausblicken, und die wackre Edelfrau an der
Wiege ihres kranken Herrleins wachend, in der
ſtillen Nacht die Wellen des Fluſſes behorchen; —
D
dann bemerkte ich in einer Reihe etwas groͤßerer
Fenſter die Halle, wo in roher Luſt die Becher
klangen, und erblickte im fernen Bethaͤuschen,
deſſen Kreuz hinter dem Felſen hervorſteht, den
frommen Klausner, der die Hora laͤutend, durch
die Kluft her den Becherklang hoͤrt, indeß der
Ton ſeiner Glocke unten am Ufer einem Sterben-
den, oder im Schloßkerker einem Unterdruͤckten
Troſt und Staͤrkung giebt. Mir ward ganz un-
heimlich bei der Lebhaftigkeit meiner Vorſtellun-
gen. Ich ſah den Rhein herauf, wie der un-
gluͤckliche Kaiſer Heinrich in Speier den niedern
Dienſt eines Kirchenknechts, um ſeinen Unterhalt
zu ſichern, vergeblich flehte, ich ſah hinab, und
erblickte ſeinen Leichnam unbegraben in Luͤttich
ſtehen, ſah jede einzelne Voͤlkerſchaft Deutſch-
lands mit der andern in Krieg die Abgruͤnde er-
weitern, die endlich das Volk einer Sprache zu
den unverſoͤhnlichſten Feinden gemacht hat, die
insgeſammt tief geſunken, ſich noch mit ihren eig-
nen Feſſeln zerfleiſchen. — Unwillig wandte ich
mein Geſicht ab — nicht von jenen Zeiten, die in
der Kette der Dinge klar daſtehen, aber uͤber jene
Menſchen, die uns jene Zeiten als das Bluͤtheal-
ter der Nation vorſtellen. Welche herrliche Bluͤ-
the! an ihren Fruͤchten erkennen wir ſie, und koͤn-
nen ſtolz darauf ſeyn.
Warum uns doch Ruinen der Vorzeit ſo poe-
tiſch aus uns ſelbſt fuͤhren, indeß neue Ruinen
uns ſo beengend an uns ſelbſt mahnen? In jenen
Mauern, aus welchen hohe Baͤume zu wachſen
ſchon Zeit hatten, freute man ſich und weinte,
wie in dieſen Truͤmmern, wo die ſchwarzen Stei-
ne noch den Gang der Flamme bezeichnen. Alle
die Schmerzentoͤne, die in jenen Gewoͤlben ver-
hallten, thun dir alſo gar nichts, weil ein paar
Jahrhunderte uͤber ſie hinflogen? — Der Bewoh-
ner dieſes Schloſſes, dieſes Hauſes, das vor we-
nig Jahren der Krieg zerſtoͤrte, fand bei ſeinem
naͤchſten Nachbar Schutz, ſein Gewerbe, oder die
Verhaͤltniſſe des Landes gaben ihm Mittel neuen
Unterhalt zu finden, oder uͤbrige Huͤlfsquellen zu
benutzen. — Welche Rettung aber blieb den Ge-
plunderten, Abgebrannten jener Jahrhunderte?
die Rettung der Knechtſchaft aufs hoͤchſte, — der
Lehnsherr ließ ſie nicht ganz untergehen, weil ſie
zu ſeinen Viehheerden gehoͤrten, außerdem der
Hungertod in den Waͤldern, und die Erloͤſung
durch die Peſt, welche langen Kriegszuͤgen auf
dem Fuße nachfolgte. Das Schickſal jener
D 2
Ruinen, von einem Haͤuflein Reichstruppen be-
rannt zu werden, wird unſrer Wohnung nicht na-
hen, doch ſo wie der Beſitzer dieſer Haͤuſer, koͤnnte
auch deines eine Haubitze zerſtoͤren, deswegen
haſt du beim Anblick jener alten Ritterburg Zeit
zu ſchoͤnen Empfindungen, die Truͤmmern des
verfloßnen Jahres mahnen dich aber an das Un-
gluͤck, was dir ſelbſt noch drohen kann. Dieſer
Unterſchied zwiſchen alten und neuen Ruinen iſt
nirgends auffallender als in St. Goar. Auf dem
Abhange des Berges liegt das alte Schloß, das
vor dem Kriege eines der ſchoͤnſten am Rheinufer
war, in großen, ſchoͤnen Maſſen zertruͤmmert,
unten am Ufer ſtehen die Mauern der ſchoͤnen Ca-
ſernen, die etwas ſpaͤter, wie ich glaube, zer-
ſtoͤrt wurden. Als Gegenſtand der Darſtellung
ſcheint es mir leicht wahrzunehmen, warum die
Truͤmmern aus dem dreizehnten Jahrhundert vor-
theilhafter erſcheinen, wie die aus unſrer Zeit. —
Die Unregelmaͤßigkeit jener Bauart, die getrenn-
ten Maſſen, geben der Phantaſie Spielraum, ſich
in jedem Einzelnen noch etwas Ganzes zu denken,
und in der Truͤmmer iſt noch Groͤße; dagegen ei-
ne Fronte, die in gerader Linie dreißig Fenſter
hatte, wenn ſie theilweiſe eingeſtuͤrzt iſt, nur
ſchmerzlich aufdringt was ihr fehlt, keines ihrer
einzelnen Theile giebt ein vollendetes Bild wie
der runde Thurm, das hohe Gewoͤlbe des Mittel-
alters, noch die vollendete Saͤule der Vorzeit.
Der widrige Wind und die Saumſeligkeit der
Schiffleute ließ uns nur bis Boppart kommen, wo
wir in einer Schenke, Krug, Kneipe und coupe
gorge uͤbernachteten, wie ich ſie auf meinen weit-
laͤuftigen Kreuz- und Queerzuͤgen nie widriger
antraf. Der Begriff von einem Bettzeug war den
Leuten ganz fremd, die Forderung von Waſchwaſ-
ſer und dergleichen Toilettenbeduͤrfniſſen behandel-
ten ſie wie einen voͤllig ungereimten Einfall, und
ein Fruͤhſtuͤck, das wir um halb drei Uhr haben
wollten, weil die Schiffer um drei Uhr abzufah-
ren im Sinne hatten, ſchlugen ſie uns geradezu
ab, weil ſo fruͤh niemand Feuer mache. Da des
Menſchen einziger wahrer Beſitz Erfahrung iſt,
ſtiegen wir, ſehr bereichert an dieſem Schatz, aber
mit ſehr leerem Magen um drei Uhr wieder auf
unſer Verdeck. Der Mond ſank gegen das weſt-
liche Ufer hinab, dunkle Wolker gingen vor ihm
voruͤber, durch die er zuweilen wehmuͤthig und
glanzlos durchblickte, bis er endlich, ſelbſt einer
blaſſen Wolke gleich vor einer gelblichen ſtrahlen-
loſen Morgenſonne verblich. Der Morgen war
truͤbe wie das Schickſal, und die Gegenſtaͤnde
folgten ſich verworren und geſtaltlos wie die Tha-
ten der Menſchen. Ein Umſtand trug noch dazu
bei, mich den Morgen mit wehem Herzen anfan-
gen zu laſſen. Die verkruͤppelten Krieger, wel-
che mit uns fuhren, und bei weitem die ſelbſtſtaͤn-
digſten, unlaͤſtigſten Mitglieder der Geſellſchaft
waren, hatten bei unſrer Ankunft am dem vori-
gen Abend um neun Uhr Einquartierungsbillets
erhalten. Die weniger Kranken waren die erſten
auf dem Platze, beſonders ein handloſer Geſelle
ſang und ſchaͤckerte ſchon um zwei Uhr vor der
Thuͤre des Gaſthofes; allein zwei voͤllig Lahme,
die mir bei unſrer Ankunft im Herzen weh thaten,
wie ſie mit ihren zwei Kruͤcken, ohne daß einer
der ruͤſtigen jungen Mitreiſenden ihnen half, das
weiche ſteile Ufer hinauf klimmten, in dem ihre
Stuͤtzen immer ſtecken blieben, dieſe zwei Armen
waren in der zur Abfarth beſtimmten Stunde noch
nicht da. O das rohe Schimpfen, Spotten,
Schmaͤhen, mit dem dieſe Menſchen erwartet wur-
den, das grimmige Schweigen ihrer Kameraden!
Endlich nachdem Schiffer und Schiffgeſellſchaft,
lauter Deutſche, ihren Witz erſchoͤpft hatten,
ruderte das Schiff fort, die beiden Verſtuͤmmel-
ten zuruͤcklaſſend, ihre Buͤndel nahmen ſie mit,
die wollten ſie in Koblenz ans Land werfen, es
wuͤrde nichts darin ſeyn, das zum Stehlen verfuͤhr-
te. Ich ſetze gar nichts hinzu. — Moͤchte doch
aber von dieſen Maͤnnern, einer oder der andere,
wenn ihm vielleicht in wenig Wochen die Reihe
trifft gegen den Feind zu ziehen, moͤchte er in eure
Naͤhe kommen, meine Lieben, moͤchtet ihr eure
Pflichten als Menſchen und Buͤrger gegen ihn er-
fuͤllen koͤnnen, wie ihr es gegen ſo viele, viele
thatet. Vielleicht daͤchte er dann, gelabt, ge-
pflegt, ſeine zerſchmetterten Glieder von eurer
Hand unterſtuͤtzt — vielleicht daͤchte er dann an
ſeine niedrige Haͤrte gegen ſeine Mitbuͤrger in Bop-
part. Beſonders die beiden Ladendiener, die ge-
ſtern empfindſame Verſe abgeſchrieben hatten, er-
regten meinen Unwillen, die waren jung und hat-
ten den vergangnen Abend bei einigen Flaſchen gu-
ten Rheinwein verlebt, aber bei dem Warten einer
halben Stunde fiel es keinem ein, hinzuſpringen und
die Saͤumenden zu rufen, und wie bei der Ankunft
die Lahmen im tiefen Sande ſtrauchelten, lachten
ſie laͤppiſch uͤber die komiſchen Geberden, und kei-
ner bot ihnen den Arm.
Bis nach Koblenz, welches wir nach einigen
Stunden erreichten, war der Wind ziemlich ruhig.
Das artige Staͤdtchen gewaͤhrte uns in einem ſehr
ſaubern Gaſthof ein gutes Fruͤhſtuͤck, welches mei-
ne gute * * mit mir an einem Fenſter am Rhein
einnahm, das die Ausſicht auf Ehrenbreitenſtein
hatte. Koblenz hat nach meinem Beduͤnken eine
der ſchoͤnſten Lagen die Deutſchland gewaͤhlt. Die
verfallnen Mauern des alten Churfuͤrſtlichen
Schloſſes werden einſt von dem Huͤgel hinwegge-
raͤumt werden, der mit ſeinen zerſtoͤrten Feſtungs-
werken noch immer einen maleriſchen Anblick ge-
waͤhrt, vielleicht deckt ihn der Genius des Friedens
ſo lange mit ſeinem Fittig, daß Baͤume da em-
porwachſen, wo jetzt die oͤden Steinhaufen ſtehen.
— O dazu ſchuf die Natur dieſe felſige, kuͤhne
Hoͤhe, nicht zum Untergang der ſtillen Huͤtten an
ihrem Fuße, der froͤhlichen Menſchen in der guten
Stadt gegenuͤber.
Ganz erquickt von dem Fruͤhſtuͤck, dem Auf-
enthalt in einem ſchoͤnen Zimmer, und einem hei-
teren Himmel, der zu glaͤnzen begann, beſtiegen
wir nach einer kleinen Stunde von neuem unſer
Fahrzeug. Unſre Reiſegefaͤhrten hatten ſich nach
und nach alle zerſtreut — in Bingen, Boppart,
Koblenz zogen ſie ihre Straßen landeinwaͤrts, uns
blieb noch eine ehrliche Buͤrgerin aus Neuwied,
die Verwandte am Oberrhein beſucht hatte, und
dabei eines kleinen Handels mit Putzwaaren pfleg-
te, wie ſie uns, auf ein paar ungeheure Papp-
ſchachteln zeigend, anvertraute. Die gute Seele
iſt unſchuldig an den Moden die ſie verbreitet, ſie
weiß gewiß nicht was ſie thut. Ihr eigner Anzug
war der Beweis, daß ihr eignes Beiſpiel keinen
Modeleichtſinn lehre. Sie war ſo ſauber und alt-
fraͤnkiſch gekleidet, daß ich ſie, bis das Geheim-
niß der Pappſchachteln ans Licht’kam, fuͤr eine
Herrenhuterin hielt. Wie Neuwied an der Waſ-
ſerflaͤche erſchien, ging ihr das Herz auf — ſie
bahnte und putzte an ihrer ſchwarztaftenen Schuͤr-
ze, und erzaͤhlte mir — die ſie bis jetzt unſrer
Verdecksreſidenz wegen, noch gar nicht geſehen
hatte, daß in Neuwied eine verheirathete Tochter
und zwei Enkel ihrer warteten. Guter Gott! wie
freute mich die Frau mit ihrer verſchaͤmten, ver-
traulichen Mittheilung; ich ſagte ihr, daß ich von
meinen Kindern und Enkeln abwaͤrts reiſte, auf
dem Strom der ſie zu ihnen fuͤhrt, und prieß ſie
gluͤcklich. Wie koͤnnen die Menſchen mich ruͤhren,
die da abbluͤhen wo ſie entſproßt ſind, die Sonn-
tags den Kirchhof beſuchen koͤnnen, wo ihre El-
tern ſchlafen, und am Neujahrstag Enkel und
Kinder zu einem Familienmale laden. Mir iſt
das ſo heilig, wie die Unſchuld eines Kindes. —
Nachdem dieſe gute Großmama bei Neuwied
ans Land gerudert war, blieb uns nur noch ein
Frauenzimmer uͤbrig, die in jedem niedrigkomi-
ſchen Roman eine Rolle haͤtte ſpielen koͤnnen. Ei-
ne Berlinerin wie ſie ſagte, und ihre Sprache
nicht widerlegte; ſie war mit ihrem Manue in ir-
gend einem Dienſtverhaͤltniß mit einem franzoͤſi-
ſchen General, von dem ſie immer ſprach als
muͤßte er mit ſo bekannt wie mein leiblicher Vet-
ter ſeyn, ihn aber nur „den General“ nannte,
als habe Frankreich und die Welt keinen andern,
was mir denn vieles Denken erſparte, weil ich
mich bei ihrem widrigen, anmßenden, und den-
noch uͤberall nach Armſeligkeit ſchmeckenden Ge-
ſchwaͤtz, glaͤubig an den abſtrakteu Begriff eines
Generals hielt. Sie wollte zu ihren Schwieger-
eltern nach Crefeld, und aͤngſtigte ſich ſehr uͤber
die Mittel eine Anzahl Muſelin und Baſinreſte,
durch die Douane bei Coͤlln einzuſchwaͤrzen. Ich
rieth ihr eine Art Unterrock daraus zuſammen zu
reihen, welches keinen Verdacht erregen werde,
welchen Rath ſie zu meiner unendlichen Freude
befolgte. Da ſie hochſchwanger war, ward ſie
davon ſo dick wie eine Tonne, wodurch ſie bei ih-
rer anſehnlichen Laͤnge zu einer wahren Karrikatur
ward. Wie es bei der Douane ausſehen wuͤrde
wußte ich nicht, es kuͤmmerte mich aber auch
nicht, da ich alle Uebertretung des Geſetzes ver-
abſcheue, und beſonders dieſes ſo leicht zu befol-
gende, das nur aus Uebermuth oder der roheſten
Unfeinheit von einem Frauenzimmer uͤbertreten
werden kann, da ſie ſich ſtets gegen die Douaniers
ausſetzt, aber dieſe mochten ſich fuͤrchten mit die-
ſer Virago Haͤndel zu bekommen, denn ich ſah ſie
bald nach unſerer Ankunft in Coͤlln uͤber die Straße
gehen — ſie hatte ihren kuͤnſtlichen Unterrock alſo
gluͤcklich eingeſchwaͤrzt.
Von Neuwied aus begann der Wind an Staͤr-
ke und Widrigkeit zuzunehmen. Gluͤcklicherweiſe
hatten wir nun Raum in der Kajuͤte. Indeß die
Berlinerin * * von dem einzigen General erzaͤhl-
te, ſchrieb ich einige Stunden, und trank Nach-
mittags ſogar Thee auf dem Schiff, wozu ich
unſre Reiſegefaͤhrtin einlud, und ich ihr dadurch
wie es ſchien von meiner Liberalitaͤt einen ſehr
großen Begriff machte. Sie ging in dem Maße
in die Rolle einer Kammerfrau zuruͤck, in welcher
meine Art von Hoͤflichkeit ſie bei einem laͤngern
Beiſammenſeyn belehrte, daß nur der Zufall uns
zuſammen fuͤhre. Dieſer ſonderbare Akt in dem
gemeinen Menſchen jedes Standes ſich an ihren
Platz zu ſtellen, ſobald man ſelbſt an dem ſeinen
ſteht, iſt ſehr ſonderbar. Er kann ſich nur in der
conventionellen Welt bilden, und beruhet doch al-
lein auf einer nicht zu uͤbertaͤubenden Stimme in
ihrer innern Natur.
Sturm und Wellen nahmen von Minute zu
Minute an Heftigkeit zu; der Regen ſchlug an
das Schiff, der Wind riß das Seegel mehrere
Mal in das Waſſer; die Schiffer ſchrieen und
und ſchienen mir ſehr ungeſchickt, denn ehe ſie die
Seegel auf- und niederließen, bedurfte es ei-
ner ſo geraumen Zeit, daß ein Schiff auf dem
Ocean bei gleichem Zeitmaaß uͤbel berathen waͤr.
Wir lavirten ſehr nachtheilig, und jedes Mal das
wir bei dieſer Bewegung an das rechte Ufer ka-
men, drehte ſich das Fahrzeug ein paar Mal im
Kreiſe herum, bis es der Wind im Ruͤcken gefaßt
hatte, worauf er es gewaltſam Strom auf an das
rechte Ufer zuruͤck jagte; dort angelangt, ſuchten
die Schiffer den Wind ganz ſchraͤg mit den See-
geln zu fangen, und ſchifften wieder nach dem
rechten Ufer uͤber. Bei dieſer Ueberfahrt lag das
Schiff ganz ſeitwaͤrts und ſchwankte gewaltig.
Da ließ ſich unter Lienz ein Mann an Bord ru-
dern, der ein guter Schutzgeiſt in einer ſehr poſſier-
lichen Geſtalt war — ſo eine alte Chodowiekiſche
Karrikatur von einem Hollaͤnder, mit ſchwarzer
Stutzperuͤcke und altfraͤnkiſchem Rock, breit und
unerſchuͤtterlich wie ein Fels — der trieb wohl
das Schifferweſen aus Liebhaberei, denn ſo wie
er eintrat, ſtellte er ſich an das Steuerruder, und
arbeitete mit ſo ungeheurer Anſtrengung, daß ſei-
ne Emanationen zu der offenen Kajuͤtenthuͤr her-
ein mich uͤberzeugten, daß er in allem Ernſt eine
menſchliche Geſtalt angenommen hatte, wenn er
gleich ein wirklicher Schutzgeiſt ſey. Ich glaube,
daß wir es dieſem unbekannten Schweigenden zu
verdanken haben, daß die Rheinnire uns nicht in
ihren naſſen Schooß zog. Die herzliebe * * ſah
bei der ganzen Sache, wenn nicht bange, doch
ſehr fragend aus, und ich? — behauptete meine
Gewalt uͤber meine Angſt recht meiſterlich — das
nennen die Zuſchauer dann Muth. Unter dieſen
Umſtaͤnden konnten wir freilich, wie wir Abends
um neun Uhr in Weſelingen anlangten, nicht ſehr
ſehnſuͤchtig ſeyn, noch drei oder vier Stunden auf
dem Waſſer zu verweilen. Weſelingen ſcheint ein
ſehr kleiner Ort, am Rhein ſteht ein ſchoͤnes
Haus, das eine ehemalige Praͤbende, oder das
Privateigenthum eines Domherrn iſt; er bringt
wenigſtens ſeine Zeit daſelbſt zu. Zu meiner
Verwunderung fanden wir beim Anlanden hier
keine Zollbediente, wie das an jedem Landungs-
platze der Fall geweſen war, wo ſie ſogleich Acht
hatten, daß kein Gepaͤa ohne Unterſuchung aus-
geladen ward, denn ins Schiff kamen ſie
nie. Von einer Entfernung zur andern ſind am
Ufer kleine Huͤtten gebaut, oft nur wie ein Hun-
dehaͤuschen von Stroh und Reißig, um ſie bei
heftigem Sturm zu ſchuͤtzen, und mit einem Saͤ-
bel bewaffnet gehen ſie ſtets am Ufer einher.
Hier in Weſelingen gingen wir ein wie in Freun-
des Land, und ich bemerkte, daß die Schiffer
ſehr geſchaͤftig waren, und mancher Bekannte in
der dunkeln Nacht auf ſie wartete. Im Wirths-
hauſe ſaßen mehrere Franzoſen beim Wein, die
ich fuͤr Kriegsleute hielt; auf meine Frage ant-
wortete mir die Wirthin, es ſind Zollbediente.
Neben der Wirthſchaft hatten die Hausleute auch
einen Laden, wo Zucker, Kaffee, Taback, Garn
verkauft wurde. Das ſah denn freilich ſehr’ ver-
daͤchtig aus, ging mich aber weiter nichts an, nur
kann ich hier nicht unbemerkt laſſen, daß das
Zollweſen vom Volke hier eben ſo behandelt wird,
wie an den meiſten Orten die Conſcription und
die Forſtordnung, das heißt, es macht ſich nicht
das Geſetz zur Regel, ſondern die Moͤglichkeit,
das Geſetz zu umgehen. Welchen traurigen Ein-
fluß es auf die Anſicht des Geſetzes im Ganzen
hat, wenn ſich der Menſch erlaubt, auch das
Kleinſte als ihn nicht bindend zu betrachten,
liegt wohl klar vor Augen. Und leider ge-
ben in dieſen Faͤllen die Claſſen, welche vor-
angehen ſollten im Guten, das verderblichſte
Beiſpiel.
Das Wirthshaus zu Weſeling ſah ſo klein
aus, daß ich meinen Zweifel ob wir Platz genug
finden wuͤrden ein Bischen vorlaut aͤußerte; der
Wirth, den ich in dem Helldunkel noch gar nicht
bemerkt hatte, ſagte ſehr heiter: doch wohl! das
Haus haͤtte ſo viel Platz als wir brauchten, und
wenn er erſt reicher waͤr, wollte er es vergroͤßern
laſſen. Nun fuͤhrte uns ſein rundes nettes Weib
die enge Treppe hinauf unter das Dach, welches
bei dem niederen Hauſe, das nur das Erdge-
ſchoß hatte, gar nicht hoch hinauf war; hier ſtol-
perten wir uͤber ein niederes Lager, auf dem,
reinlich und ſtark wie die jungen Loͤwen, zwei
praͤchtige Knaben von vier und ſechs Jahren ſchlie-
fen. Ihnen zur Seite oͤffnete man uns ein Zim-
mer, wohl nur ſieben Fuß hoch, weiß wie Schnee,
zwei Betten mit gruͤnſeidnen Decken, ſchoͤnen Kiſ-
ſen, in glatt gebohneter Bettſtell, und nun for-
derte man unſre Befehle. Ich forderte Chokolade,
die ich oft ſtatt Abendeſſen nehme, wenn ich zum
Theetrinken — das ſtets mit Einſicht geſchehen
muß — zu ſchlaͤfrig bin. In einem Huy war
ſie fertig, gut bereitet in artiger Fayence aufge-
tragen. Das nette Weibchen legte ſchneeweißes
Leinenzeug auf die Betten, und erzaͤhlte uns, daß
ihr Mann viele Jahre beim Marſchall * * gedient
habe, daß der Krieg ſie von ihrem erſten Kind-
bett an, ſieben Jahre von ihm getrennt habe, nun
lebten ſie wieder ſieben Jahre zuſammen, und
ſuchten die ſchweren Zeiten aufs leichteſte zu tra-
gen. Dabei war alles ſo eng, ſo drollig, und
die Mauern des Hauſes ſo duͤnn, daß ich am Fen-
ſter gelehnt, und den Rhein im matten Sternen-
ſchimmer betrachtend, immer meinte ich ſey noch
in der Kajuͤte, nur einer reinlichern, troͤſtlichern.
Am folgenden Morgen erhielten wir guten Kaffee,
ſehr gute Milchbrote, und nahmen ſehr froͤhlich
von der Diminutiv-Wirthſchaft Abſchied. Wer
nicht groͤßer und dicker iſt wie ich, der gehe in die-
ſes kleine Haus zu Weſelingen, er wird ſich recht
gut befinden.
Nachdem wir noch fuͤnf lange Stunden zwi-
ſchen den nun ganz flachen Ufern geſchifft hatten,
kamen wir gegen zehn Uhr in Coͤlln an. Die
Douane legte mir nicht das geringſte Hinderniß
in den Weg, ich gab ihr meinen Kofferſchluͤſſel,
ſie fuͤhlte kaum in den Koffer hinein, ohne die
Riemen aufzuſchnallen, und ſagte mir hoͤflich:
„mir wuͤrde bekannt ſeyn, daß ich jede Unannehm-
lichkeit vermied, indem ich die etwa verbotnen
Effekten ſelbſt angaͤb.“ — Hier am Schluſſe mei-
ner Waſſerreiſe rathe ich euch nun nochmals, nie
das Poſtſchiff zu beſteigen. Frauenzimmer gehoͤ-
ren an und fuͤr ſich nicht dahin, aber auch Maͤn-
ner verfehlen ihren Zweck dabei. Sechzehn Stun-
den des Tags iſt es nicht wohl moͤglich in philoſo-
phiſcher Abziehung von allen aͤußern Gegenſtaͤn-
den die Natur zu genießen, und ſobald dieſer
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verzuͤckte Zuſtand unterbrochen iſt, verdirbt die
gemiſchte Geſellſchaft jeden Genuß. Ich bin
uͤberzeugt, die welche ich antraf, gehoͤrte zu
der beſſern, keiner in der Kajuͤte gehoͤrte zu der
untern Volksklaſſe; in den wenigen Momenten,
die ich unter ihnen war, hoͤrte ich nichts, was mein
Gefuͤhl fuͤr Sittſamkeit beleidigt haͤtte — aber
es giebt andre Schrecken der Natur, und der
groͤßte, gerade in einer ſchoͤnen Natur, iſt gemei-
ne Plattheit.
Vierter Abſchnitt.
Ich eilte in Coͤlln einen Eindruck zu erneuern,
welchen mir laͤngſt vergangne Zeiten zuruͤckgelaſ-
ſen hatten, — ich beſuchte den Dom. Welch ein
herrliches Gebaͤude waͤre er in ſeiner Vollendung
geworden; ich fragte ob ihn der Kaiſer nicht ge-
ſehn habe, und wuͤnſchte, daß man ihn auffor-
dern duͤrfte dieſen Tempel zu vollenden. Ich
ging lange in den leeren Saͤulengaͤngen umher,
und genoß die Groͤße der Kunſt und Kraft des
Menſchen, und dachte der Nichtigkeit alles menſch-
lichen Unternehmens, und den eigenſinnigen Wil-
len des Schickſals. — Wenn, dachte ich, wird
die Zeit einmal zuruͤckkehren, wo der Ueberfluß
der Reichen, der Gemeinſinn aller. Mittel zu ſol-
chen großen Denkmaͤhlern herbeiſchaffen wird?
Giebt es deren nothwendigere, ſo ſetze man ſie
zuerſt, aber man halte doch nicht einen Vereini-
gungsplatz fuͤr unnothwendig, ſeine Wuͤrde und
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Pracht fuͤr uͤberfluͤſſig bei unſern jetzigen Beduͤrf-
niſſen, wo aller Herzen in manchen Momenten
vereint, mag es in den verſchiedenſten Formen
ſeya, Gott danken, vor Gott weinen. Ich war
in Traͤume vertieft in den Vorhallen gewandert,
ohne in das Schiff der Kirche, welches allein aus-
gebaut iſt, allein eine anſehnliche Kirche ausmacht,
zu treten. Jetzt ging ich leiſe den einen Seiten-
gang hinauf, dem Hauptaltare zu, und der erſte
Gegenſtand den ich erblickte, war eine mit Blu-
menkraͤnzen geſchmuͤckte, mit leichten Muſelin
umhangene Kinderbahre, neben der einige Wei-
ber beteten. Die Tracht dieſer Frauen erhoͤhte
das Ueberraſchende des Anblicks. Sie tragen ein
großes ſchwarzſeidnes viereckiges Tuch als Schleier
und Mantel zugleich, welches, wenn ſie knieen,
den Gewaͤndern der heiligen Weiber aus der deut-
ſchen alten Schule ſehr gleich kommt. Ein Kin-
derſarg! — Gott erhalte das bluͤhende Leben mei-
ner Molly! dachte ich erſchuͤttert. Es iſt als
wenn auf dieſer ganzen Reiſe wo ich verweile der
Tod mir ſtets zufoͤrderſt die Hand bietet. In
* * hielt mich das feierliche Leichenbegaͤngniß ei-
nes Studirenden tief in die Nacht hinein am Fen-
ſter. Es ward mit der edlern Theilnahme began-
gen, die uns gern bei dem Weh ergreift, das von
perſoͤnlichen Ruͤckſichten entfernt iſt. Der fremde
Juͤngling wird uns zum Symbol des Vergaͤngli-
chen — wir erkennen die Allgewalt des Todes
ohne uneigennuͤtzigen Schmerz, und dieſes reinere
Gefuͤhl erhebt die ſich ſelbſt nie bewußte Menge.
Auch in Moosbach begegnete ich dem Gepraͤnge
der letzten Erdenſcene. Ein feindſeliges Nerven-
fieber riß in der umliegenden Gegend viele dahin;
in den drei Tagen meines Aufenthalts ſah ich drei
Leichen voruͤber fuͤhren. Und hier in Coͤlln war
eine Bahre der erſte Anblick, der ſich mir darbot.
Ein ſanfter erhebender Anblick! dieſer kleine Tod-
tenkaſten mit ſeinen froͤhlichen Blumengehaͤngen,
und den zarten Schleier, der den kleinen Schlaͤfer
deckte. —
Ich ließ mir den Schatz zeigen. Mir machen
dieſe alten Dinge Vergnuͤgen, und * * hatte der-
gleichen noch nie geſehen. Die heiligen drei Koͤni-
ge ſind nach ihrer Flucht vor der franzoͤſiſchen Ar-
mee unverſehrt zuruͤckgekommen. Wie man ſie in
Frankfurt ergriff, ſollten ſie, ſo ſagte mir der
Geiſtliche, welcher mir dieſe Schaͤtze zeigte, eben
nach Oeſterreich abgefuͤhrt werden; ſie blieben lan-
ge in Verwahrung des Siegers, wurden aber
ohne alle Verletzung ihren alten Verehrern zuruͤck-
geſchickt. Es war mir eine rechte Freude die al-
ten Herrn wieder zu ſehen; ſie ſchienen ſich bei al-
len den unwillkuͤhrlichen Reiſen ſehr paſſiv verhalten
zu haben, denn ſie waren nicht im geringſten ver-
aͤndert. Der Geiſtliche erfreute mich durch die
Milde mit der er uns das Schickſal ſeiner Heilig-
thuͤmer erzaͤhlte, kein rauhes Wort, kein bitterer
Ruͤckblick uͤber all das Verlorne, nur ein rechtli-
cher Stolz uͤber die erhaltnen Herrlichkeiten, und
je laͤnger er mein Intereſſe an ihnen ſah, je
lebhafter ward ſein Intereſſe ſie mir zu zeigen.
Die Kunſt an den alten Arbeiten iſt ein Gegen-
ſtand meiner Bewunderung — mag doch die Welt
philoſophiſcher ſeyn, oder evangeliſcher, oder wie
ſie es nennen mag, — ich moͤchte doch wiſſen wie
die Kunſt gemeinwirkender angewendet werden
koͤnnte, als zum Schmucke der Kirchen, zum Pom-
pe der Religionsgebraͤuche? Hier gewinnt des
Volkes Auge Freude an der Kunſt, von der Kir-
che koͤnnen dem Kuͤnſtler Werke aufgetragen wer-
den, die der Privatmann nicht bezahlen kann,
und die beim Fuͤrſten dem Genuß der Menge ent-
zogen ſind; — denn die großmuͤthige Erlaubniß
zu gewiſſen Tagen, unter gewiſſen Umſiaͤnden die
fuͤrſtlichen Zimmer beſuchen zu duͤrfen, praͤgt dem
Volk wohl das Gefuͤhl der Entfernung zwiſchen
dem Fuͤrſten und ſich ſelbſt ein, erweckt aber nicht
die Liebe zu den ſchoͤnen Dingen in ihm, welche
jede Ahndung von Eigenthum begleitet. Was in
der Kirche und auf dem Rathhauſe ſteht, zu dem
denkt es ſich ein wirkliches Recht zu haben. Und
die ſchoͤnen Juwelen blitzender Monſtranzen, die
Leuchter und Becher! Da kann ein Kuͤnſtler mehr
Kunſt anbringen, wie an einem ganzen Tafelſer-
vice, welches dem Volke nie vor Augen kommt,
oder auf dem der Hungrige nur gierig eine leckere
Schuͤſſel vorbeitragen ſieht. „Eure Tempel
glaͤnzten gleich Pallaͤſten“ — dieſe Kirchen glaͤn-
zen noch zuweilen, wenn die Sonne auf die
Schmaragden des Allerheiligſten ſtrahlt, und die
Fahnen beim Schall der Poſaune in die Luft flat-
tern. — Da ſtand ein großer ſilber Kaſten, der
die Ueberreſte — ich weiß nicht welches, ziemlich
neuen Heiligen enthielt, denn ſo viel ich verſtand,
war er in den Bewegungen der hollaͤndiſchen Frei-
heitskriege ermordert. — Gott behuͤte mich doch
vor den Heiligen, die eine chriſtliche Kirche der
andern verſchafft hat! — Die getriebene Arbeit
dieſes Kunſtwerks iſt herrlich! der Zeit nach konnte
ſie von einem Schuͤler Benvenutos ſeyn, und ich
dachte mir die Lebhaftigkeit mit der jene Kuͤnſtler
arbeiteten; wie ſo ein Kunſtwerk ſich mit ihrem
Glauben an die Ewigkeit ihrer Kirche verband.
Ließe ſich denn kein Mittel finden, die großen
Momente und großen Menſchen aus unſrer Zeit,
ſammt ihren Denkmaͤhlern, ohne ſie zu kanoniſi-
ren, mit der Kirche zu verbinden? und wuͤrden
ſies denn nun auch? — Wehe dem Menſchen der
nicht Augenblicke hat, wo er ſich das Liebſte,
Hoͤchſte, was er in der Menſchheit hatte nahe bei
Gott denkt! Religion kann nur Beduͤrfniß des
Herzens ſeyn, und das Ueberſinnliche ahnen wir
nur durch die zarteſte Empfaͤnglichkeit der Sinne.
— Unterrichtet uns, bildet unſre Vernunft, wenn
wir aber Gott ſuchen, unſern Gott — denn
weſſen Gott ſieht denn ganz ſo aus, wie des an-
dern Gott? — dann laßt uns unſer Gefuͤhl al-
lein leiten; das Gefuͤhl fuͤhrt nur dann zum Fana-
tismus, wenn Vernuͤnftelei ſich in das Suchen
nach dem Goͤttlichen einmiſcht.
In Coͤlln, im Gaſthof zum heiligen Geiſt,
ja ſchon weiter oben am rechten Reinufer in Lienz,
wo wir zu Mittag ſpeiſten, hatten wir eine Vor-
empfindung hollaͤndiſcher Reinlichkeit. Auch auf
dem Wochenmarkt in Coͤlln erfreute mich die rein-
liche Ausſtellung des reichen Vorraths von Lebens-
mitteln. Wo ich noch vor zwanzig Jahren ein
altes Auguſtinerkloſter kannte, iſt jetzt ein ſchoͤner
regelmaͤßiger Platz mit Baͤumen bepflanzt, von
dem ich mit wahrem Vergnuͤgen die ſoliden Haͤuſer
mit ihren ſpiegelhellen Fenſterſcheiben rund umher
betrachten konnte. Hier iſt Korn- und Heumarkt,
dann kommt man auf den Speiſemarkt, wo ein
Ueberfluß herrlichen Gemuͤſes, niedlicher Holz-
waaren und Korbwerk ausgeſtellt war. Die
Bauerleute waren reinlich gekleidet, und rechtlich.
Die Weiber haben alle ein weißes dreieckiges Tuch
um den Kopf ganz in die eckige Form gelegt, wie
die weiblichen Geſtalten auf Duͤrers und noch aͤl-
teren deutſchen Gemaͤhlden. — Wie allmaͤchtig
mußte der ſchoͤpferiſche Trieb in dieſen Kuͤnſtlern
ſeyn, wie rein ihre Ahndung des Schoͤnen, das
ſie zu bilden verſuchten bei den Geſtalten, die ein-
zig ihr Auge gewohnt war. Die hier noch erhal-
tene Volkstracht, und die Moden der hoͤhern
Staͤnde jener Zeit, ſind ganz dazu erdacht, die
menſchliche Geſtalt zu verbergen, oder zu ent-
ſtellen. Warum die Coͤllnerinnen ſelbſt ſo haͤß-
lich, gelb und ſchleppenden Ganges ſind, begrei-
fe ich nicht, denn die Stadt liegt lange nicht ſo
feucht wie viele andere. Die Bauart iſt nicht
ſchlechter, die Lebensmittel gut. Ihr Anzug iſt
ſchon ſehr haͤßlich, und wird haͤßlicher je weiter
herab man am Rhein kommt. Widrige weiße
Hauben die das Kinn umgeben, wie die weißen
Straͤhlenhaare eines gewiſſen Affen, der Manga-
bey aus Madagaskar nach Buͤffon, und lange
Jacken, die eine hoͤchſt nachtheilige Abtheilung in
die Geſtalt bringen. Leer iſt die Stadt heute wie
vormals, allein die Heerden von unverſchaͤmten
Bettlern, die ich vor zwanzig Jahren vor den
Kirchthuͤren fand, ſind verſchwunden. Dennoch
wird der Stillſtand des Handels hier ſo ſchmerz-
lich gefuͤhlt, daß die Menſchen nicht wohlhaben-
der koͤnnen geworden ſeyn, ſehr leicht aber thaͤti-
ger. Die ſchoͤnen Hauſer der ehemaligen Dom-
herrn ſind verkauft, ihre ehemaligen Beſitzer ha-
ben mit einer Penſion, welche die jedes andern
Ordensgeiſtlichen nicht uͤberſtieg, das Land verlaſ-
ſen, und durch dieſe Auswanderung muß der Er-
werb ſich auch vermindert haben.
Von nun an war mir die Gegend am linken
Rheinufer ganz unbekannt. Von den Thoren von
Coͤlln an geht der Weg im Sande fort, der nur
hier und da mit ſchwarzem Boden vermiſcht iſt.
Wir waren von unſerm Beſchuͤtzer in Coͤlln ſo un-
endlich ſchlecht beſchuͤtzt worden, daß wir fuͤr den
doppelten Preis den es in Deutſchland gekoſtet
haͤtte, eine Chaiſe mit zwei Pferden erhalten hat-
ten, die uns ſaumſelig durch den Sand zog.
Ueberhaupt wuͤrde ich keine ſolche Chaiſe mehr
nehmen, wenn ich noch einmal des Wegs kaͤm’,
und dieſen Rath haͤtte uns unſer Beſchuͤtzer geben
ſollen. Nach Landesſitte fuͤhrt man mit zwei
Pferden zweiraͤderige Fuhrwerke, deren Kaſten
ganz chaiſenartig iſt. Auf dem ebnen Boden, in
dem tiefen Sande, haben ſie fuͤr die Pferde viel
mehr Leichtigkeit. An einigen Stellen naͤhert ſich
der Weg wieder dem Rhein; meiſtens liegen die
Doͤrfer am Fluſſe, und in ihrer Naͤhe ſind die Fel-
der etwas beſſer bebaut, auf den ferner gelegnen
kann man ſich nichts elenderes denken wie die duͤn-
nen Gerſtenhalme, zwiſchen denen uͤberall der
graue Boden hervor blickte. Etwas beſſer ſah das
Haidekorn aus, das eben in voller Bluͤthe ſtand.
Hoͤchſt ungleich wuchſen Kartoffeln und Klee und
das ſo nahe bei einander, daß nothwendig die
Behandlung daran Schuld ſeyn mußte, denn ne-
ben einem recht kraͤftigen in voller Bluͤthe ſtehen-
den Kartoffel- oder Kleefeld lag ein anderes, das
um drei Monate zuruͤck war. Wir fanden in die-
ſer Gegend viel Anſtalten zu dem vorhabenden
Waſſerbau, denn die Gefahren der Ueberſchwem-
mung erſtrecken ſich bis hieher. Wir fuhren an
einer Niederlage von Faſchinen vorbei, welche
viele Morgen Landes bedeckte. Eine Betriebſam-
keit der hieſigen Gegend war mir ganz neu,
die ambulanten Backſteinbrennereien, die von
den Bewohnern der Gegend von Nuys betrie-
ben werden. Man laͤßt weit am Rhein herauf
an beiden Ufern ſolche Nuyſer Familien kommen,
Vater, Mutter und Kinder; ſo ein Haushalt heißt
ein Pflug. An Ort und Stelle zeigt ihm der
Gutseigenthuͤmer der ihn verſchrieb den zu ihrer
Arbeit angemeſſenen Boden, von Lehm und Sand
gemiſcht an, aus dieſem bilden ſie die Steine, und
ſetzen ſie in Form eines Vierecks mit abgeſtumpf-
ten Winkeln auf, bis ſie einen Ofen daraus ge-
bildet haben, der die zweckmaͤßige Dicke und paſ-
ſenden Umfang hat; aͤußerlich wird er mit Erde
und Raſen bekleidet, dann von innen mit Torf
oder Steinkohlen geheitzt. So dienen die Steine
ſich ſelbſt zum Ofen, und brennen in der Glut,
welche zwiſchen dem geſchickt geſetzten Steinen al-
lenthalben Kanaͤle findet, vollkommen aus. Sie
ſind von verſchiednem Roth, ſcheinen aber viel beſ-
ſer gebrannt und gemiſcht zu ſeyn, als die unſri-
gen. Spaͤt am Abend kamen wir nach Nuys, ei-
nem gradſtraßigen freundlichen Staͤdtchen.
Hier zu Lande muß man ſich in alten Zeiten nach
andern Grundſaͤtzen nachgebauet haben, als
in den deutſchen Staͤdten; von hier an fanden
wir auf unſerm Wege keine krummen Straßen
mehr, gerade, ebne, wenn gleich in den kleinen
Orten wie Nuys, nicht breite Straßen. Von
Coͤlln an fand ich in allen Staͤdtchen neu angeleg-
te Spatziergaͤnge, und vor den Thoren bepflanzte
Wege, deren Baͤume acht bis zehn Jahr alt ſchie-
nen; auch auf dem Lande war der Weg, wo es
der Sandboden irgend erlaubte, mit Baͤumen be-
ſetzt. Von Nuys aus waren die Felder weniger
ſchlecht, der Boden eben ſo ſandig, aber die Doͤr-
fer mehr an einander geruͤckt. Man behaͤlt den
Rhein ſehr nahe; von Nuys iſt er eine kleine
Stunde, und gegenuͤber liegt Duͤſſeldorf. Mir
ward das Herz warm bei der Naͤhe dieſes Ortes,
bei dem ich einſt ſo ausgezeichnete Menſchen kann-
te, aber dahin verlangen that mir nicht, denn
das Schickſal fuͤhrte ſie laͤngſt hinweg, und
viel ſchmerzlicher wird das Andenken an die Ver-
gangenheit auf dem veroͤdeten Schauplatz, den ſie
einſt belebt hat.
Wir ſahen unſre elenden Roſſe klaͤglich im tie-
fen Sande waden, und zu ihrer Erquickung alle
zwei Stunden grobes, ſtrohartiges Heu freſſen.
Das Land faͤngt hier an von Baͤumen und Hecken
durchſchnitten zu werden, ſo daß jedes Gut durch
einen Streifen von Weiden, Ellern, Ulmen abge-
theilt zu ſeyn ſcheint. Eigentliche Doͤrfer ſind ſel-
ten, um ſo haͤufiger einzelne Hoͤfe, und kleine
Weiler. Dieſe Abtheilungen, die ich ehemals im
Hannoͤveriſchen einen Kamp habe nennen hoͤ-
ren, geben dem Lande ein lebendiges Anſehen,
und die Beſitzungen werden von Stunde zu Stun-
de ſchoͤner. Viele derſelben hatten ein kleines Ge-
hoͤlz hinter dem Hauſe, meiſtens Eichen, unter
denen Schweine und Federvieh weidete. Wir
ſpeiſten in einem ſolchen Hofe der zugleich Gaſt-
hof war und zu Hochſtraaten gehoͤrte, zu Mittag.
Auf dieſer Poſtſtation hatte vor wenig Tagen ein
komiſcher Auftritt ſtatt, der den liebenswuͤrdigen
Charakter des Koͤnigs von Holland ſchildert.
Dieſer reiſte im ganzen Ernſte incognito hier durch
nach Spaa. Wie er ſich beim Umkleiden zu bal-
biren verlangte, hatte der Kammerdiener die Bart-
meſſer vergeſſen, der Balbier des Ortes wurde
herbeigerufen, und geboten dem Kammerdiener
ſein Handwerkszeug gebrauchen zu laſſen; der
Mann erklaͤrte aber ſehr entſchloſſen, wenn er
nicht ſelbſt operire, gaͤbe er auch ſeine Meſſer nicht
her. Der Koͤnig ſetzte ſich alſo ruhig hin, ließ
ſich von dem Autobartbeherrſcher balbiren, und
fand ſein Regiment ſo ſanft, daß er ihn hoͤchlich
ruͤhmte und ſeinen Werkzeugen einen Theil ſeines
Verdienſtes zugeſtehend, bat er, ihm ſeine Meſſer
zu verkaufen. Der Mann ging den Vorſchlag als
ein großer Kuͤnſtler ein, der jedes Werkzeug zu
ſeinem Zwecke zu gebrauchen im Stande iſt, und
der Koͤnig, nachdem er ihn freundlich um ſeine
haͤuslichen Umſtaͤnde befragt hatte, ſchenkte ihm
zwei hundert Franken fuͤr ſeine Meſſer. Erſt nach
ein Paar Tagen erfuhr man, daß es der Koͤnig
war, der ſich den Bart hatte abnehmen laſſen.
Noch eine Anekdote von dieſem Manne, den ſeine
blindeſten Gegner ſelbſt mit Achtung nennen,
erzaͤhlte man mir auf dieſem Wege, und ich er-
zaͤhle ſie auch wieder nach meinem alten Grundſatz
den Voltaire einmal anwendete, ohne daß man ihn
verſtand. Iſt ſo ein Geſchichtchen auch nicht voͤllig
wahr, ſo bezeichnet es gewiß die Anſicht eines
Theils des Publikums, zu dieſer muß es eine
Veranlaſſung geben, und dieſe iſt dem Beobachter
die Hauptſache. So ſagte Voltaire: wenn die
Tuͤrken nicht in der heiligen Sophienkirche zu Con-
ſtantinopel getanzt haben, ſo haͤtten ſie es doch
thun koͤnnen — das heißt: ſie waren geneigt den
Ort zu entweihen. Der Geſchichtſchreiber ſollte
aber nicht in dieſem Sinne erzaͤhlen, wohl darf
es aber die geſchwaͤtzige Mutter, wenn ſie zu dem
Kreis ihrer Kinder ſpricht. Wie der Koͤnig an der
hollaͤndiſchen Grenze von der Duane unterſucht
ward — man muß ſtrenger gegen ihn verfahren
ſeyn, als gegen mein armes Ich, das freilich auch
gar nicht Contrebandenmaͤßig ausſieht — fand
man fuͤr zwei und achtzig tauſend Livres Juwe-
len, die er nicht angezeigt hatte, und ſie wurden
dem Geſetz gemaͤß in Beſchlag genommen. Ohne
die geringſte Widerſetzlichkeit reiſte der Koͤnig wei-
ter, und das Zollamt erfuhr erſt nach ein Paar
Stunden, daß es ſein Recht an ſeines Kaiſers
Bruder geuͤbt hatte. Sogleich ſchickte es einen
Bothen nach Spaa, um dem Koͤnige mit vielen
Entſchuldigungen ſeine Koſtbarkeiten zuruͤckgeben
zu laſſen, dieſer wieß ſie aber mit der ſehr freund-
lichen, aber ernſten Aeußerung zuruͤck, daß er be-
ſchaͤmt ſei Geſetze uͤbertreten zu haben, da es ihm
zukaͤm, ſie am ſtrengſten zu ehren. — Wahrſchein-
lich wird die franzoͤſiſche Regierung — denn die
Confiscationen gehoͤren der Regierung, die Zoll-
bediente haben nur ihren Gehalt — dafuͤr ſorgen,
daß er entſchaͤdigt wird, das vermindert aber nicht
den Anſtand und die Liebenswuͤrdigkeit in des Koͤ-
nigs Betragen. Warum kann ich mir doch, wenn
ich in Fuͤrſten menſchlichſchoͤne Eigenſchaften er-
kenne, des Wunſches nicht enthalten, ſie moͤchten
nicht fuͤr den Thron beſtimmt ſeyn. — Endlich
bleibt mir fuͤr den Karakter des Herrſchers ein ſo
aus der Menſchheit heraus gehobnes Weſen uͤbrig,
daß es mir die Empfindung eines Menſchen er-
regt, der mit hoͤhern Geiſtern im Bunde, allen
Banden der Menſchheit entſagt hat. Kann es
denn auch anders ſeyn? Der an die Stelle des
Geſetzes geſtellt ward, verſetzt ſich der nicht auch
bald an die Stelle des Schickſals? und der dieſen
furchtbaren Eingriff in die Rechte der Gottheit
wagt — muß er nicht von ihr erleuchtet, oder
von ihr der ſchrecklichen Nemeſis geweiht ſeyn? —
Nie erregt, was ich von Ludwigs Individualitaͤt
hoͤrte, dieſe furchtbare Bilder; ſie ſpricht uͤberall
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ſanfte Menſchlichkeit aus, am liebenswuͤrdigſten
wo das Gefuͤhl ihn uͤberraſcht. Vielleicht laͤßt er
ſich ſogar von ihm hinreißen. Ein Mann, deſſen
Karakter ihm nicht die Achtung der Rechtſchaffnen
verſchafft haͤtte, den aber ſein Rang und ſein
Vermoͤgen wohl einen Platz in der Geſellſchaft zu-
ſichert, ließ ſich in Gegenwart des Koͤnigs, der
ihn kannte, auf eine Weiſe aus, die ſein morali-
ſches Gefuͤhl mißbilligte. Der Koͤnig der ſich be-
muͤht hat die hollaͤndiſche Sprache zu lernen, und
ſo große Fortſchritte darin machte, daß er ſich ge-
gen ſeine Unterthanen immer ihrer bedient,
brauchte ein ſehr ſtrenges Wort, um die Denkart
dieſes Herrn im Fortgang des Geſpraͤchs zu be-
zeichnen. Erſchrocken uͤber eine Gradheit, die
aus den Saͤlen der Koͤnige verbannt iſt, meinte
einer der Anweſenden, es laͤg an dem Ausdruck,
und machte dem Fuͤrſten bemerken, es gaͤbe einen
verſchoͤnernden, umwundenen. „Nein, nein,
rief der Koͤnig, und wiederholte das Wort, ich
verſtehe das Hollaͤndiſche genug, um hier den
rechten Ausdruck zu gebrauchen.“ Ich kann den
Menſchen um der Strenge willen mit der er bei
dieſer Gelegenheit verfuhr, nur ehren, aber der
Koͤnig that vielleicht mehr indirekten Schaden,
als direktes Gutes. Leider befinden ſich unter den
Menſchen, welche die Koͤnige umgeben, mehrere
die Kraft haben den Guten zu haſſen, als das
Gute zu thun.
Ein anderes Mal ward ihm ein Vorſchlag vorge-
leſen, eine Entſchaͤdigung der Regierung gegen Pri-
vatleute betreffend; dabei waren die Worte ge
braucht: die Sache verhielt ſich ſo und ſo, ſo ſei die
Regierung dem * * vielleicht ſchuldig — — —
der Koͤnig der eifrig zuhoͤrte verſtand das Wort: viel-
leicht, nicht. Qu’est ce que c’est? — peut étre,
V. M. — — point de peut étre, trés déci-
dement, et point de peut étre, rief er lebhaft,
ließ das ſchwankende Wort ſtreichen, und dem
Rechte ſeinen Lauf. Seine Geſundheit ſoll ſich
ſehr geſtaͤrkt haben, er ſchont ſie ſehr, lebt ſehr
einfach und beobachtet ſtrenge Ordnung. Ich ſah
mehrere Gemaͤhlde von ihm, auch eine ſehr ſchoͤne
Buͤſte, und uͤberall ſchien mir eine auffallende Fa-
milienaͤhnlichkeit mit ſeinem erhabnen Bruder un-
verkennbar, nur mit dem Unſchiede, daß der
Kuͤnſtler jenen Kopf leicht zu einem olympiſchen
Gotte idealiſiren wird, indeß Ludwigs Gebilde
unter ſeinen Haͤnden als Heros hervorgeht. In
der Welt der Dichtung waren ja die Heroen das
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Mittelglied zwiſchen den Menſchen und den uner-
reichbaren Goͤttern — ſchließe ſich doch die Wirk-
lichkeit der Mythe wieder an! — —
In Hochſtraaten ſetzte man uns die erſten fri-
ſchen Kartoffeln mit herrlicher friſcher Butter und
Pumpernickel vor. Dieſer Pumpernickel iſt ein
wahrer Leckerbiſſen, ſo wie er hier verfertigt wird,
mit der hieſigen fetten Butter, und einer Schnitte
weißes Brod zuſammen geſpeiſt; er iſt auch mei-
nes Beduͤnkens nach gar nicht ſchwer zu verdauen,
denn man haͤtte einen ganz falſchen Begriff von
ihm, wenn man ihn fuͤr ein feuchtes uͤbelausge-
backnes Brod hielt. Vor Tiſche durchſtreiften wir
die Gegend. Die Bauerhaͤuſer lagen zerſtreut,
waren in ganz gutem Stande, in niederſaͤchſiſcher
Bauart, mit großen, wohlangebauten Garten-
feldern umgeben, in denen eine Mannigfaltigkeit
von Gemuͤſen angebaut war, die dem ſuͤddeutſchen
Bauer ganz ungewohnt iſt. Stangenbohnen,
Kopfſallat, Endivien in großer Menge, Paſtinak,
Kohlarten — der Gebrauch der Mehlſpeiſen muß
hier alſo aufgehoͤrt haben, und die zunehmende
Viehzucht den Bauern Mittel geben, Gemuͤſe zu
ſchmelzen, wie man in Suͤddeutſchland ſagt.
Wenn Nahrung auf Sitten und Karakter Einfluß
hat, ſo muß die Miſchung der Saͤfte, welche aus
dieſen friſchen Pflanzen entſteht, von dem aus
Knoͤteln und Nudeln gebrauten Blut der Schwa-
ben, freilich verſchieden ſein. Welches Gegenge-
wicht gab denn die Natur jenem Volke, um es zu
ſo einem braven, empfaͤnglichen, herzlichguten
Menſchenſchlag zu machen?
Auch viele Obſtbaͤume gab es hier um die Huͤt-
ten, und jedes Guͤtchen war wieder mit einem
Streifchen Weiden und Ellern eingefaßt. Von
hier an fanden wir das Heu nicht mehr in Scheuern
aufbewahrt, ſondern in großen Schobern in der
Naͤhe des Wohuhauſes angehaͤuft. Wo die Wirth-
ſchaft etwas wohlhabend war, fand ich den Grund
des Schobers ein paar Fuß hoch gemauert, und
oben deckte ihn ein viereckiges Dach, das auf vier
ſtarken Pfoſten auf und nieder ging, alſo dem ho-
hen wie dem niedern Schober zur nahen Bedek-
kung diente. Die aͤußere Kruſte des Heues
war gelb und verwittert, allein gleich hin-
ter ihr, alſo mit ſehr unbedeutendem Verluſt,
hatte das Heu ſeine ſchoͤne friſche Farbe. War-
um machen wir es nicht auch ſo? wie viel Mauer-
werk erſpart das? und wie ſehr vermindert es die
Feuersgefahr. Daß dieſe beweglichen Daͤcher und
thurmartigen Haufen ſehr maleriſch ſind, wird
dem Oekonomen gleichguͤltig ſeyn, ich muß es
aber noch anmerken.
Um Nuys fanden wir eine Menge der oben
erwaͤhnten Ziegelbrennereien. Sie ſahen einem
hottentottiſchen Kraal aͤhnlich mit ihrer ſtumpfen
koniſchen Form. Nun ward das Land viel beſſer
bebaut, obſchon der Sand nie aufhoͤrt; gegen
zehn Uhr kamen wir durch ein ſehr nettes Staͤdt-
chen: Udingen. Gerade Straßen, glaͤnzende
große Fenſter, bunt gemahlte Thuͤren und Gebaͤl-
ke, und durch die ganze Stadt an der Sonnenſeite
eine Reihe in Faͤcher gezogene, ſchmal gehaltene
Linden und Hainbuchen. Dieſe Sitte fand ich in
vielen dieſer Staͤdtchen. Die gluͤcklichen Menſchen
die die Sonne entbehren koͤnnen! Wahrlich ſie iſt
doch hier nicht ſehr heiß! kann dieſe allgemeine
Sonnenſcheue wohl einen Grund in dem Lokal ha-
ben? nichts netteres wie die Staͤdtchen durch die
wir nun kamen! kleinlich? — ja! geſchmacklos
ohne Zweifel! aber rein, bunt, woͤhnlich, ruhig.
Das Bunte freut mich ſo! die Schoͤpfung iſt hier
arm, die gepflanzten Baͤume bieten nicht die bluͤ-
henden Buͤſche unſerer Waͤlder dar, die hieſigen
Wieſen, je fetter ſie werden, beſtehen aus reinem
Graſe, ſind kein Blumenteppich wie unſere —
gewiß weniger gute Wieſen und Weiden — und
da mahlt ſich der gute kindliche Menſch die bun-
ten Farben an ſeine Waͤnde, denn das Herz will
froͤhlichen Anblick, und ich koͤnnte beten fuͤr Dank,
daß ſo viele Mittel zur Freude da ſind.
Abends kamen wir, ſtatt nach des Kutſchers
Zuſage Cleve zu erreichen, nur bis Xanthen, wo
ehemals der beruͤhmte Pav ſein Canonikat beſaß,
und ſein Leben zubrachte. In meiner Jugend las
ich von ein paar geſcheuten Leuten, und hoͤrte
von ein paar andern die wehmuͤthig verwundernde
Klage, daß ein ſo gelehrter Mann ſich in Xanthen
bilden, in Xanthen leben muͤßte. Ich weiß nicht
ob dieſe Verwunderung eine Analogie hat mit der
Verwunderung jenes Liebhabers, wie ihn ſeine
Braut benachrichtigte, daß ſie aus Dippoldis-
walde ſei — aber etwas laͤppiſch ſind dieſe Er-
ſtaunen doch uͤber die Plaͤtze, wo kluge Menſchen
geboren und gediehen ſind, ſintemal
Der ganze Luftkreis iſt des Adlers Bahn. —
Und wenn ich nun dagegen aufſtehe und ſage,
daß Xanthen recht dazu gemacht iſt, einen for-
ſchenden, ſinnenden Philoſophen zu bilden, wel-
che deutſche Stadt moͤchte denn wohl einladender
ſeyn? Helmſtedt, Marburg, Gießen, Rinteln,
Tuͤbingen, Goͤttingen mit ſeinem kahlen Berge,
und Leipzig mit ſeiner Flaͤche? und weiter
und weiter? die mit gruͤnem Gebuͤſch umgebenen
Felder, die guten Weiden die um Xanthen liegen,
ſind nicht zu verachten, dabei hat es huͤbſche Gaſ-
ſen, hohe, helle, glaͤnzende Fenſter, und einen
ſo großen wohlgepflaſterten Marktplatz, wie keine
der genannten Staͤdte, und viele andere dazu.
Die ehemaligen Canonikats-Wohnungen liegen
um die am Markte ſtehende ſchoͤne große Kirche,
artige Haͤuſer mit daran ſtoßenden huͤbſchen Gaͤr-
ten. Gebt dem Canonikus eine Bibliothek, und
einen Freund, und ich moͤchte doch wiſſen obs ſo
verwunderlich war, daß er ſeine gelehrten Unter-
ſuchungen in Xanthen machte. Und wenn ein
Canonikus in Xanthen, mitten inne zwiſchen Am-
ſterdam, Paris und Frankfurt keine Bibliothek
ſammelt, iſt es ſeine Schuld, und wenn er kei-
nen Freund hat — von wem moͤchte ich das
denken?
Hier mußten wir zuerſt mit einer reinhollaͤndi-
ſchen Magd fertig werden — es ging ſo! ſo! ſpaͤ-
terhin kam ich auf den Einfall, plattdeutſch mit
den Leuten zu ſprechen, und das ging vortrefflich.
Wir fanden hier ja ſchon in Nuys die Theema-
ſchine eingefuͤhrt, und die Leute gewohnt Thee zu
geben. Daß man in den meiſten Wirthshaͤuſern
von Suͤddeutſchland, ſelbſt in den groͤßern Staͤd-
ten ſo muͤhſelig ein Theeapparat zu Stande bringt,
hat mich ſchon oft verdroſſen, hier iſts in einem
Nu bereit, und der Thee ſogar — denn ich koſtete
ihn aus Neugier, recht ertraͤglich. Auf der Seite
von Xanthen gegen Cleve fanden wir wieder einen
artigen neu angelegten Spatziergang, und den
Weg meiſtentheils mit Baͤumen bepflanzt; von
ihm aus hatten wir die Ausſicht auf die ſchoͤnſten
Weid- und Ackerplaͤtze, alle mit Weiden einge-
faßt, auch ganze Waͤldchen regelmaͤßig gepflanz-
ter Baͤume dieſer Gattung, von einer Schoͤnheit
wie ich ſie nie ſah, ſo ſilberweiß und großblaͤtte-
rig. Die Umgebungen von Cleve ſind ſehr ange-
nehm. Bis auf eine Stunde von der Stadt fuh-
ren wir durch viele ausgehauene Waldſtrecken,
dieſe Gehoͤlze werden alle fuͤnf bis ſechs Jahre ab-
getrieben, wachſen aber in dieſer Zeit zu einer ſol-
chen Hoͤhe, die mir unbegreiflich ſchien, ſo daß
ich mir ſpaͤterhin das Zeugniß eines Gutsherrn
geben ließ, daß ein ſchattiger Wald, in dem ich
wandelte, wirklich erſt fuͤnf Jahr alt, und im
naͤchſten fuͤr das Beil reif ſei. Eine Stunde vor
Cleve faͤngt ein ſchoͤner hochſtaͤmmiger Wald an,
durch den eine gerade Allee geht, rechts ſind zu-
weilen einige Weideplaͤtze, auch ein großer Teich,
zuletzt blickt Cleve mit ſeinen Stadtmauern, ho-
hen Thuͤrmen und vielen Windmuͤhlen durch die
gelichteten Baumgipfel, bis ſich der Weg in die
herrlichen Alleen verliert, von denen die Stadt
umgeben iſt. Solche Baͤume und ſolchen Schat-
ten kennen wir in Deutſchland kaum — es iſt ei-
ne Kraft in dem Wuchſe, die uns auf eine Zeit
zu deuten ſcheint, wo es den Leuten noch gar
nicht in den Sinn kam, ſo gerade Alleen zu pflan-
zen. Wohin man blickt durchſchneiden ſie hier die
Gegend um die Stadt her, vor deren Thoren ein
großer Park der viel Wildprett hegt, die wohlha-
benden Hollaͤnder, beſonders aus Amſterdam, an-
zieht, hier einige Sommerwochen zuzubringen.
Da uns die Umſtaͤnde jeden Aufenthalt verboten,
fuhren wir gar nicht in die Stadt, ſondern links
um dieſelbe vor die Poſt, weil der elende Zuſtand
unſerer koͤllniſchen Pferde uns nicht daran denken
ließ, mit ihnen den Weg fortzuſetzen. Da half
nun weder Zorn noch Klage, unſer koͤllniſcher Pro-
tektor war ein Windbeutel und wir Pinſels gewe-
ſen — ſtatt zu Mittag in Nimwegen zu ſeyn,
wie die Abrede lautete, fanden wir uns in Cleve,
und die Pferde außer Stand weiter zu gehen.
Was war zu thun? in eben dieſer Stunde erwar-
tete man die Diligence von Coͤlln, die vier und
zwanzig Stunden ſpaͤter abgereiſt war, und mit
ihr den Weg bis Nimwegen fortzuſetzen, war wohl
das kluͤgſte was uns zu thun uͤbrig blieb. Zu un-
ſerm Gluͤcke kamen mit ihr zwei Hollaͤnder an,
die wir zuerſt in Coblenz gefunden hatten, von
wo ſie in einem eignen Nachen nach Coͤlln fuhren,
hier ſpeiſten wir mit ihnen zu Mittag, und ihr
ſehr anſtaͤndiges Betragen machte mir den Vor-
ſchlag recht angenehm, den Weg bis Nimwegen
gemeinſchaftlich fortzuſetzen, dazu haͤtten wir aber
drei Pferde gebraucht, unſer armſeliger Kutſcher
war ſchon gemiethet, hatte aber, oder wollte kein
drittes Pferd herbeiſchaffen, ſo, daß der Plan
ruͤckgaͤngig ward. Dieſe beiden Hollaͤnder, die
alſo mit ihrer Diligence vier und zwanzig Stun-
den ſpaͤter wie wir von Coͤlln abgereiſt waren,
glaubten eine Erſcheinung zu ſehen, wie ſie uns
da in Cleve vor der Poſt auf einer ſteinernen Bank
ſitzen fanden, gerade wie die verzauberten Prin-
zeſſinnen in tauſend und einer Nacht, welche der
Genius durch die Luͤfte fuͤhrt — durch die Luft
waren wir nun eben nicht gekommen, aber unſre
Verlegenheit auf der ſteinernen Bank war eben ſo
groß, als waͤren wir Prinzeſſinnen. Der Genius
Hollands haͤtte es gar nicht kluͤger anfangen koͤn-
nen, uns einen guͤnſtigen Begriff von ſeinen
Schutzbefohlnen zu geben, als indem er uns dieſe
Maͤnner entgegen ſchickte, ſo wahrhaft maͤnnlich
und huͤlfreich nahmen ſie ſich unſer an. Unſere
Bruͤder haͤtten nicht thaͤtiger fuͤr uns ſorgen, uns
nicht achtungsvoller behandeln koͤnnen; ſie beſorg-
ten unſere Plaͤtze in der Diligence, entfernten jede
Verlegenheit von uns, belehrten uns bei unſerer
Ankunft in Nimwegen von allem was uns Noth
that, dem Werth des Geldes, dem Betrag der
Trinkgelder, verſchafften uns Wegweiſer, Traͤ-
ger fuͤr unſer Gepaͤck bis in den angezeigten Gaſt-
hof. — Ihr Geſpraͤch, das beſcheiden und unge-
zwungen war, bewies Kenntniſſe und Bildung,
und die Freude mit der ſie noch an demſelben
Abend nach Arnheim eilten, um ihre Freunde und
Verwandte nach einer Reiſe durch Paris nach
Strasburg und Mainz, wiederzuſehen, buͤrgte
von ihrem weichen treuen Gemuͤthe. Sie haben
nicht gefragt wer wir waren, und ich that keinen
Schritt, mich von ihren Namen zu unterrichten,
ich fand es ſo ſchoͤn, daß wir nur als Menſchen,
ohne alle Perſoͤnlichkeit mit einander handelten.
Jetzt reut es mich, denn ich wuͤnſchte, daß keiner
ihrer Freunde durch unſern Wohnort kaͤm, ohne
Gaſtrecht bei uns zu fordern. Der Maͤnner Be-
tragen freute mich um ſo mehr, weil es nichts vom
Weltton, ſondern etwas nationelles hatte, ſie
handelten rein weg als brave Maͤnner gegen unbe-
ſchuͤtzte Weiber, und ich bin uͤberzeugt, wir haͤt-
ten uralt, und grundhaͤßlich ſeyn koͤnnen, aber ſo
geſittet wie ſie uns fanden, ſo haͤtten ſie uns die-
ſelben Dienſte erzeigt.
Außer dieſen zween wackern Maͤnnern, die
unſre Reiſegefaͤhrten in der Diligence wurden, war
ein Herr in Cleve aufgeſtiegen, der, wenn mich
alle Anzeigen nicht truͤgen, auf Freiers Fuͤßen
nach Nimwegen reiſte. Es war ſo ein geſtand-
ner Herr, wie man in Schwaben ſagt, ganz un-
zweifelhaft, bis jetzt ein Hageſtolz — von Kopf
zu Fuß neu gekleidet, Stiefelchen mit goldnen
Quaͤſtchen, zwei neue Uhrbaͤnder, eine ſchoͤne
neue Weſte, von welcher die Streifen queer uͤber
den ſtattlichen Bauch liefen, ſteif gefaͤltelte Waͤ-
ſche, und einen ſpannnagelneuen Hut, an wel-
chen allen er fleißig zupfte und putzte, um un-
verſehrt bei ſeiner Braut anzulangen. Ich kann
mir das nimweger Meysje (junges Maͤdchen)
von etlichen acht und zwanzig Jahren recht den-
ken, wie ſie in langer Juppe das Strahlenhaͤub-
chen unter dem Kinne gebunden, die ſilberne Buͤ-
geltaſche mit Calender, Balſambuͤchschen, Fin-
gerhut und dem ganzen Wirthſchaftsapparat an
der Seite, den wohlgeſchniegelten Sponſen mit
einem tiefen Knix empfaͤngt. Weiter war ein
Domino in dem Wagen — ach gewiß nur von ei-
ner Nebenkirche und Nebenſekte, denn er ſah gar
nicht herrſchend, gar nicht nahrhaft — man ſagt
ja eine nahrhafte Stadt, d. i. eine die ſich gut
naͤhrt, man muß alſo auch ein nahrhafter Menſch
ſagen koͤnnen — gar nicht nahrhaft aus. Er
trug einen ſchaͤbigen ſchwarzen langen Rock, wie
unſre Weltgeiſtlichen, hatte ein fettes ſchwarzes
Haar, aber ſo etwas gutmuͤthiges! — ſo ein
wehmuͤthiges Laͤcheln der Freude, als ſei er gewohnt
ſich nie uͤber eine große Freude zu freuen. Er er-
innerte mich an Sebaldus Nothanker, den man
— Gottlob! — bei uns jetzt vergeſſen darf, aber
nie vergeſſen ſollte, wie viel er dazu beitrug ver-
geſſen werden zu koͤnnen. Das iſt klar und
ſchoͤn geſagt! — nun, ſo verſteht es auch
huͤbſch! —
Von Cleve aus, das ſich im Ruͤckblick ſehr
reizend ausnimmt, hatten wir einige ſtarke Schlag-
regen auszuhalten, welche den tiefen Sand des
Weges etwas fahrbarer machten. Wir ſahen ſchoͤ-
ne Felder, doch nicht ſo wohlgebaut, wie jenſeits
von Nimwegen, und fuhren durch große Strecken
abgetriebenen Gehoͤlzes. Viele Sandhuͤgel er-
ſchweren den Weg, die Einwohner halten ſie fuͤr
Berge, und nennen dieſe Gegend „die bucklige
Welt“, wobei denn unſer einer die Achſeln zuckt.
Die Doͤrfer ſind ſtets klein, allein die einzelnen
Hoͤfe um ſo zahlreicher. Das Wohnhaus liegt
vorn am Wege, weiter zuruͤck Scheune und Staͤlle,
und hinter ihnen Gemuͤſe und Obſtgaͤrten. Der
Obſtbaͤume giebt es hier eine große Menge, ſie
ſind zweckmaͤßig nach der Schnur gepflanzt, und
gut unterhalten. Die geringe Zahl von Kirchen,
die wir auch in der Entfernung entdecken konnten,
fiel uns auf. Die Menſchen muͤſſen ſehr weit ge-
hen, um eine Predigt zu hoͤren, das bemerkten
wir auch ſchon zwiſchen Nuys und Xanthen, wo
wir eben Sonntags reiſten, und bei den Woh-
nungen am Wege die Leute mit Staub bedeckt und
in Schweiß gebadet aus der Kirche zuruͤckkommen
ſahen. Endlich erſchien die breite Waal zu unſrer
Rechten, und wir fuhren neben Windmuͤhlen
und huͤbſchen freundlichen Haͤuſern nach Nimwe-
gen hinein.
Der Wirth des ſehr angenehmen Gaſthofs war
ein Deutſcher, der ſich ſehr bereitwillig und thaͤtig
zeigte, uns zur Fortſetzung unſerer Reiſe behuͤlf-
lich zu ſeyn. Er beſtellte uns ein leichtes Fuhr-
werk in einem kleinen Orte der jenſeits der Waal
liegt, weil wir, indem wir die fliegende Bruͤcke
uͤber die Waal zu Fuße paſſirten, einiger Weit-
laͤuftigkeiten entgingen, auch jenſeits wohlfeilere
Pferde fanden. Die Landsmannſchaft erwaͤrmte
des alten Mannes Herz ſo ſehr, daß er uns an-
bot, uns die Stadt zu zeigen. Es war eine ko-
loſſaliſch große knochige Geſtalt, mit einer gemeſſe-
nen Sanftheit im Weſen, gerade wie unſer vor-
trefflicher * * in Bern; das machte mir ihn ganz
lieb, mir wars wie eine gute Vorbedeutung in
dem ganz fremden Lande, daß der erſte Menſch,
mit dem ich verkehrte, einem der Menſchen aͤhn-
lich war, denen ich am mehrſten vertraue. Seine
Frau war eine Haagerinnen, die kein andres Wort
als hoͤllaͤndiſch ſprach. Wie ich ihren Mann auf-
ſuchte, fand ich ſie ſchneeweiß angekleidet am Thee-
tiſch, in einer recht behaglichen Umgebung. Gro-
ße Spiegel, recht ſchoͤnes Porzellain, Fußteppiche
in allen Zimmern, giebt den Wohnungen hier ein
beſonders angenehmes Anſehen. Was das Por-
zellain anbetrifft, ſo haͤtte man ſelbſt in den klei-
nen Gaſthoͤfen am Niederrhein eine niedliche
Sammlung von alten chineſiſchen Taͤßchen, Schaͤl-
chen und kleinen Kruͤgen machen koͤnnen, die ver-
einzelt unter elender delfter oder engliſcher Fayence
als Zimmeraufputz aufgeſtellt waren. Nachdem
wir ein artiges Zimmer mit hellglaͤnzenden Ge-
raͤthe, ſaubern Fußteppich und großen Spiegeln
in Beſitz genommen und uns an ſehr gutem Obſt
erquickt hatten, machten wir uns mit unſerm hoͤf-
lichen Wirth auf den Weg. Nimwegen iſt, nach
Maaßſtab aller deutſchen Staͤdte, eine ſchoͤne
Stadt, in einer vortrefflichen Lage. Die Waal
iſt hier meines Beduͤnkens nach ſo breit wie der
Rhein bei Mainz, und mit vielen Alleen bepflanzt.
Wo das ehemalige alte Schloß, der Falkenhof
ſtand, iſt ſeit der Revolution ein ſchattigter
Spatziergang entſtanden, und nachdem man durch
herrliche Alleen bis an die obere Spitze der ehema-
G
ligen Feſtung gelangt iſt, findet man ein uͤbrigens
ſehr unbedeutendes thurmartiges Gebaͤude, das
Belvedere genannt, von deſſen; Hoͤhe man eine
umfaſſende, herrliche Ausſicht auf eine zahlloſe
Menge Canaͤle, Gebuͤſche, Alleen und Windmuͤh-
len hat, alles von der ſtillwogenden breiten Waal
durchſchnitten. In dieſem Gebaͤude verſammel-
ten ſich Geſellſchaften, und gab man Gaſtmahle
wie unſer Fuͤhrer uns ſagte, jetzt weniger als vor
wenig Jahren — ob aus Wankelmuth, ob aus
Oekonomie? konnte ich nicht erfahren. Moͤge es
keine der beiden Urſachen ſeyn, und die Nimwe-
ger ſtets an dieſem ſchoͤnen Standort Friede und
Fuͤlle uͤber ihrer, ſanften Landſchaft ſchweben
ſehen.
Es giebt mehrere geraͤumige lange Straßen in
Nimwegen, die Haͤuſer haben ein Anſehen von
Tuͤchtigkeit, Wohlhabenheit, Gemaͤchlichkeit und
Reinlichkeit, das kein Haus in Niederſachſen nach
der neuen Bauart, und keines an der Donau im
alten Style, darbietet. Von Bern haͤtten die
Haͤuſer eher eine Aehnlichkeit, die widrigen Arka-
den abgerechnet, die man hier nicht findet. Statt
dieſer ſieht man hier im Erdgeſchoß eine Menge
unverhaͤltnißmaͤßig hoher Fenſter, hinter deren
großen Spiegelſcheiben die Waaren aufs zierlichſte
ausgeſtellt ſind. Groͤßere Haͤuſer haben eiſerne
Baluſtraden vor der Thuͤr, hinter denen ſaubere
Baͤnke ſtehen. Außer dieſer Aehnlichkeit mit Bern,
der ſoliden Bauart der Haͤuſer, bei ihrer Klein-
heit — denn viele haben nur drei Fenſter in der
Breite — habe ich manche Schweizerſitte in Hol-
land wieder gefunden, und manche nationelle
Aehnlichkeit, die wohl unerklaͤrlich iſt, wenn wir,
geſcheuten Leuten zu Folge, dem Klima ſo viel Ein-
fluß auf die Bildung der Menſchen einraͤumen.
Die Schweizer ſtanden immer in hollaͤndiſchen
Kriegsdienſten, aber eben ſo in franzoͤſiſchen, in
ſpaniſchen — warum nahmen ſie von den Hollaͤn-
dern ſo viel, von den andern Nationen ſo wenig
an? machte die Aehnlichkeit der Regierungsform
die Amalgamation mit ihren Sitten leichter, oder
war eine Grundaͤhnlichkeit in ihrem Karakter vor-
handen? ich finde ihre Anſichtsweiſe, ihre Art zu
genießen, ihre Art ſich fremdes anzueignen, oder
zu verwerfen, ſehr uͤbereinſtimmend. Nur einen
großen Vortheil haben die Hollaͤnder voraus, eine
eigne Sprache, die ſie mit Recht lieben, die ſie
kultiviren, in der Volk und Gebildete ſprechen,
der ſie ſich gegen den deutſchen Sprachverwandten
G 2
nicht ſchaͤmen, die alſo einen ununterbrochenen
Umlauf der Begriffe durch alle Staͤnde des Vol-
kes geſtattet. Die Schweizer haben keine Buͤcher
in ihrer Sprache, und die von ihnen angenom-
mene bleibt ihnen ewig fremd, denn eine Sprache,
in der ich nicht im Traume ſpreche, und wachend
denke, in der ich nicht mein Kind liebkoſe und mit
meinem Freund ſtreite, bleibt mir eine fremde
Sprache. An einigen Orten wiſſen ſie gar nicht
mehr, welches ihre Sprache iſt, denn da miſcht
ſich ein Franzoͤſiſch hinein, das eben ſo viel zur
Ideenverwirrung und Stockung beitragen muß,
wie ihre brave Schweizerſprache, und ihr Hoch-
deutſch. Warum moͤgen die Schweizer ihre Spra-
che nicht eben ſo gut zur Buͤcherſprache gemacht
haben wie die Hollaͤnder das Hollaͤndiſche?
Schweizerdeutſch iſt dem reinen Hochdeutſch nicht
viel naͤher als dieſes dem Hollaͤndiſchen ſcheint;
ja mir daͤucht es ſei durch die Abſtammung der
fremden Worte, noch verſchiedner vom Deutſchen
wie das Hollaͤndiſche. Und die Hollaͤnder thun
recht gut, ihre Sprache zu behaupten, denn ſo-
bald der Deutſche ſich frei gemacht hat durch die
Aehnlichkeit der Toͤne haͤufigen oft hoͤchſt laͤcher-
lichen Reminiſcenzen ausgeſetzt zu ſeyn, ſo muß
er dieſe Sprache liebgewinnen. Ich wuͤnſchte mir
zu erklaͤren, wie der Hollaͤnder auf ſeiner Waſſer-
flaͤche eben ſo viele Kehlentoͤne haben kann, wie der
Schweizer auf ſeinen Gebirgshoͤhen — wenn ſie
gleich etwas anders modulirt ſind. — — — —
Unſer dienſtfertige Wirth hatte uns der Abre-
de gemaͤß jenſeits der Waal eine leichte, ſehr ar-
tige Kaleſche mit zwei Raͤdern beſtellt, die uns
fruͤh um fuͤnf Uhr erwartete. Noch vor dieſer
Stunde begaben wir uns alſo zur Ueberfahrt an
die Waal, die im heiterſten Morgenlicht glaͤnzte.
Die Wimpel der wenigen hier liegenden Schiffe
wehten in der blauen Luft, in ihrem ſchoͤnglaͤn-
zenden Hintertheil ſpiegelte ſich die Sonne und die
Wellen, von einem gut Wetter verſprechenden Oſt-
winde bewegt, plaͤtſcherten um den Kiel. Die
Uhr ſchlug auf dem nahen Kirchthurm, und ein
Glockenſpiel toͤnte durch die Luft. — Die lie-
be Unſchuld vom Lande ſperrt beim Glocken-
ſpiel, wenn ſie am Jahrmarkt zur Stadt zieht,
Maul und Augen auf, ich weiß es wohl; der fei-
nen Welt ekelt eine ſo gemeine Muſik, ein ſo
nichtsbedeutendes Geklimper — ich ſollte gar
nicht davon ſprechen, und doch muß ich meinen
Genuß bei dieſer Geiſterſprache in hoher Luft aus-
druͤcken. Der Ton ſcheint mir immer das erſte
Leben, wie die ganze Natur noch ſchlief brauſten
die Winde, und wenn das todte Metall ſich be-
ruͤhrt, verkuͤndet die Luft die erſte Vereinigung
zwiſchen verſchiedenen Weſen. Und da toͤnt es
nun oben im blauen Aether, und ſo wie das
ſchwere Metall es erzeugt, entflieht es zum Him-
mel empor. Und das Vielbedeutende des Tons,
das Unbeſtimmte, daß ihm unſern Gefuͤhl ſo
leicht anpaßt! — Glockenton die Sprache des
Schreckens und des Triumphs, des Jammers
und der Freude. Wer gern Glocken hoͤrt, ſtelle
ſich doch eines Sonntagmorgens bei heiterer Son-
nenluft auf die obere Bruͤcke in Zuͤrich, wenn es
aus der Morgenkirche laͤutet, oder er haͤtte ſollen
bei Kaiſer Joſephs Todtenfeier, die in einem No-
vember ſtatt fand, Abends zwiſchen ſechs und ſie-
ben in den Baſtionen vor Mainz ſtehen, wenn
die zahlloſen Glocken dieſer damals Kirchenreichen
Stadt die Luft erſchuͤterten, indeß neben mir der
feuchte Herbſtwind wie Todesſchauder die welken
Blaͤtter von einzelnen Pappeln ſchuͤttelte; oder er
horche, wenn er in der Mitte der Nacht erwacht,
auf das kleine Gloͤckchen, das zum Gebet fuͤr
Kranke aufruft, die in dieſem Augenblick an die
dunkle Pforte der Ewigkeit treten. — — — Das
Nimweger Glockenſpiel toͤnte mir wie luftige Gei-
ſterſtimme, die auf den Lichtſtrahlen, die von den
goldnen Thurmknoͤpfen ausgingen, in die blauen
Luͤfte entflatterten.
Auf das gegebene Zeichen mit der Schelle kam
die Faͤhre langſam heruͤber geſchwommen, und
fuͤhrte uns eben ſo jenſeits hin, wo dicht unter
Baͤumen verſteckt, wie von hier aus alle Wohnun-
gen gegen Suͤden es ſind, der Gaſthof lag, wo
wir unſre Chaiſe finden ſollten. Wir hatten aber
ein Mißverſtaͤndniß begangen, fuͤr welches uns
der Herr Wagenverleiher buͤßen ließ; unſre Freun-
de in * * * hatten uns gerathen ſogleich hierher
zu gehen, und nicht in Nimwegen zu uͤbernach-
ten, ich hatte das aber ganz vergeſſen, und mußte
es nun buͤßen, denn da der Gaſtwirth erfuhr,
daß wir ſchon geſtern nach Nimwegen gekommen,
ward er ſehr muͤrriſch und erhoͤhte den Preiß ſei-
nes Fuhrwerks um ein Anſehnliches, unter dem
Vorwand, daß unſer Koffer groͤßer ſey, als es
ſich fuͤr eine Kaleſche gebuͤhre. Nun ward unſer
Koffer durch dieſe paar Gulden gewiß nicht klei-
ner, aber unſer Beutel ſicher leichter. — Auf ei-
ner Reiſe von der Laͤnge ſind alle ſolche Vorfaͤlle
in Ruͤckſicht der Oekonomie wahre Kleinigkeiten,
der weſentliche Nachtheil faͤllt auf das Gefuͤhl,
das leidet wenn man wahrnimmt, wie ſo ein
Menſch unſre Lage mißbraucht. Dieſer ſagte ſehr
trocken: wenn ſie nicht ſo viel geben, fahre ich
ſie nicht. Wie ich den vorhergehenden Abend zu
ihm geſchickt hatte, forderte er fuͤr die vierzehn
Stunden bis Utrecht vierzehn Gulden, wie wir
bei ihm ankamen verlangte er ſechszehn, und wie
er den Koffer aufladen ſollte, achtzehn. Und bei
jeder Erhoͤhung rief er ſeinem Knecht zu: ſpann
wieder ab — wenn ſie das nicht geben, fahr ich
nicht. Wir nahmen die Sache ſehr philoſophiſch
als eine Lehrſtunde in der Geduld und Vorſicht
bei dem Verkehr mit hollaͤndiſchen Wirthen und
Pferdeverleihern, alſo als einen reinen Gewinn,
und betrachteten die zierliche Wohnung unſeres
unzierlichen Wirthes. Es war jetzt ſechs Uhr,
die Magd wuſch eben die nett mit Steinen belegte
Kuͤche, deren Waͤnde ganz mit Flieſen bekleidet
waren; der Heerd ganz niedrig wie in der Schweiz,
das meſſingene Kuͤchengeſchirr hellglaͤnzend in ei-
nem Glasſchrank aufgeſtellt, um den Heerdman-
tel ein Falbala von weißen Muſſelin, in der Mitte
der Kuͤche einen gebohnten Nußbaumnen Tiſch —
kurz die Kuͤche ſchien ein nettes Zimmer, in wel-
chem der Heerd die Stelle des Kamins einnahm.
In der Gaſtſtube ſtand unter einem großen Spie-
gel, auf einer Mahagony-Pfeilerkomode ein Zu-
ber von eben ſolchem Holze, mit hellgeſcheuerten
gelbmetallenen Reifen, um die Glaͤſer zu ſchwen-
ken. Eben ſo ſorgfaͤltig aufgeputzt und reinlich
gehalten war der Hausflur und der Platz vor dem
Hauſe, der ſo wie fortan die Gaſſen in allen Doͤr-
fern durch die wir kamen, ſo wohlgepflaſtert und
ſauber waren, daß unſre gute * * hier nicht den
haͤufigen Hausfraugram haben wuͤrde, von den
Eintretenden ihre Treppen und Fußboͤden be-
ſchmutzt zu ſehen.
Nachdem die unangenehme Verhandlung we-
gen des Fuhrpreiſes beendigt war, ſtiegen wir in
die ſehr bequeme, ſaubre Kaleſche. Ich hatte da-
bei Gelegenheit eine ſehr vernuͤnftige Vorkehrung
zu beobachten, durch die man beim Einſteigen
verhuͤtete, daß die Raͤder uns nicht beſchmutzten.
Der Kutſcher breitete einen wollenen Teppich uͤber
das Rad, den er dann zuſammen ſchlug, und auf
ſeinen Sitz legte. Dieſe Sorgfalt beobachtete er
ſo oft wir aus- und einſtiegen. Da bei die-
ſen Fuhrwerken, man nennt ſie hier Fourgen, die
Raͤder nahe beim Fußtritt ſind, iſt der Einfall
ganz herrlich.
Nun gings auf einem Damm in ſtarkem Trotte
vorwaͤrts. Die erſten Stunden hatten wir die
Waal ſtets zur Linken, oder Kanaͤle die mit ihr
eine gleiche Richtung hatten, oft war der Weg
auch zur Rechten ſo begrenzt, aber immer funf-
zehn bis zwanzig Fuß uͤber Waſſer und Land erho-
ben, und ſo ſchmal, daß das Rad beim Auswei-
chen nur eine Hand breit Boden behielt. Mit
einer großen Berline kann man hier nicht auswei-
chen, der leichtere Wagen wird alsdann abgela-
den, und auf den Schultern vorbei gehoben, wie
es unſern Freunden * * bei ihrer Reiſe nach dem
Haag auf dieſem Wege wiederfuhr, und mir ſpaͤ-
terhin auf dem Wege von Marsden nach L. auch
begegnete. Man muß das Ding ſo gewohnt ſeyn
wie eine Hollaͤnderin, oder ſo gleichguͤltig das Un-
vermeidliche abwarten wie ich, um nicht etwas
aͤngſtlich in die allſeitigen Gewaͤſſer hinab zu ſehen.
Die Folgen der ſchrecklichen Waſſerfluth des ver-
floßnen Fruͤhjahrs noͤthigten uns, mehrmals von
dem durchbrochenen Damm herab in die Niederung
zu fahren. Man arbeitete noch an der Wiederher-
ſtellung dieſer Daͤmme, und Austrocknung des
laͤngs der Waal liegenden Landes. Hier ſoll aber
der Schaden am geringſten ſeyn, tiefer herab an
der Waal ſteht noch ein großer Theil des Landes
unter Waſſer. Dieſe Daͤmme gehen alle ſchnur-
gerade, aber in ganz verſchiedenen Richtungen, ſo
daß der Weg auf ihnen oft in einer Art Zick zack
geht, ſo wie dieſe Waͤlle der Senkung des Lan-
des und der Richtung der Gewaͤſſer folgen moͤgen.
Links hatten wir ein paar Stunden lang ver-
ſchwemmte Wieſen, neu ausgeſtochene Teiche, neu
aufgeworfene Daͤmme, nichts das uns weder
Fruchtbarkeit noch Anbau verſprach. Bald aͤnder-
te ſich aber die Scene, die ſchoͤnſten Baumgrup-
pen begannen — nein, nicht Gruppen, die ſind
unregelmaͤßig, es ſind lange, oft doppelte Alleen,
an deren Ende ſchoͤne Haͤuſer liegen, um ſie her
ſind regelmaͤßige Gebuͤſche und das alles iſt mit
Silberfaͤden, die, wenn man ſie naͤher zu Geſicht
bringt, Kanaͤle ſind, durchſchnitten und umge-
ben. Solcher Gebuͤſche und Haͤuſer ſahen wir
rechts und links in einiger Entfernung vom Wege
ſtehen, und die Zwiſchenraͤume nahm ſchoͤnes
Saatfeld und Wieſen ein. Auch dieſe ſind alle ins
Gevierte von Gaͤrten umgeben, und reichlich mit
einzelnen Bauerhoͤfen, oder wollt ihrs Landhaͤuſer
nennen, beſetzt. Alle dieſe Wohnungen ſind ge-
gen die Sonnenſeite ſo von Baͤumen verſteckt, daß
man nur nahe dabei durch die Staͤmme die
hohen hellen Fenſter, das nette Pflaſter vor den
Thuͤren, die gruͤnangemahlten Baͤnke neben ihnen
erblicken konnte. Und neben den kleinen und gro-
ßen Haͤuſern die Waͤlder von Obſtbaͤumen! dieſe
beiden Dinge, die Liebe zum Schatten und der
Reichthum an Obſtbaͤumen, waren mir hier zu
Lande am uͤberraſchendſten. Und welche herrliche
kraͤftige Obſtbaͤume! alle im verſchobnen Wuͤrfel
nach der Schnur gepflanzt, der Grasboden unter
ihnen rein gehalten, und bei der vernuͤnftigen Ent-
fernung, in welcher die Baͤume von einander ent-
fernt ſind, mit dichtem, fettem Graſe bedeckt.
Laͤngs dem Wege her gehn ununterbrochene Rei-
hen von Eichen, die hier ſehr kleine Blaͤtter zu ha-
ben ſcheinen, von Hainbuchen und Weiden. Die-
ſen letzten laͤßt man aber ihren freien Wuchs, wo-
durch ſie herrliche Baͤume werden, die neben den
dunkeln Eichen wie Silberpappeln ſtehen. War-
um brauchen wir die Weide nicht als Baum? wir
koͤnnten ſo wie hier das Holz zu vielerlei Hausge-
raͤthe benutzen, es kaͤme auf unſern immer uͤber-
ſchwemmten Ufergegenden fort, und diente noch
als Damm gegen die landfreſſenden Fluthen der
Donau. Aber die Baͤume haben hier ein Wachs-
thum, das den unſern verſagt iſt. Ich moͤchte
nur wiſſen, ob ſie bei der ſchnellen Entwickelung,
bei dem uͤppichen Wuchſe, ſo lange dauern, wie
bei uns. Laͤngs den Wegen, laͤngs den Auffahr-
ten (avenues) ſind ſie ſehr hochſtaͤmmig gehalten,
damit die Luft unten ſtets freien Lauf hat, auch
werden ſie ſtets gelichtet, niemals geſtumpft. Sol-
chergeſtalt ſind die Zweige gegen die Hoͤhe des Bau-
mes ſchwach; mir daͤucht aber, daß das Laub da-
bei an Schoͤnheit gewoͤnne. Wir konnten den An-
blick dieſer in Schatten verſteckten Wohnungen,
dieſer jugendlich belaubten Alleen, dieſer ſich kreu-
zenden Kanaͤle, gar nicht muͤde werden. Nach
einer Strecke Wegs kam wieder ein Stuͤck Landes,
wo die Verwuͤſtungen der Waſſerfluth noch deut-
lich vor Augen lagen. Der Sand hatte große Obſt-
gaͤrten bedeckt, an einigen Orten waren alle Baͤu-
me ausgewuͤhlt, ſo, daß ſie duͤrr und zerſchlagen,
alle in der Richtung der Fluth, auf dem Boden
lagen.
Nachdem wir zwei Stunden gefahren waren,
ward ich durch einen rein polniſchen Gebrauch ganz
ſonderbar uͤberraſcht. Der Kutſcher bog vom Wege
ab in eine offne Scheune, wo er ſeinen Pferden
Brodt gab, und dann am andern Ende heraus
wieder auf die Straße einlenkte. Waͤhrend er fut-
terte machte er die Thuͤren vor den Pferden zu,
welches ich ſehr geſcheidt finde, weil dadurch die
Thiere ſowohl, als der Reiſende indeß vor Sonne,
Regen und Luft geſchuͤtzt ſind. Dieſe Scheunen
ſind immer neben den Staͤllen und Remiſen; in
Polen machten ſie einen Theil des Stalles ſelbſt
aus. Um zehn Uhr kamen wir nach Thiel, einem
niedlichen, von Kanaͤlen und Alleen umgebenen
Staͤdtchen, das von Reinlichkeit glaͤnzte. Hinter
dem Wirthshaͤuschen war ein Gaͤrtchen — funf-
zehn Fuß ins Gevierte — voll bunter Blumen in
ſchnoͤrkliche Beetchen gepflanzt, bunte Schmetter-
linge buhlten um ſie, ein großes Vogelhaus mit
bunten Voͤgelchen zwitſcherten darin, ein Bauer
voll Haͤhnchen mit ungeheuer großen rothen Kaͤm-
men kraͤhte dazwiſchen, die Sonne in vollem Glan-
ze ſtrahlte es an, es fehlte nichts wie der Karfun-
kel, um es zu einem Guidoſchen Garten zu ma-
chen — doch den hatte ich im Buſen, denn mir
wars, als ſey ich in einem Zauberlande. Nun
ſetzten wir uns in eine Stube, wo alles glaͤnzte,
ein hohes Fenſter ging auf den artigen Marktplatz,
die nette Wirthin brachte uns Thee, Butterbrodt
u. dgl. ſtellte es auf eine ſchneeweiße Serviette,
der Theekeſſel kochte, ich nahm mein Strickzeug
zur Hand und dachte ihr waͤret alle ausgegangen
und fruͤhſtuͤckte einmal allein auf meinem Zimmer.
Noch vor dem Thor gegen Cuilenburg zu, lag
rechts uͤber das Feld hin ein freundlicher Garten
mit ſchwarzen Gattern umgeben, mit lauter Alleen
von Weiden und andern gruͤnen Baͤumen durch-
ſchnitten, voll Blumen — Stockroſen und Son-
nenblumen erkannte ich vom Wege aus. Das ſey
der Kirchhof, ſagte mir mein Kutſcher, mit dem
ich durch Huͤlfe des Plattdeutſchen recht gut fort-
kam. So moͤchte ich dann lebelang in Thiel Thee
trinken, und dann in Thiel begraben ſeyn. Wie
gut wiſſen die Leute zu leben und todt zu ſeyn.
O du wunderliches Volk! Hier iſt der Menſch al-
lenthalben Werkmeiſter, und alles, alles Men-
ſchenwerk. Mir iſts, als ſollten dieſe Leute Gott
vergeſſen muͤſſen, weil ſie alles ſelbſt machen, bis
auf den Boden auf dem ſie ihre Baͤume pflanzen,
und darum iſt es ja gut, wenn der Erhabene ein-
mal ſeine Waſſerfluthen uͤber ſie ſchuͤttet, ſie koͤnn-
ten ſonſt endlich fragen: „Wo iſt er? das haben
wir ja alles ſelbſt gemacht.“ Dagegen unſre Ber-
ge, unſre Waͤlder! wie verſchwindet aller Men-
ſchenwitz, alle Menſchenkraft vor der Schoͤpfung,
die der Hauch des Fruͤhlings auf unſern Hoͤhen
hervorruft! Was ſind ſeine Werke, wenn er ſei-
nen Blick auf die Scheitel unſrer Alpen richtet?
Wie ruft ihm da alles, alles, das maͤchtige We-
ſen zu, vor dem ſeine Kraft ſchwindet, und von
dem ſie ausgeht. — Von dem ſie auch ausgeht! —
Iſt nicht alsdann die hier uͤberall geaͤußerte Kraft
auch Offenbarung der Gottheit? — nicht Er in
dieſer Kunſt, in dieſer beſiegten Natur, die hier
zu ruhen gedachte unter der ſtehenden Fluth, viel-
leicht ausruhen wollte unter ihr von vollendetem
Tagwerk, denn wer beweiſt mir, daß ſie hier nicht
einſt Gebirge verſchlang?
Von Thiel aus nahten wir uns dem Rhein,
uͤber den wir bei Rehnen auf einer Faͤhre uͤberſetz-
ten. An der linken Seite des Weges fanden wir
noch manche zerſtoͤrte Huͤtte, die der Strom vori-
gen Fruͤhling einriß. Ihre Beſitzer hatten ſich
einen Winkel darin bewohnbar gemacht, und ar-
beiteten, um ſie wieder herzuſtellen. Durch die
offnen Waͤnde ſah man den geretteten Hausrath
ſtehen, loſe Bretter verwehrten hie und da Sturm
und Regen den Eingang. Der Gang der Ver-
wuͤſtung war deutlich zu ſehen, allenthalben war
die, gegen die Straße gekehrte, Seite der Haͤuſer
ſtehen geblieben, oder am wenigſten verſehrt, der
Ruͤcktheil ganz hinweggeſpuͤlt, indeß rechts von
den Daͤmmen die Wohnungen in beſſerm Wohl-
ſtande waren, denn zu ihnen gelangte die Fluth
nicht. In der Naͤhe von Utrecht iſt das Land we-
niger von Gebuͤſchen und Landhaͤuſern geziert, der
Feldbau verdraͤngt die Triften, und faͤllt nicht durch
ſeine Sorgfalt auf. Schoͤne bunte Blumen er-
freuten das Auge in Roggen- Hafer- und Gerſten-
feldern — dennoch habe ich nie ſchoͤnre Gerſten-
aͤhren geſehen, noch ſchwereren Hafer, es fehlt
alſo nur an Reinigung der Saat. Dabei waren
viele Felder ſehr ſandig, und viele ſo feucht, daß
Schilf unter der Frucht empor wuchs. Die Doͤr-
fer wurden ſeit Thiel viel groͤßer, wir fuhren vor
verſchiedenen Kirchen vorbei, die, obſchon ihre
Bauart oft ſehr alt war — ganz die alte, halb
pyramidaliſche Form moͤchte ichs nennen, wo die
Breite vom niedern Dache an zunimmt, und durch
die maͤchtigen Strebepfeiler, von der Seite geſe-
hen, wie eine abgeſtumpfte Pyramide erſcheint —
dennoch ſehr ſchmuck ausſahen, wegen der wohl
unterhaltnen Mauern, der hellglaͤnzenden reinge-
H
waſchnen Fenſter, und ſorgfaͤltig erhaltnen Daͤ-
cher. Einige der Kirchen waren aber auch wie
unſre neuen Bethaͤuſer gebaut. Ich ſtellte mir
immer vor, die ganz nahgelegnen beſonders netten
Haͤuſer mit zierlichen Blumengaͤrten, dicht gezog-
nen Weingelaͤndern an den Mauern, mit hohen
Fenſtern und weiß angeſtrichnen Kreuzſtoͤcken, ge-
hoͤrten dem Domino, und dachte dabei, daß ſichs
hier muͤßte herrlich Domino ſeyn laſſen. Um halb
vier Uhr fuhren wir zwiſchen Windmuͤhlen und
Kanaͤlen, an denen die ſchoͤnſten Alleen prangten,
nach Utrecht hinein. Was ich bis jetzt von der
Stadt ſah, berechtigt mich nicht von ihr zu urthei-
len. Der erſte Eindruck iſt hoͤchſt angenehm. Alles
verſpricht Nettigkeit, Wohlhabenheit. Die Haupt-
ſtraßen haben große mit Baͤumen bepflanzte Ka-
naͤle, neben denen breite, wohlgepflaſterte Straſ-
ſen hergehen. Die Haͤuſer ſind ſolide, ganz von
Backſteinen gebaut, und nirgend ſah ich ſo vollen-
detes Mauerwerk. Man muß hier noch nie an
eine Fenſtertaxe gedacht haben — oder recht be-
trachtet, iſt es nicht ſowohl die Zahl, als die Groͤße
und Hoͤhe der Fenſter, welche auffaͤllt. Und da-
bei die Helle und Reinheit des Glaſes! Dieſer
machte * * bei unſerm erſten Mittagseſſen in Utrecht
ſehr unwillkuͤhrlich ein großes Kompliment. Sie
ſtand am geſchloßnen Fenſter, als ein kleiner
Schmetterling ihr uͤber das Halstuch lief, ſie woll-
te ihn zum Fenſter hinauswerfen, und fuhr mit
der Hand an die Fenſterſcheibe, die ſie, ihrer voll-
kommnen Reinheit wegen, vor die blaue Luft ge-
halten hatte.
Ich habe euch nun die Eindruͤcke geſchildert,
welche der erſte Anblick dieſes Landes auf mich
machte. In meinen naͤchſten Briefen werdet ihr
beobachten koͤnnen, wie ſie ſich durch naͤhere An-
ſicht der Gegenſtaͤnde und gewohnten Umgang
modificiren. Alles weicht hier von unſern Sitten
ab. — Das ſtoͤrt mich nie, denn ich lebte unter
ſo verſchiednen Menſchen, in ſo verſchiednen Laͤn-
dern, daß ich mich ohne alle Muͤhe an neue Sit-
ten gewoͤhne — allein die lebloſen Gegenſtaͤnde
tragen hier uͤberall das Gepraͤge des Menſchen-
werks. Geſtern Abend drang ſich mir das ſo druͤk-
kend auf, daß ich aus dem Sallon unter den freien
Himmel lief, um, zum Sternenheer aufſtaunend,
eines Anblicks zu genießen, der Gott allein aus-
ſprach. — —
H 2
Fuͤnfter Abſchnitt.
Der erſte Eindruck, den mir Utrecht machte, iſt
durch eine naͤhere Bekanntſchaft mit dieſer Stadt
nicht geſchwaͤcht worden. Ich bin gar nicht boͤs
daruͤber, daß der Hof nur ſo kurze Zeit hier blieb,
fuͤr die Groͤße dieſer Stadt iſts viel beſſer, daß hier
kein Hof iſt, eine Stadt, die bis jetzt ausſchlieſ-
ſend den Wiſſenſchaften und dem Handel oblag,
konnte bei einem Hoflager nur — ausarten, ſey
der Koͤnig den Wiſſenſchaften auch noch ſo hold,
und wuͤnſche noch ſo ernſtlich Fleiß und Sitten zu
erhalten. Mir ſcheint bei der ehemaligen Wohl-
habenheit und dem jetzigen Druck der Zeiten, den-
noch viel Rechtlichkeit unter dem Buͤrgerſtande,
viel Haͤuslichkeit unter den hoͤhern Staͤnden uͤbrig
geblieben zu ſeyn. Auslaͤnder muͤßten die Sitten
nur nie nach dem Vorbilde ihres Vaterlandes,
Stadt oder Staͤdtchens beurtheilen; muͤſſen nicht
denken, weil man hier nicht haushaͤlt, wie bei
ihnen, halte man gar nicht haus; nicht weil die
Frauenzimmer hier nicht die Geſchaͤfte treiben, wie
bei ihnen, ſeyn ſie ganz unthaͤtig; weil ſie nicht
die Stundeneintheilung beobachten, wie bei ihnen,
leben ſie blos in den Tag hinein. Die Familienbande
ſcheinen mir hier noch feſt geknuͤpft, die Verhaͤlt-
niſſe zwiſchen Eltern und Kindern der guten alten
Zeit treuer wie in vielen andern Gegenden; man
hat ſich bei den zunehmend harten Zeiten weislich
beſchraͤnkt, der Luxus ſcheint hier nicht mit der
Verarmung zugenommen zu haben, wie ich es in
manchen Gegenden, wo der Krieg ſeit Jahren ſeine
Schrecken verbreitete, beobachtet habe. Die hie-
ſige Univerſitaͤt hat von dem, was wir unter die-
ſem Namen kennen, wenig Aehnlichkeit, aber viele
Huͤlfsmittel an belehrenden Sammlungen, und
zahlreichen Stipendien, beſonders fuͤr Auslaͤnder,
ſogar fuͤr Ungarn. Dieſes alte Denkmal von Gei-
ſtesverkehr zwiſchen dem Weſt- und Oſtende von
Europa erfreute mich innig — fuͤr den uͤberall
Licht ſuchenden Menſchengeiſt, fuͤr das ſchoͤne Band
der Wiſſenſchaft, das die fernſten Nationen ver-
ſchlingt, und fuͤr die Ehre dieſer wackern Stadt,
die im Stillen ſo weit verbreitet wohl thut.
Die Profeſſoren ſcheinen mir nicht ſo ſcharf
von den uͤbrigen Staͤnden getrenut, wie auf deut-
ſchen Univerſitaͤten, beſonders in kleinen Staͤdten.
Das mag zum Theil daher kommen, daß der Pro-
feſſor im Freiſtaat auch aktiver Buͤrger bleibt, noch
mehr, daß die Gelehrſamkeit nicht blos den Pro-
feſſoren uͤberlaſſen, ſondern durch alle Staͤnde ver-
breitet iſt. Der Adel, der Handelſtand, die Kir-
chenlehrer zaͤhlen Maͤnner von ſeltnen Kenntniſſen
unter ihren Mitgliedern, viele der groͤßten hollaͤn-
diſchen Gelehrten bekleideten keinen Lehrſtuhl, und
ohne gelehrt zu ſeyn ſind einige Zweige von Kennt-
niſſen unter alle Staͤnde verbreitet. Ein Volk, deſſen
hiſtoriſche Laufbahn der Hollaͤnder ihrer glich, kennt
ſeine Geſchichte; und ein handelndes Volk nimmt
unwillkuͤhrlich eine Menge Nationen auf, die den
daͤmiſchen Lebensgange des gewoͤhnlichen Binnen-
laͤnders fehlen.
Die Lehrſtunden geben den hieſigen Profeſſo-
ren nicht ſo viel Arbeit, wie einem Leipziger oder
Goͤttingſchen Lehrer. Der Curſus iſt jaͤhrig —
das heißt, er dauert 8 Monate, und die großen
Ferien drei, außerdem finden noch einige kuͤrzere
ſtatt, ſo daß gewiß vier Monat Freiheit heraus-
kommt. Dabei leſen die Herrn lange nicht ſo viel
Kollegia, und bei der ſehr geringen Anzahl von
Studierenden gleichen ſie mehr einer Privatſtunde.
Die Zuhoͤrer zahlen das Honorar am Ende ihrer
Studienzeit, alſo nach drei Jahren — und der
Preiß ſcheint mir, im Vergleich der allgemeinen
Theure der Beduͤrfniſſe, ſehr gering. Dieſe Ver-
ſchiedenheiten wuͤrden von einem Lehrer, der von
einer norddeutſchen Univerſitaͤt hieher zog, reiflich
uͤberlegt werden muͤſſen. Ich fuͤrchte, es wuͤrde
unſerm Gelehrten-Stande ſchwer werden, ſich hier
zu finden. Er hat noch weniger Biegſamkeit der
Sitten, wie ein anderer Stand, haͤngt zu der freien
Regſamkeit ſeines Geiſtes, zu ſeinem gemuͤthlichen
Leben, noch mehr wie ein anderer von ſeinen Um-
gebungen ab, und um ſich dieſe oͤkonomiſch, ange-
nehm, und fuͤr den Hollaͤnder, deſſen Mitbuͤrger
zu werden er doch ſtreben ſoll, unſtoͤrend, unmiß-
faͤllig zu machen, muͤßten ſie doch ganz hollaͤndiſch
ſeyn. Wie hinderlich alſo fuͤr verpflanzte Men-
ſchen die groͤßten Kleinigkeiten — beſonders wenn
ſie Weiber aus dem Vaterlande mitbringen — auf
ihren ganzen Zuſtand einfließen koͤnnen, beachtete
ich ſehr oft mit wahrem Schmerz. Nach einem
Aufenthalt von mehreren Jahren hoͤrte ich in Suͤd-
Deutſchland noch norddeutſche Hausfrauen uͤber
Dinge klagen, die mir die Anekdote der Franzoͤſin
ins Gedaͤchtniß rief, die in London bitterlich uͤber
die Unmoͤglichkeit daſelbſt froh zu leben klagte, und
zum Beweiſe im gelaͤufigen Pariſer Ton ausrief:
es iſt nicht erhoͤrt, wie weit der Englaͤnder Bar-
barei geht! die gemeinſten Dinge wiſſen ſie nicht
zu bezeichnen — pour demander du pain ils Vous
disent: donnez moi du bréad! du bréad! grand
dieu quel peuple! — Der ehemalige Ruhm ihrer
hohen Schule iſt den Utrechtern noch friſch im
Gedaͤchtniß, ſie halten die hieſigen Anſtalten zur
vollen Ausbildung eines Juͤnglings fuͤr vollkom-
men hinlaͤnglich, ſo daß ich junge Leute, die hier
geboren waren, von ihrer Beſtimmung hier ihren
Vaͤtern in ihrer gelehrten Laufbahn zu folgen, mit
der heiterſten Zuverſicht ſprechen hoͤrte, und auf
meine Frage: ob ſie denn nicht eine auswaͤrtige
Univerſitaͤt beſuchen, nicht fremde Laͤnder ſehen
wollten? verſicherten ſie mir, daß Utrecht alles in
ſich ſchloͤſſe, was die Bildung eines Gelehrten an-
fange und vollende.
Ich hatte einen Moment von komiſcher Demuͤ-
thigung fuͤr meinen deutſchen Nationalſtolz —
wie ich mit einem Utrechter uͤber die Straße ging,
begegnete ich drei jungen Maͤnnern, deren ganzes
Aeußeres meinen, ſeit einigen Wochen ſchon an
ſorgfaͤltige, nette, geringelte Formen gewoͤhnten
Blick, wunderbar verletzte. Große Stulpſtiefel,
haͤngende Ueberroͤcke, Sturmhuͤte, und ein En-
ſemble, das man in Norddeutſchland ſeit vielen
Jahren gewohnt iſt, mit dem Ausdruck * * ſche
Studenten zu bezeichnen, fiel mir bei dieſen drei
jungen Maͤnnern, die uns auf der Straße begeg-
neten, auf. Unbedacht zeigte ich ſie meinem Be-
gleiter und gab ihnen den Nahmen, den ihr An-
blick in mir zuruͤckrief, wie ſie Arm in Arm ſich
fuͤhrend, den breiten Weg einnehmend, neben uns
voruͤber zogen. Zu meiner großen Verwunderung
antwortete dieſer ſehr unbefangen: ja, es ſind
Deutſche, fuͤr die wir hier viele Stipendien haben.
Alſo Charakter haben unſre lieben Landsleute in
Utrecht — welchen Charakter wir Deutſche uͤber-
haupt haben, ſcheint ja ohnehin noch nicht ganz
beſtimmt zu ſeyn.
Der botaniſche Garten iſt wohl unterhalten,
von anſehnlichem Pflanzenreichthum, aber ſeine
Lokalitaͤt ſcheint nicht allen Geſchlechtern guͤnſtig
zu ſeyn; fuͤr die Waſſer- und Sumpfpflanzen ſchien
es an Mitteln zu fehlen, er iſt meiſt mit Gebaͤu-
den umgeben, und ganz ebnen Bodens. Da ich
ihn als Weib beſah, nicht als Pflanzenkenner, ge-
denke ich nur mit Freude und Dank der vielfachen
zarten Lieblingskinder der Natur. Ich ließ meine
Phantaſie, von ihnen geleitet, von Norden nach
Suͤden ſchweifen, vom Japaniſchen Meer zu den
Hebriden, und las in den zarten Blumenkelchen,
in den tauſendfachen Blaͤtterformen die Groͤße der
Schoͤpfung.
Das Naturalienkabinet iſt klein, aber wohl
gehalten, an See- und Schalenthieren reich, be-
ſonders in der Schoͤnheit der letzten, unter denen
ich wahre Putzſchraͤnkchens Exemplare fand. Un-
ter den in Weingeiſt aufbewahrten Mißgeburten
bemerkte ich einen Umſtand, der dem liberalen,
wackern Aufſeher dieſer Anſtalt gewiß als nichts-
bedeutend nur entgangen iſt, allein bei der Wuͤr-
de und Zweckmaͤßigkeit dieſer Sammlung faͤllt er
als ganz heterogen auf. Ein Paar mißgeborne
Kinder haben Hals- und Armbaͤnder von Perlen
und Korallen um, mit denen verziert ſie in ihrer
uͤbrigen nothwendigen Bloͤße ſehr ſittſam in ihrem
naſſen Haͤuschen ſitzen. Da das das einzige
Spielwerk war, welches ich bemerkte — und da
mehrere Damen bei mir waren, haͤtte man gewiß
nicht ermangelt, uns die vorhandnen aufzutiſchen,
ſo iſt dieſe Bemerkung gewiß mehr ein Lob, als
ein Tadel.
Die phyſikaliſchen Inſtrumente ſind neu, zahl-
reich, und einige ſehr koſtbar. Die Einrichtung
der Anſtalt erlaubt deren freie Benutzung unter
Bedingung, die den wahrhaft Wißbegierigen nicht
ſtoͤrt, und die Ordnung der Sammlungen den-
noch ſichert.
Außer der Univerſitaͤt ſind noch hoͤhere und
niedere Schulen hier, die mir nach den Lehrern
und Schuͤlern, die ich daraus geſehen habe, viele
Achtung einfloͤßen. Die Schuͤler ſind oͤffentlichen
Pruͤfungen unterworfen, nach welchen Praͤmien
ausgetheilt werden, und die mit oͤffentlichen Re-
den von Seiten der Lehrer und Schuͤler in lateini-
ſcher Sprache verbunden ſind. Die Feierlichkeit
findet in der Kirche ſtatt, der Redner ſpricht von
der Kanzel. Die Preiſe beſtehen in Buͤchern,
meiſt ſchoͤnen Ausgaben der Claſſiker, in ſchoͤnen
weißen und goldnen Baͤnden.
Der hieſige Dom iſt ein ſchoͤnes Gebaͤude ge-
weſen, eh ein ungeheurer Sturm gegen das Ende
des ſiebzehnten Jahrhunderts, wie mir daͤucht,
das ganze Schiff der Kirche einriß. Wie es zu-
ging, daß er nicht die beiden Thuͤrme uͤber dem
Chor und der Porkirche fruͤher umwarf, wie das
Schiff, kann ich nicht begreifen, ihre Proportion
und Schoͤnheit laſſen aber die Wiederherſtellung
des Ganzen ſehr wuͤnſchen. Zu der Kirche gehoͤ-
ren eine Zahl Canonikate oder Domherrnſtellen,
die viel Anſehen genießen, und einige Einkuͤnfte
gewaͤhren. Das Stift wie die Kirche iſt dem hei-
ligen Martin gewidmet; er prangt in einem Ge-
maͤhlde des Saales, wo die Domherrn ſich ver-
ſammeln, und wurde uns noch in Stein gehauen
gezeigt, wie er in dem umgewehten Theil der
Kirche geſtanden hat, jetzt aber einen Winkel des
Kreuzgangs bewohnt. Im Gange von der Kirche
in den Stiftsſaal zeigte man uns ein in Holz ge-
ſchnitztes, neu mit Oehlfarbe angemahltes Bild-
niß oder Bildſaͤule eines beruͤhmten Bettlers, die
Abzeichen ſeines Berufs, Fetzen und Schwaͤren,
auf das natuͤrlichſte geſchnitzt und gefaͤrbt; er haͤlt
einen Geldbeutel in der ausgeſtreckten Hand, ſo,
daß ich ihn vielmehr fuͤr einen Strauchdieb, als
einen Bittenden gehalten haͤtte. Dieſer Mann
hatte ſich in dieſem elenden Zuſtande ein ſo anſehn-
liches Vermoͤgen erworben, daß er bei ſeinem To-
de eine Stiftung machte, Kraft welcher — ich
glaube woͤchentlich? funfzig Armen ein Laib Brod
ausgetheilt wird. Dieſe Geſtalt und dieſe Ge-
ſchichte in dieſem Tempel des reinen Proteſtantis-
mus zu finden, war mir etwas unerwartet. Das
Bild ſah ich, die Geſchichte erzaͤhlte mir der
Kuͤſter weniger freundlich, aber mit viel mehr
Glauben fordernder Wichtigkeit wie mein ehrli-
cher Prieſter in Coͤlln die Wunder der heiligen
Urſula. — — —
Sechſter Abſchnitt.
In der Gegend von Gauda auf dem Lande,
im Auguſt, 1809.
Meine Freunde hatten beſchloſſen, mir bei mei-
ner Reiſe nach Amſterdam den doppelten Genuß
einer Land- und Waſſerfahrt zu machen. Ich
beſtieg alſo zu meiner Hinreiſe bis nach Lunerſloot
einen Wagen, den ſie hier Kirebu — Gott weiß,
wie ſie es ſchreiben! — benennen. Er iſt ganz
wie ein Bremer Waͤgle gebaut, nur viel groͤßer,
im armen Norden findet er ſich, nur viel kleiner,
unter dem Namen Kibitka wieder ein, wo ihn die
Polen und Ruſſen durch ein Futter und Decke von
Filz viel mehr zur Waͤrme, alſo gegen die Kaͤlte
einrichten. Hier iſts ein ziemlich hochraͤderiges
luftiges Geruͤſt, oben mit Wachstuch bedeckt, zu
dem man zwiſchen den beiden Hinterraͤdern ein-
ſteigt. Es giebt deren mit drei Sitzen, die wegen
der Menge Menſchen, die ſie faſſen, zu Land-
parthieen vorzuͤglich geeignet ſind. Von Luner-
ſloot weiter nach Amſterdam nahmen wir eine
Chaiſe, und die Ruͤckreiſe nach * * * ſollte zu
Waſſer gemacht werden.
Der Weg fuͤhrte durch das artige Staͤdtchen
Weerden, das mit Graben und Waͤllen umgeben,
wie eine recht friedliche Feſtung ausſieht. Man
kann die ſaubern niedern, mit fettem Gras be-
wachſenen Waͤlle gar nicht fuͤr Ernſt halten, ſo
wie die meiſt ſehr kleinen, aber allerliebſten Haͤu-
ſerchen, oft nur von einem Stock, gar nicht aus-
ſehen, als koͤnnten ſie je einem Feind widerſtehen
wollen. Von der Stadt aus faͤhrt man bei man-
chem artigen Bauergute vorbei, immer hat man
zu beiden Seiten Graͤben, die man hier ſo gewohnt
wird, daß ich bei deren Ermangelung bald ſehr
verwundert frage: wo das Waſſer hin ſei? So
wie man ſich der Neuen-Schleuſe naͤhert, hoͤren
die Dorfwohnungen auf, und eine zuſammenhaͤn-
gende Reihe von Landſitzen faͤngt an. Da der
Anblick dieſer allerliebſten, oft ſehr praͤchtigen
Wohnungen, von den Kanaͤlen aus ſehr viel beſ-
ſer geſehen wird, die ſchoͤnſten auch gegen das
Waſſer zu ſtehen, ſo will ich euch bei meiner
Ruͤckreiſe mehr davon ſagen, und jetzt ploͤtzlich
Abends um neun Uhr vor die Thore von Amſter-
dam bringen. Die Amſtel ſcheint mir hier breiter
wie der Rhein bei Mainz, der Himmel war um-
woͤlkt, aber der Mond ſpiegelte ſich in der ſtillen
kraͤuſelnden Fluth. Naͤher gegen die Stadt zu
ward das Schauſpiel bezaubernd. Jenſeits des
Waſſers ſah man allenthalben unter den Baͤumen
hervor die Lichter der Wohnungen ſchimmern —
denn das ganze Ufer der Amſtel iſt mit Haͤuſern
beſaͤet, und dieſe Lichter zitterten im Waſſer, und
ſpiegelten ſich auf der großen Flaͤche, und wurden
jetzt von dem zarten Spiel der ſie beſchattenden
Zweige in tauſend Funken getheilt, und zerfloſſen
dann von den kleinen Wellen fortgetragen, in tau-
ſend feurige Strahlen. Fern und nahe gluͤhten
die Wellen, und fern und nahe gluͤhte das Ufer;
um uns hohe Baͤume, neben uns die freundlichen
Haͤuſer die ſie verſteckten, und von denen wir wie-
der nichts wie die Lichter wahrnahmen, und zu-
weilen einen Ton ruhiger Menſchenſtimmen, die
der Zauberwelt den Stempel der Wirklichkeit auf-
druͤckten, ohne ihr Anmuth zu rauben; denn es
waren gemuͤthliche Toͤne, die an keinen Schmerz
erinnerten. Haͤtte ſich doch zu dieſem Schauſpiel
von Ruhe und Groͤße, von Unbegrenztheit durch
halbes Dunkel und blendenden Glanz erzeugt,
haͤtte ſich doch der Zauber des Geſanges hinzuge-
fuͤgt! — nur eine Menſchenſtimme! bei dem lei-
ſen Ruderſchlag der hie und da vom Waſſer her
toͤnte dachte ich immer das: O Santissima, das
Vater Herder mit aus Italien brachte, hoͤren zu
muͤſſen. Aber das iſt kein ſingendes, iſt kein tan-
zendes Volk — denn das ſeltene Stampfen an
Kirmesfeſten heißt nicht tanzen. Ein tanzendes
Volk wartet nicht auf die Kirmes. Wenn am
Fuße des Jura die Abendſonne auf die weißen
Thuͤrme von Eſtavayer ſcheint, und der See im
Schatten des Gebirges ruht, warten die Maͤdchen,
welche die Feierſtunde von den Spitzenkiſſen auf-
ruft, auf keine Geige zum Tanze; mit ſanfter
Stimme loͤſen ſie ſich einander im Geſange ihrer
Rondeaus ab, und Jugendleben macht die Glie-
der gelenkig, die den ganzen Tag bei dem muͤhſe-
ligen Spitzenkloͤppeln erſtarrten. Die heilige The-
reſe ſagte vom gefallnen Engel: Der Ungluͤck-
liche! er kann nicht lieben! — wenn ich die
angenehmen Maͤdchen vor ihren allerlieb-
ſten Haͤuſerchen ſehe, und die Familien ſo
wohlgemuth vor ihren reinlichen Thuͤren, im-
mer ſitzend und immer klanglos, ſo moͤchte
J
ich ſagen: die Ungluͤcklichen, ſie koͤnnen nicht
ſingen! — — —
Das weite Waſſerbecken wird enger, und die
Stadt nimmt den Kanal auf. Es iſt eine wun-
derliche Empfindung, im Finſtern in eine ganz
fremde Stadt zu kommen, und beſonders in dieſe.
Wohin ich blickte ſchimmerte Waſſer, und ſpiegel-
ten ſich Baͤume und Bruͤcken, Baͤume, Waſſer
und wieder Bruͤcken. An dem Ton des rollenden
Wagens hoͤrte ich wohl, daß die Haͤuſer um mich
her hoch waren, beſonders bemerkte ichs an den
Orten, wo ich kein Waſſer ſchimmern ſah, da ſah
ich auch, daß ich in einer großen Stadt war, denn
die hell erleuchteten, ausgeſchmuͤckten Kauflaͤden
ſchimmerten von allen Seiten. In den Gaſſen
wo Kanaͤle waren, ſah ich nicht ſo viele Kramla-
den, hier ſchien aber uͤberall das Licht aus dem
Kellergeſchoß heraus, wo in den großen Haͤuſern
das Geſinde wohnt, vielleicht auch noch, ſo wie
es ehemals allgemein war, mancher Haus-
eigenthuͤmer, der durch dieſe Beſchraͤnkung den
Vortheil hat, ſein uͤbriges Haus ſauber zu hal-
ten. Nach der langen Zeit die wir fuhren zu ur-
theilen, mußte die Stadt recht groß ſeyn. End-
lich kam ich auf einen der ſchoͤnſten Kanaͤle, wel-
cher der Kaiſerkraagt heißt, bei unſern guͤti-
gen * * an. — — —
Mein erſtes Beduͤrfniß war deutſche Zeitun-
gen, und eine beſtimmte deutſche Zeitung zu
leſen. Seit fuͤnf Wochen wartete ich auf einen
deutlichern Bericht von der Schlacht von Wagram.
Wie ich den funfzehnten Juli Bern verließ, war
die Nachricht dieſer Begebenheit da, aber ſie wur-
de nicht publicirt. — In Deutſchland fand ich nur
die erſten eiligen Anſichten, den hollaͤndiſchen
Currant — die einzige Zeitung die ich erblickte
ſeit ich in * * * war, ſagte wenig Details, nach
denen ich doch ſehr ſehnſuͤchtig ſeyn mußte. —
Dieſer furchtbare Kampf, der unſer politiſches
Daſeyn entſchied! Ich las bis tief in die Nacht,
und ſchlief endlich — alle Wunden der blutenden
Menſchheit tiefer fuͤhlend, zum erſten Mal in
Amſterdam ſehr ernſthaft geſtimmt, ein. Das
Donauufer verließ ich, wie zahlloſe Kriegsheere
nach Oſten zu ſtroͤmten, die Schweiz verließ ich
drei Monate ſpaͤter, wie der letzte furchtbare
Schlag gefallen war, und zwei hundert Stunden
weit von dem Schauplatz dieſes Kampfes, werde
ich wieder vom Kriegsgeſchrei empfangen. Ihr
werdet die Landung der Englaͤnder mit einiger
J 2
Sorge um mich erfahren haben. Wenn ihr die
Einnahme von Vließingen hoͤrt, und die Bewe-
gungen die man hier zur Landesvertheidigung
macht, vernehmet, werdet ihr ſagen: aber was
T … macht ſie denn in der Galere? ſie hoͤrt
ſchießen — wenn wir in * * * im Gehoͤlz ſpatzie-
ren gingen, toͤnte jede Salve wieder, bald ſchien
der Ton uͤber die Baumgipfel getragen, bald un-
ter dem Boden droͤhneud zu uns zu kommen.
Das ſtoͤrte uns keineswegs in unſerm Lebensgange.
— — Lieben Kinder, heut zu Tage geht man
dem Kriege nicht aus dem Wege! Darum traget
den Frieden im Herzen wo ihr gehet. Uebrigens
gehen die Dinge hier eben wie dei uns unter glei-
chen Umſtaͤnden, das heißt, man ſchreit, ſchwatzt,
luͤgt, verwirrt die Begriffe, und vermeidet nach-
zudenken, um nur nicht kluͤger werden zu muͤſſen.
Bei meiner Anweſenheit in Amſterdam war man
ſo eben durch die Nachricht von dem Befehl einer
allgemeinen Bewaffnung erſchreckt. Alle ſtreit-
bare Maͤnner ſollten ſich, ſo ſagte das Geruͤcht,
bereit halten, dem Feind entgegen zu gehen.
„Streitbare Maͤnner?“ Man ſollte denken, da
ſetzte ſich eine furchtbare Mehrzahl „in ſeines Nichts
durchbohrenden Gefuͤhle“ hin, und ſoͤnne nach,
wie ſie ihre Soͤhne zu andern Dingen bilden moͤge,
als ſie ſelbſt iſt. Ich weiß nicht was an dem Auf-
ruf wahr iſt, noch wie die Sache ſich geendigt
hat; aber wenn ich auf den Straßen ging, ſah ich
die mir begegnenden Maͤnner immer an, ob ſie
wohl unter die Streitbaren gehoͤrten, und das
Haͤuflein ſchien mir hier, wie uͤberall, in einem
gewiſſen Sinn nicht groß werden zu wollen.
Ein junger Menſch aus dem Handelsſtande,
den ich ſehr fleißig jagen, fiſchen und eſſen ſah,
da ich mit ihm auf dem Lande lebte, lernte eiligſt
die Becken ſchlagen, um unter der Feldmuſik ge-
braucht werden zu koͤnnen. Als Gemeiner zu die-
nen fuͤhlte er nicht die phyſiſche, als Officier nicht
die intellektuelle Kraft — denn nur ſo kann ich mir
das ſchnelle Ergreifen ſeiner muſikaliſchen Lauf-
bahn erklaͤren. Alſo iſts hier, wie uͤberall. In
* * * hoͤrte ich eine Mutter ihren Sohn bitterlich
beklagen, weil er in ſeinem Standquartier nicht
ſeinen gewohuten Wein fand, in * * bangte es ei-
ner andern, deren Sohn ſo eben das Conſcrip-
tionsloos getroffen hatte, vor der Wirkung des
Fruͤhaufſtehens, des Wachens und der harten La-
ger, zu den allen er gar nicht gewoͤhnt ſey — iſts
nun in Weſten anders, wie in Oſten? Kann es
anders ſeyn? Wird es anders werden? Ich hatte
in meinem Zimmer in Amſterdam eine herrliche
Tuſchmahlerei, die Niederfahrt des Odin, eine
von Hetſch, ſeinem großen Gemaͤlde ſehr verſchied-
ne Compoſition, zu deren Wirkung das farbenloſe
Grau und Schwarz noch ſehr beitrug — vor die-
ſem Bilde ſtand ich oft, und haͤtte die Zauberin
aus ihrer Felſengruft reißen und fragen moͤgen,
ob unſrer Soͤhne Soͤhne Maͤnner ſeyn wuͤrden? —
In mancher Beſchreibung von Amſterdam, wel-
che der lernbegierigen Jugend gegeben wird, lernt
man, daß daſelbſt die Kutſchen auf Schlitten ru-
hen um durch die Erſchuͤtterung den auf lauter
Pfaͤhlen gebauten Haͤuſern nicht zu ſchaden. Das
kam mir immer recht aͤngſtlich vor, ich ſah die
Haͤuſer beben wie ein Blancmange. — Wie es
ehmals war, weiß ich nicht, vielleicht ging man
behutſamer mit den Haͤuſern um, jetzt rollen die
Wagen ohne alle Ruͤckſicht, und es wird hier mehr
gefahren, wie an irgend einem Orte, den ich ken-
ne, welches ſchon der haͤufige Landaufenthalt fuͤr
die Handelsleute nothwendig macht, indem ſie
taͤglich in die Stadt kommen, oder, iſt der Haus-
vater nicht mit auf dem Lande, dieſer taͤglich zu
ſeiner Familie hinausfaͤhrt. Auch giebt es Fahr-
zeuge aller Art, unter denen man aber am wenig-
ſten große Berlinen findet. Vierſitzige Schaiſen,
zweiſitzige auf zwei Raͤdern, ganz kleine ſchmale
Schaiſchen ohne Verdeck, ſo leicht, daß ein Kind
ſie ziehen kann, oft ſehr zierlich in Muſchelform,
mit Vergoldung, zu einem Pferde — das luftig-
ſte Fuhrwerk das ſich denken laͤßt — die weiter
oben beſchriebnen Kirebu nicht zu vergeſſen, dieſe
Fuhrwerke ſtehen Reihenweiſe bei den Vermiethern
und warten auf Beſtellung, indeß andre auf dem
ſchoͤnen Pflaſter der Stadt, und auf den Sand-
wegen umher rollen. Innerhalb der Stadt wer-
den die Kanaͤle zum geſellſchaftlichen Verkehr gar
nicht gebraucht, leichte Gondeln giebt es auch gar
nicht, die zahlloſen Fahrzeuge, die auf den Kanaͤ-
len liegen, gehoͤren alle dem Handel. Warum die
hollaͤndiſchen Staͤdte Venedig in einem Gebrauch
nicht nachahmen, zu dem ihre Kanaͤle eben ſo ge-
ſchickt ſind, wie die Venetianiſchen, weiß ich nicht,
bin aber in voraus ſo billig, einen vernuͤnftigen
Grund zu vermuthen. Der Anblick der Straßen
laͤngs den Kanaͤlen, iſt hoͤchſt angenehm; das Waſ-
ſer iſt truͤbe, es riecht auch an mehreren Orten,
doch bei weitem nicht ſo laͤſtig, wie ich es in der
Mitte Auguſts, bei ſtarker Waͤrme erwartet haͤtte.
Schlammigt ſind die Kanaͤle nirgends, und das
Pflaſter uͤberall rein, und ſehr gut unterhalten.
An beiden Seiten des Kanals ſteht eine Reihe groſ-
ſer Baͤume, an vielen Orten iſt ſie doppelt, und
zwiſchen dem Waſſer und den Haͤuſern eine breite
gepflaſterte Straße. Die Haͤuſer, ſelbſt die ſchoͤn-
ſten, reichſten, groͤßten, haben noch das Anſehen
von Privatwohnungen, weil ſie keine Hoͤfe vor den
Haͤuſern haben, wie in Warſchau, Paris u. ſ. f.
auch nur in wenig Haͤuſern Einfahrten ſind, ſon-
dern nur ſehr maͤßig große Hausthuͤren, zu denen
ſchmale mit Gelaͤnder verſehne Treppen fuͤhren.
Unter der Treppe der Hausthuͤr geht man einige
Stufen in das Erdgeſchoß herab, deſſen Fenſter
tiefer wie die Straße liegen. Was dieſe Haͤuſer
auf das angenehmſte auszeichnet, iſt die Vollen-
dung, die Ganzheit, das Anſehn von Neuheit,
die vielen hellen Fenſter, das ſchoͤne Fenſterglas,
die ungemein ſchoͤn gemauerten Waͤnde, das ſau-
ber angeſtrichne Holzwerk — nichts Geflicktes,
Verblichnes, Verwittertes. Der Anblick der Haͤu-
ſer nimmt mit Achtung gegen das rechtliche Haus-
weſen der Bewohner ein. Sehr viele dieſer Haͤu-
ſer ſind ſehr ſchmal, und belehren den Voruͤberge-
henden, daß ihre Bewohner noch immer in einer
gluͤcklichen Beſchraͤnkung leben. Vereinigt man
dann aber ein und den andern Umſtand der Zeiten
und Sitten mit dieſen engen Haͤuſern, ſo faͤllt ei-
nen der fatale Brief aus Meiſters Lehrjahren ein,
wo Werner ſeinen laͤppiſchen Schwager nach des
alten Meiſters Tode die liſtig gewaͤhlte Beſchraͤn-
kung ſeines Hauſes, ſeines Tiſches ſo herausſtreicht,
und ſich freut, daß ihm die erſte verhindert Gaͤſte
aufzunehmen, und der letzte durch Wirthshaus-
parthien erſetzt wird. Die Kauflaͤden ſind in den
Nebengaſſen — denn ſo muß ich ſie in Vergleich
der Grabengaſſen doch nennen? ſie ſind ſauber,
ſehr reinlich, bei Tage die Waaren in großen ganz
geſchloßnen Glasſchraͤnken zur Schau ausgeſtellt,
Abends mit Lampen und Spiegeln ſehr glaͤnzend
erleuchtet. An Silberzeug, Uhren, Porzellan und
Glas ſah ich ſehr reiche Laͤden, doch glaube ich,
daß man aus Paris oder London kommend, hier
wenig zu bewundern finden mag. Beſonders
ſchoͤne Porzellanladen bemerkte ich, doch von Pa-
riſer und Berliner Fabriken, nicht, wie ihr euch
vielleicht vorſtellt, von aſiatiſcher Fabrik. Das
bekannte japaniſche Porzellan, welches, wie man
uns jetzt verſichert, alles aus China kommen ſoll,
wird immer ſeltener. Ich erinnere mich in meiner
fruͤheren Jugend dergleichen Taſſen und Schalen
noch in vielen Familien des noͤrdlichen Deutſch-
lands im Gebrauch geſehen zu haben; in der
Schweiz findet man hie und da dergleichen Taſſen
im Gebrauch, die durch den hollaͤndiſchen Kriegs-
dienſt dahin kamen, aber ſie werden nicht mehr
erſetzt; die eleganteren Formen der vielen neuen
Fabriken, vor allen das engliſche Steingut, ver-
draͤngte jene ſchoͤnen, leichten, phantaſtiſch ge-
mahlten Gefaͤße. Hier ſieht man deren noch in
den meiſten Haͤuſern, oft von ausnehmender Schoͤn-
heit, und einige Kaufleute ſollen auch noch alte,
unausgepackte Kiſten voll großer Vaſen und Scha-
len ſtehen haben. Mit dieſen ſind beſonders die
großen Kamine in den Landhaͤuſern geſchmuͤckt,
wo man die alte Pracht noch in Ehren haͤlt. Dort
finden ſich mehrere Geſimſe uͤber einander, wo
Gefaͤße jeder Groͤße in gehoͤriger Abſtufung von
drei Fuß bis zu vier Zoll Hoͤhe, aufgeſtellt ſind.
Oft gehoͤren zwanzig, dreißig Vaſen zu ſo einem
Aufſatz. Drei und fuͤnf Gefaͤße werden gewoͤhn-
lich zuſammen verkauft, und ich geſtehe, daß ich
dieſes Porzellan allem, was deutſche, franzoͤſiſche
und engliſche Kunſt in dieſer Gattung hervor bringt,
vorziehe. Wer Zeit haͤtte, die Gelegenheit abzu-
warten, wuͤrde einzelne ſehr ſchoͤne Stuͤcke bei den
Verkaͤufern finden koͤnnen, die ſie, obgleich nicht
wohlfeil, wenn der Aufſatz nicht mehr vollſtaͤndig
iſt, doch nicht theurer als die modigen Urnen der
deutſchen Fabriken verkaufen. In den alten Fa-
milien ſind noch Schaͤtze von dieſem Geſchirr auf-
bewahrt an Tiſch- und Theeſervicen, und wenn
ſie einen gewiſſen Grad der Pracht erreicht haben,
ſind ſie der Mode nicht mehr unterworfen.
In den Artickeln ſchnell wechſelnden, ſchim-
mernden Luxus, des Hausgeraͤthes, des Anzugs,
ſcheinen mir die Amſterdammer noch etwas zuruͤck
zu ſeyn. Das wird ſchon kommen! der Kreislauf
muß vollendet werden; die ehrwuͤrdige Groͤße muß
dem zierlichen Glanze Platz machen; die muͤhſam
erworbnen, ſorgſam gehegten Reichthuͤmer, muͤſ-
ſen in tauſend Kanaͤle wieder vertheilt werden. Iſt
das gut? ich weiß nicht! in ſo fern es unvermeid-
lich iſt, gewiß. Allein weh thut es mir, vielleicht mir
weher als den Vaͤtern, die wunderbare neue Artikel
am Ende des Jahrs in ihren Haushaltsrechnun-
gen finden werden, mehr wie den Muͤttern, die
ihren Jugendſtaat verachten hoͤren, und ſich ſelbſt
in der ſechzehnjaͤhrigen Tochter nicht mehr erken-
nen. Daß lang zuſammen gehaltener Reichthum
zertheilt wird, iſts nicht, was mich betruͤbt, daß
ſtatt alten Sitten neue eintreten, iſts auch nicht,
aber ich vermiſſe einen gleichen Fortſchritt der all-
gemeinen Bildung mit der allgemeinen Verfeine-
rung — denn Verfeinerung neunt man es ja! —
Iſt das uͤberall ſo, wo man die Fortſchritte der
Verfeinerung ſo deutlich verfolgen kann? Mir
daͤucht, die Deutſchen waͤren ſo gluͤcklich geweſen
bei der uͤberhandnehmenden Verfeinerung, auch
eine allgemeinere Verbreitung von Kenntniſſen zu
genießen — ich erinnere mich noch ſehr wohl, wie
meine Großmutter ſich kleidete, ihres Geraͤthes,
ihrer Geſellſchaft, ihres Tons — aber wenn das
alles jetzt anders iſt, ſo erinnere ich mich auch was
ſie fuͤr Vorurtheile hatte, was man damals nicht
wußte, nicht lernte, nicht dachte, was damals
ganz zu denken verboten war, was nur der Spe-
knlation erlaubt war. — Ob wir darum jetzt beſ-
ſer daran ſind? das muß das naͤchſte Geſchlecht
ausweiſen. Daß der Luxus des Jahrs 1809 mit
den Anſichten und Begriffen von 1770 verbunden,
ein ſehr unerfreuliches Gemaͤlde darſtellt, habe ich
wahrgenommen.
Unter den zahlloſen Kramlaͤden, die hier oft
ganze Straßen lang fortlaufen, befindet ſich in der
Nachbarſchaft der Boͤrſe auch eine ganze Reihe
Obſtlaͤden, die mich an Kotzebues lebhafte Be-
ſchreibung des neapolitaniſchen Obſtmarktes erin-
nerten. Solche Fruͤchte ſehen wir weder an der
Elbe, noch an der Donau, noch am Rheine, we-
der ſo ſchoͤn, noch in dieſer Menge und Mannich-
faltigkeit. Bis tief in die Haͤuſer hinein ſtehen ſie
amphitheatraliſch aufgeſchichtet in dem bunteſten
Farbengemiſch. Die Ananas mit ihrer ſtolzen
Krone zu oberſt, um den Blick der Voruͤberge-
henden zu blenden, dann folgt das ganze Geſchlecht
der Melonen, gelbe, gruͤne, graue, in laͤnglicher
und runder Geſtalt, unter ihnen die goldne Frucht
von Portugals und Spaniens Kuͤſten, Orangen,
wie ſie der Garten der Heſperiden nur darbot;
nun reihen ſich die koͤſtlichſten Weintrauben an —
man iſt verſucht zu glauben, die Sage von Joſua
und Kaleb gruͤnde ſich auf ſie; Pfirſchen von der
ſchoͤnſten Gattung, Pflaumen jeder Art ſind ihre
Nachfolger, und zuletzt ſtehen artige irdne Ge-
ſchirre mit Maulbeeren, Erd- und Himbeeren.
Bei dieſem Anblick glaubt man unter einem ſuͤdli-
chen Himmel zu wandeln, und doch ſind dieſe
Fruͤchte zum groͤßten Theil in Treibhaͤuſern, alle
wenigſtens in Waͤrmekaſten gezogen. In dieſer
Kunſt ſcheinen unſre Gaͤrtner, auch die, welchen
man die Koſten dazu nicht verweigern wuͤrde, noch
weit zuruͤck — vielleicht iſt auch die Luft, das
Waſſer, hier dieſer kuͤnſtlichen Vegetation guͤnſti-
ger. Ihre Behandlungsweiſe ſcheint mir uͤbrigens
ſehr leicht nachzuahmen, ſie gewaͤhrte manchem
muͤßigen Landjunker eine angenehme Beſchaͤftigung,
ſobald er ſie durch den Nahmen von Liebhaberei,
Kaprize, oder Naturbeobachtung veredelt haͤtte.
Die Gaͤrtner biegen den Weinſtock um, und brin-
gen ihn, vielleicht zwei Fuß von der Wurzel, ſeit-
waͤrts in einen gemauerten Glaskaſten. Hier zieht
man ihn auf ein ſchraͤges Gelaͤnder, unter deſſen
hoͤchſten Seite ein Menſch aufrecht ſtehen kann.
Dieſes iſt, wie jedes andre Miſtbeet, mit Fenſtern
bedeckt, welche mit der groͤßten Aufmerkſamkeit
bald geoͤfnet, bald verſchloſſen, bald bedeckt, bald
dem Sonnenſtrahl ausgeſetzt werden. Der Stamm
uͤber der Wurzel, und dieſe ſelbſt genießt indeß der
freien Luft, und wird im Winter gegen die Kaͤlte
geſchuͤtzt, indeß es die Zweige durch die Glasfen-
ſter und ihre Huͤllen ſind. So ein Weinſtock hat
acht und mehrere Zoll im Durchſchnitt. Waͤhrend
der Sommerzeit geht der Gaͤrtner jeden Morgen
durch eine Thuͤr in den Kaſten, ſucht Fliegen,
Ameiſen, jedes Gewuͤrm ab, ſchneidet mit ei-
ner Scheere jede angefreſſene Beere an der Traube
aus, damit die uͤbrigen weder angeſteckt noch in
ihrem Wuchſe gehindert werden, ſo, daß die reife
Traube endlich ohne Makel und ein Muſter von
Vollkommenheit iſt. Eben ſo behandelt man die
Pfirſichbaͤume, Kirſchen und andre Sommerfruͤch-
te. Die Pfirſchen ſind von einer Vollkommenheit,
von einem Dufte, einer Farbenglut, wie ich ſie
nirgends fand, in den guͤnſtigſten Lagen am Rhein
nicht, in den kuͤnſtlichſten Treibhaͤuſern von Pots-
dam nicht, und die koſtbaren Pfirſchen, welche
taͤglich ein Courier von den koͤniglichen Treibhaͤu-
ſern in Warſchau der Kaiſerin Katharine nach
Cherſon bringen mußte Im Jahr 1787 zeigte man der Briefſtellerin auf des
Koͤnigs Landſitz bei Warſchau Pfirſichen, welche der da-
mals in Cherſon anweſenden Kaiſerin durch Courriere
zugeſandt wurden., ſchienen Holzaͤpfel da-
gegen zu ſeyn. Bei dieſer Fuͤlle von Fruͤchten, bei
einer großen Verſchiedenheit von Confituͤren, die
man hier von den Inſeln erhaͤlt, koͤnnte ich leicht
in Gefahr kommen, mich recht an dieſen Zweig
des Irrdiſchen zu haͤngen. Sorgt aber nicht.
Meine Freunde tadeln mich noch immer wegen
meiner ſpartaniſchen Lebensweiſe, und ich mache
ihnen dagegen die Bemerkung, wie ſich die Be-
ſchraͤnktheit des Menſchen bis zur Naſchhaftigkeit
erſtrecke, und ich oft weinen moͤchte uͤber meine
Unfaͤhigkeit des Guten mehr zu genießen. Ach es
iſt nicht die Saͤttigung, nicht die Naͤſcherei, war-
um ſo eine Fuͤlle koͤſtlicher Fruͤchte erfreut — es iſt
die Taͤuſchung, die ſie hervorbringt, als ſcheine
hier eine waͤrmere Sonne, und als werde bei ih-
rem holden Strahl jeder Lebensdruck erleichtert.
Aber das iſt dann freilich eine Taͤuſchung, wie die
Waͤrmekaſten beweiſen. Hesperiens Sonne mahl-
te dieſe Fruͤchte nicht, und dieſer ehrliche Gaͤrtner
bedarf außer eines Obdachs noch der Daͤmme,
damit ſein Garten nicht weggeſchwemmt werde,
und des Torfes zu einem erwaͤrmenden Winter-
feuer, und ſiebenfacher Kleidung gegen den ſchnei-
denden Nord — nein! wo der Weinſtock Schutz
gegen die Sonne ſucht, am ſchattigten Oehlbaum,
da iſt der Lebensdruck fuͤr den natuͤrlichen Men-
ſchen erleichtert.
Meiner ſpartaniſchen Lebensweiſe, wie man
meine Maͤßigkeit hier nennt, unbeſchadet, finde
ich, daß die hieſige Luft eine große Veraͤnderung
in der Diaͤt gebietet, gegen die ſich eigenſinnig zu
wehren, vielleicht dem Fremden oft ſchaͤdlich wer-
den mag. Man rieth mir hier Wein, und einen
ziemlich ſtarken rothen Wein zu trinken; ihr wuͤr-
det erſchrecken, mich bei jeder Mahlzeit einige
Glaͤſer Medoc trinken zu ſehen, aber es bekommt
mir gut, ich empfinde keinen uͤbeln Einfluß von
dieſem Clima, das man fuͤr mich ſo beſonders
nachtheilig hielt. Warum nun hier einige Glaͤſer
Wein auf einen Kopf, der ſonſt von einem Glaſe
geſpannt werden kann, nichts wirken, mag ein
Gelehrter entſcheiden. Mehrere Maͤnner machten
an ſich, freilich nur in einem verſchiedenen Maaß-
ſtab, dieſelbe Erfahrung.
Alle Montag iſt Blumenmarkt in Amſterdam.
Dort findet man in langen, langen Reihen alle
Pracht dieſer ſinnvollen, leichtgeſtalteten, ſchnell-
voruͤbereilenden, herrlichen Schoͤpfung vereinigt.
Mir ward wie einem Kinde zu Muthe vor Erſtau-
nen und Freude und Wehmuth bei dieſem An-
blicke! Auf hohen Geruͤſten ſtand die ſtolze, reiche
Hortenſia, uͤber ihr das zahlreiche Geſchlecht der
Geranien mit ihren gluͤhenden Farben, dann die
ſchoͤnſten Nelken und Levkoyen mit Stengeln, an
denen zwanzig und dreißig Blumen ſo groß wie
K
kleine Roſen prangten, bluͤhende Roſenſtoͤcke jeder
Gattung, Mirthen, Granaten, kleine Orangen-
baͤume, hoher Roſenlorbeer, und unter dieſen in
Toͤpfen gepflanzten Gewaͤchſen ſtanden zahlloſe
Koͤrbe voll großer Straͤußer von allen Blumen der
verſchiedenſten Jahrszeiten. Dieſer ganze Handel
wird von Juden getrieben. Sie kaufen dieſes hol-
deſte Geſchlecht aller geſtalteten Weſen meiſtens
in Harlem — das Reich der Blumenzucht, — auf
und da fallen denn ſchon wieder die Fluͤgel der
Phantaſie matt nieder, wenn ihr der Vermittler
vorſchwebt zwiſchen der ſchaffenden Natur und
dem bluͤhenden Maͤdchen, das jetzt ſo einen
Strauß an den Buſen ſteckt — ſie erblickt einen
ſchmutzigen zerlumpten Juden! — Und doch iſt
mirs, als muͤſte dieſes arme Volk heitrer und
freier hier herum gehen, weil es mit Blumen han-
delt. Den Amſterdammern weiß ich es recht
Dank, daß ſie die Blumen ſo lieb haben. War-
um ſoll es mir nicht gegen die ganze Stadt die
Empfindung geben, die mir jeder eizelne Menſch
giebt? wenn ich einen Unbekannten ſehe, der Blu-
men gern hat, faß ich Zutrauen zu ihm. Blu-
men ſind die Liebe des Kindes, das nur Gluͤck
ahndend in das Leben tritt — ſie ſind oft die
letzte Liebe deſſen, der kein Gluͤck mehr hofft —
ſie bluͤht ihm ja noch auf Graͤbern.
Ich begreife nebenbei hier aber nicht, warum
die Blumen hier viel mehr Schatten vertragen
koͤnnen wie bei uns? Bei uns in * * * ſtehen
Geranien und Hortenſien in dem großen auf vier
marmornen Saͤulen ruhenden Kamin, der jetzt,
und ich glaube nie gefeuert wird, kein Sonnen-
ſtrahl dringt je dahin, er iſt am weiteſten von den
Fenſtern des großen Gemachs entfernt, und ſeit
vier Wochen bluͤhen dieſe Pflanzen auf das luſtig-
ſte fort.
K 2
Siebenter Abſchnitt.
Mit welcher Neugier, nicht Erwartung, ich end-
lich an den Hafen kam! In der Begleitung unſers
guͤtigen * * war es mir erlaubt, das Innere des
Admiralitaͤtsgebaͤudes zu ſehen. Es iſt von einem
ungeheuern Umfange, und beſteht aus mehreren
Theilen, indeß eine große Fronte gegen die Stadt
zu die eine Seite einer Straße ausmacht, die gar
nicht breit, und gegenuͤber mit Haͤuſern beſetzt iſt,
die von einer Menge beim Schiffbau angeſtellten
Leute bewohnt ſind. Bei dem unermeßlichen
Werth dieſer Anſtalt war es mir aͤngſtlich, ſo na-
he dabei die taͤgliche Gefahr von Feuersbrunſt zu
ſehen, man fand aber meine Furcht uͤberfluͤſſig,
die Gefahr muß alſo berechnet ſeyn. Auf der
Waſſerſeite iſt ein breiter unabſehlich langer Stein-
damm, mit den mancherlei Beduͤrfniſſen und
Handwerkszeugen bedeckt, welche der Schiffsbau
auf dem, hinter dem Arſenal befindlichen Werfte
erfordert, oder mit Gegenſtaͤnden zur Ausruͤſtung,
welche die Naͤſſe und Luft nicht angreift. Der
Moment endlich in der Wirklichkeit zu ſehen, was
das Auge ſo oft in mannigfaltiger Darſtellung be-
ſchaͤftigte, iſt aͤußerſt wunderbar. Mein Kopf
ward ſchwindlich, in der Bemuͤhung die Unter-
ſchiede des Vorhandenen und Vorgeſtellten zu ent-
decken, er ward ſchwindlich, die Erinnerungen
von der Gegenwart zu trennen, und die Gegen-
ſtaͤnde der Beobachtung von den Ideenverbindun-
gen, in denen ſie ihnen immer intereſſant gewor-
den waren. Der Anblick eines Kriegsſchiffs von
vier und achtzig Kanonen, das vor kurzem vom
Stapel gelaufen war, machte mich beſtuͤrzt —
nicht wegen ſeiner Groͤße, nein, die Groͤße ergriff
mich gar nicht, ſie wird durch den Raum in dem
es ſteht, durch die unabſehliche Waſſerflaͤche hin-
ter ihm, durch die große Steinmaſſe des nahen
Admiralitaͤtsgebaͤudes, ſehr herabgeſetzt. — Mei-
ne Beſtuͤrzung ruͤhrte daher, in einem Gebaͤude
jetzt herum zu gehen, das ich eben ſo, in jedem
Detail, bisher vor mir auf einem Tiſch hatte ſte-
hen ſehen. Das ſchoͤne Modell des Schiffes Au-
rora, das ich in * * * ſo oft, ſo aufmerkſam be-
trachtet hatte, war mir in allen ſeinen Theilen ſo
gegenwaͤrtig, daß ich jeden Winkel des Admiral
Ruyter, ſo war dieſes Schiff genannt worden,
erkannte, und ſeine Beſtimmung errieth. Es war
in ſeiner innern Einrichtung noch laͤngſt nicht voll-
endet; ohne Maſten und Tauwerk, denn nur in
dieſem Zuſtand wird es vom Stapel gelaſſen, und
liegt nun zu ſeiner weitern Vollendung ganz nahe
am Damme, der in den Hafen hinausgeht. Ich
hatte mir die Sache anders vorgeſtellt, dachte mir
das Schiff ganz vollendet, wie Modelle und Ge-
maͤhlde es uns darſtellen, um vom Stapel ge-
laſſen gleich fertig nach dem fernſten Weltende zu
ſeegeln, das war dumm gedacht; ich haͤtte mir
denken koͤnnen, daß dieſe ungeheure Maſchine,
um in die Wogen zu gleiten, nicht das ganze Ge-
wicht haben darf, welches ihr Ausbau ihr giebt.
Mir war uͤbrigens bei dem Umhergehen neben den
Kanonen, dem Anblick des Takelwerks der benach-
barten Schiffe, der Naͤthe in den Seegeln, der
Fenſterſcheiben in den Kajuͤten, wie es mir oft im
Fieber war, wenn Gegenſtaͤnde von gewoͤhnlicher
Groͤße ploͤtzlich ſich zum Ungeheuern ausdehnen,
— wie Fauſt da der Pudel zum Elefanten wird.
— So wenig mir nun die Groͤße des Admiral
Ruyter von außen aufgefallen war, ſo ſehr uͤber-
raſchte ſie mich, wie ich auf dem Verdeck umher
ging, und nun vom Schnabel zum Steuer hinab
ſehen konnte. Da ergriff mich der Gedanke des
Menſchenwerks! nun mahlte ich mir die Auftritte,
zu denen dieſes Schiff beſtimmt war, nun dachte
ich mir die Jahrhunderte, die verfloſſen, ehe die-
ſes ungeheure Gebaͤude bis auf jedem Zoll ſeines
Raumes berechnet, auf dem pfadloſen Ocean ſe-
geln lernte — ich dachte mir Agamemnons ſchoͤn
geſchnaͤbelte Schiffe neben dieſer ſtolzen Wellen-
koͤnigin, dachte mir die Schlacht von Salamin,
und den Kampf zu dem dieſer Rieſenbau beſtimmt
iſt. — O ich haͤtte vieles, vieles darum gegeben,
eine halbe Stunde hier allein bleiben zu duͤrfen!
ich ſah den Maſtenwald hinauf nach Oſten, und
den Maſtenwald hinab, wo die Sonne ſank —
und uͤber die truͤben Wellen hin, die ihre ſalzige
Fluth mit dem nahen Ocean verbinden, und ver-
maͤhlte die neuen Bilder meiner Seele mit euerm
Andenken, und dem des theuern Todten, der vor
achtzehn Jahren an eben dieſem Platze ſtand.
Das Kriegsſchiff, das er damals in die Wellen
gleiten ſah — welche fremde Meere durchſchnitt
es ſeitdem? wie viel Blut trank es? verſchlan-
gen es die Fluthen des Oceans, wie ihn die Fluthen
des Schickſals? — Wenn die Gewaͤſſer ſo fluͤ-
ſtern und rollen, und der Wirbel geheimnißvoll
ſich dreht, moͤchte ich mein Ohr zu ihnen neigen
und horchen auf die Jahrhunderte, die ſie vor-
uͤberfliehen ſahen, auf das Verderben, das ſie
einſchließen. — In ihrer beweglichen Geſtalt ſich
ewig aͤhnlich, ſcheinen ſie mir die nie alternden
Zeugen der Weltgeſchichte zu ſeyn. — — —
Die verſchiedenen Geſtalten der Schiffe ſind
ſehr bemerklich. Die feſte, breite Philiſtergeſtalt
der Kauffahrer, die leichte pfeilſchlanke Form
der Fregatte, — es lag eine, die Morgenſtunde
genannt, dicht an der Bruͤcke, ſo nett angemahlt,
die Fenſter der Kajuͤte ſo glaͤnzend, die Rahmen
ſchneeweiß, die Wimpel flatterten luſtig, und
ſie ſchien mir der Aal unter den Schiffen zu
ſeyn. Ein aufgetakeltes ſeegelfertiges Kriegs-
ſchiff erſcheint dagegen wie ein ſtolzer Schwan.
Nichts edleres wie dieſer Bau! Inniger muß
Groͤße und Leichtigkeit nicht gepaart werden koͤn-
nen. Die Wellen wiegen es ſanft, die bunten
Ankerkoͤrbe plaͤtſchern um ſein hohes Steuer und
Schnabel. Dieſe Ankerkoͤrbe ſind Maſchinen von
groben Weiden in Geſtalt einer vollen Spule ge-
bildet, und farbig angeſtrichen. Sie bezeichnen
den Ort wo der Anker liegt, da ſie gerade uͤber
ihm ſchweben, vermoͤge des Seils, das ſie an ihn
knuͤpft. Die hohen Maſten, das regelmaͤßige Tau-
werk, die zierlich gefalteten Segel geben der Ge-
ſtalt etwas Geputztes, etwas Vollendetes; der
feſte Kern geht ſo allmaͤhlig in die farbiger fallen-
den Wimpel aus, das lange Bogſprint ragt uͤber
die Welle, und ſcheint das ganze Gebaͤude beinahe
ſchwebend zu erhalten uͤber dem gefaͤhrlichen Ele-
mente, auf dem es ruht. Dann ſitzen die Ma-
troſen ſo heimlich und haͤuslich auf dem Verdeck,
auf dem Raan rutſcht eine Menſchengeſtalt ſo
wohlgemuth und nachlaͤßig, wie euer kleiner Bru-
der, wenn er in dem Gipfel der hohen Ulmen ſich
ein Plaͤtzchen ſucht. Alles Angeſtrengte faͤllt hin-
weg, es iſt eine andre Welt, das iſt Alles. —
Wir beſtiegen eine koͤnigliche Jacht. Den See-
mann, ja nur den Kuͤſtenbewohner, mag an ſo ei-
ner Jacht nichts aͤrgern und ſtoͤren, er betrachtet
jedes Fahrzeug nach ſeinem Gebrauch. Ich, un-
gewohnter dieſe Maſchinen in der Wirklichkeit zu
ſehen, gewohnt ſie nur im Gefolge wichtiger Be-
gebenheiten, ernſter Beziehung, zu denken, em-
pfand Befremdung bei dem Anblick eines Schiffs,
das dem Putzzimmerchen einer petite Maitresse
aͤhnlich ſieht. Von der unter die Sterne erhobe-
nen Argo zu den Galeeren des Hannibal, weiter
zu dem Fahrzeug auf dem Columbus der ſinkenden
Sonne nachſegelte, oder den im Untergang ſingen-
den Vengeur, den Lebruͤns erhabne Muſe beſang,
und mir einen Genuß damit ſchenkte, den jede Er-
innerung daran erneut Der Vengeur kaͤmpfte im erſten Kriege mit England
ſeit der Revolution in den Gewaͤſſern zwiſchen England
und Frankreich mit engliſchen Schiffen, nach langem
Widerſtand erliegend verwarf er die Rettung, welche
der Feind ihm anbot, und ſank unter dem Siegesruf:
Es lebe die Freiheit! in den Abgrund hinunter., endlich bis zu dem
ſchickſalsvollen Schiffe, auf dem Napoleon von
des Nils Gewaͤſſern an Frankreichs Kuͤſten ſegelte —
wie kann man ſich neben dieſen Bildern, an die ſich
zahlloſe andere, eben ſo ernſte bei mehrerem Nach-
denken anſchließen, wie kann man da eine andre
Geſtalt denken, als ein Stuͤrmen trotzendes, ſei-
nen Bewohnern nur die erſten Beduͤrfniſſe gewaͤh-
rendes Obdach? — Welche Zierlichkeit, welche
Gemaͤchlichkeit bietet dagegen eine ſolche Jacht
an? von dem glaͤnzenden Verdeck ſteigt man auf
einigen mit Teppichen belegten Stufen in die Ka-
juͤte. Eine Reihe heller Fenſter mit eleganten Vor-
haͤngen verſehen, erleuchten ein kleines Zimmer,
das mit Spiegeln, Sopha, Camin, ſo bequem
und zierlich, wie moͤglich, aufgeputzt iſt. Der
blumige Fußteppich harmonirt mit den Farben der
Vorhaͤnge, mit dem Ueberhang der Sophas. In
der Mitte ſteht ein großer Mahagoni Tiſch, deſ-
ſen Platte eingehangen iſt, nicht feſt ruht auf ih-
ren Fuͤßen, ſo daß ſie bei der Bewegung des
Schiffs ſtets die waagrechte Stellung behaͤlt. Da
hier geſpeiſt wird, iſt dieſer Umſtand fuͤr Sauçen
und Suppen ſehr wichtig. Neben dieſem Sallon,
wenn ihrs ſo nennen wollt, war das Schlafkabi-
net, alles mit feinem Muſſelin und blauen ſeidnem
Zeuge dekorirt. Das Bett iſt in der Wand ange-
bracht; ein kleiner Buͤcherſchrank, einige andere
Bequemlichkeiten fuͤr die Toilette ſind in dem ſehr
kleinen Raum auf eine ſo geſchickte Art angebracht,
daß fuͤr alles Platz iſt. Eine kleine Kuͤche, ein
Zimmer fuͤr die nothwendigſte Bedienung nimmt
den uͤbrigen Raum ein. In dieſem ſind die Bet-
ten wieder in der Wand befindlich, ſo daß ſie
Nachts wie ein Tiſch herab geſchlagen werden, bei
Tage aber nur die Dicke der Matratze innerhalb
der Wand einnehmen. Zu Seereiſen werden ſolche
Fahrzeuge ſehr natuͤrlicherweiſe nicht gebraucht,
nur um auf dem Y, hoͤchſtens den Texel zu be-
fahren. Aus beſonderer Beguͤnſtigung erlaubt der
Koͤnig davon Gebrauch zu machen. So ſegelte
die Familie * * * von Oſtfriesland auf einer ſol-
chen Jacht nach Amſterdam, und der * * Geſandte
beſuchte uns darin in * * *. Dieſes Fruͤhjahr gab
der Koͤnig auf der eben beſchriebenen Jacht ein
Fruͤhſtuͤck, bei dem die von allen umliegenden
Schiffen ſchallende Muſik, der Donner des ſaluti-
renden Geſchuͤtzes, der dumpf uͤber die Waſſer-
flaͤche hinrollt, die flatternden Wimpel von allen
Maſten der zahlreichen Schiffe umher, ein herrli-
ches Schauſpiel gewaͤhrt haben ſoll.
Einen andern Tag beſtiegen wir eine Schalup-
pe und ſegelten hinaus in das Y. Amſterdam
dehnt ſich in einem vollkommnen halben Mond
um den Hafen her. Schoͤne Haͤuſer, ſchoͤne Baͤu-
me, ſchoͤne Thuͤrme, doch keiner, der ſich durch
ſeine Hoͤhe auszeichnete, umgaben den ungeheuern
Halbkreis, weiter hin liegen ſchoͤne Doͤrfer und
Staͤdtchen, deren rothe Daͤcher uͤber den Waſſer-
ſpiegel hervorſahn — denn eine Ausſicht auf das
Land hat man nirgends, das niedrige, der Waſſer-
flaͤche gleiche Ufer, zeigt nirgends eine Perſpektive,
nirgends Fernen. So iſt auch die Ausſicht auf
das Meer gar keine ausgedehnte Ausſicht — ach
ſie iſt wie die Ausſicht ins Leben, wenn nichts Ir-
diſches es begrenzt — der Himmel vermaͤhlt ſich
ſogleich mit der Erde! Man fuͤhrte mich in Am-
ſterdam auf einen hohen Punkt, wo ich gegen den
Pampus hin die Zuiderſee ſich oͤffnen ſah. Dort
war nun keine Grenze, aber auch keine Ferne. Der
blaue ſtrahlende Himmel ſenkte ſich herab, und
wo er den grauen, ſchimmernden Waſſerſpiegel
beruͤhrte, lag ein leichter Nebel. Ob es auf dem
Ocean anders iſt? Vielleicht iſts anders von einem
hohen Felſenufer herab, vielleicht von dem Gipfel
des Veſuvs. Aber je niederer du ſtehſt, je be-
ſchraͤnkter iſt dieſe Unendlichkeit. Auf dem Y rich-
tete ich meine Blicke ſo, daß ich der Waſſerflaͤche
ſo nahe wie moͤglich war, und ſuchte jene Richtung
nach dem Zuiderſee wieder auf. Die rothen Daͤ-
cher der Nordhollaͤndiſchen Doͤrfer blickten wie Jo-
hanneswuͤrmerchen uͤber den gruͤnen Faden des
niedern Ufers her, und jetzt hoͤrte der gruͤne Faden
auf, und der leichte Nebel vereinte Himmel und
Erde. Aber der Anblick des großen ungeheuern
Gewaͤſſers ſo nahe an ſeiner Oberflaͤche, der iſt er-
greifend. Es ſcheint ſich zu heben, zu woͤlben,
zu ſteigen, du ſiehſt nichts wie das furchtbare, luͤ-
gende, formloſe, lebendige Element, es ’ſcheint
dich zu locken, zu rufen, der leichte Wellenwech-
ſel wird eine Geiſterſprache, und ich glaube, die
Einbildungskraft koͤnnte die Sinne verwirren daß
man ſich hinabſtuͤrzte in den lockenden Schlund.
Das Wetter war herrlich an dem Tage da ich
auf dem Y fuhr. Die Stadt lag im hellen Son-
nenglanze, und wie die Sonne ſank, ſchimmerten
die Thurmknoͤpfe und Fenſter, und Wimpel der
zahlloſen Schiffe, die Maſten ſtanden ſo ſtolz und
feſt, verſchlungen mit dem ſymetriſchen Tauwerk.
Laͤngs dem Hafen waren viele Kanonier-Scha-
luppen poſtirt, jede mit zwei Kanonen bewaffnet,
und dem feindlichen Angriff abzuwehren bereit.
Hiuter ihnen lagen Kriegsſchiffe mit hochaufge-
rafften Segeln, und ſchienen durch ihren ſchlan-
ken maͤchtigen Bau, wie die Wettrenner auf dem
Iſthmus von Korinth, nur das Zeichen zu erwar-
ten, um dahin zu gleiten auf der unermeßlichen
Bahn. Das Herz hebt ſich bei dem Anblick! die
Bruſt wird erweitert und das Leben draͤngt ſich
Muthathmend in den Kampf mit Schickſal und
Wellen. Mehrere amerikaniſche Schiffe hatten
ſo eben geloͤſcht und lagen vor Anker. Ihre blau
und rothen Fahnen mit weißen Streifen verbun-
den floſſen in der Luft, die Maͤnner der andern
Halbkugel ſaßen gemuͤthlich ihre Pfeife rauchend
auf den Verdecken, und fuͤhlten ſich fern von der
Heimat auf dieſen ſchwimmenden Brettern zu
Hauſe. Mehrere große Fahrzeuge mit drei Se-
geln, ein großes in langem Viereck, ein dreiecki-
ges, und eines in Wuͤrfelform (daraus moͤchte
wohl ein Seemann nicht klug werden?) durch-
kreuzten, nur um die Kunſt des Steuerns zu uͤben,
die weiten Gewaͤſſer. Muthwillig zwangen ſie den
Luftſtrom ihrer Geſchicklichkeit zu dienen, fuhren
mit demſelben Winde herauf und herab, ſpielten
auf der falſchen Flaͤche wie muntre Knaben auf
dem gruͤnen Raſen. Mehrere Fahrzeuge ſegelten
mit guͤnſtigem Winde nach Nordholland, ſie wer-
den nur zu den Fahrten im Y und im Harlemmer
Meer gebraucht, ihr großes Segel iſt oben ſchma-
ler wie unten, und ihr Lauf ſchnell und luſtig. An-
dre Schiffe ſegelten gegen den Pampus zu — je
weiter ſie ſich entfernten, je weißer ſchimmerten
ihre Segel, bis ſie dem Auge wie Schwaͤne erſchie-
nen, die mit der Fluth buhlend, ihr Gefieder auf-
blaͤhten. Hier und da erhuben ſich, bei der An-
naͤherung unſers Fahrzeugs, kleine Haufen von
Voͤgeln, die man mir Meerſchwalben nennte, der
Bauch und die innern Fluͤgel waren weiß, an Groͤße
glichen ſie den Tauben, oder waren noch groͤßer,
ſie plaͤtſcherten auf dem Waſſer, ließen ſich vom
Winde treiben, oder ruderten ihm entgegen, leicht
und kraͤftig, als ſolltens von ihnen die großen Men-
ſchengebaͤude lernen, die ihr angeerbtes naſſes
Reich durchziehen. Mit unglaublicher Leichtigkeit
hoben ſie ſich dann aus der Fluth, wiegten ſich
uͤber der Waſſerflaͤche, ſchwangen ſich empor, die
weißen Federn ihrer Bruſt blendeten von der Son-
ne beſtrahlt das Auge, und der Vogel ſchwamm
dahin in dem reinen Elemente, ward zum Punkte
im Aether, und verſchwand. O wie das Anſchauen
der Welt von der Welt erhebt! ſo wie der hoͤchſte
Moment des Gluͤckes von dem Leben ablaͤßt. Nur
im ſchweren Nebel der Alltaͤglichkeit, nur im gro-
ben Beduͤrfniß der Sinnen kann das Leben uns
feſſeln. — Wie leicht vergeſſen wir uns ſelbſt, wenn
alles um uns groͤßer iſt, wie wir. — Das iſt auch
der Grund, warum wir ſo vieles uͤberleben; nur
der erliegt dem Schickſal, der nicht den Muth hat,
ſelbſt zu verſchwinden vor ſeiner Macht. — —
Ich dachte, ich haͤtte viel geſehen — habe
aber nur viel empfunden und alſo wenig zu erzaͤh-
len. Wenn aber das Schickſal Eure Freunde,
Eure Soͤhne auf das Meer fuͤhrt, ſo glaubt mir,
waren ſie faͤhig zu empfinden, ſo erhebt ſie das
Auffaſſen dieſes Anblicks uͤber ſich ſelbſt. — Und
das thut der Anblick der Welt immer, wenn un-
ſers Geiſtes Auge zu ſehen geſchickt iſt, und hat
es dann die Welt erblickt, und kehrt dann zuruͤck
in ſein Inneres, ſo findet es auch da wieder Wun-
der und Groͤße, und die Seele wird frei, welche
Feſſel auch dem Buſen druͤckt, den ſie belebt.
Einige ſchoͤne Stunden brachte ich im koͤnigli-
chen Muſeum zu, ſo nennt man etwas, das noch
nicht iſt; eine ſehr unvollſtaͤndige Sammlung von
Gemaͤlden, der einige Antiken ohne allen Zuſam-
menhang beigefuͤgt ſind. Sie befindet ſich im koͤ-
niglichen Palais, dem ehemaligen Rathhauſe. Die-
ſes ſehr ſchoͤne Gebaͤude ſteht auf einem freien
Platze, wo es ſehr gut in die Augen faͤllt. Ob
es den Forderungen der Kunſt entſpricht, weiß ich
und verſtehe es nicht, denen meines Gefuͤhls ge-
nuͤgt es nicht. Es hat etwas Iſolirtes, ohne die
Gedanken an Groͤße zu erregen, weil ſo viele Fen-
ſter und Fenſterchen drinnen ſind; es ſteht ſo vier-
eckigt, und iſt durch nichts mit der aͤußern Welt
verbunden. — Bald denke ich, es ſey noch nicht
fertig, bald ſcheint es mir ſchon ſeiner Vollendung
L
wieder beraubt; doch uͤber Architektur muͤſſen Layen
gewiß am wenigſten urtheilen. Auf mich haben
die Truͤmmern Griechenlands und Roms, und alle
große Truͤmmern immer mehr gewirkt, wie das
ſchoͤnſte Vorhandne — welches beweiſt, daß ich
keinen kuͤnſtleriſchen Sinn fuͤr Baukunſt habe, denn
bei den Truͤmmern wirkte die Weltgeſchichte auf
mich durch den Anblick, alſo nicht die Kunſt. Sey
nun das erwaͤhnte Palais ſchoͤn oder tadelnswuͤr-
dig, ſo glaube ich gern, daß die Zimmer des Koͤ-
nigs ſehr ſchoͤn verziert ſeyn moͤgen. Dem Haupt
und Fuͤhrer einer Nation, die den Reichthum ſo
zu ſchaͤtzen weiß, wie dieſe, gebuͤhrt eine gewiſſe
Pracht. — Da man mir keine Kunſtwerke daſelbſt
verſprach, ſondern nur ſchoͤnes Geraͤth, Tapeten
und Spiegel, ſo lehnte ich es ab, ſie zu ſehen,
wozu die Erlaubniß wohl erhalten wird. Den
ſchoͤnen großen Platz vor dem Palais ſah ich im-
mer mit gaffenden Menſchen bedeckt, die nach den
Fenſtern ſchauten, und oft erſcheint der Koͤnig an
den Fenſtern oder auf dem Balkon. Wenn man
ſein edles, ſanftes Geſicht ſieht, wenn man die
vielen Zuͤge hoͤrt, die es bewieſen, wie von gan-
zem Herzen er Hollaͤnder iſt, erfreut die badaude-
rie, mit der die Leute da gaffen, denn ſie kann
der oͤffentlichen Meinung nur zutraͤglich ſeyn. Der
junge Monarch ſtrebt nach einem hohen Ziele —
er will die Liebe ſeines Volks gewinnen, und dar-
um liebt er es zuerſt. Man ſagt, Liebe muͤßte
Liebe gewinnen, moͤge es auch hier eintreffen!
Schoͤn iſt das Unternehmen! und wehe den Ver-
blendeten, die mit dem erſtarrenden Reif des
Mißtrauens jeden Keim von Anhaͤnglichkeit wie-
der zu zerſtoͤren ſuchen, weil ſie Zeiten kannten,
die ihnen lieber waren, als die das furchtbare Schick-
ſal herbeifuͤhrte. Ich glaube es faͤllt uns ſehr ſel-
ten ein, zu bedenken, wie oft ſich Fuͤrſten mit
Undankbarkeit belohnt finden. Uebrigens glaube
ich, wir Weiber haben eine gewiſſe guͤnſtige Dis-
poſition die Koͤnige zu lieben, welche die Staats-
kuͤnſtler beſſer benutzen ſollten. Beſonders recht
junge, oder recht alte Koͤnige, unſre Weiblich-
keit, und unſre Kindlichkeit, zwei herrliche
Triebe, die kein andrer als ein Deutſcher zu ſchaͤz-
zen weiß, weil kein Auslaͤnder einen Ausdrnck fuͤr
ſie hat, finden dabei einer um den andern ſeine
Rolle zu ſpielen. —
Aber wie weit ſchweife ich vom Muſeum ab!
eine Reihe Portraits von Maͤnnern aus der Ge-
ſchichte dieſes Landes, beſchaͤftigte mich zuerſt mit
L 2
ſehr lebendigen Gedanken. Egmont, Wilhelm
von Oranien, de Witt, Oulden Barneweld, Mo-
ritz, Alba, Erasmus, Grotius — wer nennt ſie
alle die ehrwuͤrdigen oder furchtbaren Namen? —
Der Geſchichtsgeiſt jener Tage ging vor meiner
Seele voruͤber, und ich verlor mich im Nachden-
ken uͤber die Wirkung, die es auf ein Volk haben
muß, wenn es eine Geſchichte hat, wenn die
Maͤnner der vergangenen Jahrhunderte ihm ange-
hoͤren, ſeine Ahnen ſind, ihre Namen in den le-
benden Geſchlechtern fortdauern. Giebt es kein
Mittel, dieſes Andenken fruchtbringend zu ma-
chen? muß denn endlich jeder Ton, auch der be-
lebendſte verhallen? ja, endigt das Nationalda-
ſeyn eines Volkes das eine Geſchichte hatte nicht
endlich am widrigſten? Das Andenken vergange-
nen Werthes trotzt wie eine Mumie der Verwuͤ-
ſtung der Zeit, aber die Nachwelt, das Verdienſt
ihrer Voreltern ſich zurechnend, iſt fuͤhllos gegen
ihr thatenloſes Daſeyn, und die Groͤße der Vaͤter
wirkt wie die Vorbitte der Heiligen, die Froͤm-
migkeit artet in Gepraͤnge aus, und die Liebe er-
kaltet in der Bruſt. Das Andenken der Voͤlkerge-
ſchichten wirkt auf uns wie der Erbadel; weil der
Anherr ſein Wappen vor vielen Jahrhunderten mit
den ſchoͤnſten Thaten zierte, geſtehen wir dem
Enkel unbegreifliche Vorrechte zu, er gebraucht
ſie, glaubt ſie mit Recht zu beſitzen; entbloͤßten
wir ihn in unſrer Vorſtellung von dem Andenken
ſeiner Vorfahren, ſo erſtaunten wir vor unſrer
Nachſicht; entbloͤßte er ſich in der ſeinen von ihm,
ſo erroͤthetete er vor ſeiner Armſeligkeit. O
wie ſollte, wie koͤnnte der Anblick dieſer Maͤnner
ihr Verdienſt ewig fortwirkend erhalten, unter
dem Volke, dem ſie gehoͤrten. Koͤnnte ich meinen
Sohn vor ſo eine Reihe deutſcher Maͤnner hinfuͤh-
ren, wie ſollte in ihm die Sehnſucht entgluͤhen —
nicht ihnen nachzuahmen, das ſuche keiner, dazu
ruft allein das Schickſal auf — aber heilig zu be-
wahren, uneigennuͤtzig zu verwalten, muthig zu
vertheidigen, was ihr Verdienſt erwarb; und um
das zu vermoͤgen, muß er alle die Eigenſchaften
erwerben, die ihn zum MannneManne machen, mit
dem Schwerd, der Feder oder dem Pflugſchaar
in der Hand.
Es iſt ein ganz eigner Schlag Geſichter dieſe
Menſchen bis zum weſtphaͤliſchen Frieden. Ich
kann mir nicht helfen, ich muß dieſen Zeitpunkt
zum Abſchnitt machen, es iſt mir immer, als
wenn ſeitdem, nicht ſowohl das ehrne, als das
papierne Zeitalter eingetreten waͤre. Die kraͤfti-
gen einfachen Zuͤge ſind ſeltner geworden, und
haben dem, was man Phiſiognomie nennt, Platz
gemacht. An den Geſichtern jener Zeit muß ich
ſo vieles veraͤndern, bis ich ſie mir bei einer tri-
vialen Beſchaͤftigung denke. So ein Moritz von
Oranien, ein de Witt — geht auch zu andern
Voͤlkern uͤber — Algernon, von der Fluͤhe, de
Thou nehmt irgend eine Schilderei aus alten Ge-
ſchichtsbuͤchern, und denkt euch die klaren, großen,
offnen Zuͤge mit einem Muſenalmanach in der
Hand, oder das Seidekaͤſtchen an dem Stickrah-
men einer ſchoͤnen Dame durchſtoͤbernd — es geht
nicht! der Menſch guckt euch mit feſtem Blick an
und ruͤhrt ſich nicht vom Fleck. Nehmt dagegen
unſre Maͤnner ſeit jener Zeit, und es wird euch
keiner wunderlich vorkommen, wenn er ein Riech-
flaͤſchchen haͤlt, oder einer Donna den Ridikuͤl
nachtraͤgt. So recht links, recht toͤlpiſch, recht
plump kann ich mir jene vorſtellen, laͤcherlich und
puppiſch nie.
Keines dieſer Geſichter uͤberraſchte mich mehr,
wie Egmonts. — Ach das iſt nicht der gluͤhend-
muthige, leichtherzig genießende, Kummer ab-
ſchuͤttelnde Mann, der in der Bluͤthe der Kraft
den Tod wie den Sieg an die Bruſt druͤckt, wie
Goͤthe ihn uns ſchildert. Das iſt der Vater vieler
Kinder, in dem haͤusliche Ruͤckſicht, Weisheit
und Edelmuth ſtreitet. Dieſe Stirn furchte die
Sorge, dieſe Lippen zitterten vor Schmerz, und
der ſchlichte lange Bart deutet auf ein Alter, das
ſchon jenſeits leichtſinniger Hoffnungen ſteht. Da
waren einige andre Geſichter, in denen ich viel
mehr von Goͤthes Egmont fand, Geſichter, von
denen ich noch jetzt unter den Hollaͤndern viel
Aehnlichkeit erblickte, denn ich ſah in der Kirche,
in dem Theater viele ſchoͤngebildete Maͤnner.
Schoͤne offne Stirnen, die Augen à fleur de tite,
edle Naſen, nur der Mund droht dem ganzen Ge-
ſicht grobſinnlich auszuſehen. O der Mund iſt,
welche Gewalt ein Menſch uͤber ſeine Zuͤge hat,
immer der Verraͤther ſeiner Seele. Alba ſieht ſich
uͤberall aͤhnlich, wo ich ihn ſah, und nach ſeinem
Geſichte zu urtheilen, beruhte die Abſcheulichkeit,
die Unmenſchlichkeit ſeines Karakters auf einem
Mißverſtand zwiſchen der Natur und dem Schick-
ſal. Die ſo wohl geordneten Zuͤge hatten menſch-
liche Tugenden ausdruͤcken ſollen; es giebt ſolche
Geſichter, in denen die Anlage ſchon einen Man-
gel an Gleichgewicht der Seelenkraͤfte andeutet,
dazu gehoͤrt Albas Geſicht nicht, ſo lebhaft der
Schauder iſt den, es erregt. Und wer ſah ihm denn
ins Herz und erforſchte ob ſein furchtbarer Gang Ziel
oder Mittel war? Wenn er nun ſeine groͤßte
Kraft angewendet haͤtte, um ſeiner Menſchlichkeit
zum Trotze durch Blut und Thraͤnen einen Weg
zu gehen, der ſeiner Anſicht der rechte ſchien?
wer entſcheidet uͤber den Irrthum der Menſchen?
Aus den ſchoͤnen Zuͤgen von Neros Buͤſte blickt
eine Verſchobenheit hervor, in der ich thieriſche
Ausgeartetheit errathen koͤnnte. Albas ſtarre,
kalte, feſte Zuͤge koͤnnten mich uͤberreden, die-
ſer ſchreckliche Menſch hielt ſich fuͤr ein Werkzeug
der Gottheit.
Ein großes Gemaͤhlde von Rembrand, ein
Geſchenk, das die Stadt Amſterdam dem Koͤnig
gemacht hat, wuͤrde ich gern zehnmal beſehen,
und mit meinem Strickzeug beſchaͤftigt, ihm ge-
genuͤber ſitzend, bald glauben, ich ſaͤh aus dem
Fenſter in einen wandelnden Volkshaufen. Hier
geht ein Mann voruͤber einen Staab und eine La-
terne in der Hand — es mag vielleicht eine Art
Waͤchter ſeyn? Dort blickt ein Maͤdchen hell er-
leuchtet zwiſchen den vor ihm Wandelnden heraus
— du ſiehſt ſie ſprechen, und lehnſt dich weiter
aus dem Fenſter, um die niedliche Figur, die
ſchnell voruͤberſtreichen wird, noch laͤnger zu ſehen.
Mit dem wunderbaren Leben, an das doch kein
beſtimmtes Intereſſe, ein dramatiſches Intereſſe
moͤcht ich es nennen, wenn ich nicht fuͤrchtete ei-
nen Kunſtausdruck falſch zu gebrauchen, — ge-
kuuͤpft iſt, kann ich die Zeit, welche ein ſolches
Kunſtwerk dem Kuͤnſtler koſtet, gar nicht verbin-
den; ich faſſe nicht, wie ſein Pinſel dieſe wandeln-
den Scenen ſo allmaͤhlig dahin arbeiten konnte;
ſie ſcheinen nur die Schoͤpfungen eines Augenblicks
ſeyn zu koͤnnen, ſo wie in dieſen Geſtalten allen
nur der Augenblick geſchildert iſt. Der Kenner
muß an dieſem herrlichen Gemaͤhlde einen uner-
ſchoͤpflichen Schatz von Kunſt bewundern koͤnnen,
ich muß wie Padridge erſtaunen, daß die Menſchen
da ſo natuͤrlich wie die wirklichen Menſchen auf
dem Markt herum gehen. Fortan gehe ich gewiß
Abends vor keinem Volkshaufen mehr vorbei, ohne
Figuren aus dieſem unvergleichlichen Rembrand
zu ſuchen, und wenn mir ein blondes Koͤpfchen
mit neugierigen Augen vorkommt, ſo mag ſie ja
ſo huͤbſch ſeyn, wie das Maͤdchen im gelben Leib-
kleide, das aus Rembrands Bilde heraus guckt,
ſonſt zerſtoͤrt ſie meine Taͤuſchung. Dieſem Ge-
maͤhlde gegenuͤber ſteht ein eben ſo großes von van
der Elſt, ein Gaſtmahl, das zur Feier des weſt-
phaͤliſchen Friedens gegeben ward. Die Namen
aller dargeſtellten Maͤnner ſind unter dem Ge-
maͤhlde angezeigt, und der Mahler war ihr Zeit-
genoſſe. So ein Gaſtmahl iſt eben kein ſehr erha-
bener Gegenſtand, und wenn er einem unſrer be-
ruͤhmten Zeichner waͤre aufgegeben worden, ſo
wuͤrde man die hollaͤndiſche Natur wunderbar ka-
rakteriſirt haben. Mein wuͤrdiger Kuͤnſtler faßte
ſie mit Geiſt und Leben auf. Die Figuren ſchie-
nen zu athmen, zu handeln, die Gruppirung der
es an Einheit fehlt, weil keine eigentliche Hand-
lung die einzelnen Figuren verbindet, iſt dennoch
bedeutend, und ohne die ſcharfe Grenzlinie des
Anſtaͤndigen zu verletzen, iſt wirklich die Freude
des Mahlers ein ſchoͤner Kranz, der die derben,
biedern, karaktervollen Geſichter zu einem Ganzen
vereint. Das Herz lacht den Zuſchauer aus dieſen
herrlichen Koͤpfen an. Der reiche, komeliche
Anzug — wenn mancher Deutſche der Englaͤnder
ihr comfortable mit keinem deutſchen Ausdruck zu
erſetzen weiß, ſo erlaubt mir dagegen unſrer Berg-
vettern komelich zu gebrauchen — ſo weit und
vollkommen, und doch nicht haͤngend und einhuͤl-
lend, laͤßt gar gut. Da ſitzen zwei liebe Herrn
die zuſammen ſchwatzen … wollen, denn der
eine ſieht ſo ſeelenvergnuͤgt in ſein Glas und haͤlt
es ein Bischen ſchief, als wenn die Hand mit ſei-
nem Willen nicht mehr im klarſten Einverſtaͤndniß
waͤr, ſo, daß ich ihr Geſpraͤch nicht eben fuͤr aus-
nehmend zuſammenhaͤngend halte. Vorn rechter
Hand ein paar andere Ehrenmaͤnner, die mir faſt
die Hauptperſonen ſchienen; ſie moͤgen eben uͤber
die Grundſaͤtze uͤbereingekommen ſeyn, und geben
ſich den Handſchlag. Ein paar herrliche Geſtal-
ten! ſie ſehen ſo klar aus, der eine ſo wohlge-
muth, der andere ſo uͤberzeugt, daß man hoffen
kann, ſie haben einander verſtanden. Sie ſind
ein Bischen vom Tiſche abgewendet, und der
naͤchſte Nachbar zur Rechten hat gewiß zugehoͤrt,
denn er ſieht mit einer zufriednen Unthaͤtigkeit auf
ſie hin. Eine bayerſche Prinzeſſin, die einen
Herrn von Borſeln geheirathet haben ſoll, oder
wirklich geheirathet hat — denn im Heirathen
liegt ein etwas Unwahrſcheinliches, haͤngt auch
da oben. Ich erfuhr ſeitdem durch die Guͤte eines Freundes mehr
von dieſer Jakoba, oder Jakobine, deren Schickſale ſehr Das Koſtuͤm iſt ſehr alt und die
Manier — Gott verzeih mir das gelehrte Wort!
— deutet ſo recht auf das Zeitalter, wo Novalis
romantiſch ſind. Mich wundert, daß ſie unſre roman-
tiſche Hiſtoriker, oder hiſtoriſche Romantiker noch nicht
benutzten? Jakoba, Tochter Wilhelm II. Herzogs von
Baiern und Grafen von Holland und Hennegau erhielt
1411 vom Papſte Johann XXIII. Dispenſation, um
ſich mit Johann von Frankreich, Herzog von Touraine,
Sohn K. Karl VI. von Frankreich zu verheirathen.
Dieſer ſtarb in dem erſten Jahre ihrer Ehe, und noch in
demſelben Jahre, ertheilte ihr Martin V. Dispenſation,
um ſich mit Herzog Johann von Brabant zu verehligen,
widerruft ſie aber im April des naͤchſten Jahres, weil
ihm der Kaiſer Sigismund und die Kirchenverſammlung
zu Koſtanz geſagt habe, daß die Ehe mit Johann, der
ihr Vetter war, Skandal und Blutvergießen erregen
werde. Im Mai widerruft er aber den Widerruf, weil
ſich das liebe Paar ſchon verehligt hatte, und er nun
hoͤre, daß dieſe Heirath kein Skandal erregt, und kein
Blutvergießen verurſacht habe, vielmehr ihre Unter-
thanen aus dieſer Verbindung Hoffnung fuͤr die Ruhe
und das Gluͤck ihres Landes ſchoͤpften. Der Erfolg
lehrte aber, daß Kaiſer Siegismunds Misbilligung die-
ſer Ehe ſehr gegruͤndet war. Johann von Baiern, der
Jakoba Oheim, der mit einer Nichte des Kaiſers ver-
maͤhlt war, gerieth mit ihr um die Erbſchaft ihres ver-
ſtorbenen Vaters in Streit. Das Land gerieth in Un-
ruhe, es entſtand zwiſchen den beiden Johanns Krieg,
um das Erbe von Jakobinens Vater. Dieſer wurde in-
deß uͤber ihre Heirath, als ſei ſie eine Blutſchande, ſo
bange gemacht, ſo, daß ſie heimlich nach England ent-
ſeine Helden nach Nuͤrnberg reiſen ließ. Ich ſag-
te euch von der braven Dame nichts, wenn ich
floh. Man ſagte ihr, der Papſt habe dispenſirt, aber
nicht Gott. In England heurathete ſie Humfried,
Bruder Koͤnig Heinrich des VI. von England, kehrt
mit ihm zuruͤck, und laͤßt die Hennegauer ihrem neuen
Gatten ſchwoͤren; den Herrſchaftsnebenbuhler Johann
von Baiern laͤßt ſie im Jahr 1424 vergiften, Humfried
aber, von Johann von Brabant und Philipp von Bur-
gund vertrieben, geht nach England zuruͤck. Johann
von Brabant erhaͤlt den Beſitz von Hennegau, worauf
Jakoba wieder Anſpruͤche macht ſeine Gattin zu wer-
den, er verweigert dieſe Ehre aber mit vieler Beharr-
lichkeit, und die beleidigte Dame entflieht in Manns-
kleider verhuͤllt nach Holland. Die Hollaͤnder, ihres
Vaters und Großvaters Guͤte eingedenk, nehmen ſie
freudig auf und ſchwoͤren ihr Treue. Nun ruft ſie ih-
ren Gemahl Humfried aus England zuruͤck, ſtatt aber
ſelbſt zu kommen, ſchickt er ihr Truppen; Philipp von
Burgund greift ſie an, wird aber wiederholt geſchla-
gen, jedoch macht ſie Friede mit ihm, da der eine ihrer
Maͤnner Johann von Brabant ſtarb, und der andere,
Humfried, indeß eine andre Frau genommen hatte.
Sie erhielt nun ihres Vaters ganze Erblaͤnder wieder,
und regierte ſie ſechs Jahre lang ruhig und friedlich,
nur brach ſie die Zuſage, nicht ohne Philipps Einwilli-
gung zu heirathen, welche ſie bei dem Friedensſchluſſe
mit ihm gegeben hatte, und vermaͤhlte ſich unter ihrem
Stande, mit Franz von Burſele. Philipp fuͤhrt dieſen
liſtig gefangen weg, und Jakoba, um ihn wieder zu er-
halten, tritt alle ihre vaͤterliche Guͤter an Philipp ab,
nicht eine andere Spur ihres Daſeyns gefunden
haͤtte, naͤhmlich eine Art drolliger koniſcher Kruͤ-
ge, beinahe wie die Bierkruͤge in Schwaben, die
ſie ſelbſt zu ihrem Zeitvertreib gemacht haben ſoll.
Man findet dieſe Toͤpfe in dem Schloſſe von Hems-
kerker, wo ſie gelebt hat, und nennt ſie Jakobas-
kruͤge. Die Maſſe aͤhnelt den Steinkruͤgen und
Toͤpfen, die wir alle aus den Niederlanden er-
halten. Die Sache iſt ein langweiliger Spaß,
wenn ſie erfunden, und hoͤchſt gleichguͤltig wenn
ſie wahr iſt; aber angenommen, ſtellte ich mir
das Geſicht mit ſeiner ſteifen Beguine, und unbe-
weglichen Zuͤgen, das heißt von keiner Abwechſe-
worauf dieſer Franz freilaͤßt, das Ehepaar ausſtattet,
und ihm einige Guͤter abtritt, auf denen Jakoba im
Jahrc 1456 ſtarb. — Iſt das nicht Stoff zu einem
Roman? Wie unerloͤſchlich war der Durſt nach dem
Beſſern in dieſem wahrhaft deutſchen Weibe, um mit
ſo viel Aufopferung das Gluͤck der Ehe bei vier Maͤn-
nern zu ſuchen? und wie edel iſt die treue Neigung,
mit der ſie endlich Land und Leute fuͤr den ſpaͤt gefund-
nen eigentlichen Gatten hingiebt. Welch ein reicher
Gegenſtand! in welcher Epoche mag ſie wohl die Toͤpfe
gemacht haben? Wenn wir ſie ſymboliſch betrachten, ſo
paßte ſich im Grunde jeder Zeitpunkt ihres Lebens zu
dieſer zerbrechlichen Schoͤpfung. — — —
lung der Gefuͤhle beweglich gemacht, noch an kei-
ner Leidenſchaft kenntlich, ſtellte ſie mir im ge-
woͤlbten Schloßzimmer vor, auf ihrem hohen hoͤl-
zernen Stuhle ſitzend, — denn der iſt auch hier
aufbewahrt, viel ungezierter und eben ſo hoch und
hart, und mit einer hohen vorn uͤbergebogenen
Lehne verſehen, wie ſeine Zeitgenoſſen in Conſtanz,
auf denen Johann XXIII. und der Kaiſer Sigis-
mund ſaßen, die ich in meiner Jugend ſahe, wo
man mir den Platz zeigte wo Huß verurtheilt,
und den andern wo er verbrannt ward — nun
denkt ſie euch bei einer roth ſchimmernden Ampel,
die von der dunkeln Decke herab haͤngt, den Thon
kneten, unbewußt des Nachruhms, der ihr und ihren
Toͤpfen einige Jahrhunderte von Unſterblichkeit
verlieh. Mancher Menſchen Leben erweckt die
Empfindung in mir, mit der ich immer Raupen
ſich einſpinnen ſahe, Wehmuth, Demuth und
Freude; denn das ephemeriſche Daſeyn wird Sym-
bol der ewigen Dauer, ſobald ich es mit dem All
zu verbinden weiß. Ich koͤnnte euch nun noch eine
Reihe beruͤhmter Namen nennen, Wouvermann,
und van der Werft, und Hondhorſt, die ich hier
wieder fand, aber dann wagte ichs darauf, wie
der Blinde von der Farbe zu ſprechen. Ein ſehr
lebhaftes Gefuͤhl verbindet die Eindruͤcke zu ſchnell,
um ihre Zuſammenſetzung genau zu unterſcheiden,
und darum koͤnnte ich Euch immer nur ſagen, was
ich empfand, wenig beſchreiben, was ich ſah. Tritt
guͤtig ein Wiſſender zu mir, um mich uͤber den
Werth des Einzelnen zu belehren, ſo vervielfaͤltigt
ſich mein Genuß, ja, wenn ich Zeit habe, entdecke
ich ſelbſt die einzelnen Theile, aber mir ſelbſt uͤber-
laſſen, weiß ich nicht, ob dieſer Farbenton dieſem
oder jenem Maler, dieſes Fleiſch dieſem oder jenem
Kuͤnſtler gehoͤrt. Wir Art Leute muͤſſen nicht ur-
theilen, wir muͤſſen uns begnuͤgen wahrzunehmen,
aufzufaſſen — freilich macht uns das Geſehene
dann nicht anſehnlicher und bedeutender fuͤr die
aͤußre Welt, aber unſre innre Welt wird reicher
und groͤßer. Wenn du die Blumen der Flur
fraͤgſt: welcher Sonnenſtrahl gab euch euern Duft,
welcher Thautropfen eure freundlichen Farben?
wiſſen ſie es ja auch nicht, aber ihre bluͤhenden
Koͤpfchen richten ſich gen Himmel und deuten:
dorther, dorther! Es iſt ja recht laͤcherlich, aber
es iſt doch ſo, daß das lebendigſte Gefuͤhl, wenn
ich eine Zeitlang mit Kunſt oder Wiſſenſchaft lebte,
immer das iſt, beſſer geworden zu ſeyn. — —
Ein kleines Gemaͤlde von Hackert haͤtte ich euch
gern mitgebracht, als Typus von hieſiger Land-
fchaftLand-
ſchaft oder Ausſicht. Es ſtellt einen Kanal mit
ſchoͤnen, hohen, lichten Baͤumen vor, und ein
Landhaus daneben, gerade als ſaͤhet ihr in einem
Spiegel ſich die Landſchaft vor der Amſtel abzeich-
nen, ſo natuͤrlich! ob denn Hackert in Holland
war? denn ſeinen Namen nannte mir der Aufſe-
her der Sammlung. Zwei alte Gemaͤlde, bibli-
ſche Gegenſtaͤnde darſtellend, von van der Eyck,
einem Vorgaͤnger Duͤrers, ſah ich mit viel Theil-
nahme; da kommt mir die Kunſt vor, wie der
eben ausgekrochne Schmetterling, ſie hebt die Fluͤ-
gel, ſie ahndet das Reich der Farben, des Lichts,
der Geiſter erhabenſte Gedanken; aber noch haͤlt
ſie Ungewohnheit zuruͤck, noch getraut ſie ſich
nicht der Schoͤpfung ins Auge zu ſehen, die ſich
vor ihr oͤffnet. Mir iſts wie vor der Wiege eines
Kindes in Windeln und Banden ſo weich und ſo
betend uͤber die Kraft, die ſich ſoll in ihm zum
Menſchen bilden. — Von den viereckten Schleiern
und flachen Geſichtern, und behangnen Schulter-
knochen zu Raphaels Himmelskoͤnigin! — —
Die Idealiſirung abgerechnet, iſt der Mangel an
Perſpektive in dieſen alten Gemaͤlden neben Rem-
M
brands Erleuchtung ſehr merkwuͤrdig zu beobach-
ten; die beiden Maͤnner wollten ihr Beſtes thun.
Das iſt wie ein frommer Stoßſeufzer gegen eine
Opferhymne — beide loben Gott.
Allerlei Kirchen habe ich auch beſucht; die huͤb-
ſcheſte war die neue Kirche nahe am Palais, ein
ſchoͤnes helles Gotteshaus, leer und oͤde, wie alle
proteſtantiſche Kirchen. Daß hier vielmehr Stuͤhle
als Baͤnke ſtehen, in allen Kirchen, giebt ihnen noch
mehr Alltaͤgliches; hier fand ich an der Kanzel
hinauf, und in einigen andern Kirchen an den
Waͤnden ganze Heere von Stovchen aufgeſchichtet,
die nebſt dem Stuhle bei jedem Gottesdienſte ge-
miethet werden. Stovchen iſt naͤmlich ein Feuer-
kaͤſtchen, Fußwaͤrmer, ohne den eine Hollaͤnderin
ſich nie niederſetzt. Eigends dazu beſtellte Leute
fuͤllen in den Kirchen die kleinen Feuerbecken an,
welche in ein hoͤlzernes, mit drei Zugloͤchern ver-
ſehenes Kaͤſtchen geſtellt werden; neben den Kirch-
thuͤren ſind in einem Winkel Heerde, um den dazu
noͤthigen Torf abzugluͤhen, und wohl angefuͤllt ge-
ben ſie die Stovchenswaͤchterinnen den frommen
Seelen unter den Fuß. Auch im Zimmer ſiehſt
du vor jedem Anweſenden ein Stovchen hingeſetzt;
ein Stovchen zu bringen iſt die erſte Hoͤflichkeit,
die du einem Gaſte erzeigſt, es iſt das Fußwaſſer
der alten Araber, der Betul der Tuͤrken, der Ca-
lumet der Amerikaner — ich wuͤrde mich gar nicht
wundern, wenn ein hollaͤndiſcher Maler Abraham
darſtellte, wie er ſeinen Hausfreunden, den ihn
beſuchenden Engeln, ein Stovchen zutruͤge. Im
hollaͤndiſchen Schauſpiel hatte ich mich kaum hin-
geſetzt, ſo oͤffnete ſich die Logenthuͤre, und eine
wohlthaͤtige Hand verſorgte mich mit dieſem heil-
loſen Geraͤthe, uͤber das ich jedesmal ſtolpere, wenn
ich es aus Menſchenfurcht annehme, oder es un-
verſehens im Aufſtehen weit vor mir her uͤber den
Teppich fahren mache. Geſchaͤh das im Winter,
ſo gaͤbs Feuersgefahr, jetzt iſt kein Feuer darin.
Außer der Schaͤdlichkeit dieſer Gewohnheit, welche
die Aerzte ſehr klar darthun koͤnnen, giebt ſie den
Weibern eine widrige, aller Grazie entgegen ſtre-
bende Stellung. Die Schenkel machen mit dem
Oberleib, und dann wieder mit den Beinen zwei
rechte Winkel — ſie ſitzen da, wie die alten Iſis-
bilder. Nehmen ſie nun noch eines ihrer vierecki-
gen Naͤhkißchen auf den Schoos, ſo lief ich, waͤr
ich ein Mann, ganz gewiß davon. Auch dieſe
Sitte haben die Schweizerinnen mit den Hollaͤn-
derinnen gemein, die Feuerkaͤſtchen, Naͤhkißchen,
M 2
und regelmaͤßiger Winkel ſind in einigen Theilen
der weſtlichen Schweiz einheimiſch. Wie unaus-
rottbar iſt doch weibliche Grazie, daß an den Al-
pen und an den Duͤnen dieſes Geſchlecht dieſer Ab-
ſcheulichkeit zum Trotz, doch liebenswuͤrdig iſt.
In der Kirche, die Naſe gegen die Kanzel gerich-
tet, der Domine mit der Wollperuͤcke auf die Heer-
de herab ſprechend, iſt die Grazie ohnehin kein ein-
wohnender Theil, und alles was das Erſtarren
abwendet, ſehr wuͤnſchenswerth, dort moͤgen ſie
alſo die Stovchen behalten.
In der neuen Kirche war eine ſchoͤne geſchnitz-
te Kanzel, an der die vier Evangeliſten geziement-
lich mit ihren Thieren prangten. Die Kuͤſters-
frau, welche uns umher fuͤhrte, hielt Matthaͤus
ſein Thier fuͤr einen Eſel, und ſchien die Sache
nie von einer andern Seite angeſehen zu haben.
Wahr iſt es, daß er ſich die Hoͤrner ein bischen
abgelaufen hatte, ſo daß die Verwechſelung ver-
zeihlig war. Ich wunderte mich nur, daß der
Anblick mehr auf ſie gewirkt hatte, wie die Tra-
dition. Der Orgel gegenuͤber, wo bei den Katholi-
ken der Altar ſteht, ſtand in dieſer Kirche auch ein
Altar, der von mancher Seite auch als ein Hei-
ligthum angeſehen werden kann — das Denkmal
eines großen Mannes, des Admiral Ruyters, das
die Stadt ihm ſetzte. Es iſt von der Kirche mit
einem praͤchtigen Gitter abgeſondert, das ganz vou
Meſſing ein ſchoͤnes Kunſtwerk in ſeiner Art iſt.
Innerhalb dieſem iſt der Platz, wo man die Trauun-
gen verrichtet, und im Hintergrunde das Denkmal
von weißem Marmor; die Ausfuͤhrung kann ich
nicht beurtheilen, die Erfindung koſtete kein Kopf-
brechen. Ruyter liegt in voller Ruͤſtung ziemlich
hart auf Trophaͤen gebettet, auf einem Sarkophag;
hinter ihm ſtellt ein Basrelief eine Seeſchlacht vor,
wahrſcheinlich die von Anguſta, wo er blieb, und
zur Seite ſtehen ein Paar allegoriſche Figuren, die
wahrſcheinlich den Muth und die Wachſamkeit vor-
ſtellten. Die Groͤße des Ganzen, die Iſolirung
in dem großen Tempel, machen es zu einem an-
genehmen Anblick, und die Meinung des Denk-
mals macht es mir heilig und lieb. Wohl dem
Volke, das ſolche Denkmale hat! — In eben die-
ſer Kirche iſt das Monument des Admiral Gaal,
der, wenn ich mich nicht irre, Ruyters Zeitge-
noſſe war. Er focht gegen die Englaͤnder, wie er,
und ſeine Landsleute glaubten ihm dafuͤr ein Denk-
mal ſtiften zu muͤſſen, denn damals war der Be-
griff von Nationalehre noch von dem Begriffe
Geldgewinnſt getrennt. Wir wuͤnſchten ſehr
Tromps Grabmal zu ſehen, und fragten einen
Kirchendiener, wo es ſey? er erwiederte uns mit
wegwerfender Gleichguͤltigkeit: es ſtehe in der al-
ten Kirche, waͤre aber gar nicht der Muͤhe werth,
geſehen zu werden, es ging kein Fremder dahin.
Dieſe Verachtung jedes andern Denkmals, und
jedes andern Ruhms, als deſſen ſeines Helden,
beluſtigte mich ſehr. Wir ſuchten nun die alte
Kirche auf, aber es war zu ſpaͤt, ſie war nach
dem Morgengottesdienſt geſchloſſen, und der Abend-
dienſt war noch nicht angegangen. Meine Geſell-
ſchaft ſchien es nicht fuͤr gut zu halten, einen
Kuͤſter oder andere Kirchenaufwaͤrter ſuchen zu laſ-
ſen, und da ich nicht wußte, ob es dieſer frommen
Stadt nicht wie eine Profanatien erſcheinen wuͤr-
de, eine Kirche blos um des Begaffens willen auf-
zuſchließen, verſagte ich mir die Freude, das Denk-
mal von dem Ahnherrn meines Freundes F. zu ſe-
hen. Auch gut! er focht nicht minder gegen Ol-
bemarl, und entzuͤndete nicht minder Muth in
manches Juͤnglings Bruſt, weil der Kuͤſter der
neuen Kirche neidiſch gegen ſeinen Marmor war,
und weil der junge Hollaͤnder, der mich herum-
fuͤhrte, nicht Stolz genug hatte, den Kuͤſter der
alten Kirche zu rufen, damit ich Fremde das
Grabmal ſeines tapfern Landsmanns verehrte.
Seinen Harniſch ſah ich doch — wenigſtens gab
man mir einen, der in einem Durchgang des Mu-
ſeums am Boden lag, dafuͤr aus. Neben ihm
ſtanden ein Paar ungeheure Musketen — ich weiß
nicht, ob dieſe ſechs Fuß langen Feuerroͤhren ehe-
mals nicht einen andern Namen hatten? meine
armſeligen Haͤnde konnten keine aufheben, aber
ich legte ſie an das kalte Eiſen wie Bruder Martin
die ſeinen an Goͤtzens eiſernen Arm. Waͤr ich an
der Amſtel geboren, ſo fuͤhrte ich meinen Knaben
hierher — und an wie viele ſchoͤne Stellen koͤnnte
ich ihn fuͤhren, wo er lernen koͤnnte, was der
Menſch fuͤr das Gemeinweſen vermoͤchte, wenn
er ſich nur als Theil des Ganzen betrachtet.
Da es nun mit Tromps Denkmal nichts war,
gingen wir in eine lutheriſche Kirche. Welch ein
kleinlicher, finſterer, dumpfer Aufenthalt iſt doch
eine ſolche Kirche! die Gallerien verbauten hier die
Fenſter, die Stuͤhle den Boden, und die Stovchen
die Pfeiler. Da der Gottesdienſt noch nicht an-
gefangen und die Kirche ganz leer war, ſetzten wir
uns nieder, um auszuruhen. Bald hoͤrten wir
aus dem andern Ende des finſtern, großen Ge-
baͤudes eine Weiberſtimme deklamiren, und ent-
deckten bei naͤherer Unterſuchung drei alte Frauen,
welche ſich die Predigt des Vormittags wiederhol-
ten. Die Wohlredenheit und das Gedaͤchtniß der
einen war bewundernswuͤrdig! ſie wiederholte lan-
ge Perioden mit einem Feuer und einer Salbung,
die mich in Erſtaunen ſetzte. O das goldne Land
fuͤr Kanzelredner! dennoch klagt man auch hier,
daß die Kirchen nicht mehr ſo haͤufig beſucht wer-
den, wie ehemals. Mir iſts jemehr und mehr,
als ſey der Eifer mit dem die Hollaͤnder die Refor-
mation annahmen, ſehr natuͤrlich auf ihrem Bo-
den, Klima, und alſo auf ihrem Charakter ge-
gruͤndet geweſen. Weder das Myſtiſche, noch das
Phantaſtiſche, noch das Lebensfrohe des Katholi-
cismus konnte fuͤr ſie gemacht ſeyn, und vor allen
nicht das Symboliſirende, welches ſo viel Beweg-
lichkeit des Geiſtes erfordert. Nimmt man dann
noch die Verumſtaͤndungen hinzu, wo der
Handelsgeiſt mit dem Reformationsgeiſt Hand in
Hand ging, da konnte eine ſo ſinnliche, leiden-
ſchaftliche, das Gemuͤth aufreizende Glaubens-
lehre nicht angenehm ſeyn fuͤr das Volk, und nicht
zweckmaͤßig fuͤr die Volksfuͤhrer. Es mußte den
wackern Leuten ordentlich ſeyn, als raͤumten ſie
ihr Haus auf, wie ſie die Heiligen und ihre Sie-
gesfahnen verjagten. Fuͤr das Gepraͤnge, die
Blumenkraͤnze, die Kerzen, gehoͤrt eine Natur,
die der Menſch nicht immer mit eiſernem Zepter
beherrſchen muß, gehoͤrt eine lebhaft genießende
Nation, in deren Leben die Berechnung des mor-
genden Tages nicht durchaus nothwendig iſt. —
Der Katholicismus gehoͤrt unter einen warmen
Himmel, nicht in dieſe feucht kuͤhle Luft. Aber
die Geiſtlichen der andern Confeſſionen — welcher
Segen koͤnnte von ihnen nicht hier ausgehen! denn
ich geſtehe, daß mich die aͤußere Form der hieſi-
gen Froͤmmigkeit durchaus nicht ſo abſchreckt, daß
ich nicht uͤberzeugt waͤre, hier zu Lande ſey wirk-
lich noch mehr Religion, wie an vielen andern
Orten. Ich meine hier unter Religion das Be-
duͤrfniß des Menſchen nach dem Goͤttlichen. Die
Form iſt hier befremdend, ja ich weiß wohl, daß
der Weg, auf dem dieſe Menſchen ſuchen, ein Ab-
weg iſt; aber ich ehre ihr Suchen. Der das thut,
der kann noch finden, der uͤbermuͤthig ſchon gefun-
den zu haben glaubt, oder gar nicht ſpuͤrt, daß
ihm noch fehle — der iſt arm. Allgemein haͤlt
man hier noch die aͤußre Religions-Uebung hei-
lig, und die Geiſtlichen haben viel Einfluß in den
Familien, genießen einer Achtung, die ſie auffor-
dern ſollte, ihren geehrten Beruf in ſeinem gan-
zen Umfang zu erfuͤllen, das heißt, von ſich aus
ein ſchoͤnes mildes Licht uͤber den Glauben, und
das Leben und das Denken ihrer Heerden zu ver-
breiten. Mit wahrer Theilnahme hoͤrte ich, wel-
chen Werth man hier auf eine Predigt legt, wie
viel Einfluß man vom Beſuche des Gottesdienſtes
erwartet. Und nicht der niedere Stand, der beſſere,
der reichere ſchaͤmt ſich der aͤußern Froͤmmigkeit nicht.
Der Hausvater, oder eine aͤltere Perſon der Ge-
ſellſchaft, betete vor der Mahlzeit laut, und ich
hoͤrte zuweilen dieſe Gebete in der braven vertrau-
lichen Sprache mit Ruͤhrung ausſprechen. War-
um nehmen wir, denen doch heilige Gefuͤhle im
Herzen gluͤhen, dieſe Sitte nicht alle wieder an?
Was iſt uns denn die Mahlzeit? iſt ſie ein bloßes
Abfuttern, ein bloßes Stillen des groͤbſten Be-
duͤrfniſſes, ſo krieche ein jeder mit ſeiner Schuͤſſel
in einen Winkel. — Iſt denn nicht die Mahlzeit
fuͤr uns ein Augenblick von Familienverein, ein
Augenblick, wo wir gleichſam von einem kleinen
Huͤgel herab den Tag uͤberſehen, ſchon viel gethan,
ſchon viel getragen haben muͤſſen; wo wir genie-
ßen wollen, wo die Eltern ſich beſinnen, mit ih-
ren Kindern leben wollen, die Kinder vertraulich
mit den Eltern verkehren — iſt es das nicht? und
wenn es das iſt, beten wir dann nicht ſchon? wir
ſprechen alſo dann nur den Eingang ins Gebet
aus, wenn wir vereint in einem Gedanken das
Weſen nennen, durch das dieſer Augenblick uns
geſchenkt ward.
Oft zeigt ſich dieſes religioͤſe Beduͤrfniß in ei-
ner freilich uns ſehr befremdeten Geſtalt, die wir
nur aus den Jahrbuͤchern Ludwigs des Vierzehn-
ten kennen. Frauen, welche bis dahin dem Ton
der Zeit gefolgt waren, ziehen ſich ploͤtzlich aus
der Welt zuruͤck, veraͤndern ihren modernen An-
zug in die einfache Buͤrgertracht, und widmen den
groͤßten Theil ihrer Zeit oͤffentlichen und Privat-
andachten. Dieſe letzten verſammeln Menſchen
aus allen Staͤnden und finden in Buͤrgerhaͤuſern
ſtatt, wo denn die Anzahl der Frommen oft ſo
groß iſt, daß die Treppen, der Vorſaal gedraͤngt
voll iſt, und man zufaͤllige Botſchaften durch die
Fenſter vernimmt, weil die Thuͤren zu ſehr mit
Menſchen umringt ſind. Die Redner in dieſen
Verſammlungen ſind oft Geiſtliche, zuweilen fol-
gen aber auch Laien dem Beduͤrfniß, ihr volles
Herz oder ihre lebhafte Ueberzeugung ihren Bruͤ-
dern mitzutheilen, und Maͤnner von ſehr großen
Familien nehmen an dieſen Uebungen Theil. So
viel ich bemerken konnte, hatte dieſe Theilnahme
auf den buͤrgerlichen Wandel keinen Einfluß; ſie
macht weder nachlaͤſſig in den Pflichten fuͤr den
Staat, noch exaltirt ſie die Begriffe, welche die
oͤffentliche Sache angehen, wenn man dieſe Men-
ſchen, um ihrer Ueberzeugung zu folgen, nicht
im Schauſpiel, nicht an Spieltiſchen ſieht, erfuͤl-
len ſie dagegen die Pflicht des Gutsherrn, Haus-
vaters, Hausherrn — theilen moͤchte ich ihre
Uebungen nicht, aber ich geſtehe, daß ich den
Weg, auf dem dieſe Koͤpfe zu klaren, einfachen
Anſichten kommen koͤnnten, fuͤr viel leichter halte,
als jenen, den zu eben dieſem Ziel die Zuhoͤrer
unſrer beruͤhmteſten Philoſophen zu gehen haben.
Daß ich hier nicht von der gelehrten Welt und
von Syſtemen ſpreche, verſteht ihr von ſelbſt,
von denen iſt zwiſchen euch und mir nie die
Rede.
Da der Tag, an welchem ich alſo in den Kir-
chen umherzog, ein Sonntag war, ſah ich auch
eine große Menge Menſchen im ſonntaͤglichen
Staate umherwandeln. Da wuͤrde manche unſrer
Damen den glaͤnzendſten Putz eines Gallatages
um den Kirchenſchmuck einer Amſterdammerin ge-
ben, die ich, da ſie mir zu Fuß begegneten, nicht
zu der vornehmſten Klaſſe rechnen konnte. Nie
ſah ich ſo ſchoͤne und viele Brillanten um mich
blitzen. Einige Frauen hatten Ohrringe von außer-
ordentlicher Groͤße a jour gefaßt, die mich im
Schein der Sonne entzuͤckten — denn ihr wißt ja
die myſtiſche Freude, die mir der ſiebenfach ge-
brochne Strahl in den erſtarrten Thautropfen
macht. Auf der Bruſt hatten dieſe Frauen große
Schleifen oder Nuſter, wie man in Schwaben
ſagt, die wie Arons Schild blitzten. So ſtanden
ſie auch in ihren Hausthuͤren in Seide von glaͤn-
zenden Farben gekleidet: Gruͤn, Blau, ſchillern-
des Gelb; aber alle tragen bei der Landeskleidung
ein fatales Haͤubchen, das alle Haare verbirgt
und unter dem Kinne gebunden iſt. Dieſe un-
leidliche Sucht die Kinnladen zu umwickeln ſollte
kein junges Weib theilen; heut zu Tage ſcheint
man gar nicht mehr zu wiſſen, welcher Liebreiz in
der Linie vom Ohr bis zum Kinn eines jungen
Weibes liegt. Die Jugend ſpricht ſich dort am
lebendigſten aus, dort und in den Schlaͤfen der
Jungfrau, und aus dieſen Zuͤgen flieht ſie auch
am ſchnellſten. — Das haben die hieſigen Frauen
nie beobachten koͤnnen, ſie umhuͤllen ihr Kinn im
ſechzehnten wie im ſechzigſten Jahre. Die Nord-
hollaͤnderinnen haben dabei noch eine ſaubre Er-
findung gemacht, um auch die Ahndung von ei-
nem ſchoͤnen Nacken zu vernichten. An dem Hin-
tertheil ihrer Hauben iſt ein faltiges Stuͤck Zeug
von der Laͤnge einer halben Elle geſetzt, das uͤber
den Ruͤcken faͤllt und einen artigen kuͤnſtlichen
Buckel macht. Vorn uͤber die Stirn haben ſie ein
Band von Perlen oder Edelſteinen gebunden, uͤber
welchem die Stirn wieder ſichtbar iſt, und oben
endlich mit ſteif geklebten Locken umgeben iſt.
Der Urſprung dieſes Kopfſchmuckes geht gewiß in
das hoͤchſte Alterthum hinauf, die Binde kann
meinetwegen mit dem prieſterlichen Schmuck des
Herthadienſtes zuſammenhaͤngen, und die Hauben-
verlaͤngerung ehemals ein ruͤckwaͤrts wogender
Schleier geweſen ſeyn. — Moͤchte man doch wie-
der einigermaßen zum Alten zuruͤckkehren! die rei-
nen Zuͤge dieſer Nordhollaͤnderinnen, ihre ſchoͤne
Geſichtsfarbe, ihr offnes blaues Auge verdienten
einen weniger entſtellenden Aufputz.
Meiner bekannten Liebhaberei gemaͤß, ſuchte
ich an einem andern Tage die wilden Thiere auf,
welche hier auf koͤnigliche Koſten, jetzt in der Naͤhe
des botaniſchen Gartens, gehalten werden. Trotz
unſerer Einlaßkarte ließ man uns nicht ein, wir
ſahen aber die Beeſter demungeachtet auf die un-
ſchuldigſte Weiſe. Daß man uns aber nicht her-
ein ließ, war auch ſehr unſchuldig, denn der
Waͤlſchmann, der uns den Eingang verſagte, that
es auf die hoͤflichſte Weiſe, indem er erſt eben ein
beſonderes Verbot fuͤr dieſen Tag erhalten hatte.
Da aber die Thuͤre des botaniſchen Gartens neben
der Menagerie iſt, und ihre niedern Fenſter in den
Garten gehen, ſo konnte ich ſie von dieſen Fen-
ſtern aus ſehr bequem beobachten. Da ſie eine
hohe helle Gallerie bewohnten, und aus vielen hohen,
großen ſonnigen Fenſtern die Ausſicht auf den bota-
niſchen Garten hatten, floͤßten ſie mir etwas weni-
ger Wehmuth ein, wie ihre Jammergenoſſen, die
man uns in dunkeln Kaͤfigen vorzeigt. Uebrigens iſt
nicht viel Mannigfaltiges da. Eine ſchoͤne Frau Loͤ-
win, die erſt vor einem Jahre Wittwe ward, und ſehr
friedlich mit einem Hunde mittlerer Groͤße in ei-
nem Bauer lebt — den ruͤhrenden Roman wie das
feindſelige Thier zu dieſem umgaͤnglichen Humor
kam, erfuhr ich nicht. Denkt es euch ſo intereſſant
als ihr koͤnnt. Daß Sklaverei nicht milde macht,
erfuhren wir in unſern Tagen hinlaͤnglich an gan-
zen Nationen, warum dieſe Loͤwennatur eine ſo
auffallende Ausnahme macht, bleibt mir ein Raͤth-
ſel. Vielleicht macht ſich der Uebergang von Frei-
heit in Feſſeln ſo ſanft, wenn nicht Verderbniß
mitten inne ſteht. — Dann war ein ſchoͤner Leo-
parde da — denn ſo heißt doch das grinſende
Thier mit geflecktem Felle? er ließ ſich die Sonne
auf ſeinen ſchoͤnen Pelz ſcheinen, und blinzelte,
und leckte ſeinen Bart, und ſchwenkte ſeinen
Schweif, und ſah ſo avantageus aus, daß man
wohl merkte, er habe ſich eigne Grundſaͤtze uͤber
das Morden gemacht, ſo, daß es ſeine Behag-
lichkeit gar nicht mehr ſtoͤrte. Das Tiegergeſchlecht
kommt mir vor wie die Menſchen, die ohne hefti-
ge Leidenſchaft ſchlecht ſind. Da lob ich mir ſo
einen redlichen Loͤwen, der in den Wald hinein
bruͤllt, daß die Echo zittert, wenn er Blut zu ver-
gießen umher irrt. — Ich glaube das fatale grin-
ſende Tiegergeſicht hat gar keinen Ton in ſeiner
dicken Kehle. Ich war mit meinen Gedanken bald
weit in Afrika, wozu der Anblick der auslaͤndi-
ſchen Pflanzen im botaniſchen Garten hinter mei-
nem Ruͤcken noch viel beitrug. Eine Geſellſchaft
Affen machte mich verdrießlich, weil ſie ſchlaͤfriger
und traͤumiger daſaß, wie ich je Affen geſehen
habe. Haben die Thiere etwa einen groͤßern Raum
noͤthig, um luſtig zu ſeyn? denn ſonſt geht es ih-
nen hier doch gewiß gut. Mir daͤucht das widrige
nachahmende Geſchlecht beduͤrfe der Freiheit am
wenigſten. Je mehr Kraft ein Thier hat, je we-
her thut mir ſeine Sklaverei. — Endlich erblickte
ich zwei Zebras — die machten mich luſtig! ſo
ein Zebra ſieht immer aus, als waͤrs ihm kein Ernſt
mit ſeinem bunten Fell. Aber hier in Holland
ſollten ſie recht haͤufig ſeyn; in einem ſolchen nord-
hollaͤndiſchen Dorfe, wo das Pflaſter gemahlt und
die Baumſtaͤmme angeſtrichen ſind, da ſollte man
mit lautet Zebras fahren. So ein Zebra ſieht doch
nur wie ein geputzter Eſel aus und hat nicht ſeiner
guten Vettern vernuͤnftiges Weſen. Dieſe koͤnig-
lichen Zebras waren ganz rund von Wohlleben,
und ſchienen zu der Unbaͤndigkeit, die man ih-
rem Geſchlechte ſonſt Schuld giebt, viel
zu fett.
Nun ging ich die Pflanzen aufzuſuchen, die
ihren Hunger in ihrem Vaterlande ſtillen, die
Baͤume, die ſie in Afrikas Einoͤden beſchatten.
Groß iſt der botaniſche Garten nicht, aber mit ei-
ner herrlichen Sauberkeit unterhalten, und an
Mannigfaltigkeit und Zahl der fremden Pflanzen
N
ſehr reich. Waͤrmehaͤuſer jeder Art ſind da, zahl-
reich und in dem beſten Zuſtande. Einen Theil
der ſuͤdlichen Pflanzen, Piſang, Kaffeebaum,
Theeſtaude, Zuckerrohr u. dgl., ſah ich an andern
Orten viel groͤßer, das iſt aber wohl ſehr gleich-
guͤltig, wenn ſie nur in geſunden Individuen da
ſind, und dieſe hier gruͤnten auf das Reichſte und
Schoͤnſte. Die Waͤrmebeeter ſind hier alle viel
hoͤher, das heißt, das Glas hoͤher vom Boden
entfernt wie ich es ſonſt ſah; daſſelbe bemerkte ich
auch in allen Gaͤrten bei den Fruͤhbeeten. Die
Vollendung, die Ganzheit, welche auch hier uͤber-
all herrſcht, thut ſo erſtaunlich wohl. Die ſehr
große Anzahl von Straͤuchen und Pflanzen, wel-
che in Kuͤbeln und Toͤpfen aufbewahrt werden,
ſtand zu meiner Verwunderung in ſo dichten Rei-
hen, alle auf ebnem Boden, nicht teraſſenweiſe,
daß ich gefuͤrchtet haͤtte, es fehle ihnen an Licht
und Sonne, da ſie nur im Scheitelpunkt ganz
von den letztern Strahlen getroffen werden. Die-
ſes Clima muß aber eine ganz eigne Behandlung
erlauben, das ſagte ich euch ſchon bei Gelegenheit
des Gartenbaues; meine Bemerkung beabſichtigt
alſo auch gar keinen Tadel, ſondern macht euch
nur aufmerkſam, wie wenig im praktiſchen Leben
ein Grundſatz allgemein angewendet werden kann.
Ich entbehrte einen unterrichteten Fuͤhrer, der mir
hier den wiſſenſchaftlichen Werth der Gegenſtaͤnde
gezeigt haͤtte; um ſo ungeſtoͤrter konnte ich mich
aber meiner phantaſtiſchen Freude an der bunten
Schoͤpfung uͤberlaſſen, und da war mir’s bald wie
den Juden, da ſie die Apoſtel am Pfingſtfeſte hoͤr-
ten, alle dieſe hundert Bluͤmchen und Kraͤutchen
ſangen aus ihren bunten Kehlchen jede in einer
fremden Zunge Gottes Lob. Ich ging zu einer
und zu der andern und blickte ihr ins Auge, und
fragte einen freundlichen hollaͤndiſchen Garten-
burſchen zuweilen, wo ihr vaterlaͤndiſcher Boden
ſey? und war ſie denn aus einem recht erhabnen
wilden Lande, ſo war mirs, als ſaͤhe ich ein ver-
irrtes Kind unter fremden Menſchen vertraulich
laͤcheln, und dachte: du kleines, kurzes Leben blickſt
nur nach der goldnen Sonne da uͤber dir, deine
Berge und deine ſchaͤumenden Gewaͤſſer haſt du
vergeſſen, denn du ſahſt ſie nur den kleinen An-
genblick, da du lebteſt. — Aber bei den fremden
Baͤumen war mirs nicht ſo heiter, die ſehen ver-
kruͤppelt aus, man mag ſie pflegen wie man will.
Die Korkeiche ſah recht arm und ſtruppig aus, und
die italiaͤniſche Eiche recht klein und ſchwaͤchlich.
N 2
Die Pinie trauerte um ihren wolkenleeren Himmel,
und die Ceder lechzte nach den Bergſtroͤmen, die
ſie in ihrem Vaterland rauſchen hoͤrte. Den Kin-
dern eines Fruͤhlings kann man wohl ſo ein kuͤnſt-
liches Vaterland machen, aber dieſes ausdauernde
Geſchlecht laͤßt ſich nicht durch ſchnoͤde Kunſt be-
truͤgen. — Eine Menge Waſſerpflanzen wuchſen
in Kiſten mit Waſſer gefuͤllt. Warum, da rund
herum Kanaͤle ſind? Werden auch ſie im Winter
durch kuͤnſtliche Waͤrme erhalten? ſo muͤhſam ich
dem Gaͤrtner meine Frage vortrug, verſtand er
mich nicht, ſondern dunkte nur die Finger in den
Kaſten und den Graben, um mir zu beweiſen, daß
in dieſem das Waſſer viel weniger warm ſey, als in
jenem. Das wollte ich nicht wiſſen.
Die Ordnung, welche allenthalben herrſcht, iſt
ganz vortrefflich, zwiſchen jeden zwei und zwei
Reihen von Pflanzen ſteht immer ein Faß mit
Waſſer, das wahrſcheinlich dem Einfluß der Son-
ne ſoll ausgeſetzt werden, ehe man es Abends zum
Begießen gebraucht.
Ich widerlegte in einem meiner Briefe den Be-
griff, als leide die Bauart von Amſterdam nicht
das Rollen der Wagen. Das hindert nun aber
nicht, daß nicht wirklich der meiſte Handelsver-
kehr innerhalb der Stadt auf Schlitten getrieben
wird, und daß nicht der Gebrauch der Kutſchkaſten
auf Schlitten ſehr uͤblich ſey. Um das Dahin-
gleiten der Kuffen uͤber das Pflaſter zu erleichtern,
und ſo Pflaſter und Schlitten zu ſchonen, hat man
ſehr einfache Vorkehrungen getroffen. Vorn auf
dem Laſtſchlitten liegt ein kleines Faß mit Waſſer
angefuͤllt, und mit kleinen Loͤchern verſehen, wo-
durch im Fahren die Spur der beiden Kuffen be-
ſtaͤndig benetzt wird. Fuͤr die Kutſchen welche auf
Schlitten gefahren werden, iſt das Mittel ſchon zu-
ſammengeſetzter — ſo ein mißgebohrnes Fuhrwerk
iſt naͤmlich nur mit einem Pferde beſpannt, und
der Fuhrmann geht Schritt vor Schritt neben ihm
her. An der Ecke des Kutſchkaſtens haͤngt nun ein
lederner Beutel, wie ein ehemaliger Puderbeutel,
mit Schmalz oder andern halbfluͤſſigem Fette ge-
fuͤllt, er mag auch zarte Loͤcher haben, genug der
Fuhrmann faßt ihn von Zeit zu Zeit und ſchlaͤgt
damit unter die Kuffe, wodurch ihr Vordertheil
etwas gefettet wird, und ſomit im Fortruͤcken
ihre ganze Laͤnge einſalbt. Dieſes elegante Fuhr-
werk ſcheint mir ganz fuͤr das alte Amſterdam ge-
macht. Es iſt ſicher, bedaͤchtig, compendioͤs;
auch noch heut zu Tage bedienen ſich ſehr angeſe-
hene Leute deſſelben, und ſchwangern Frauen, neu-
gebohrnen Kindern, und vernuͤnftigen Leuten nach
einer wohlbedaͤchtig abgewarteten Mittagstafel,
muß ich es ſehr empfehlen. Bei unſrer Heimkehr
vom botaniſchen Garten, wo die Sonne und das
Umherlaufen uns ſehr ermuͤdet hatten, wollten
wirs auch verſuchen, und meine Freundinnen und
ich, wir befanden uns in den ſaubern rothpluͤſch-
nen Waͤnden recht wohl. Unſre zwei Begleiter
gingen zu Fuß nebenher, und nichts hinderte uns,
unſrer Erdennaͤhe wegen, das Geſpraͤch fortzuſez-
zen. Nur die eine Seite des Wagens mußten
unſre Cavaliere dem langſam herſchreitenden Fuhr-
mann uͤberlaſſen, der ſeine braune Fauſt auf dem
Schlag gelegt im innern Seelenfrieden dahin rut-
ſchen ließ, und wohl bei ſich denken mochte: ſol-
che leichte Waare fuͤhre er in Amſterdam nicht oft.
Die eine meiner Freundinnen empfand beim Vor-
beifahren bei mehreren Obſt-, Brod- und Kaͤſe-
laden einen heftigen Heißhunger, den ſie mit vie-
ler Luſtigkeit unſern Begleitern aͤußerte, und um
Lebensmittel ſchrie. Bald ſchob ihr der huͤlfreiche
Menſch ein ſaubres Papier mit Kaͤſe und Semmel
in den Wagen, und nun haͤtt ichs euch doch allen
zu errathen aufgegeben, was ich denſelben Augen-
blick — das heißt Mittags zwoͤlf Uhr Ende Au-
guſts machte? — Der beruͤhmte Spiegel Zemi-
rens haͤtte eine ſaubre Gruppe gezeigt! bis zum
Kaͤſeeſſen konnte es meine Verzogenheit freilich
nicht bringen, aber in dem verzweifelten Kaſten
auf Kuffen, mit den beiden eſſenden Weibern, la-
chend wie die Kobolde, und dem unerſchuͤtterlichen
Fuhrmann mit ſeinem Fettbeutel zur Hand — das
haͤttet ihr in dem magiſchen Glaſe erblickt und haͤt-
tet dieſe Zuſammenſetzung nicht verſtanden.
So unter Geſchwaͤtz und Gelaͤchter kamen wir
zu Felix merites — — — was Felix merites iſt?
— ich war auch recht neugierig, denn ein jeder
Hollaͤnder, der mich ſah, und der meine qualité
d’etrangére merkte, rieth mir wohlmeinend, Felix
merites zu ſehen. Ich bat meine Freunde, mir
doch endlich zu dieſer lateiniſchen Merkwuͤrdigkeit,
von der ich mir wunderbare Vorſtellungen machte,
zu verhelfen. Mein, jedem freiwilligen Verein
zu einem nuͤtzlichen Zweck liebendes Gemuͤthe —
— — ach die herrliche Phraſe! — wollte der
Sache im Voraus wohl, und dabei iſt es denn
auch geblieben, denn Felix merites iſt eine Anſtalt,
welche eine Geſellſchaft reicher Amſterdammer ſtif-
tete, um nuͤtzliche, beſonders wiſſenſchaftliche
Zwecke jeder Art zu befoͤrdern. Dieſe Geſellſchaft
hat ein anſehnliches Gebaͤude aufgefuͤhrt, und
Kunſtwerke mancher Art geſammelt, die Samm-
lung phiſikaliſcher Inſtrumente ward von einigen
Maͤnnern meiner Bekanntſchaft, denen ich Kennt-
niſſe zutrauen darf, ſehr geſchaͤtzt. Eben ſo ſollen
die aſtronomiſchen Inſtrumente von vielem Werth
ſeyn. Eine Anzahl Abguͤſſe der bekannteſten An-
tiken-Bildſaͤulen findet ſich zum Behelf einer Zei-
chenanſtalt vor, von der ich jedoch keine Spur ſah;
in einem Muſikſaale werden von Liebhabern,
die aber oft die beruͤhmteſten auslaͤndiſchen Kuͤnſt-
ler einladen und reichlich beſchenken, Konzerte ge-
geben. Dieſer Saal war ganz gegen alle meine
Erwartung, nicht einmal nur unverziert, ſondern
faſt unſauber, obgleich die Geſtalt und Hoͤhe ſehr
zweckmaͤßig war. Ein anderer iſt zu wiſſenſchaft-
lichen Vorleſungen beſtimmt, zu denen die Geſell-
ſchaft auch einen Theil des gebildeten Publikums
einladet. Wenn die Zuhoͤrer zahlreich ſind, muͤſſen
ſie, ſo wie der Redner, ſehr leiden. Der Saal
bildet eine Rotunde, die Baͤnke ſteigen amphi-
theatraliſch viel zu hoch unter die Decke, und ge-
hen viel zu nahe an die Rednerbuͤhne. Mit vielem
Genuß und Nutzen wuͤrde ich — ſobald mir die
taͤglich lieber werdende Sprache hinlaͤnglich gelaͤu-
fig waͤr, dieſe Verſammlungen beſuchen. Hier
findet man gewiß die Wiſſenſchaften aus ſehr ori-
ginellen Geſichtspunkten betrachtet, weil ſie mei-
ſtens von Menſchen behandelt werden, die Wahl
des Geſchmacks oder des Gefuͤhls, nicht Hand-
werksberuf und Nothwendigkeit zu ihnen hinzieht.
Trotz dem wunderbaren Hang, ſich nach ihren
ſuͤdlichen Nachbaren zu bilden, entdeckte man hier
gewiß noch viel ſehr anziehenden Nationalkarakter.
Hier in dieſem Saale war es, wenn ich nicht irre,
wo der hollaͤndiſche Dichter Bilderdyk den Aus-
ſpruch that, welcher Schillers Gedichte zu einem
Haufen widrigen Unraths erklaͤrte. Ich bin jetzt
eifrig bemuͤht, dieſes Mannes Trauerſpiele zu ſtu-
dieren, um darin die Urſache oder Rechtfertigung
eines ſolchen furchtbaren Urtheils zu entdecken.
In welcher beſeligenden Hoͤhe muß Bilderdyk
ſchweben, um es ausſprechen zu duͤrfen! mir
ſchwindelt ordentlich dafuͤr.
Felix merites hat alſo einen ſehr ruͤhmlichen
Endzweck, und wendet ſehr anſehnliche Mittel an,
ihn zu erlangen. Allein das Lokal, und ein Theil
der Sammlungen kann bei einem Fremden nicht
die Bewunderung erregen, welche der eingeborne
Amſterdammer erwartet. Das Gebaͤude hat einen
ſehr mittelmaͤßigen Werth, die Saͤulen an der
Fronte ſind gegen die geringe Breite von einer rie-
ſenmaͤßigen Hoͤhe, die Treppe iſt ſehr kleinlich, wie
in einem gemeinen Buͤrgerhauſe, und außer der
Sammlung phyſikaliſcher und aſtronomiſcher In-
ſtrumente ſcheint mir noch vieles ſehr unvollkom-
men. Die Abguͤſſe der Antiken ſind in verkleinern-
dem Maßſtab, und meiſtens ſehr mittelmaͤßig. —
Nichts thut mir weher, wie dieſe Geſtalten verun-
ehrt zu ſehen. Dieſe Goͤtter, mit denen ich meine
Kindheit verlebte, die meiner Jugend Erhabenheit
lehrten, und die meinem Alter Jugendfreude wie-
der geben, wo ich ſie finde — Apoll mit ſeiner
Goͤtterklarheit, Venus mit dem Geiſte der Keuſch-
heit umfloſſen und Laokoon in ſeinem ungeheuern
Schmerz — hier ſtehen ſie in einem laͤnglichen
engen Zimmer in gedraͤngten Reihen an die Waͤnde
gedruͤckt, nur von wenigen Fenſtern an der ſchma-
len Seite beleuchtet. Die Zucht hat die Aufſeher
zu der ehrbaren Nothhuͤlfe die Zuflucht nehmen
laſſen, die unſre Voreltern nach dem Suͤndenfall
erfanden. Wenn man die Jugend zur Kunſt bil-
den will, ſollte man da nicht vorausſetzen, daß
dieſe heilige Goͤttin eben ſo wenig faͤhig iſt, Unan-
ſtaͤndigkeiten zu ahnden, als die Unſchuld des Pa-
radieſes.
Ich ſtieg auf den flachen runden Thurm die-
ſes Gebaͤudes, der zugleich als Sternwarte dient,
um Amſterdam von oben herab zu ſehen. Es
liegt hier wie ein Panorama um dich her. Dein
Auge ſieht von einem Punkt unbegrenzten Meeres
uͤber den Pampus fort die ganze Kuͤſte von Nord-
holland, dann nach Suͤdweſt das Harlemmer Meer
und Harlem ſelbſt, das Y, den Hafen, und das
weite ebne Land mit Haͤuſern beſaͤet, mit Kanaͤlen
durchſchnitten, mit Alleen bepflanzt — Ameiſen-
haufen — wie ſie da unten laͤcheln und weinen,
und alle Stimmen an dem blauen Himmelszelte
verhallen, und alle Halme verdorren und wieder
gruͤnen, und alle Gewaͤſſer verdunſten und wieder
in Regen herabfallen, und nur der ewige Himmel
bleibt und des Menſchen Gemuͤthe weich und lie-
bend und anbetend da oben ſteht und herab ſchaut
auf die armen, guten kindiſchen Bruͤder.
Dieſe Landkarten-Ausſichten haben keinen Reiz
fuͤr mich, als durch Nachdenken. Mein ſchlechtes
Geſicht kann daran ſchuld ſeyn, da die Glaͤſer im-
mer mehr oder weniger Guckkaſtenlicht uͤber die
Landſchaft verbreiten. Ich kannte aber Menſchen
mit ſehr guten Augen, die eben ſo empfanden. Die
weite Ferne kann kein Tableau machen, das ent-
ſteht nur durch das Verſchmelzen der Gegenſtaͤnde.
Es iſt nur ſo ein unerſaͤttliches Bewußtſeyn, auf
zehn Meilen den Muͤnſter geſehen zu haben, oder
den Kirchthurm von Rotterdam. Der Zukunft
gehe ich gern glaͤubig entgegen, und ohne Forſchen
blick ich in die Ferne. Nicht, um im Tagesglan-
ze eine unabſehliche Landſchaft recht verkleinert zu
ſehen, wuͤrde ich Thuͤrme und Berge beſteigen, aber
um die Sterne und das ewige Himmelsgezelt zu
betrachten. Ach dazu waͤre mir kein Thurm zu
hoch! auch meine bloͤden Augen thun mir nicht
weh, wenn man mir ſagt: da auf zehn Meilen
weit erkennt man Napoleons Hoͤhe, oder ſonſt ſo
ein beruͤhmtes Menſchenwerk, aber wenn meinen
Gefaͤhrten alle Sterue aufgegangen ſind, und ich
ſehe noch lauter Wolkenſchleier, dann ſehne ich
mich nach Licht! — —
Achter Abſchnitt.
Von der Boͤrſe muß ich euch doch auch ein Wort
ſagen, denn davon macht man ſich in unſern Land-
ſtaͤdtchen, bei unſerm Duͤtchenhandel, gar keinen
Begriff. Den meinen hatte ich noch immer aus
Baſedows Elementarbuch, das ein Gebaͤude dar-
ſtellt, wo Juden, Chriſten und Armenier mit lau-
ter Spitzbubengeſichtern unter einander umher ge-
hen. Ich habe manchen gereiſten Menſchen wohl
gefragt: nun, was macht man denn da? aber ihre
Antwort machte mich um nichts kluͤger. Ein un-
geheures Licht iſt mir auch jetzt nicht aufgegangen;
aber ich will euch ſagen, was mir klar vor Augen
lag. Die Amſterdammer Boͤrſe — denn andre
moͤgen anders ſeyn — iſt ein großer viereckter Hof,
um welchen rings umher ein offner auf Saͤulen
ruhender Gang laͤuft, uͤber dem eine Reihe niedri-
ger, ſchlechter Fenſter, eine Reihe ſehr mittelmaͤſ-
ſiger Gemaͤcher verſpricht. Der Saͤulengang kann
zwiſchen zwanzig und dreißig Fuß breit ſeyn, mehr
nicht; eben ſo weit moͤgen die Saͤulen von einan-
der entfernt ſeyn, die wahrſcheinlich von Stein
ſind, mir aber den Eindruck von aͤrmlichen hoͤlzer-
nen Pfoſten machten. Dieſe Pfoſten und die weiße
Mauer iſt uͤberall mehr oder weniger mit farbigen
und unfarbigen Affiſchen beklebt. An jedem Pfo-
ſten iſt das Geſchaͤft angeheftet, uͤber welches an
dieſem Platze verhandelt wird, z. B. Wiener Pa-
piere, Amerikaniſche Papiere, Oſtindiſche Baum-
wolle, Franzoͤſiſche Weine, u. ſ. w. Die Men-
ſchen, die uͤber die angezeigten Gegenſtaͤnde Nach-
richten haben oder ſuchen, treffen ſich unter dieſer
Saͤule und thun ihr Geſchaͤfft ab. Oberhalb woh-
nen Schreiber oder ſchreiben wenigſtens droben,
haben Maͤkler ihre Geſchaͤftszimmer, und ſind ſol-
che gleichguͤltige Winkel, die meiner Wißbegierde
weder Geheimniſſe noch Kenntniſſe mittheilten.
Seht, das iſt nun die Boͤrſe, und nichts Drollige-
res wie die Wichtigkeit dieſes Lokals, gegen den
Anblick, den es darbietet, wenn es leer iſt. Voll?
nun, da wuͤrde es Micromeges fuͤr einen aufge-
ruͤhrten Ameiſenhaufen halten, Diogenes fuͤr ein
großes Narrenhaus, und Pater Kochem fuͤr einen
Viehſtall des Satanas. Ich ſtand dabei und
dachte Kinder und Enkel und ſchuͤttelte das Haupt.
Eine Pandoras Buͤchſe mags denn doch wohl ſeyn.
Das Wirren, Sauſen, Rechnen, Streben, wie
unentbehrlich im Gebaͤude des Ganzen und wie
nichtig! Erkauften die Millionen die, ſeit dieſe
Saͤulen ſtehen, hier verhandelt wurden, erkauften
ſie einen Blick aus Mollys Kinderaugen? Eine
Thraͤne bei meines Sohnes Wiederſehn? einen
der Ruhegedanken, die mich einſt umgeben wer-
den, wenn ich in langen Schlaf ſinkend mein Au-
denken ſegenvoll in eurer Bruſt leben weiß? —
Wenn das die Amſterdammer Millionairs wuͤß-
ten, daß mir der Anblick ihrer Geldfabrik nichts
Beſſeres eingab, wie ſolche chriſtliche Gedanken,
ſie wuͤrden mit mir uͤberzeugt ſeyn, daß aus mir
lebelang kein Millionair wird. Sie haben Recht!
und ich habe, ſeit ich ſie ſah, weniger Luſt dazu,
als je. Nehm ich nun aber das Ding von einer
andern Seite und ſehe es als Exertion des menſch-
lichen Geiſtes an, und denke mir die wunderbare
Uebereinkunft mit gewiſſen Zeichen vom Indus bis
an die Themſe zu ſprechen, und wie nun der Mag-
net, der die Menſchen hier unter dieſe hoͤlzernen
Hallen zieht, zu gleicher Zeit Mittel wird, die
Schaͤtze der Natur dem Geiſte zu offenbaren, wie
mit jedem Handelsſchiffe eine kleine Ladung Kennt-
niſſe als Ballaſt mit heruͤber kommt — O da will
ich gern mit dem edeln Condorcet die Verbeſſerung
des Ganzen durch Kenntniſſe erwarten, und die-
ſen widrigen Handelsgeiſt, der im Einzelnen ſo
ſchnell in Geldgeiſt ausartet, als wunderbares
Mittel zu einem großen Endzwecke dulden. So
vereine ſich denn Geiſtesfunken zu Geiſtesfunken,
und bilde endlich die Lichtgarbe, bei deren Strah-
len auf jedem Pfeiler der Amſterdammer Boͤrſe
ſtehen wird: Menſchengluͤck.
In dieſer Waare hat noch keines unſrer guten
Haͤuſer Geſchaͤfte gemacht, wuͤrde jetzt in der
Boͤrſe wiederhallen, und in der Welt? — man
kennt ſie nur unter den Bankerutirern, hoͤre ich mir
von manchem Tyrann mit kaltem Geſichte zuſpoͤt-
teln — aber Jenſeits findet ſie den Hafen, der
ſie in ſeinem ſichern Schooſe empfaͤngt, und wo
die frohen Spekulanten ſich freudeſtrahlend die
Haͤnde reichen, und ſich zurufen — ſo war ſie
doch guͤltig! — —
Kommt indeſſen mit mir ins Schauſpiel. Der
Koͤnig zieht das hollaͤndiſche Schauſpiel vor, und
hat Recht. — Ja, das behaupte ich. Ihn moͤ-
gen Gruͤnde dazu beſtimmen, die aus ſeinem edeln
Herzen ſtammen, das, ſeines Volkes Nationali-
taͤt ehrend, und ſich dieſelbe anzueignen ſtrebend,
den Schauplatz, wo ſie ſich am lebhafteſten mani-
feſtirt und bildet — und das iſt doch gewiß die
Buͤhne? — mit Vorliebe anſieht. Dieſer Um-
ſtand hat aber auf mich keinen Einfluß, ſondern
abgemeſſen, abgewogen und wohluͤberlegt, halte
ich das Amſterdammer Theater fuͤr eines der beſ-
ſern, die ich ſah. Von dem Punkte muͤſſen wir
naͤmlich ausgehen, daß ſich die Hollaͤnder — lu-
ſtig genug — nach dem franzoͤſiſchen Theater bil-
den. Wer nun unter uns ſeine Nationalitaͤt, aus
Pflichtgefuͤhl, oder Unfaͤhigkeit aus ſich ſelbſt her-
aus zu gehen, nicht gefangen nehmen kann, um
das franzoͤſiſche Trauer- und Luſtſpiel aus ſich
ſelbſt zu beurtheilen, der muß in dem hollaͤndiſchen
alle die unangenehmen Empfindungen haben, die
ein, nur an unſre Gattung gewoͤhntes Ohr, bei
jenen hat. Aber einmal angenommen, daß die
ganze Darſtellung auf der Buͤhne, nicht das Le-
ben, wie wir es leben, bedeutet, ſondern geſtei-
gerte, gleichſam in ihrer jedesmaligen Gattung
concentrirte Empfindung und Leidenſchaften dar-
ſtellt, ſo kann ich beurtheilen, ob der Schauſpie-
ler den ihm gegebenen Bedingungen Genuͤge lei-
O
ſtet oder nicht. Ihr Trauerſpiel iſt ganz nach dem
Muſter des franzoͤſiſchen in Alexandrinern gedich-
tet, welches ihnen bei ihrer reichen Sprache, und
der wunderbaren Freiheit, Worte zuſammen zu
ziehen und abzukuͤrzen, ſehr leicht wird — auch
noch durch den Umſtand, daß ſie viel weniger wie
wir an edeln und unedeln Ausdruͤcken maͤkeln, wo-
durch der Geſchmack endlich eine ſo kraͤnkliche Zart-
heit erhalten kann, daß er das Gemuͤth wahrhaft
quaͤlt, indem er die Empfindung durch das Ge-
ringfuͤgigſte ſtoͤrt. Ich ſpreche hier nicht von den
heilloſen Reminiſcenzen, die den Deutſchen bei
der hollaͤndiſchen Sprache aufſchrecken, ſondern
von der Berechtigung oder Gewohnheit der hollaͤn-
diſchen Dichter gleiche Worte, wie der Ausrufer,
oder die Kindermuhme zu brauchen. In den mei-
ſten Faͤllen glaube ich, daß dieſer Gebrauch heil-
ſam iſt, indem er die Energie der Sprache erhaͤlt,
und ich moͤchte ſogar meinen, daß dieſe Stoͤrung
— waͤre der Dichter uͤbrigens im Stande Begei-
ſterung zu erregen — gar nicht eintreten wuͤrde.
Das Suͤjet des Original-Trauerſpiels iſt oft aus
der vaterlaͤndiſchen Geſchichte genommen — und
welchen Reichthum ſchoͤner Zuͤge, wuͤrdig den En-
keln zum Beiſpiel aufgeſtellt zu werden, enthaͤlt
Hollands Geſchichte! — Ich las mit dem waͤrm-
ſten Antheil an dem Gegenſtande verſchiedne va-
terlaͤndiſche Stuͤcke, ich ließ mir, wo nur eine Ge-
legenheit ſich darbot, von ihnen erzaͤhlen, aber ich
geſtehe, daß ihre Ausfuͤhrung meine Forderun-
gen an die Kunſt nie befriedigte. Die Sprache
ſtoͤrte mich nicht, aber die Leere der Gedanken und
der Handlung druͤckte mich. Muͤhſelig fand ich
hier und da eine Stelle, nirgends poetiſchen
Schwung, der uns in Frankreichs Dichtern der
tragiſchen Buͤhne feſſelt, wenn das Dialog uns
auch kalt laͤßt. Da ich nur das Vorzuͤglichſte,
was man mir empfahl, leſen konnte, und gar
nicht Zeit hatte, noch Gelegenheit dieſen Zweig
der Dichtkunſt zu erſchoͤpfen, iſt das eben Geſagte
nur meine Anſicht, nach der Ihr kein Urtheil bil-
den ſollt. Von der einen Seite ſollten die Dichter
dieſes Landes ſich uͤber die Mittelmaͤßigkeit auf-
ſchwingen koͤnnen. Das Studium und die Spra-
che der Alten bildete ſie, und ihres Landes Ge-
ſchichte kann ſie begeiſtern, aber die Feſſeln, die
ſie freiwillig von ihren Nachbarn borgen, von ei-
nem Volke, deſſen Bildungsgeſchichte, Sitten,
Charakter, Geſchichte, ihnen ſo fremd, ſo wider-
ſtrebend iſt, koͤnnen ihre gluͤcklichen Anlagen viel-
O 2
leicht ganz erſticken. Nach dem Urtheil, welches
einer der groͤßten hollaͤndiſchen Dichter uͤber Schil-
ler gefaͤllt, und der Abneigung, die im Ganzen
gegen die Deutſchen und ihre Litteratur da herr-
ſchen muß, wo man den Franzoſen nachahmt,
erwartete ich auch keine Anerkennung, nicht ein-
mal Bekanntſchaft mit Goͤthe. Werther war zu
ſeiner Zeit uͤberſetzt und geleſen, er gehoͤrt auch
nicht hieher, aber daß ſein Egmont den Menſchen
bekannt ſey, daß er ſie intereſſiren wuͤrde, erwar-
tete ich um ſo mehr, da ich bei meiner Bekannt-
ſchaft mit der hollaͤndiſchen Individualitaͤt, in
Egmont ſelbſt, in Oranien, in den Volksſcenen
eine nationelle Wahrheit gefunden hatte, die mich
entzuͤckte. In den Geſpraͤchen der Paͤchter mit
ihrem Pachtherrn, der Handwerker, der Gerichts-
leute unter einander, und mit ihren Vorgeſetzten,
traten kleine Zuͤge in Wort, Ton, Haltung hervor,
die in Jetter-Soeſt, dem Seifenſieder und den
andern, aufgefaßt ſind. Selbſt Egmonts Cha-
rakter — es iſt das Ideal eines Niederlaͤnders!
was ich an liebenswuͤrdigen kleinen Zuͤgen unter
den Vornehmen auffaßte iſt in Goͤthes Egmont
vereinigt. Von Egmont mit einigen Hollaͤndern
zu ſprechen, verſuchte ich alſo doch. Sie kannten
ihn nicht. Ich ſuchte ihnen einen Begriff von die-
ſem Schauſpiel zu geben — ſie geſtanden mir
aber das Wagſtuͤck einen willkuͤhrlichen Egmont
zu bilden, ihm ſtatt ſeiner ehr- und tugendſamen
Gemalin Sabina von Bayern, eine zweideutige
Geliebte, und ſtatt ſeines zweideutigen Glaubens-
bekenntniſſes in der Stunde des Todes, die Sie-
geshymne der ewigen Freiheit in den Mund zu
legen, wuͤrde bei ihren Landsleuten neuen unfehl-
baren Skandal erregen. Da war nun weiter nichts
zu thun. — Ob ihre Dichter der Geſchichte im-
mer gewiſſenhaft treu blieben, weiß ich nicht, in
manchen Faͤllen ſollte es mir fuͤr die tragiſche Muſe
ſehr leid thun. Daß ihre Vorbilder, die franzoͤſi-
ſchen Tragiker, die Vorrechte der Dichtkunſt wei-
ter ausdehnen, beweiſen uns wohl ihre liebeskran-
ken Oreſte, und galanten Agamemnons, moͤgen
ſie ſich alſo zwiſchen der Kunſt und ihrem Gewiſ-
ſen abfinden — Goͤthes fingirter Egmont hauche
indeſſen dem blutvollen, geiſtloſen Chaos der hol-
laͤndiſchen Freiheitsgeſchichte Lebensgeiſt ein.
Die Deklamation der hollaͤndiſchen Schauſpie-
ler iſt ſo wie ihr Vers nach der franzoͤſiſchen gebil-
det. Da trifft das Pathos freilich manchmal auf
unſelige Toͤne fuͤr ein deutſches Ohr. So zum
Beiſpiel wenn wir eine hochherzige Prinzeſſin im
hoͤchſten Unwillen ſagen hoͤren: Sleurt by t’hair te
onnoozle, hoe zy kermt, vort haatlijk Echtal-
taar, an trapt har’t hikkend Ja haars Ondanks uit
den gorgel. — — Da reicht freilich keine Philo-
ſophie aus! wir koͤnnen in dem Augenblick nicht
lebendig fuͤhlen, daß die Laͤcherlichkeit in
uns, nicht in der Sprache liegt, und ſie ſtellt die
unweibliche Haͤrte des Sinnes in das grellſte Licht,
Einige der Schauſpieler des Amſterdammer Thea-
ters deklamirten ſehr gut. Im Durchſchnitt war
das Organ bei allen rein und natuͤrlich. Der eine
hatte einen ſo maͤnnlichen Schmerzenston, daß
er als Vater einer gewiſſen, aus dem Engliſchen
uͤberſetzten, hoͤchſt jaͤmmerlichen Fraͤulein Emilie,
die gegen ihres Vaters Willen mit ihrem Herzge-
liebten ſehr nahe Bekanntſchaft gemacht hatte,
den heillos toͤnenden Ausruf: rampzaligt Vader!
— ſo herzzerreiſſend rief, daß ich ſehr ernſthaft
blieb. Die beſagte Emilie ſelbſt, deren ganze
Rolle doch ein permanenter Jammer war, hatte
im hohen tragiſchen gar nichts Kreiſchendes, ſon-
dern einen richtigen immer weiblich bleibenden
Tonleiter. In der ganzen Darſtellung war nir-
gends etwas Anſtoͤßiges, noch Vernachlaͤſſigtes.
Die Leute wiſſen ihre Rolle; ſie berechnen in ihren
Gruppirungen das Publikum und die Einwirkung
derſelben in das Spiel, ihr Anzug iſt conſequent,
wenn gleich nicht ſehr geſchmackvoll, denn der
rampzaligt Vader hatte einen himmelblauen Tuch-
rock, und weiße Struͤmpfe bei ſchwarzen Madame
Reofroys Unterkleidern, worin er, bei gepuder-
tem Haar, gar nicht ausſah, als haͤtten ihm ſeine
rampzaale an einer recht koketten Toilette gehin-
dert. Dabei erinnerte ich mich aber Dem. Wit-
hoͤft als Mariane in Goͤthes Geſchwiſter im weißen
taftenen Unterkleide und feinen muſſelinen Ueber-
zug, ein kuͤnſtliches Roſenbouquet an der Bruſt
aus der Kuͤche kommen geſehn zu haben, wie ſie
mit weißen Handſchuhen an den Haͤnden klagte,
daß ihre gebratnen Tauben verbrannten. Ich ſa-
ge euch nur was ich wahrnahm, ohne im minde-
ſten zu richten, und dem zu Folge geſtehe ich euch,
daß ich Theater gegen Theater genommen, das
hollaͤndiſche Amſterdammer Schauſpiel lieber wie
die meiſten deutſchen beſuchen wuͤrde. — Das
Haus iſt ſehr bequem zum Hoͤren und Sehen,
wohlerleuchtet, und mit breiten Gaͤngen verſehen.
Fuͤr die Groͤße der Stadt ſcheint es mir klein, ob-
ſchon man mir eine große Zahl Zuſchauer nannte,
die es faſſen kann. Wenn ich es ſah, war es
nicht angefuͤllt. Der Koͤnig hat ſeine Loge, die
mit einem Thronhimmel verziert iſt, dem Proſce-
nium gegenuͤber. Seine Gegenwart legt dem
Publikum nicht den mindeſten Zwang auf. Das
Volk benutzt ſeine Guͤte, und vor dem Anfang
des Schauſpiels und in den Zwiſchenakten, oder
zwiſchen dem Haupt- und Nachſpiel wird es oft
ſehr laut mit Singen, Umherſteigen und Wort-
wechſel, ſo wie mit Applaudiren und Klopfen am
Schluß der Aufzuͤge. Da dieſes Schauſpiel im
Schauſpiel mit dem Aufziehen des Vorhangs ſo-
gleich ein Ende nimmt, und ich die groͤßte Stille
waͤhrend der Vorſtellung wahrnahm, kann ich dieſe
Lizens zwar hier eben ſo wenig wie an dem engli-
ſchen Poͤbel bewundern, aber den Koͤnig muß ich
dafuͤr lieben, daß er in ſich die Wuͤrde fuͤhlt, wel-
che den lauten Ausbruch der Freude und Theil-
nahme nicht ſcheut.
Mit dem Nationaltheater iſt ein Ballet ver-
bunden, und da tritt in der Vorliebe der Hollaͤn-
der zum Theatertanz, und ihre Anlage zu dieſer
Kunſt, eine befremdliche Erſcheinung auf. An-
lage zum Ballettanz iſt kein Zug, den wir in der
hollaͤndiſchen Nationalitaͤt geſucht haͤtten. Das
Amſterdammer Ballet, das mit lauter Hollaͤndern
beſetzt iſt, ſoll nach dem Ausſpruch von Menſchen,
die Pariſer Taͤnzer gewohnt ſind, gar nicht unter
die ſchlechten gehoͤren. Wie mir bei den Hollaͤn-
dern in weißen Pantoͤffelchen, die in der Luft wir-
belten, Ruyters beharrniſchte Geſtalt einfiel, wie
ſie auf dem marmornen Sarkophage lag, und
Barnvelds feſter Schritt wie er zum Hochgericht
ging — wollte ich ein krauſes Geſicht machen —
da fielen mir aber die Helden ein, die Veſtris Zeit-
genoſſen und Landsleute ſind, und ich beſaͤnftigte
mich, obſchon ich die barbariſche Ketzerei nicht
ganz leugnen kann, die mir manchmal den Wahn
erregt, als ſeyen die Nationen edler geweſen, die
ihre Taͤnzer — — nicht unter ihre Mitbuͤrger
zaͤhlten. Mir iſt jeder Balletpas, der nicht na-
tuͤrlich iſt, ſchmerzhaft. — Ein paar Kinder von
ſechs bis ſieben Jahren ſtanden zur unausſprechli-
chen Freude der Zuſchauer in ihrem leichten Sprun-
ge ſtill, und ſtreckten viele Sekunden lang Arm
und Bein ſo ſcheuslich in die Luft, daß ich haͤtte
weinen moͤgen. Von dieſen Kuͤnſten kann ich nicht
eher urtheilen, bis ich mir ein Ideal gebildet ha-
be, und das fehlt mir, ſo lange mir der frohe
Reihen einiger jungen Maͤdchen den Leibreiz des
Tanzes zu erſchoͤpfen ſcheint. Maͤnner mag ich
ohnehin nicht tanzen ſehen — unſre Taͤnze naͤm-
lich. Wenns einmal wieder Zeit iſt, ſo moͤgen ſie
Krieges- und Siegestaͤnze anfuͤhren — bis jetzt
iſt mir der Juͤngling, der ſein Maͤdchen auf dem
gruͤnen Raſen herum dreht, oder nach dem Ton
einer Theorbe die Tarantula tanzt, das reizendſte
Ballet. Sehe ich Seiltaͤnzerkuͤnſte, ſo abſtrahire
ich von ihrer Brodloſigkeit, und der Anblick wird
mir eine ſehr intereſſante Berechnung des Gleich-
gewichts beim Muskelſpiel. Aber im Tanze ver-
letzt mich die leicht uͤberſchrittene Linie zwiſchen
Kunſt und Verzerrung. Ich liebe den Tanz ſo
ernſtlich, er ſoll alles ausdruͤcken, er ſoll jede
Sprache reden, aber nicht die der Andreaskreuze
und Brummkruͤſel. Dieſe Kunſtſtuͤckchen abge-
rechnet, tanzten verſchiedne der Leutchen recht
gut. Die Prima Donna wird ſehr bewundert,
mir gefiel die zweite Taͤnzerin beſſer, weil ſie eine
vorzuͤglich ſanfte Linie vom Kopf zur Schulter
hatte. Und endlich war ein Moment in dem ei-
nen Ballet, da haͤtte ichs beinahe wie Springlove
in der Bettles Oper gemacht, da er den Guckguck
rufen hoͤrt — ich waͤr faſt fortgelaufen bis * *.
Das Theater ſtellte ploͤtzlich ein Feld mit Garben
vor, und Schnitter im Bauernkittel, und einen
Abendſonnenhimmel, der links die Buͤſche vergol-
dete; die Sicheln ſchlugen an einander, und die
Maͤdchen, wie Luiſe mit großen runden Huͤten ge-
ſchmuͤckt, huͤpften uͤber die Buͤhne — — — das
war mir mehr Natur wie alle Kanaͤle, Polder und
Landhaͤuſer! Ich habe ja noch kein Kornfeld
ſchneiden ſehn dieſes Jahr! —
Das franzoͤſiſche Schauſpielhaus iſt viel klei-
ner, iſt ſehr klein, war aber ſehr voll, und iſt
recht nett. Ich ſah ein paar kleine Stuͤcke, deren
ich mich aus Journalen erinnerte, l’aveugle clair-
voyant, und un jour à Paris. Ueber dieſe Dinge
laͤßt ſich weiter nichts ſagen. Die kleinen Komoͤ-
dien habe ich ſehr gern, ſie ſind wie ein amuͤſanter
Beſuch — man will mit dem Menſchen nie ver-
traut werden, er hat vieles was wir gar nicht gut-
heißen, aber ſo oft er koͤmmt, iſt es ein kleines
Feſt. Das erſte Stuͤck iſt gar wenig, ward ganz
ertraͤglich geſpielt, und machte zu lachen. Dem
zweiten liegt eine moraliſche Idee zum Grunde;
ein Vater will ſeinen ausſchweifenden Sohn da-
durch beſſern, daß er ihm ſelbſt einen Tag lang
das Gemaͤlde der unſinnigſten Ausſchweifung dar-
ſtellt. Es iſt ein Suͤjet, das durchaus nur in ro-
hen Umriſſen gegeben werden kann. In der Wirk-
lichkeit moͤchte man doch wohl einen ehrlichen Pa-
pa fuͤr toll halten, der in einem Tage mit Pfer-
den, Hunden, Maitreſſen und Handwerbern bis
Mitternacht ſechzig tauſend Livres durchbringt,
und dreimal hundert tauſende verſpielt. Nun! —
auf dem Vaudevills-Theater geht das an. Die
Darſtellung war aber hoͤchſt uͤbertrieben, wozu
das kleine Theater beitrug, indem die Stimmen
dieſer Schreihaͤlſe nervenerſchuͤtternd zuruͤcktoͤnten.
Ihr Tutti bei der Scene, wo die Tugend des jun-
gen Herrn zum Durchbruch kommt, machte mich
faſt krank. — Solche Lungen ſind mir ein Raͤth-
ſel! Aber bei dieſer Uebertreibung konnte man ih-
nen Leichtigkeit in den ruhigen Momenten, und
einen hohen Grad Uebereinſtimmung im Spiel,
nicht abſprechen — und das bringt immer eine
angenehme Taͤuſchung hervor. Ein gewiſſer
Bauerjunge, der unter die impertinente Pariſer
Bedientenſchaft faͤllt, war rein komiſch, und ſei-
ne Linkheit mit einer ſo unausloͤſchlichen Gutmuͤ-
thigkeit gepaart, daß es offenbar war, wie er im-
mer Hoͤflichkeit mit Wohlwollen verwechſelte, und
ſeine Schuͤchternheit mit einem trotzigen Gefuͤhl
ſeiner Rechtſchaffenheit gepaart blieb. Das Ende
iſt ſo erdroſſelt, daß man denken ſollte, der Au-
tor habe es nicht niedergeſchrieben, ſondern ſo,
wie die Schauſpieler, gleich abgekreiſcht — ge-
bloͤkt iſt der derb plattdeutſche Ausdruck — da
ihm dann bei der letzten Scene der Odem gefehlt
habe. Im Winter iſt auch italiaͤniſche Oper hier,
ich habe aber nichts von ihr erfahren, denn uͤber
dieſen Gegenſtand wird man ſelten durch Fragen
klug. Die Antworten enthalten ſelten eine Dar-
ſtellung, ſondern ein, durch die Laune des Augen-
blicks beſtimmtes Urtheil.
Ein Spatziergang, fuͤr den man mich ſehr aus-
lachte, weil er gar nicht glaͤnzend war, fuͤr den
ich aber meinem Fuͤhrer vielen Dank wußte, mach-
te ich einen Sonntag Abend vor dem Leidner Tho-
re, links in die Gaͤrten hinein. Es war ein ſanf-
ter, ein Bischen umwoͤlkter Himmel, eine Luft,
eine Erleuchtung, die ich fuͤr die Sonntagabende
recht gerne habe, es druͤckt alles den Sabbat, den
Ruhetag aus. Ich ging neben Kanaͤlen und
Windmuͤhlen und buͤrgerlich beſcheidenen Gaͤrt-
chen, wo man in der Beſchraͤnktheit der Mittel
zum Genuß, noch Wahrheit im Genuſſe erwar-
ten konnte. Ueberall iſt ein Ueberfluß an Baͤu-
men und Buͤſchen, und dazwiſchen immer Plaͤtz-
chen in geſchnoͤrkelten Beeten vor den kleinen Gar-
tenhaͤuschen angebracht, mit mannigfaltigen Blu-
men beſetzt, und oft mit bunten Porzellanſcher-
ben zur Zierde belegt. Dieſe Verzierung findet
man noch mehr auf dem Lande; ſie iſt ungeheuer
laͤcherlich, und macht mir doch ſo viel Freude,
kommt mir doch ſo ruͤhrend vor, daß ich um alles
in der Welt kein ſolches Scherbchen verruͤcken
moͤchte. Ich ſehe immer die gefeſſelte Pſyche den
Fluͤgel heben, in dieſem Beſtreben zu geſtalten
und Schoͤnheit zu ſchaffen, und wende ich mich
von der Kunſtanſicht zum Gefuͤhl, ſo iſt in dieſen
glaͤnzenden Steinchen Freude geſucht und Freude
gefunden, und Yungs tieftruͤbſeliges little Babylon
of Straw faͤllt mir in einem erfreulichen Sinn wie-
der ein. O wie viel mehr Freude und Gutſeyn in
der Freude, wie die ſchoͤnſte Statuͤe von pariſer
Marmor dem ſatten Reichen, geben dieſe Stein-
chen. Wenn der brave Handwerksmann mit ſei-
ner Frau an einem Sonntag Abend auf der Bank
ſitzt, und die bunten Steinchen in der Sonne glaͤn-
zen, und ſie zuſammen rechnen, wie dieſe Woche
alle Beduͤrfniſſe beſtritten worden, und fuͤr Natjes
Ausſteuer ſo viele Gulden zuruͤckgelegt, fuͤr Karls
Lehrgeld ſo viele erſpart ſind, und alles um ſie
her glaͤnzet und blinket — — — dagegen ſeht
nun die Tiſchgeſellſchaft meines Reichen ſatt und
uͤberſatt im Park umherſchlendern, und hoͤrt ihre
Ausrufungen beim Anblick des belebten Marmors
— denket euch funfzehn und zwanzig Menſchen
aus jener Welt der Reichen, und analiſirt euch
ihr Inneres bei dieſen Exklamationen — ich ha-
be ſolche Auftritte ſo oft erlebt, und mir wars im-
mer als muͤſte ich einen Schleier uͤber das Kunſt-
werk werfen, der es vor dem Auge dieſer ſatten
Leute verbuͤrge. Doch zuruͤck an einen Platz des
Walles mit Baͤumen beſetzt, wo an vielen kleinen
Tiſchen kleine Familiengruppen bei einem Krug
Bier den Abend genoſſen. Das waren lebendige
Tennier — die Tanzenden ausgenommen, denn
Tanz und Muſik ward ich nirgends gewahr. Al-
lein die Kleidungen, die Stellungen, die Geraͤth-
ſchaften — alles ſtimmt in den Gemaͤlden dieſes
Meiſters mit der Wirklichkeit uͤberein. Die Kinder
die im Graſe ſich waͤlzten, hie und da eine wohl-
meinend keifende Mutter, die das Juͤngſte am
Gaͤngelband fuͤhrend, hinter die kleinen Laͤrmer
her eilte, der Ausdruck gefuͤhlten Ausruhens in
den gefaltet vor ſich hingelegten Haͤnden der rein-
lichen Weiber, und der von Seelenruhe in den
regelmaͤßigen Zuͤgen und klaren Hautfarbe — ſo
ein teint réposé wie ihn die huͤbſchen Dérobs nach
Marmontels Bemerkung haben. —
Von dem Leydner Thor an bis an den Kaiſer-
kraagt war an dieſem Abend das Gedraͤnge ſo leb-
haft, wie ich es in einer ſo großen Stadt gern im-
mer haben moͤchte. Dieſe Volksklaſſe gefaͤllt mir
gar wohl mit ihrem rechtlichen breiten Weſen, das
beiden Geſchlechtern gemein iſt. Die zunaͤchſt
daruͤber ſtehende Klaſſe, iſt der in jeder deutſchen
Stadt mehr aͤhnlich — ich weiß fuͤr die blaſſen
Angeſichter der jungen Maͤnner, ihre leeren Phy-
ſiognomien, ihren geckenhaften Anzug, keinen beſ-
ſern Rath, als einen braven Feldzug unter den
franzoͤſiſchen Fahnen Die gute alte Frau ſah damals nicht vorher, daß nicht
zwoͤlf Monate nach dieſem guten Rathe, die Verbindung
Hollands mit dem franzoͤſiſchen Reich, dieſe blaſſe phy-
ſiognomieloſe Herren nun wirklich zu der angegebnen
Cur verhilft.. Ausnahmen giebt es
genug, da ich aber von ihnen nicht rede, koͤnnt
ihr mich nicht beſchuldigen, das Kind mit dem
Bade auszuſchuͤtten. Auf dem Lande fand ich im
Durchſchnitt genommen, von Nimwegen aus, ſchoͤn
gewachſene große Maͤnner. Sehr viel weit uͤber
gewoͤhnliche Groͤße, mehr ſchlank als breitſchulte-
rig, aber von feſtem Bau und bluͤhender Geſichts-
farbe. Eben ſo fand ich die Weiber. Bei den
Baͤuerinnen in Holland ſelbſt fallt die weiße Ge-
ſichtsfarbe und die rothen Wangen ſehr auf, mehr
als unter den Staͤdtern, wo ſie auch allgemein iſt,
und ſich bis im ſpaͤten Alter erhaͤlt. Nie ſah ich
ſo angenehme alte Frauen, wie in dieſer Gegend.
Groͤßtentheils iſt das wohl Folge der bequemen Le-
bensart, und guten Nahrung. Die Baͤuerin hat
außer dem Hauſe gar kein Geſchaͤft — das liegt
dem Manne ob, und im Hauſe fand ich ſie beim
Kaͤſemachen immer ganz gemaͤchlich vor dem Faſſe
ſitzen. Auch die Klaſſen der Handwerksfrauen
ſcheinen mir nicht ſo hart zu arbeiten, wie in den
meiſten Gegenden Deutſchlands. In den Staͤd-
ten iſt mehr Fabrik- und Handelsweſen, der Acker-
bau fordert nicht die getheilte Muͤhe, welche unſre
Kleinſtaͤdter von ihrem Handwerk abruft, ohne
ihre Felder zu verbeſſern. In Amſterdam fielen
mir unter der Volksklaſſe hingegen viele mißgeſtal-
tete Menſchen, beſonders aber viel Hinkende auf.
Der Zufall wollte, daß ich eben auch hinkte, denn
ich hatte mir durch einen Sprung aus dem Wagen
auf dem Wege nach Amſterdam das Knie ver-
P
ſtaucht — den erſten Tag machte mich das Ge-
fuͤhl meiner Hinkigkeit und der Anblick ſo vieler
fremden Hinkigkeiten ganz verwirrt, ſo daß ich
durchaus einen myſtiſchen Zuſammenhang darin-
nen ahndete. Die Rhachitis, engliſche Krankheit,
oder doppelten Glieder, wie man an einigen Or-
ten in Deutſchland ſagt, ſoll hier unter den Volks-
klaſſen ſehr gemein ſeyn, welches mich in einer ſo
feucht gelegenen Stadt nicht wundert, beſonders
wenn noch einige alte Vorurtheile bei der Nah-
rung und erſten Behandlung der Kinder hinzukom-
men. Die vielen Hinkenden moͤgen alſo wohl aus
dieſer Kindheitsepoche herruͤhren. Die Frauen-
zimmer, die ich auf der Straße ſah, und die nicht
in der Volkstracht gingen, waren alle ohne Ge-
ſchmack gekleidet, Gang und Haltung ohne allen
Liebreiz, die Ellenbogen hinten hinaus, und den
Hals vorwaͤrts; — aber viel regelmaͤßige Geſich-
ter, und lauter Lilien und Roſen. Zur Erquickung
aller Schminke haſſenden Seelen, ſteht hier der Ge-
brauch, Roth aufzulegen, in der groͤßten Verab-
ſcheuung. Es iſt drollich, mit welcher Straͤflich-
keit Leute dieſe Taͤuſchung verwerfen, die Schnuͤr-
leib, Haarpuder und aufgepuffte Halstuͤcher ohne
alles Bedenken annehmen. Luͤgen dieſe Behelfſel
denn weniger wie ein bischen Carmin? und ſind
die Anſpruͤche an rothe Backen, welche ein lebhaf-
tes Geſpraͤch, ein ſchneller Gang, einem Jeden
auf Augenblicke giebt, betruͤgeriſcher als der Pu-
der, der ein fettes, rothes oder graues Haar ver-
birgt, oder die Schnuͤrbruſt, und das Halstuch,
welches viel ſinnlichere Annehmlichkeiten vorfa-
belt? Alſo zur Erquickung der Schminkhaſſer be-
merke ich, daß ſich die Hollaͤnderinnen gar nicht
ſchminken, und alle geſchminkte Geſichter vor Je-
zabols Larven halten. In dieſem Augenblick ſtimmt
die Mode mit ihrem heiligen Abſcheu zuſammen,
denn man ſoll in den Thuillerien auch ohne Roth
erſcheinen, das heißt à la Psyche — wahrſchein-
lich wie der Funke der boͤſen Lampe auf Amors
Schulter fiel, ward ſie ſo blaß? — ich fuͤrchte
nur que le diable ni perdra rien — wenn man
nicht mehr roth ſeyn darf, wird man weiß werden.
Sonderbar iſt es, daß die Hollaͤnderinnen den
Theil der Reinlichkeit, welcher das Waſchen bei
der Toilette entzweckt, nicht ſehr beachten. Sie
halten es fuͤr ungeſund, und der Haut nachthei-
lig. — Dieſe Gruͤnde aus dem Klima genommen,
und durch die Lilien und Roſen ihrer Haut bewie-
ſen, gaben ſie mir wenigſtens an. Dieſe Waſſer-
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ſcheu theilen alle Staͤnde, wie ich bemerkte, und
mir Inlaͤnderinnen ſelbſt beſtaͤtigten. Selbſt das
Geſinde, welches die laͤſtigſten Arbeiten thut, ver-
meidet das Waſſer. Die Hausmaͤgde, nachdem
ſie die Fußboͤden im ganzen Hauſe aufgewaſchen
haben, benetzen ein leinenes Tuch mit Wachhol-
derbranntewein, reiben ſich damit das Geſicht ab,
und ſcheinen dadurch reinlicher zu werden, als waͤ-
ren ſie in die Fluthen getaucht.
Neunter Abſchnitt.
Da ich meine Ruͤckkehr nach Amſterdam nun an-
trete, wo ich einen langen Weg neben lauter Land-
haͤuſern vorbei machte, will ich euch eine Beſchrei-
bung eines ſolchen Landhauſes geben, die, mit
geringen Abaͤnderungen auf alle paßt. Hier in
der Naͤhe von Amſterdam, der Amſtel entlang auf
fuͤnf, ſechs Stunden, muß man nicht ſowohl Land-
guͤter, als Landhaͤuſer ſuchen, dieſe ſind dicht an
einander gelegen, haben mehr oder weniger Ge-
buͤſch um ſich her, Wieſenboden aber gar nicht,
und ſelten Gemuͤſegaͤrten. Sie ſind nur ein Som-
meraufenthalt, viele werden nur von der Familie
des Eigenthuͤmers bewohnt, indeß der Hausvater
ſelbſt die Woche uͤber ſeinen Geſchaͤften in der Stadt
nachgeht, und ſich nur Sonnabends hinaus be-
giebt. Das Wohnhaus ſteht nie dicht am Wege,
noch am Kanal, ſondern immer am Ende einer,
mit hohen Baͤumen beſetzten Avenue, die vorn
durch ein ſauberes Gitterthor und eine gruͤne
Hecke, nie durch eine widrige Mauer, von den
Vorbeigehenden getrennt iſt. Stoͤßt die Beſitzung
unmittelbar an die Kanaͤle, ſo iſt ſie ganz offen;
oft ſteht das Haus hinter einem ſchoͤnen Raſen-
platz mit Blumenbeeten durchſchnitten, oder mit
Blumenkoͤrben geziert. Rund umher zieht ſich
ein Gebuͤſch von hohen Baͤumen eingefaßt, und
die Beſitzung iſt, wenn ſie klein iſt, von Graͤben
umgeben, die groͤßeren noch von Graͤben durch-
ſchnitten. Oft iſt zur Seite des Wohnhauſes ein
Treibhaus, oder doch ein Wintergarten. Die
Wirthſchafts-Gebaͤude, wenn deren da ſind, lie-
gen immer abwaͤrts, oder bilden ein harmoniſches
Ganzes, bei dem jedoch der Kuhſtall und der
Duͤnghaufen nie eine Rolle ſpielt; dieſe ſind zu den
Pachthoͤfen verlegt, die immer neben den dazu ge-
hoͤrigen Weideplaͤtzen angelegt werden. Auch hier
macht das Vollendete, Ganze, den angenehmſten
Eindruck, denn die meiſten dieſer Gebaͤude zeich-
nen ſich weder durch Pracht, noch beſondere
Schoͤnheit aus, ja an vielen kann ein geſchmack-
voller Baumeiſter vieles tadeln. Noch mehr wohl
an den kleinen Pavillons, die man haͤufig hart an
den Kanaͤlen findet, an denen oft recht viele Muͤh-
ſeligkeit verſchwendet iſt, um bald Griechenlands
Tempeln, bald einem Kiosk, bald einem chineſi-
ſchen Thurm zu gleichen, und nie die Taͤuſchung
zu bewirken, die erreicht, einen ſehr laͤcherlichen
Kontraſt mit der lebendigen Hollaͤndigkeit des gan-
zen Schauplatzes machen wuͤrde. Manches Wohn-
haus iſt rund umher dicht an der Mauer mit einem
Graben umgeben, uͤber den eine artige Bruͤcke auf
Stufen, nicht ins Erdgeſchoß, ſondern in den er-
ſten Stock fuͤhrt, indeß das Erdgeſchoß einen eig-
nen Ausgang an der Waſſerflaͤche hat. Dieſer
Graben hat wohl mit der Befeſtigung gar nichts
zu thun, ſondern dient nur zur Trockenlegung des
Bodens. Man erreicht ſie auch mehr, wie ich es
begreifen kann, denn in dieſem Erdgeſchoß, das
nun faſt wagerecht mit der Waſſerflaͤche ſteht,
ſpuͤrte ich keine Feuchtigkeit; die Waͤſche blieb da-
ſelbſt trocken, und das hoͤlzerne Geraͤthe, deſſen
Formen ſein Alterthum bewieſen, war ſpiegelglatt
und wohl erhalten. Viel traͤgt gewiß die Rein-
lichkeit zur Trockenheit bei, die Winkel werden un-
aufhoͤrlich gelufter, die glatten Oberflaͤchen ziehen
weniger Feuchtigkeit ein, aber dieſe Urſache reicht
nicht hin die anſcheinende Trockenheit dieſer Ge-
maͤcher zu erklaͤren. Rechnet nun noch hinzu, daß
ſie nicht geheizt werden, ſondern nur mit Kami-
nen verſehen ſind, und daß man in dieſen wenig
Feuer macht, des Morgens, des Abends, und
nur bei wahrer Winterkaͤlte, ſonſt begnuͤgen ſich
die weiblichen Bewohner mit ihren ewigen Stov-
chen. Jetzt wird dieſes Erdgeſchoß meiſtens der
Wirthſchaft (die Kuͤche iſt ohnehin darin) und dem
Geſinde eingeraͤumt; allein die Eltern des jetzigen
Geſchlechtes fanden ſie noch zur Wohnung ſehr be-
quem. Die Mutter meines Freundes * *, eine
Frau, die durch Stand und Vermoͤgen zu jedem
Anſpruch berechtigt war, hat dieſe Zimmer im
Schloſſe L. erſt vor wenigen Jahren verlaſſen, wie
ſie es ihrem Sohne und ſeiner Familie einraͤumte.
Wenn man bei uns einer Frau von Stande ſo ei-
nen Vorſchlag thaͤt! — In einem Hauſe, wo
dieſe Zimmer von der Dienerſchaft bewohnt wur-
den, fand ich einige ſchwaͤbiſche Dienſtboten, die
ſeit wenig Jahren aus ſehr guten Herrſchaftshaͤu-
ſern hieher gekommen waren. Dieſe Weiber ſaßen
den ganzen Tag, mit feiner Arbeit beſchaͤftigt, in
dieſen Gemaͤchern, und obſchon ſie mir eingeſtan-
den, daß ſie im Winter von der Kaͤlte litten, druͤck-
ten ſie doch gar nicht den Widerwillen gegen ihre
Wohnung aus, den ich von Leuten erwartet haͤtte,
die an die gluͤhenden ſchwaͤbiſchen eiſernen Oefen
gewoͤhnt waren.
Das, was wir in unſern Haͤuſern Keller nen-
nen, iſt in dieſen Waſſer umfloßnen Kaſtellen auf
ebnem Boden mit den eben beſchriebenen Zim-
mern, kann alſo keine ſehr kalte Temperatur ha-
ben. Leider fand ich auch den Wein ſelten nur er-
traͤglich friſch, und das Waſſer nie. Ach keinen
Tropfen friſch perlendes Quellwaſſer! „fuͤr mei-
nen unausſprechlichen Durſt, gebt ihr mir gluͤ-
hendes Gold!“ haͤtte ich oft rufen moͤgen, wenn
man mir jeden leckern Trank anbot und darreichte,
den fremde Reben und fremde Fruͤchte bieten, und
ein Trunk aus einem unſrer ſtroͤmenden Brunnen
um * * mich zu neuem Leben geſtaͤrkt haͤtte. Der-
ſelbe Grund der ihnen verbietet ihre Keller tief zu
graben, macht es auch ſehr ſchwer, Eisgruben zu
bauen, und ſo iſt das, in Deutſchland in großen
Haͤuſern ſo gewoͤhnliche Mittel das Getraͤnk zu er-
friſchen, hier ſehr ungebraͤuchlich. An vielen Or-
ten iſt das Waſſer gar nicht zu trinken. In Am-
ſterdam laͤßt man es von Utrecht kommen, auf
dem Gute, wo ich lebte, hatten wir Utrecht naͤ-
her, zogen aber einen Brunnen in einem nahen
Pachthof vor, wo es beſſer wie unſer Grabenwaſ-
ſer, aber doch ſehr ſchlecht war. Es iſt ein mat-
tes, geiſtloſes Getraͤnk. Ja geiſtlos! moͤgen doch
die Weintrinker lachen! Wer unter einem Kranz
hoher Kaſtanien im heiligen Dunkel ihres Laubes,
aus ſechs ſtarken Roͤhren das perlende Waſſer in
das große Steinbecken ſtuͤrzen zu ſehen gewohnt
war, wie dann die Sonne hie und da einen Spalt
fand, um auf den hellen Kriſtall die Farben des
Regenbogens zu mahlen, und alles rund umher
Leben athmete in dem feuchten Duft — der ge-
noß mit langen Zuͤgen das Geiſtige eines lebendi-
gen Quells.
Daß die Winterkaͤlte in dieſen Gegenden einen
ganz andern Karakter als bei uusuns haben muß, be-
merkte ich ſchon bei andern Gelegenheiten. Die
Kanaͤle frieren hier zwar alle Winter zu, ſo, daß
der Waſſertransport gewiſſe Monate im Jahr ganz
aufgehoben iſt, und dennoch erfrieren die ſo haͤufig
an den Landhaͤuſern gepflanzten Weinreben nicht,
deren Holz vier bis ſechs Zoll im Durchmeſſer hat.
An den Bauerhuͤtten, denen es ſelten an dieſer
lieblichen Zierde fehlt, traͤgt der Weinſtock keine
Fruͤchte, er wird aber auch gar nicht vor dem Fro-
ſte geſchuͤtzt. In B. ward er im Winter einge-
bunden, ſoll auch in andern Jahren recht eßbare
Fruͤchte tragen, in dieſem unfreundlichen Sommer
waren ſie gegen Ende Oktobers noch hart und
ſauer, und man verzweifelte ſie reifen zu ſehen.
Außer den noch um die Wohnhaͤuſer gepflanzten
Gebuͤſchen und ſchattigten Alleen, umgiebt ſie auf
den groͤßern Landguͤtern in der Naͤhe der Gemuͤß-
gaͤrten, der jedoch ſehr weißlich nicht als Geſichts-
punkt dem Auge dargelegt wird, indem er me ei-
nen maleriſchen Anblick gewaͤhrt, und Grasplaͤtze
mit Obſtbaͤumen bepflanzt, zu denen man die
guͤnſtigſten Lagen in Ruͤckſicht des Windes und der
Sonne waͤhlt. Außerdem iſt Gebuͤſch — unſre
Landjunker wuͤrden den zehnten Theil des Um-
fangs immer ſehr pompoͤs einen Park nennen, die
Hauptzierde der Umgebungen, es wechſelt mit
Wieſenplaͤtzen ab, es umgiebt ſtille Teiche, es
verbirgt Lauben und laͤndliche Sitze, es iſt uͤberall
mit Graͤben durchſchnitten, deren Ufer mit Raſen
belegt, und von beiden Seiten mit hohen Baͤumen
bepflanzt ſind, und zugleich durch ihre verſchiede-
ne Breite zu verſchiednen ſinnreichen Arten von
Bruͤcken Anlaß geben. Oft iſt es auch, um die
geringern Beſitzungen des Bauers mit dem Wege
zu verbinden, ein breites Brett, das an den bei-
den Ufern mit Angeln an Pfoſten befeſtigt, auf-
geklappt werden kann, und jenſeits der Beſitzung
befeſtigt wird, wodurch dann der Eingang von der
Waſſerſeite voͤllig geſperrt iſt, bis es dem Eigen-
thuͤmer gefaͤllt, von der Landſeite her, die an ſei-
ne Wohnung ſtoͤßt, den Steg herabzulaſſen. An-
dere, breitere, laͤngere Bruͤcken drehen ſich auf
einem mitten im Kanal ſtehenden Pfahl, und
werden, durch einen ſehr leichten Stoß von der
Seite der Beſitzung her, der Laͤnge lang ins
Waſſer gerichtet, wodurch der Eingang geſperrt
iſt. Zum innern Verkehr ſind ſie ſchoͤn verziert,
doch nie in der laͤcherlich halsbrechenden Bogen-
form, die in vielen deutſchen Gaͤrten die Zierden
des engliſchen Gartens ausmachen ſoll. Ueber
die Kanaͤle, deren unmittelbarer Zuſammenhang
mit den großen Waſſerwegen ſie dem Steigen und
Fallen des Waſſers unmittelbar ausſetzt, gehen
Bruͤcken die in Ketten hangen und ſo uͤber dem
Waſſer ruhen, oder von ihm gehoben werden,
nachdem ſein Stand iſt. Waͤhrend den Kriegs-
vorgaͤngen in der Schelde, waren die Hauptka-
naͤle um L. her oft bis zum Ueberlaufen voll, hie
und da traten ſie auf einige Stunden auf das
Ufer, bis die Muͤhlen das Gleichgewicht wieder
hergeſtellt hatten. Der Aufſeher des Gutes ſagte
mir, das ſei die letzte Ruͤckwirkung der ſehr hoch-
gehaltnen Waſſer gegen die Schelde zu, wo man
unter gewiſſen Umſtaͤnden das Durchſtechen der
Daͤmme befohlen habe. Das Durchbrechen eines
ſolchen Dammes iſt mir ein Blick, deſſen Furcht-
barkeit ich gar nicht ausdruͤcken kann. Oft ſind
Wohnungen unmittelbar hinter dem Damm, ſo,
daß ein Erdwall, wie wir ihn noch um unſre klei-
nen alten Feſtungen ſehen, der ungeheuren Waſſer-
maſſe zum Bette dient. Du ſiehſt ihn hier aus
dem Fenſter, wenige Schritte von dir auf zwan-
zig Fuß hoch ſteigen, und jenſeits iſt die Hoͤhe des
Dammes und die Waſſerhoͤhe faſt eins. Hat das
Waſſer einmal eine geringe Oeffnung gefunden,
ſo muß es furchtbar fortwuͤhlend bald jeden Wi-
derſtand aus dem Wege raͤumen, und unaufhalt-
ſam die Flaͤche in Beſitz nehmen.
Der große Umfang von Gebuͤſch, Alleen und
Pflanzungen iſt aber auf einem hollaͤndiſchen Land-
gut bei weitem nicht der Gegenſtand leerer Pracht,
noch bloßen Vergnuͤgens. Der ganze Platz iſt in
Schlaͤge eingetheilt, und wird regelmaͤßig als
Holzertrag benutzt. Nur die zunaͤchſt an das Haus
ſtoßenden Gebuͤſche und Alleen ſind davon ausge-
nommen, ſo lange eine beſondre Spekulation nicht
anders gebietet; alle laͤngs den Kanaͤlen gepflanz-
ten herrlichen Baͤume werden Jahr vor Jahr dezi-
mirt, aber der gefaͤllte Baum unmittelbar durch
einen neugepflanzten erſetzt. Von der Ueppigkeit
des Wuchſes dieſer Gebuͤſche habe ich keinen Be-
griff gehabt. Alle fuͤnf oder ſechs Jahr wird ein
Schlag abgetrieben, und die hohen Staͤmme an
den Kanaͤlen, oder an den mit gelblichem Sande
beſtreuten Wegen, an den Meiſtbietenden verkauft.
O brave Crillon ou etoit tu? armer * *, wenn
du einen Buchenſtamm fuͤr hundert und dreißig
Gulden verkaufen koͤnnteſt! So verkauft man hier
manche Staͤmme — ſie ſind praͤchtig, ja! —
aber o Ursperg, wie wuͤrdeſt du zum Eldorado
werden, wenn man die Rieſenſtaͤmme deiner hei-
ligen Haine an den Lech ſenden koͤnnte! Die Eichen
bleiben hier nicht ſo geſund wie die Buchen, und
auch unter dieſen truͤgen oft die ſchoͤnſten Staͤmme
durch anſcheinende Geſundheit, indeß ſie von der
Erde auf im Innern verfault ſind. Ein geſunder
Weidenſtamm — hier freilich himmelan ſtrebend
wie unſre ſchoͤnſten Pappeln, wird mit zwanzig,
dreißig Gulden bezahlt. Was man damit macht?
— Goldklumpen vielleicht? — Ja Klumpen
wohl, aber an die Fuͤße, das heißt: hoͤlzerne
Schuhe, die allgemeine Tracht der Landleute,
Troͤge, Faͤſſer, Teichgewerkzeuge u. ſ. w. Jedes
Stuͤckchen wird benutzt, der Abfall koſtbar geſam-
melt, die ganz krummen Zweige regelmaͤßig zer-
ſaͤgt, in regelmaͤßige Buͤndel geordnet, und zum
Gebrauch der Reichen, oder einiger Handwerker,
die Flammenfeuer nicht entbehren koͤnnen, nach
Amſterdam, Rotterdam und andre große Staͤdte
geſchickt. Auch im reichſten Hauſe wird der Ka-
min und die ſparſamen kleinen eiſernen Oefchen
mit Torf, hier und da mit Steinkohlen geheitzt,
die letzten ſind aber theurer wie Torf, beſonders
ſeit die Zufuhr von der See aus ſehr erſchwert iſt.
Auch in der Kuͤche bereitet man alles mit Torf-
feuer, nur der Bratſpieß fordert Holz und daher
ſteht es immer in einem ungeheuern Preiſe. Der
hieſige Torf hat aber keine Spur von widrigem
Geruche, die ausgegluͤhte Kohle verurſacht unter
dem Theekeſſel, im Stovchen nicht die mindeſte
Unbequemlichkeit, und die Waͤrme erhaͤlt ſich un-
glaublich lange in der weißlichen Aſche.
Die Eintheilung der Zimmer hat auf den hie-
ſigen Landhaͤuſern und Landguͤtern wieder viel
Aehnlichkeit von der in der Schweiz gebraͤuchli-
chen, ſo wie die der Mahlzeiten. Auch hier ver-
einigt das Fruͤhſtuͤck die Familien im Speiſezim-
mer; auch hier nimmt man, en famille, Abends
den Thee, nur bei gebetnen Gaͤſten wird er im
Sallon aufgetragen; auch hier iſt das Eßzimmer
eine Art von Anſprach- und Beſchaͤftigungsplatz
fuͤr haͤusliche Beſorgungen. — Dieſe große An-
nehmlichkeit, das Wohnzimmer vom Geruch der
Speiſen rein zu erhalten, kennen und verlangen
— beſonders in Suͤddeutſchland, die mittlern
Staͤnde gar nicht. Faſt allgemein opfert man
Reinlichkeit und Bequemlichkeit dem Triumph der
Eitelkeit auf, ein paar wohlausſtaffirte Beſuch-
zimmer zu haben, ſetzt aber zwei und drei Betten
in ein Schlafzimmer, und athmet den Geruch der
Speiſen vom Mittagseſſen bis zum Nachttiſch im
Wohnzimmer ein, wo denn das Abendeſſen am
folgenden Morgen wieder ſanft nachduftet, bis
mit Beſen gekehrt iſt. So weit es nur der Raum
erlaubt, giebt der gute Mittelſtand in der Schweiz
jedem Familienglied ſein eignes Schlafzimmer —
eben ſo hier zu Lande. Dieſes dient zugleich als
Kabinet, wo der Bewohner ſchreibt, lieſt, allein
ſeyn kann — das Eßzimmer verſammelt die Fa-
milie, und im Sallon, oder nur in dem Wohn-
zimmer der Hausfrau, wo der Sallon fehlt, ar-
beiten die Frauenzimmer, indeß die Maͤnner ihren
Geſchaͤften nachgehen. Natuͤrlich iſt es dabei, daß
man von einem ſolchen Schlafkabinet wenig Raum
fordert, aber unleugbar auch, daß Anſtand, Ord-
nung, Nettigkeit, ein gewiſſes Gefuͤhl anderer
Unabhaͤngigkeit zu ehren, durch dieſe Abſonderung
ſehr befoͤrdert wird. Nur die Stunden der Mahl-
zeiten ſind hier und in der ehrlichen alten Schweiz
ſehr verſchieden. Die Staͤnde, welche nicht zum
Volke gehoͤren, eſſen alle ſpaͤt, die hoͤhern erſt in
den Abendſtunden zu Mittag. Dieſe Sitte wird
in Amſterdam, vielleicht in allen großen Han-
delsſtaͤdten, von der Boͤrſenzeit beſtimmt, welche
erſt um vier Uhr zu Ende geht. Ehemals moch-
ten die guten Herrn vorher, das heißt, um eilf
oder zwoͤlf ſpeiſen, um Glockenſchlag zwei, wo
die Boͤrſe geoͤffnet wird, ihre fuͤnf Sinne geſtaͤrkt
zu haben, das waͤre anjetzt ein Hinderniß in der
ganzen Tagesordnung, alſo verſchiebt man es bis
nach der Boͤrſe, welches dann vermittelſt eines
lang fortlaufenden, mit Kaͤſe, geraͤuchertem Fleiſch,
Schinken und zufaͤlligen Leckerbiſſen bereicherten
Fruͤhſtuͤck endlich wohl angeht.
Die Zimmerverzierungen, ſo wie das Geraͤth,
ſoll in vielen Handelshaͤuſern ſehr praͤchtig, und
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bei manchen ſehr modern ſeyn. Fremde, welche
ſie beſuchten, meinten es fehle darin an Ge-
ſchmack, und beweiſe mehr die Abſicht Reichthum
zu zeigen, als die Gewohnheit, rafinirte Bequem-
lichkeit zu genießen. Dieſe Eigenheit, welche
nach dem Parvenuͤ riecht, bemerkte ich
ſehr oft bei bereicherten Leuten im Handelsſtande.
Weltleuten kann ſie zum Spott Anlaß geben, ih-
re Quelle iſt aber ehrwuͤrdig. Sie vergaßen noch
nicht wie muͤhſelig man erwirbt, der Sohn des
Bereicherten wird ſich unbefangen in den ſeid-
nen Betten dehnen, wird ohne Vorſicht mit ſeinen
ſtaubigen Stiefeln die Teppiche betreten — aber
auch nie das ehrwuͤrdige Gefuͤhl haben, Schmid
ſeines eignen Gluͤckes zu ſeyn. Die Landhaͤuſer
mancher angeſehnen und vornehmen Familien, die
ich ſah, bewieſen mir, daß ihr Stolz noch weiſe
genug iſt, um die Mode nicht zu beduͤrfen. Ich
fand hier, wie bei den vornehmſten Schweizerfa-
milien, bei der groͤßten Fuͤlle und Bequemlichkeit
keinen Widerwillen Geraͤthſchaften zu gebrauchen,
die den Eltern und Voreltern ſchon gedient hatten.
Moͤge dieſe Beharrlichkeit dauern! Mir iſt wohl
in den hohen Zimmern, mit den glattgebohnten
hohen Schraͤnken, mit derben Stuͤhlen, die ihren
Mann tragen — ein moderner Theetiſch mit Pa-
riſer Porzellain ſieht daneben recht freundlich aus,
und die fuͤnf Fuß hohen chineſiſchen Vaſen, und
bunten phantaſtiſchen Porzellaingefaͤße verzieren
ein Kamin vortrefflich neben dem ſchoͤne engliſche
Kupferſtiche haͤngen.
Die reichen Leute halten viel Pferde, und wie
mir daͤucht, ſah ich deren ſehr ſchoͤne. Eben ſo
die eleganteſten Fahrzeuge, von dem hohen Kabrio-
let (das vernuͤnftige Leute der hohen, ſchmalen
Daͤmme wegen doch nicht brauchen) bis zu einem
winzig kleinen Kariolchen herab, wie unſre Fell-
eiſen-Chaiſchen, wo eben ein breiter Mann drinn
Platz hat, zwei Raͤder darunter, aber aufs ſau-
berſte gebaut, gemalt und vergoldet. Auf dieſem
leichten Fuhrwerk kommen die einzelnen Maͤnner
gewoͤhnlich heran gefahren. Nennten die Franzo-
ſen eine gewiſſe Art Chaiſe, in der nur zwei Men-
ſchen Platz hatten, Desobligeante, ſo wuͤrde ich
dieſe Solitaire nennen. Die meiſten Fuhrwerke
haben nur zwei Raͤder, und nie fuͤhrt man Ge-
paͤck bei ſich, um im Innern des Landes zu reiſen.
Die Wege erlauben keine beladne Wagen, und die
zahlreichen Waſſerpoſten geben taͤglich mehrere
Male Gelegenheit Packete fortzuſenden. Um
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ſchnell fortzukommen, iſt der Landweg immer vor-
zuziehen, und die Schuits behalten in vielen
Ruͤckſichten manche Unbequemlichkeit. Eigne
Gondeln, welche etwa den Eigenthuͤmern großer
Landhaͤuſer angehoͤrig geſchienen, und neben den
Haͤuſern angebunden geweſen waͤren, ſah ich gar
nicht, begegnete auch keiner Waſſerparthie, wie
man auf den Schweizerſeen macht, wo man um
des Schiffens willen faͤhrt. Das iſt auch in ei-
nem Lande, wo das Schiffen taͤgliches Beduͤrfniß
iſt, ſehr natuͤrlich. Die Kanaͤle ſind auch an den
mehrſten Stellen, um zum Vergnuͤgen darauf zu
fahren, nicht breit genug. Die Trekſchuits, die
unablaͤſſig zwiſchen den Staͤdten den regelmaͤßigen
Verkehr unterhalten, ſind denn ohne Zweifel von
dem Mainzer Poſtſchiff ſehr guͤnſtig unterſchieden.
Sie haben drei Abtheilungen, oder Ruefen, wie
man es hier nennt. Die erſte wird abgeſondert
vermiethet, hat artige Polſter auf den Baͤnken,
ein Theeſervice, Glaͤſer, einen Tiſch — vier Per-
ſonen koͤnnen recht bequem drinnen wohnen, und
vorn geht eine Thuͤr auf das Steuer, wo es von
Menſchen leer bleibt. In der Mitte iſt der zweite
Ruef, wo die ordentlichen Leute hingehen —
das iſt wie eine Dilligence — noch mehr wie der
deutſche Poſtwagen; fuͤr Maͤnner eine ſehr beque-
me, hoͤchſt wohlfeile Art zu reiſen. Man ſteigt
in die Fenſter ein, hat Baͤnke, Tiſche und Raum
genug, wenn es leer iſt. Im dritten Ruef, der
auf dem Schiffsſchnabel ſich oͤffnet, treiben die
Schiffer ihr Weſen, und die namenloſen Weltbuͤr-
ger, eine mehr wie gemiſchte Geſellſchaft. Dieſe
Schuits ſegeln und rudern, und werden von Pfer-
den gezogen, je nachdem Strom, Wind und Fluth
es noͤthig macht. Die Koſten der Paſſagiere, ſelbſt
fuͤr den erſten Ruef, ſind ſehr gering. Bei einer
einzelnen Tagereiſe nehmen die Reiſenden kalte
Kuͤche mit ſich, Kaffee und Thee macht der Schif-
fer — ja ich wuͤßte nicht warum ſie nicht mehrere
Tage, ohne ein Wirthshaus zu betreten, fortrei-
ſen koͤnnten, wenn der Brodkorb auslangt? Des
Nachts geht man ans Land, oder beſteigt die
Nachtſchuit, denn auf den Hauptſtraßen gehen
Tag und Nacht Poſtſchuiten, und die Gaſthoͤfe
ſind vortrefflich! Wenige Menſchen, die ſich lieb
haͤtten, koͤnnten nun mit Buͤchern, Schreibzeug
und Handarbeit in ſo einem Ruef eine hoͤchſt an-
genehme Reiſe machen, ſo lange ſie das Wetter
beguͤnſtigte, aber in dieſem Falle wird die bewe-
gungsloje Enge ſehr laͤſtig, — und dieſe Bewe-
gungsloſigkeit druͤckt mich auf die Laͤnge doch ſehr.
— Ich will lieber geſchuͤttelt ſeyn, als mich ganz
widerſtandslos herumziehen laſſen. So weit ich
die Kanaͤle ſah, ſind ſie immer ſo ſchmal, daß die
Straße, welche meiſt zu beiden Seiten hinlaͤuft,
was darauf wandert, und was an ihr wohnt, mit
in den Schauplatz des Ruefs hineingezogen iſt.
Das Fahrzeug ſelbſt bietet immer ein veraͤndertes
Perſonal des Theaters dar, denn es wird beſtaͤn-
dig gelandet, neue Gefaͤhrten aufzunehmen, und
alte ans Land zu ſetzen; das geht aber ſo ſchnell,
daß es niemand einfallen kann uͤber den Verzug zu
klagen. Hier ſteht eine Naͤtherin mit dem Naͤh-
kiſtchen unter dem Arm, ein kleines Buͤndelchen
an der Hand, die ſoll in jenem Schloſſe arbeiten,
ſie nimmt ſorgfaͤltig die geglaͤttete Schuͤrze in Fal-
len, faßt den glaͤnzenden Zitzrock auf, und ſchluͤpft
in das Fenſter hinein. Dort wartet ein breit-
ſchultriger Ehrenmann mit einer ſchwarzen runden
Peruͤcke, ſchwarzpluͤſchnen Unterkleidern und Stie-
felmanſchetten, wohlig bei einem Glas Bier, bis
die Schuit landet, blaͤßt den Tabacksrauch vor
ſich her, ſteigt langſam in die Luke hinein, ſetzt
ſich, ordnet die Rockſchoͤßen, und fordert vom
Jager — ſo heißt der Schiffer, Feuer, ſeine bei
der Comotion ausgeloͤſchte Pfeife anzuzuͤnden.
Weiterhin ſchaut ein Domino — ſo von einer klei-
nen Landpfarre, dem Schiff entgegen — er hat
einen hinten hoch aufgerollten Haarputz, den das
hellere darunter vorblickende Nackenhaar fuͤr eine
Peruͤcke erklaͤrt, einen Japun von großblumig-
ten Kattun mit einem Gurt unter dem Bauche
gebunden, große runde ſilberne Schnallen, und
eine drei Fuß lange Koͤllner Pfeife im Munde.
Die Ruefsgeſellſchaft ruͤckt hoͤflich, der Gottes-
mann nickt ſalbungsvoll, eine Magd reicht ihm
ein Buͤndelchen nach, wo gewiß der Ornat drin
iſt, denn er will den Herrn Kollegen in dem naͤch-
ſten Dorfe beſuchen — und ſo geht es fort. Fecht-
meiſter, Tanzmeiſter, Kinder, Kriegsleute —
aber nie hoͤrte ich rauhe Reden, ein gellendes Ge-
laͤchter, nie das Gequike der weiblichen Reiſenden,
das die Poſtwaͤgen in Deutſchland immer hindern
wird, von Frauenzimmern aus dem Mittelſtande
benutzt zu werden. Die Contenance der hollaͤn-
diſchen Ruefsgeſellſchaft ſchien mir immer ſehr an-
ſtaͤndig.
Ich hatte mit meiner Freundin und ihrer Kam-
merfrau den erſten Ruef, der Abend wo wir Am-
ſterdam verließen war ſchoͤn — die Sonne faͤrbte
den Himmel mit dem Goldgelb, was eine Ahn-
dung des Herbſtes hervorbringt, eine Ahndung
der Verwandlung durch Tod zum Leben. Dieſes
Licht ſcheint zu einer Heiterkeit zu ſtimmen,
welche das Perſoͤnliche aus unſern Anſichten ent-
fernt, ich ſehe dann alles um mich wie zum letzten
Male, alſo mit unendlicher Liebe und theilneh-
mender Freude. — Wenn man durch die Haupt-
ſtraßen von Amſterdam faͤhrt, wenn man zwi-
ſchen den zierlichen Haͤuſern und Anlagen auf die-
ſen Kanaͤlen gleitet, ſollte man wohl denken, es
gaͤb keine Armuth in Holland. Aber wenn man
eine Weile bei den Landungsplaͤtzen ſtill haͤlt, be-
ſonders vor den groͤßern Staͤdten, wird dieſe Taͤu-
ſchung graͤßlich geſtoͤrt. Nie ſah ich ſo abgehun-
gerte, zerlumpte Menſchen, hoͤrte nie keinen ſo
vor Jammer und Ungeduld zuſammengeſetzten
Bettelton, wie bei dem Zollhauſe vor Amſterdam.
Der Ton war der naͤchſte Ausdruck neben Straßen-
raub oder Selbſtmord. Weiber, deren Bloͤße das
Mitleid mehr wie die Sittſamkeit empoͤrten, Maͤn-
ner, aus deren ſtruppigen Bart gelbe Zaͤhne her-
vorragten, unter denen ſich die blauen Lippen
grinſend zuruͤckzogen. Ich litt peinlich bei dem
Anblick — man moͤchte auf ſein Angeſicht fallen
und beten, daß ein Wetterſtrahl dieſes vernichtete
Gottesebenbild reinige und verzehre! — Was iſt
da Almoſen? was iſt es ſie der Armuth entreißen?
Dieſes verzerrte Geſicht wird nie mehr ſich aufrich-
ten zum ewigen Lichte — das Grab allein laͤutert
ſolche Verderbniß.
An Armenanſtalten mangelt es nicht, wohl
an wenig Orten wird fuͤr die Armuth ſo reichlich
geſorgt, wie in Amſterdam. Die Reichen geben
den Armen unglaublich viel Geld, aber das iſt
alles, was der Reiche in großen Staͤdten thun
kann; das ſchuͤtzt vor Verhungern, Erfrieren —
aber es hebt die Armuth nicht, es rettet nicht vor
Erniedrigung.
Bis Abcou iſt die Amſtel ſehr breit, — ich
athmete freier auf der ſchoͤnen Waſſerflaͤche, und
blickte ſehnſuchtsvoller nach allen denen von den
ich getrennt war — denn mir iſt euer Bild und
das geiſtige Umfaſſen der ganzen Gotteswelt im-
mer Eins! Von Abcou faͤhrt man bei beſtaͤndiger
Abwechſelung von Doͤrfern und Landhaͤuſern bis
Marsden fort. Der Verkehr iſt in dieſer Gegend
unglaublich groß! — iſt er es jetzt, wo aller
Handel niederliegt, was muß er in gluͤcklichern
Zeiten ſeyn? In Doͤrfern und außerdem an vielen
Stellen gehen Bruͤcken uͤber den Kanal, die bei
Annaͤherung der Schuits aufgezogen werden. Der
Handgriff iſt ſehr leicht, die Durchfahrt iſt in ein
Paar Minuten geſchehen; dennoch ſah ich von bei-
den Seiten in den Doͤrfern einen ganzen Haufen
Menſchen ſich verſammeln, welche, von der Schuit
aufgehalten, noch ehe die Bruͤcke wieder ganz ruhte,
ſie betraten, um ihrem Gewerbe nachzugehen.
Die Gaſthoͤfe auf dieſem Wege ſind aͤußerſt einla-
dend mit ihrem hellen Erdgeſchoß mit hohen Fen-
ſtern, hinter deren großen Spiegelſcheiben ſchneeweiſ-
ſe Umhaͤnge mit langen reichen Franzen durchſchim-
mern, und vor den Wohnhaͤuſern ſitzen uͤberall
in den Abendſtunden wohlgekleidete ruhige Men-
ſchen auf den zierlichen Baͤnken vor dem Hauſe,
und trinken ihren Thee. Da wir um zwei Uhr
von Amſterdam abgefahren waren, fanden wir bis
ſieben Uhr, wo wir in Marsden ankamen, die
Buͤrgerklaſſe und beſcheidene Menſchen bei ihrem
Veſperbrode im Freien, oder in den kleinen Pa-
villons verſammelt, die Reichen ſaßen Anfangs
noch am zweiten Fruͤhſtuͤck, dann an der Mittags-
tafel, die ich nirgends im Freien aufgedeckt ſah.
Marsden iſt dem Namen nach nur ein Dorf,
ich kenne aber keine deutſche Stadt, die ihm an
zierlicher Wohlhabeuheit gleich kaͤme. Die Pracht
einiger Hauptſtraßen, in einigen unſrer Haupt-
ſtaͤdte ſind hier vom Vergleich ansgeſchloſſenausgeſchloſſen. Die
Straßen ſind breit, neben den Kanaͤlen mit Baͤu-
men beſetzt, dieſe Kanaͤle ſind ſehr breit und das
Waſſer klar — beſonders war ein Theil des Dor-
fes ganz allerliebſt, wo die Kanaͤle eine Halbinſel
bildeten, die einen ſchattigten Garten umgab, der
mit den hohen Wipfeln ſeiner Pappeln ſich in dem
Waſſer ſpiegelte. Dieſer Garten war vor wenig
Tagen von ſeinem Eigenthuͤmer bei Gelegenheit
der Hochzeit ſeiner Tochter erleuchtet geweſen. Das
Lokal muß dieſem Schauſpiel einen beſondern Zau-
ber verliehen haben. Es giebt hier reiche Leute,
die Ausgaͤnge des Dorfs verlaͤngern ſich durch nied-
liche Landhaͤuſerchen, die von den Bewohnern der
naͤchſten Staͤdte fuͤr den Sommer gemiethet wer-
den. Die ſie umgebenden Gaͤrten duften alle von
Blumen, in den kleinen Gebuͤſchen bluͤht manches
fremde Geſtraͤuch, das die ausgebreitete Schiff-
fahrt dieſer Gegend zufuͤhrt; die Wege ſind alle
mit Sand geebnet, feſt, ohne einen Grashalm,
die Grasplaͤtze ſind alle dicht bewachſen und ſcharf
abgeſchnitten. In Vergleich unſrer deutſchen Doͤr-
fer — auch der ſchoͤnſten in der Rheinpfalz, ja
in der Schweiz ſelbſt, ſehen dieſe Doͤrfer doch noch
aus, als wenns immer Sonntag da waͤr.
In Marsden fanden wir unſern Wagen, lieſ-
ſen Utrecht links liegen, und fuhren zu Lande uͤber
Montfort nach L. zuruͤck. Das Land iſt uͤberall
nur in Weide, Wieſen und Gartenfeldern angelegt.
Im Ganzen iſt es waſſerleerer wie die Gegend von
Montfort uͤber Oudewater der Yſel entlang zum
Lech. Das Gras iſt auf den Wieſen ſo dicht mit
Halmen bedeckt, wie wirs an der Donau, und
in ganz Schwaben nicht haben, und ſo fein, von
allen fremden Pflanzen ſo gereinigt, wie auch
keine Berner Maht iſt. Mir daͤucht, es muß beim
Maͤhen zu einem Haufen anſchwellen, wie wenn
man eine Hand voll Federn aus der Bruſt eines
Waſſervogels rupft. Der Idylle und dem Maler
ſind die blumenloſen Wieſen nicht ſo guͤnſtig, aber
der Hirt muß ſie ohne Zweifel dem Stengelwerk,
das von unſerer Blumenflur im Heu ſtecken bleibt,
vorziehen.
Man baut hier ſehr vieles Gemuͤſe, beſonders
viele Paſtinaks — große Felder voll wie im Han-
noͤverſchen die gelben Ruͤben oder Moͤhren, und an
andern Orten die Runkelruͤbe. Das Heidekorn
ſtand in voller Bluͤthe und ſchimmerte im letzten
Sonnenſtrahl. Vor Montfort begegneten wir im
Halbdunkel, eh der Mond noch hochſtand, einem
Wagen, der auf dem engen Kanal uns nicht aus-
weichen konnte; es gab kein anderes Mittel, als
ihn auf den Schultern der Fuhrleute neben unſrer
Chaiſe vorbei zu heben. Die lieben Menſchen,
welche darauf ſaßen, ſtiegen alſo herab, ihre Pfer-
de wurden ausgeſpannt und der Wagen — ſo
eine Art Kirebn — ward, die Raͤder der einen
Seite auf dem Wege ruhend, die andere Seite von
den Armen der Maͤnner gehoben, indeß ſie hart
am Kanal ſich hinter den Baͤumen draͤngten und
an ſie hielten, vorbei geſchaft. Unſre Chaiſe hielt
indeß an der andern Seite des Kanals eine Hand
breit vom Waſſer. Dabei haben die Kutſcher
hier nie eine Peitſche, und ſchimpfen nie — ſie
geben den Pferden vernuͤnftige Gruͤnde an, und
regieren ſie mit einem leiſen Schnalzen der Zunge.
Da muß Pferd und Kutſcher ſich veredeln, wo’s
ſo zugeht.
Zehnter Abſchnitt.
Im September.
Es koͤmmt mir immer nothwendiger vor, ei-
nen kleinen Abſtecher an das Vorgebuͤrge der
guten Hofnung zu machen. Ihr ſeht das
Ding ſelbſt wohl ein. Vollſtaͤndigkeit iſt die
lebendige Kraft jedes Dinges, mir fehlt noch ein
Hottentotten Kraal um die Typen — das iſt ja
ein Modewort — von Menſchenwohnungen durch-
gegangen zu ſeyn. Ich lebte unter den Huͤtten
der polniſchen Leibeignen, ich bewohnte die Doͤr-
fer des Weſerufers, der Elbe, der Donau, ich ſah
den Wechſel der Jahrszeiten in den Wohnungen
des Berner Landmanns, ich ſah die herbſtlichen
Feſte des franzoͤſiſchen Bauers jenſeits des Jura-
Gebirgs, nun beſuche ich taͤglich die Haͤuſer des
hollaͤndiſchen Landmanns — gewiß mir fehlt der
Kraal, dann haͤtte ich den Zirkel beſchloſſen. Meint
Ihr, ich beduͤrfe auch noch die juͤngſt gebornen der
jetzigen Erde, noch die Bewohner der Inſeln des
Aufgangs zu ſehen? ſo habt ihr ſehr recht, denn
das Ideal fehlt mir noch. — Wahrlich ohne den
Krieg koͤnnte das weniger Ueberredung beduͤrfen,
ſo machte ich einen Abſtecher nach den Pelew-In-
ſeln — wohin ich wahrſcheinlich auch zu ſpaͤt kaͤm,
um eine Unſchuldswelt da zu finden, denn faͤnd’
ich ſie nicht
Alle an Schwachheit ſich gleich,
Alle dem Tode geweiht? —
Doch in welche Ordnung reihe ich dieſe ver-
ſchiednen Grade der Kultur, die ich ſah? Vielleicht
wuͤßte das ein Kluͤgerer beſſer zu entſcheiden, wie
ich. Mir haben die verſchiedenen Ziele, die man
der Menſchheit geſetzt hat, das Urtheilen benom-
men. Heißt das Zeit-Beſchraͤnktheit, oder Ent-
wickelung? Hat Rouſſeau oder Condorcet recht? —
Auf alle Faͤlle ſind wir von der Herrlichkeit der
Waldmenſchen ſo weit entfernt, daß wir foͤrder-
ſamſt wohl lieber nach dem Andern ſtreben muͤſ-
ſen. Alſo iſts Entwickelung? aber freilich wohl
eine Entwickelung, die uns wieder zu dem Wald-
menſchen zuruͤckfuͤhrte — naͤmlich zu ſeinem Ideal,
das ins goldne Zeitalter gehoͤrt. Großer Gott!
duͤrfen wir hoffen den Kreis zu beſchließen? Vor
dieſem erhabenen Ziele verhuͤlle ich mein Antlitz.
Doch es ſey ſo! ſchon das Streben iſt begluͤckend.
Welcher der verſchiedenen Zuſtaͤnde vom Hotten-
totten-Kraal bis zur hollaͤndiſchen geputzten
Bauernwohnung bietet aber wohl den Punkt dar,
von wo aus der Menſch am leichteſten zu dieſem
Streben geſchickt wuͤrde? — Aus Leibeigenſchaft,
oder buͤrgerlicher Freiheit? Ich ſehe Euch recht
wahrhaft erſchrocken, indem ich Euch die Meinung
aͤußere, daß der Menſch unter einem reinen Deſpo-
tismus mehr Faͤhigkeit zur Freiheit behaͤlt — alſo
zur hoͤchſten Entwickelung erzogen zu werden, als
unter irgend einer andern, jetzt vorhandnen Form
der Geſellſchaft, dem zufolge muͤßte ich alſo aus
den polniſchen Bauern den vollkommenern Men-
ſchen ziehen wollen? Hm! der polniſche Deſpotis-
mus reicht mir noch nicht hin. Das iſt kein rei-
ner Deſpotismus — ſeit hundert Jahren gar nicht
mehr. Der orientaliſche, der gefaͤllt mir. Der
Deſpot muß, wie man die Hand umkehrt, Pa-
triarch werden koͤnnen, und dann wird er Erzie-
her und endlich Befreier, und die Nachwelt ver-
ſetzt ihn neben Numa unter die Himmliſchen. Wir
ſind zum Vergoͤttern zu klug geworden — darin
liegt unſer ganzes Elend. Gebt uns die Faͤhigkeit
an Groͤße zu glauben, der Menſchen unſers Zeit-
alters, und der goͤttliche Funken iſt wieder in uns
erweckt. — Doch zuruͤck zu meinen Menſchen-
wohnungen.
Auf breiten Landwegen, uͤber Sandſtrecken,
auf denen bei trocknem Wetter die Raͤder knarren,
fahr ich zwiſchen Heidekornfeldern hin — große
mooſige Flaͤchen unterbrechen ihre roͤthliche Bluͤthe,
die wenig Wochen nach der Ausſaat aus dem kah-
len Boden einen ſanften Teppich gebildet hat.
Von beiden Seiten beſchraͤnken endloſe Waͤlder den
Geſichtskreis. Jetzt ſehe ich Reſte von hoͤlzernen
Umzaͤunungen, einige magere Kuͤhe kriechen matt
auf der duͤrren Weide, einige eben ſo kleine Pfer-
de mit dicken Koͤpfen und ſtarken Beinen kommen
bei dem Pfeifen des Poſtillions lebhaft aus dem
Walde geſprungen und laufen vor dem Wagen
her, um an dem Poſthauſe ſich einſpannen zu laſ-
ſen. Nun komme ich an ein Strohdach, das ge-
rade hoch genug vom Boden erhoͤht iſt, um mei-
nen Arm darauf ſtuͤtzen zu koͤnnen. Es iſt aus
Balken zuſammen gelegt, die Ritzen mit Moos
verſtopft, und ein Paar Loͤcher, die hinein geſaͤgt
ſind, dienen zu Fenſtern. Aus einem groͤßern,
das bis zum Boden geht, qualmet mir ein dicker
R
Rauch, ein ſtinkender Dampf entgegen, dennoch
ſteig ich hinab. — Erſt nach einer Weile, und
nur wenn ich den Boden erreicht habe, kann ich
durch die blaͤulichen Duͤnſte, welche die Huͤtte an-
fuͤllen, die Gegenſtaͤnde erkennen. Die eine Seite
iſt von ein Paar Schweinen, von dem Stand von
ein Paar Kuͤhen eingenommen, gegenuͤber iſt eine
Art Heerd von einem Fuß Hoͤhe, worauf kaum
geſpaltne gruͤne Baͤume brennen — im naͤchſten
Walde fand ich uͤberall die nicht gefaͤllten, ſondern
niedergebrannten Staͤmme, deren Krone und Aeſte
man am Boden verfaulen laͤßt, und nur den
Stamm fortfaͤhrt. Dauert nun der naͤchſte Win-
ter laͤnger wie der Vorrath herbei geſchleppter Baͤu-
me, ſo brennt man die hoͤlzernen Umzaͤunungen,
nachher die Sparren vom Dach, und das Stroh,
das ſie ſtuͤtzten, wird, da das Futter fuͤr die elen-
den Kuͤhe auch mangelt, in die Krippe geworfen.
Vielleicht, kommt dann im Fruͤhjahr einmal der
Verwalter dieſen Weg, dann muß der Bewohner
dieſer Huͤtte den Zaun herſtellen, und das Dach
decken, ſonſt bekommt er Pruͤgel, und einen Theil
Pruͤgel bekommt er auf alle Faͤlle, weil er den
Zaun verfallen ließ; aber dieſe ſind im Laufe des
Jahres ſchon berechnet. Um den niedern, rau-
chenden Heerd ſitzen ein Paar alte Weiber, die
Koͤpfe in farbige Lumpen gewickelt, die Fuͤße in
Schuhe von Birkenrinde geſteckt, die braunen, ma-
gern Arme, den ſchlaffen Buſen von einem groben
grauen Hemde ſpaͤrlich bedeckt — doch die eine
ſaͤugt ihr Kind — dieſe Mutterpflicht beweiſt mir,
daß ſie nicht ſo alt iſt, wie die Runzeln ihres Ge-
ſichts es mir glauben ließen. Das Kind iſt in ein
Stuͤck Schaffell gewickelt, und ſtatt Windeln hat
man ihm Moos untergelegt. Das aͤltere Weib,
oder das nicht ſaͤugende — denn vielleicht hat auch
ſie nicht die Zeit, ſondern die Muͤhſeligkeit geal-
tert — ruͤhrt in einem Keſſel grobgehackte, ge-
gohrne Kraͤuter, ein ſchwarzer Teig wird hinein
gebrockt, ein Paar Loͤffel Leinoͤl daruͤber gegoſſen,
und nun iſt das leckere Gericht fertig. Jetzt ruft
das ſaͤugende Weib mit ſanfter, melancholiſcher
Stimme in einer wohltoͤnenden Sprache einige
Worte, und ein hagerer Mann, mit langſamen,
ſchleppenden Schritt ſteigt in die Huͤtte hinab.
Ein Schafspelz bedeckt den bloßen Leib, ein Paar
grobe leinene Beinkleider — er geht in den Win-
kel der Huͤtte, wo ich auf einem gruͤnen Bogen
Papier ein kleines Straͤuschen von Goldflitter er-
blicke, das der Rauch nicht ganz ſchwaͤrzte, und
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unter ihm auf dem gruͤnen Papier iſt ein Heiligen-
Bild befeſtigt. Der matte finſtre Mann kniet und
betet, dann ſetzt er ſich im Rauch auf den niedern
Heerd, das gegohrne Gemengſel iſt in eine hoͤl-
zerne Schaale geleert, und die drei Menſchen be-
friedigen ſtillſchweigend ihren Hunger. Das Ge-
maͤlde ſah ich an den Ufern der Willia.
Auf einem geraden ebenen Sandweg, zwiſchen
zween Kanaͤlen fahre ich unter hohen Weiden, die
mit unſrer italiaͤniſchen Pappel an Schoͤnheit wett-
eifern. — Auf der einen Seite ſtoͤßt ein großes
eingedeichtes Stuͤcke Landes an den Weg, deſſen
ganzer Umfang mit eben ſolchen Alleen und Ka-
naͤlen eingefaßt iſt. An jeder Ecke des großen
Vierecks ſehe ich Windmuͤhlen ihre ungeſchickten
Arme ausſtrecken, und hinter den Baͤumen ſteigen
artige Kirchthuͤrme auf, die mir die Naͤhe von
Staͤdtchen und Doͤrfern verkuͤnden. Auf der lin-
ken Seite grenzen mehrere Alleen an den Kanal,
dann ein Gehoͤlz, das ſchlaͤngelnde Wege durch-
ſchneidet, nun fahre ich vor einer Gitterthuͤre vor-
uͤber und erblicke am Ende einer vierfachen Reihe
der groͤßten, praͤchtigſten Buchen, die ich jemals
ſah, ein ſchoͤnes großes Haus, wie alle Haͤuſer
dieſer Gegend von Backſteinen gebaut, mit zierli-
chen Nebengebaͤuden umgeben. Da muß man
gaſtfreundlich aufgenommen werden, ſagt mir
der Anblick, hier blickt ſo viel Wohlſtand hervor,
daß der Gaſt nicht laͤſtig ſeyn kann, und nichts iſt
hier ſo praͤchtig, daß es den Fremdling verſchuͤch-
tern koͤnnte. Jetzt fahre ich auf einer mit Back-
ſteinen gepflaſterten Straße durch ein Dorf —
und da mag der Wagen ſeinen Weg fahren, ich
beſchreibe euch ein Bauerhaus, wie ich es taͤglich
in der Gegend von Woerden und Oudewater be-
ſuche.
Die ganze Wohnung iſt von einem mit Back-
ſteinen gepflaſterten Platze umgeben, der ſo eben,
ſo rein iſt, daß er meiner Leidenſchaft fuͤr duͤnne
ſeidne Schuhe nie im Wege ſtuͤnde. Aus eben der
Urſache kann aber der hieſige Landmann auch hoͤl-
zerne Schuhe tragen, denen die holperichen Stein-
wege abgeneigt ſind, weil ſie bald darauf zer-
ſpringen wuͤrden. Beiher geſagt hat man von
einem Dorf zum andern, von einer Stadt zur an-
dern immer einen Sommer, und einen Winterweg.
Der erſte iſt ein bloßer geebenter Feldweg, der an-
dere iſt mit Sand beſchuͤttet, und feſtgeſtampft.
In den bloßen Feldwegen bleibt man nach einigen
Regentagen ohne Umſtaͤnde ſtecken, da aber die
letzteren mehr Muͤhe koſten, ſind ſie nicht ſo zahl-
reich, ſo daß der Verkehr außer der Landſtraße,
zwiſchen den Beſitzungen, oft ſehr laͤſtig werden
mag. Allein auch da helfen die Kanaͤle, ſo ſchmal
ſie ſeyn moͤgen. Der Bauer ladet einen kleinen
Nachen voll, und ſchiebt ihn, am Ufer gehend,
mit einem großen Stock vor ſich her. Ein Bauer-
haus hat nicht mehr wie das Erdgeſchoß, die ro-
then Backſteine ſind mit einem weißen Kitt zu-
ſammen gefuͤgt, das Holzwerk alles gruͤn, weiß
oder grau angeſtrichen, das Schilfdach — denn
ſelten ſieht man ein anderes, nach dem Winkel-
maße geſchnitten. Bei dem Eintritt in die Thuͤr,
die immer wie in Niederſachſen halb getheilt iſt,
und durch die obere Haͤlfte immer Luft und Licht
einlaͤßt, finde ich einen großen mit großen gebrann-
ten Steinen, oft mit einer Art Moſaik, gepflaſter-
ten Raum. Auf der einen Seite ſtehen die hoͤl-
zernen Milchgeſchirre, große Faͤſſer naͤmlich, denn
die Milch wird hier alle friſch von der Kuh zu
Butter und Kaͤſe verarbeitet, und die Butter wird
nicht aus Rahm, ſondern aus der Milch gebut-
tert. Alles das hoͤlzerne Geraͤthe iſt mit der aus-
geſuchteſten Reinlichkeit geputzt, und aufgeſtellt.
Hinter der Thuͤr iſt ein kleiner Kamin, wo das
zum Kaͤſemachen noͤthige Waſſer geſotten, und die
Mahlzeit der Familie im Sommer gekocht wird;
daneben ſteht ein glaͤnzend gebohnter Tiſch und
gepolſterte Stuͤhle. Im Hintergrunde des Raums
befindet ſich ein etwas erhoͤhter Platz, rings um
alle Waͤnde mit freundlichen Fließen ausgelegt,
gelb und braune im Schachbrett, oder blaue mit
abentheuerlichen Geſtalten, wie bei uns. In deſ-
ſen Mitte iſt ein ganz niedriger Heerd, der zugleich
als Kamin dient, um im Winter die Wohnung zu
heizen. Rund um den Heerdmantel iſt ein Fal-
bala von weißem Muſſelin, oder geſtreiftem Zeuge,
ein glaͤnzend geſcheuerter meſſingener Theekeſſel
und ſymmetriſch geordnete Feuerzange und Schau-
fel mit meſſingenen Griffen, verzieren den Heerd.
Auf beiden Seiten ſind Geruͤſte mit Delfter Fayen-
cenen Schuͤſſeln reich beſetzt, ein Paar artige Ti-
ſche, wo auf dem einen eine große Folio-Bibel
ſteht, und auf ihr liegt eine Kleiderbuͤrſte, auf
dem andern ſteht ein Theezeng mit allem Zubehoͤr.
Die ſauberen Rohrſtuͤhle ſind mit roßhaarnen Pol-
ſtern verſehen, und vollenden das nothduͤrftige
Hausgeraͤth. Das Licht faͤllt durch ein ſehr groſ-
ſes, uͤber der Thuͤr angebrachtes Fenſter. Von
der einen Seite gehet eine Thuͤre in ein großes Zim-
mer, das im harten Winter der Familie zum Auf-
enthalte dient, es hat auch einen Heerd; im Som-
mer aber bewahrt man die Kaͤſe darin auf, die im
Herbſt alle verkauft ſeyn muͤſſen. Außerdem iſt
noch ein Behaͤltniß da, das als Keller dient, wo
die Kaͤſe anfangs hinein kommen, um in Gaͤhrung
zu gerathen, und ſich mit Salz zu durchziehen.
Alle dieſe Gemaͤcher haben helle, große Fenſter,
und reinliche weiße Vorhaͤnge. Ja, die Kaͤſe-
und Kellerkammer hat ſchneeweiße Vorhaͤnge, die
Kaͤſe liegen auf reinen Geruͤſten, ein weiß ge-
ſcheuertes Salzfaß, einige Faͤßchen voll Butter
zum Verkauf bereitet, oder zum Wintervorrathe
der Familie beſtimmt, einige neue ſchoͤn gefirnißte
Toͤpfe, zeigen die wohlbeſorgte Wirthſchaft an.
Du kannſt deinen Shawl, dein Schnupftuch uͤber-
all hinlegen, ohne Furcht ſie zu beſchmutzen, alles
glaͤnzt von Sauberkeit. Die Schlafſtellen ſind in
dem vordern Raum, und in dem Winterzimmer,
alle in der Wand angebracht, ſo daß du vor jedem
Bett nur einen Vorhang von farbigem wollenen
Zeug ſiehſt, wie bei einem Alkoven. — Das iſt
die Beſchreibung des ſchlechteſten Bauerhauſes,
was ich hier ſah. Die beſſern ſind ſchon in meh-
rere Gemaͤcher abgetheilt, ein oder zwei ſehr ſau-
bere Glasſchraͤnke enthalten glaͤnzendes Meſſing-
Geſchirr und einen Vorrath Taſſen, Teller und
Toͤpfe von mehr oder weniger artigem Porcellain.
Die Waͤnde ſind gemahlt oder mit bunten Kupfer-
ſtichen geziert, die ganze Kuͤche mit Fließen belegt,
und zu dem Theetiſch geſellen ſich noch einige huͤb-
ſche Komoden mit glaͤnzenden Schildern, die ich
in mehr wie einem Hauſe von Mahagoni-Holz
antraf.
In der Gegend von * * * wohnte ein Klum-
penmacher — ich ſagte euch, daß die hoͤlzernen
Schuhe ſo heißen. Der Mann wanderte vor neun-
zehn Jahren aus Weſtphalen ein, arbeitete bei ſei-
nem Vorgaͤnger als Geſell, heirathete dann ſeine
Wittwe, gewann durch Fleiß und Ordnung ſo
viel, daß er einen kleinen Holzhandel anfing, und
jetzt ein Vermoͤgen von vielen Tauſenden aufwei-
ſen kann. Dieſes Haus beſuchte ich gern, es war
ſchon ein Handwerksmann, aber im Dorfe, kein
Staͤdter. Die Werkſtaͤtte lag dem Hauſe gegen-
uͤber, die Klumpen wurden davor Mauer hoch auf-
gethuͤrmt. Neben dem Wohnhaus ſtand die Som-
merkuͤche — ein kleines Gebaͤude, wo den Som-
mer uͤber alle Wirthſchaftsgeſchaͤfte abgethan wur-
den, um das Wohnhaus zu ſchonen. Ein hefti-
ger Regenguß, der uns einmal auf dem Wege von
Woerden uͤberfiel, zog einem Kinde, das wir bei
uns hatten, eine Unpaͤßlichkeit zu, ſo daß wir bei
der Frau Klumpenmachern ausſtiegen. In wenig
Minuten war der Thee gemacht, eben ſo ſchnell
ſetzte ſie uns Kaffee vor, uͤberzog ein Paar Kiſſen
ihres Bettes mit ſchneeweißem Linnen, bettete die
Kleine darauf, und wie wir wieder fortfuhren gab
ſie uns die reinliche weiße wollene Decke ihres
Bettes die kleine Kranke einzuhuͤllen. In dem
Empfang der Frau war keine Verlegenheit, die
Zubereitung des Thees machte ihr keine Umſtaͤnde,
aber er macht auch freilich eines ihrer taͤglichen
Beduͤrfniſſe aus, auch des Bauers. Dieſe Men-
ſchen naͤhren ſich nach ganz anderm Masſtab wie
ein deutſcher Bauer. Der hollaͤndiſche Bauer faͤngt
den Tag mit einem Kaffeefruͤhſtuͤck an, zu dem
Butter und Brodt gegeſſen wird — denn trocke-
nes Brodt iſt fuͤr hieſiges Geſinde und die Land-
leute ein wahres Unding. — Das geſchieht ſo
lange das Vieh auf die Weide geht fruͤh um 4 Uhr.
Um 10 Uhr trinkt man Thee und ißt wieder But-
ter und Brodt, um 12 Uhr erfolgt das Mittags-
mahl, Speck, geraͤuchertes Fleiſch, Gemuͤſe —
keine Suppe, die wird fuͤr den Sonntag aufgeho-
ben, um 6 Uhr trinkt man wieder Thee mit But-
terbrodt, und Abends nach 8 Uhr beſchließen Kar-
toffeln, Kaͤſe und Milchmus den Tag. Aber da-
gegen geht auch ein rechtlicher Bauer ſehr wenig
ins Wirthshaus, er trinkt auch weder Bier noch
Wein als gewoͤhnliches Getraͤnk, der Wachholder-
branntewein bleibt ihm ein Leckerbiſſen, den er maͤſ-
ſig genießt. Daß der Landmann bei ſo einer Le-
bensweiſe wohlgenaͤhrt ausſieht, daß die Weiber
ſich dabei gut erhalten, das begreift ihr leicht. Das
Weib thut wenig Arbeit außer dem Hauſe, ihr iſt
das Kaͤſemachen und Buttern uͤberlaſſen, das ge-
ſchieht zweimal den Tag, ſo wie der Mann, wel-
cher die Kuͤhe auf der Weide melkt, die Milch ins
Haus bringt. Auch ſehen die Weiber bis in ein
ſpaͤtes Alter bluͤhend aus, wenn ſie gleich fruͤh
ihre ſchlanke Geſtalt verlieren, und ſchwerfaͤllig
und dick werden. Dieſe Menſchen ſcheinen bei
allem, was ſie umgiebt, Bequemlichkeit, Rein-
lichkeit, Symmetrie und frohe Farben zu bezwek-
ken. Sollte man denn da nicht auf eine allgemei-
ne Anlage zum Schoͤnheitsſinn ſchließen? War-
um beſtaͤtigt die Vermuthung ſich nicht? wenn ich
mich umſehe ſo erſtaune ich, daß alle Gegenſtaͤnde
das Gegentheil des Unangenehmen, und doch nie-
mals Schoͤnheit ausſprechen. Die Menſchen, die
Dinge und der Boden haben nichts, was die Fan-
taſie erhebt. Die litthauiſche Jammerhoͤle ruft
jedes Gefuͤhl von Mitleid und Haß hervor, ein
Berner Bauerhaus entzuͤckt mich zur Idylle
— eine hollaͤndiſche Wirthſchaft macht mich
leer und ſchlaͤfrig. — Ja, zur Idylle entzuͤckt eine
Berner Huͤtte! was fehlt denn ſie zu idealiſiren?
Denkt euch das neue Bauerhaus in Deiswyl, wo
wir mit unſern Knaben dieſen Sommer Milch aſ-
ſen — die Schneeberge rechts, der veilchenbraune
Jura links, die reiche, weiche, lachende Ausſicht
von Hofwyl, Seedorf, dem Waſſerſpiegel, der
Buchenwald — du gehſt durch ſchlaͤngelnde Pfade
uͤber einige gehegte Wieſen, wo uͤberall die freund-
liche Hand des Geſetzes ſpricht; unter einem Dache
von Obſtbluͤthen hoͤrſt du beim Eintritt in den Hof
den lebendigen Brunnen reich, kriſtallhell in das
große Becken fallen, die großen fetten Kuͤhe laben
ſich an dem klaren Strom, ſie ſehen ſich langſam
nach dem Fremdling um, und gehen zufrieden un-
ter dem ſanften Schall ihrer Glocken auf den Stall
zu. Du ſteigſt die Stufen hinan — — wenn
nun * * dort wohnte? wenn er mir von der Feld-
arbeit zuruͤckkehrend die Hand boͤt, wenn ich in
jenem holzbekleideten, von großen Fenſtern erhell-
ten Zimmerchen meine Bibliothek faͤnde? wenn
meiner Kinder freundliche Geſichter mich beim
Abendbrodt empfingen, ein Blumenſtraus zum
Geſchenk an meinen Platz gelegt, einen Theil von
Goͤthe neben der Milchſchuͤſſel aufgeſchlagen, zur
Feier des Tagesſchluſſes einlud — was waͤr denn
da idealiſirt? Koͤnnten wir nicht ſo leben in ſo ei-
ner Huͤtte? — iſt denn der Blumenſtrauß und
Goͤthe ausgenommen, das Leben eines wohlha-
benden Schweizerbauern ſo verſchieden von dieſem
Bilde? — Idealiſirt mir nun aber einmal ſo ein
allerliebſtes hollaͤndiſches Haus. Dieſe praͤchtigen
Buchen, die zwoͤlf bis dreizehn Fuß im Umfang
haben, ſind in gerade Reihen gepflanzt; dieſe vol-
lendet gearbeiteten Mauern von Backſtein, dieſer
Hausaͤhren, wo der Hans und die Grethe neben
einander am Theetopf ſitzen; die Gardinchen mit
Franzen, die langen Jacken der Weiber, die Schni-
pfelhauben, die kein Haar ſehen laſſen; die gera-
den Kanaͤle, die der Einbildungskraft gar nichts
zu thun geben, ſondern der Wirklichkeit auf tau-
ſend Schritt weit entgegen ſehen laſſen — das
alles toͤdtet die Fantaſie. — Und dann das An-
denken vergangner Thaten, das den Schweizer
Bauern an ſeine Natur knuͤpft, die Erhabenheit
des Schoͤpfers, die auf ſeinen Schneegipfeln thront
— das iſt ſeelenerhebender, wie eben ſo große
Thaten auf dieſem flachen Lande, wie die knechti-
ſche Natur, die dieſe gepflanzten Baͤume ſchaft,
dieſe geleiteten Waſſer fortrollt. Ich lebte ja in
dem Alpenlande ohne den lebhaften Enthuſiasmus,
der, weil er zu viel behauptet, wenig beweiſt.
Fuͤr mich war Tell nie ein Brutus und Morgar-
ten kein Termopylaͤ, aber jene ſchneebedeckten Gi-
pfel, jene Felſenzacken waren mir dennoch heilige
Zeugen, nicht ſowohl jener ſchwer zu beweiſenden,
vielleicht ſehr zweideutigen Thaten, als des goͤtt-
lichen Funkens in der Menſchenbruſt, der bei allem
Erhabenen entgluͤht.
Eilfter Abſchnitt.
Ich wohnte hier auch der Feier eines vaterlaͤndi-
ſchen Andenkens bei, wie wir ſie bei uns nicht ge-
wohnt ſind. Den 15ten Auguſt wurde in Oude-
water der Jahrstag der Einnahme dieſer Stadt
begangen, die im Jahre 1675 von den Spaniern
erobert und ihre proteſtantiſchen Einwohner grau-
ſam geopfert wurden. Die ganze Begebenheit
ward in einer Predigt hiſtoriſch vorgetragen, dann
mit Anwendungen, Bemerkungen und Gebeten
verſehen, und endlich der neun und ſiebenzigſte
Pſalm geſungen. Der Vortrag des Mannes ſchien
mir nicht ohne Intereſſe, ſeine Stimme war ange-
nehm, und ſeine Deklamation einfach, eindrin-
gend, ohne theatraliſch zu ſeyn. Wie viel thun
doch die Menſchen ohne die Bedeutung ihrer Tha-
ten zu bedenken! — leſet nur dieſen ſelbſtſuͤchti-
gen, blutduͤrſtigen Pſalm nach! dieſes Abrechnen
mit dem Herrgott, und dieſes Hadern, wo er ſeine
Schuldigkeit nicht gethan, und ſein Volk nicht be-
ſchuͤtzt hat — wie koͤnnen die Menſchen an dem
Tage, wo ſie das Andenken einer feindlichen Er-
oberung feiern, dieſen Pſalm ſingen, ohne An-
wendungen zu machen, die zu einem ſchrecklichen
Reſultat fuͤhren koͤnnten? — und wie manchmal
hoͤrte ich in Deutſchland von oͤſterreichiſchen Sol-
daten, von Bundestruppen Schillers Reuterslied
mit allen ſeinen Strophen ſingen, und — Gott
ſey Dank! — es wirkte auch nicht. Mir ward
in der Oudewatner Kirche ganz wunderlich, wie
der Menſch die Belagerung beſchrieb, die Orte
nannte, wo ihre Voreltern auf den Mauern gefal-
len waren, die Verzweiflung der Muͤtter beſchrieb,
die auf dem nahen Platze ihre Kinder vertheidigt
hatten, die Verdammniß der Abtruͤnnigen, die in
der Kirche, wo jetzt die reine Lehre erſchalle, zur
Abgoͤtterei gezwungen worden — und dann den
ſchauderlichen Pſalm intonirte! — Aber die Menge
um mich her nahm wenig Antheil daran, prome-
nirte, ſchwatzte und ſchlief — wirklich auf eine
recht unanſtaͤndige Weiſe. Ihr koͤnnt dieſe Gleich-
guͤltigkeit durch die Gewohnheit entſchuldigen, ſeit
ein Paar hundert Jahren denſelben Gegenſtand
behandeln zu hoͤren; aber das erklaͤrt es nicht. Es
ſind nicht dieſelben Menſchen, jedes Jahr fuͤhrt
der Vater ſeinen Sohn dahin, jedes Jahr hoͤrt es
der Juͤngling in einem andern Verhaͤltniß gegen
den Staat und die Mitbuͤrger. — Nein, es iſt nicht
Gewohnheit, es iſt Unempfaͤnglichkeit. Der Funke
ſchlaͤft, den dieſes Andenken entzuͤnden koͤnnte —
weſſen Weisheit wagt aber den Moment zu be-
ſtimmen, wo dieſe Predigt ihn erwecken kann?
und welche Wichtigkeit hat alsdann dieſe Predigt!
Wir kannten in unſern Tagen einen Geſang, der
Tauſende mit dem ſchoͤnſten Enthuſiasmus ent-
zuͤndete, und ſollte ich die Flucht der erhabenen
Taͤuſchung, die eine kurze Zeit die Seelen hinriß,
mit wenigen Worten ſchildern, ſo wuͤrde ich ſa-
gen: die Marſeiller Hymne ward vergeſſen. Die-
ſer Geſang! — ja ſeinen Toͤnen war es mancher
Mann aus dem letzten Jahrzehend des verfloſſe-
nen Jahrhunderts ſchuldig, daß er mit den hoͤch-
ſten Gefuͤhlen, deren der Menſch faͤhig iſt, das
Leben verließ.
Nachdem nun die Mordpredigt, wie dieſer
Gottesdienſt hier genannt wird, beendigt war,
ging ich auf das Stadthaus, um ein hiſtoriſches
Gemaͤhlde zu ſehen, welches die Einnahme der
Stadt von den Spaniern darſtellte. Ich fand eine
S
Art in oͤhlgemahlten Feſtungsplan — ein großes
Wandgemaͤhlde von mehr wie zehn Fuß Breite,
in dem die Perſonen mit hinein gemahlt waren.
Alſo nichts fuͤr die Kunſt. Allein vor dieſem Ge-
maͤhlde fand ich ein viel aufmerkſameres Publi-
kum wie in der Kirche. Ein zahlreicher Volkshau-
fen draͤngte ſich in der geraͤumigen Halle, und
horchte auf die Erklaͤrung, die ein rechtlicher Buͤr-
gersmann von der Darſtellung machte. Dieſer
ſtand mit einem Stabe in der Hand auf einem
Tiſche, deutete auf die verſchiedenen Gegenſtaͤnde
des Gemaͤhldes, wobei er den hiſtoriſchen Theil
der Predigt gleichſam zum Text unterlegte. Aller
Augen ſuchten den ſpaniſchen General, der, den
breiten Theil ſeiner ſelbſt und ſeines Pferdes den
Zuſchauern zugekehrt, im Vordergrunde der Tafel
ſtand, dann zeigte ſich einer dem andern die an-
draͤngenden Haufen gegen das Stadtthor zu, und
oben auf der Mauer den patriotiſchen Befehlsha-
ber, deſſen Namen ich leider vergaß, wie er mit
lebhafter Gebehrde ſeine Streiter ermahnt. — O
ihr Menſchen, die ihr eine Geſchichte habt, die ihr
Menſchen hattet, welche der Geſchichte gehoͤren,
ſolche Erzaͤhlungen gebt euerm Volke, und dabei
verachtet die aͤußern Zeichen nicht, zeigt den Saͤ-
bel des Kriegers, der zuerſt die Mauer erſtieg,
zeigt den Helm des Anfuͤhrers, den der feindliche
Hieb ſpaltete, nennt den Namen vor dem Volke,
und iſt ſein Enkel und der letzte ſeines Namens in
der Verſammlung, ſo moͤgen aller Augen ihn ſu-
chen, und er mag um ſich blicken und ahnden:
das thaͤt ich auch. Auch die Weiber unſers
Jahrzehends ſind noch die Muͤtter von Helden.
Kaͤmpften, bluteten denn nicht die Einzelnen alle,
geweiht der Pflicht und dem Tode, wie die Maͤn-
ner der Vergangenheit es thaten? Lehret ihnen den
großen Namen wieder, der ihr Blut fordert —
ſie werden ihn verſtehen — ſo wie ihre Vaͤter
ihn verſtanden.
Oudewater wird hier fuͤr ein aͤrmliches Staͤdt-
chen gehalten, wirklich hat es auch nicht das
wohlhabende Anſehen von einigen andern gleicher
Groͤße, aber dennoch eine große Kirche, einen
Markt mit hohen unverſtuͤmmelten Buchen be-
pflanzt, und ein paar Straßen von niedlichen
freundlichen Haͤuſern gebildet. Ich beſuchte hier
zufaͤllig einen Advokaten, mit dem mein Freund
* * in Geſchaͤftsverhaͤltniſſen ſteht, ein Menſch,
der auch ein kleines Stadtamt bekleidete, und ſein
Haus, ſo wie das eines Arztes in dem benachbar-
S 2
ten Dorfe, und einiger Kraͤmer, die ich aufſuchte,
gab mir einen Begriff von dem haͤuslichen Weſen
der untern Klaſſe des Mittelſtandes. Myn Herr
Damm bewohnte ein eignes Haus, das von der
Hausthuͤr an mit artigen Strohmatten belegt war.
Im Erdgeſchoß befand ſich ein Anſprachzimmer
mit gemahlten Tapeten, auf Leinwand mit Oehl-
farbe. Solche Tapeten hat man von verſchiednem
Werth, ſie muͤſſen an Ort und Stelle gemahlt
ſeyn, ja ich fand in einigen guten Haͤuſern ſehr
ſchoͤne Gemaͤhlde dieſer Art, beſonders Landſchaf-
ten. Hier waren es lauter Seeſtuͤrme, dieſes
Wogen umbraußte Aſyl war ganz mit Mahagony-
geraͤth verſehen, hatte einen ſchoͤnen flanderſchen
Fußteppich, artiges Theezeug auf einem zierli-
chen Theetiſch ausgeſtellt, und die eleganteſten
Franzen an den Vorhaͤngen, die der Witz unſrer
modigen Hausfrauen nur erſinnen koͤnnte. Weni-
ger ſchoͤn, aber vollkommen zierlich fand ich in dem
langen ſchmalen Hauſe von einem Stockwerk, eine
Reihe, dem Gebrauch der Familie angehoͤriger
Zimmer. Das Schlafzimmer der Eheleute war
mit goldenem Leder beſchlagen, wie man in
Deutſchland noch in einigen alten Schloͤſſern fin-
det. Die Betten ſind auch hier uͤberall in der
Wand verborgen. In der Kuͤche ſah ich zu mei-
ner Verwunderung kein Fuͤnkchen Feuer, obſchon
die Mittagszeit heranruͤckte. Sie war ganz mit
blauen Flieſen belegt, der Boden mit glaſirten
Backſteinen im blau und weißen Schachbrett, al-
les Holzgeraͤth himmelblau angeſtrichen und um
den Heerd, ſo wie vor den Fenſtern, weiße ge-
ſtickte muſelinene Umhaͤnge. Das Meſſing- und
Porzellaingeraͤth war alles in Glasſchraͤnken ver-
wahrt. Man fuͤhrte uns durch ein kleines Garten-
zimmer, in dem ich wieder unter dem Spiegel die
Foliobibel ſtehen fand, in den Gemuͤſegarten.
Die Beete mit Backſteinen eingefaßt, die Wege
mit Backſteinen verſchiedener Farbe in einer Art
Moſaik gepflaſtert — nichts regelmaͤßigeres, rein-
gehaltneres auf der Welt! — nach meiner tadel-
haften Gewohnheit ſuchte ich meinen Weg allein
weiter fort, wo ich denn bald auf ein paar alte
hoͤlzerne Schirme ſtieß, aus denen man, mit Huͤlfe
einiger oben daruͤber gelegten Bretter eine Art klei-
nen Schuppens gebildet hatte. Unter dieſem brannte
ein Torffeuerchen, und hing ein eiſerner Topf mit
einem Stuͤck Rindfleiſch, daneben ſtanden in ird-
nen Gefaͤßen rein gewaſchne Kartoffeln, und die
Schwaͤnzchen von ein paar friſche Heeringen guck-
ten zwiſchen einem daruͤber gelegten hoͤlzernen
Deckel heraus. Der Fund war mir Geldeswerth!
nun konnte ich mir doch die himmelblaue Marzi-
pankuͤche erklaͤren. Meine Freundin bedeutete
mich, daß ich in wenig buͤrgerlichen Haͤuſern ein
reichlicheres Mahl finden wuͤrde, und noch dazu
nicht alle Tage ein friſch gekochtes Stuͤck Fleiſch
— das braͤchte nur der Sonntag wegen der als-
dann geſtatteten Suppe, und dieſe kompendioͤſe
Kuͤche werde von der Reinlichkeitsliebe dieſer Leute
durchaus gefordert.
Weil ihr noch immer in Oudewater ſeid, ſo
kommt mit mir zu einer Fiſcherparthie, zu der ich
auf dieſem Wege fuhr, und die als aͤcht hollaͤndiſch
viel Intereſſe fuͤr mich hatte. Mein Gaſtfreund
war mit mehreren Maͤnnern ſchon den vergangnen
Abend nach Jagersfeld gefahren, um von dort
aus jenſeits des Lecks zu fiſchen. Das heißt: mit
der Angel. Dieſe Art zu fiſchen ſteht jedermann
in allen Waͤſſern frei, verabreden ſich Geſellſchaf-
ten dazu, ſo begruͤßen ſie die Eigenthuͤmer großer
Beſitzungen, die an den von ihnen beſuchten Ka-
naͤlen liegen, wohl bei ihrer Ankunft, aber ſie ha-
ben von ihnen keine Erlaubniß zu erbitten. Wir
richteten uns ein, um vier Uhr zum Mittagseſſen
in Jagersdorf zu ſeyn. Jenſeits Oudewater gegen
die Yßel zu liegt das Land viel tiefer als gegen
Woerden. Die Polder ſind ſehr klein und die Zahl
der Abzugsgraͤben oder Schlote um ſo groͤßer.
Alle Graͤben ſind mit Baͤumen bepflanzt, und in
dieſer Jahrszeit ſind alle Kanaͤle mit Waſſerlinſen
dergeſtalt bewachſen, daß ich dieſer Tage aus
meinem Fenſter eine Katze ſah, die ein Jagdhund
verfolgte, und die mitten in einen Kanal ſprang,
den ſie, der ihn bedeckenden Waſſerlinſen wegen,
fuͤr eine gruͤne Matte gehalten hatte. Seitdem
nahm ich mich ſelbſt vor dergleichen Verſehen in Acht.
Weit entfernt, daß dieſes Gewaͤchs dem Waſſer
einen widrigen Geruch gaͤb, bin ich geneigt zu
glauben, daß es ſeine Verderbniß verhindere, in-
dem es die Wirkung der Sonne auf ſeine Ober-
flaͤche unterbricht. Ein friſcher Wind fegt dieſe
gruͤne Decke vor ſich her, und entbloͤßt auf den
Ponds oder Teichen, ſo wie auf den Kanaͤlen, ein
klares Waſſer. Oft haͤuft ſich dann dieſes Ge-
waͤchs an einigen Orten ſo ſtark, daß es ſich vor
den Schuits die daruͤber fahren hoch anhaͤuft, in-
dem ſie eine Fahrſtraße durchhin ziehen. Sollte
denn nicht die große Anzahl von Baͤumen durch
ihr Nahrungsbeduͤrfniß auch einen großen Theil
der aufſteigenden Duͤnſte verzehren? ich begreife
ſonſt nicht, wie die Menſchen hier unter Umſtanden
leben koͤnnen, die nach den Anſichten unſrer Aerzte
ganz zerſtoͤrend ſeyn muͤſten. Das Gruͤn auf die-
ſen Polders iſt ganz zauberiſch! von einer Entfer-
nung zur andern ragen Windmuͤhlen hervor, oft
in einer ſo abentheuerlichen Hoͤhe, daß ſie wie
Wachthuͤrme ausſehen. In der Naͤhe hoher
Daͤmme muͤſſen die Windmuͤhlen eine Hoͤhe ha-
ben, die ihnen trotz jener Einwirkung, den Wind
zukommen laͤßt. Die Yßel fließt an einigen Or-
ten zwiſchen hohen Daͤmmen, hinter denen die
Haͤuſer verborgen liegen. Sie hat ein garſtiges
braͤunliches Waſſer, wie ich in den andern Kanaͤ-
len nicht ſah, wie der viel breitere Leck bei Jagers-
dorf auch nicht hat. Der Geruch des vielen
Flachſes, der hier im gedaͤmmten Waſſer lag,
machte einen Theil des Weges recht unangenehm,
auch vieles zum trocknen aufgeſtelltes Schilf ver-
peſtete die Luft mit Sumpfgeruch. Das Schilf
iſt hier ein ſo noͤthiges Material, daß es im Lan-
de ſelbſt nicht hinlaͤnglich erzeugt, ſondern von
Oſtfriesland und Nordholland noch eingefuͤhrt
wird. Außer der Bedeckung der Daͤcher, dient
es auch zu Einzaͤunungen, und zu Schutzdaͤchern
bei einer Menge Arbeiten. Zum trocknen des
Torfes ſind in den Torfgruͤnden lange Schuppen
aufgefuͤhrt, die allein aus Pfaͤhlen beſtehen, uͤber
die Decken von Schilf nach Beduͤrfniß zugedeckt
oder aufgedeckt werden. Warum benutzen wir
das Schilf nicht an der Donau eben ſo?
In Jagersdorf, das dicht an dem Leck, hin-
ter dem hohen Damme liegt, innerhalb welchem er
fließt, iſt ein ſehr huͤbſches großes Dorf. Der
Wirth unſers Gaſthofs war zugleich Aufſeher uͤber
die Teiche des Diſtrikts. Die Ordnung und
Strenge, der Gemeingeiſt und die Thaͤtigkeit,
mit der dieſes Geſchaͤft betrieben wird, floͤßte mir
das hoͤchſte Intereſſe ein. Die Regierung hat gar
nichts damit zu thun, es iſt ganz die Sache der
Landeigenthuͤmer — der Vortheil iſt allgemein,
ſo ſind auch die Koſten. Der Aufſeher hat einen
bis in das genaueſte Detail verzeichneten Plan
ſeines Diſtriktes, den er außerdem aufs fleißigſte
begeht, und den Zuſtand der Teiche unaufhoͤrlich
beobachtet. Sobald irgendwo ein Schaden wahr-
genommen wird, muß es dem Aufſeher gemeldet
werden, in deſſen Hauſe ein großer Vorrath aller
noͤthigen Handwerkszeuge zu dem Teichbau auf-
bewahrt iſt, ſogar eine große Anzahl Laternen,
um des Nachts ohne Verzug zu Huͤlfe eilen zu
koͤnnen. Ich fand eine große Scheune mit Schub-
karren, Pfaͤhlen, Weidengerten, Hacken, Schau-
feln, und andern mir nicht bekannten Inſtrumen-
ten angefuͤllt, und in ſtrenger Ordnung ſo aufge-
ſpeichert, daß keines verhinderte das andere zuerſt
herbei zu holen. Zu gewiſſen beſtimmten Zeiten
verſammeln ſich alle Grundeigenthuͤmer des Di-
ſtrikts bei dem Teichmeiſter, berathſchlagen die
noͤthigen Arbeiten, und berechnen die Koſten, die
alsdann nach der ſtrengſten Ausmeſſung an jedem
Einzelnen vertheilt werden. Mir daͤucht es iſt
nicht zu berechnen, wie zutraͤglich die Beſchaffen-
heit des Bodens und die daraus hervorgehenden
Beduͤrfniſſe dem Gemeingeiſt ſeyn muͤſſen. Jeder
Eigenthuͤmer iſt hier dem andern gleich, denn die
Nothwendigkeit, das kleinſte Eigenthum zu
ſichern, iſt eben ſo dringend, als von dem groͤß-
ten die Gefahr abzuwenden. Das Bewußtſeyn
alſo, ohne hoͤhere Einmiſchung, ein ſehr weſent-
liches Theil zum Wohl des Ganzen beizutragen,
muß daneben jedem der einzelnen Maͤnner eine ge-
wiſſe Wuͤrde in ſeinen eignen Augen geben, und
ihm den Fleck Erde ſo lieb machen, durch den er
ſie erhaͤlt. Sollten aber politiſche Veraͤnderun-
gen einſt ſo heftig auf den allgemeinen Wohlſtand
wirken, daß die Bewohner — nur eines Diſtrikts,
aus Armuth, aus Ueberdruß, oder weil ein hoͤhe-
res, wenn auch nur momentanes Intereſſe ſie fort-
riß, ihr Deichgeſchaͤft nicht zu betreiben, ſo wuͤrde
ſich bald eine Verwuͤſtung uͤber dieſes Land ver-
breiten, deren Fortſchritt nicht zu berechnen waͤre.
Ich glaube nicht, daß der Wille und die Macht
der Regierung den Gemeingeiſt, der jetzt dieſes
kuͤnſtlich erſchaffne Land kuͤnſtlich erhaͤlt, erſetzen
koͤnnte. Ihre beſoldeten Werkzeuge haͤtten nicht
den Eifer den allgemeiner Vortheil dem Privatbe-
ſitzer einfloͤßt, und das lange Recht ſich ſelbſt zu
berathen, wuͤrde ſtatt Eifer fuͤr das allgemeine
Beſte, Uebelwollen gegen den aufgedrungenen Be-
rather einfloͤßen; Leidenſchaft traͤte an die Stelle
der ruhigen Sorgfalt, welche die feindlichen Ele-
mente bis jetzt in Zaum hielt, und wir koͤnntens
vielleicht noch erleben, daß ſich da ein faules Meer
verbreitete, wo jetzt frohe Menſchen leben, und
lachende Triften ſich ausbreiten.
Wir kamen ſo fruͤh in Jagersdorf an, daß uns
Zeit blieb, die Gegend zu beſehen. Wir ließen
uns den Leck hinunter fahren bis Almeiden, einem
netten Dorfe von lauter Weiden umgeben. In
der daſigen Kirche beſahen wir mehrere ſehr gleich-
guͤltige Grabmahle angeſehener Familien, bei de-
nen der Kuͤnſtler immer bedacht geweſen war, die
Sinnbilder des Todes mit ſo nachdrucksvollen
Kennzeichen der irdiſchen Wuͤrde ſeiner verſtorbe-
nen Goͤnner zu verbraͤmen, daß der Auferſtehungs-
engel gewiß den Grabſtein nicht ohne einen Buͤck-
ling beruͤhren wird. Solche Grabmahle und In-
ſchriften beluſtigen mich immer ungemein. Wir
beſuchten auch ein nahgelegenes ziemlich ſchlecht
unterhaltenes Landgut, um das es ſchade war —
es war eine huͤbſche Anlage, ſchoͤne Weihmuths-
kiefern, ſo ſtark und gruͤnend wie ich ſie iemals
ſah, Pappeln und Ahorn, große Platanen und
jugendliche Fichten, in uͤppigem Gemiſch — das
Haus ſtand ſehr vortheilhaft, man blickte aus al-
len Fenſtern uͤber die gruͤne Welt, den breiten,
ſchoͤnen Leck, und nahe umher in Blumenplaͤtze,
kleiner Teiche und geſchlungene Wege. Vor den
beiden Eingaͤngen des Hauſes ſprach ſich der Ge-
ſchmack des Beſitzes in vier gigantiſchen Goͤtterge-
ſtalten, bunt auf Bretter gemahlt und ausgeſchnit-
ten, aus, die in ihrer platten Oberflaͤche vier derbe
Jahrszeiten vorſtellten. Ich hielt ſie von weitem
fuͤr Schilderhaͤuschen, bis ich, ſie von der Seite
faſſend, meinen Irthum wahrnahm. Wir duͤrfen
daruͤber nicht ſpotten, ich erinnere mich der Zeit
ſehr wohl, wo ich in einem fuͤrſtlichen Garten in
Norddeutſchland eben ſo gezimmerte und ange-
mahlte Loͤwen und Tieger ſpringen ſah. Ich weiß
gar nicht, ob die Kunſt bei unſerm gereinigten Ge-
ſchmack gewonnen hat? das Leben gewiß nicht —
das war lebendiger, wie jeder Gartenliebhaber ſein
Fleckchen Erbeigenthum noch mit irgend einer ſchoͤ-
nen Geſtaltung zierte, ſo zwoͤlf thoͤnerne Himmels-
zeichen, wo ein dickbaͤckiger Bube unter andern
den Skorpion an den Bauch gedruͤckt hielt, oder
Delphine und Vogel Greifs. Und lebendiges Le-
ben geraͤth leicht wieder auf Kunſt — es iſt die
Frage, ob unſre ſatte Weisheit oder aufgeſchraub-
ter Enthuſiasmus uns je dahin bringt.
Nach vier Uhr ſtellten ſich unſre Fiſcher mit
vollen Fiſchertaſchen ein, und bald war ein recht
nationelles Mahl bereitet. In dem Wirthszim-
mer, deſſen einfache Reinlichkeit recht einladend
war, und wo auf jedem Tiſch eine Anzahl neue
Koͤllner Pfeifen, und ein paar zierliche fayancene
Spucknaͤpfchen ſtanden, ward die Tafel mit blen-
dend weißer Waͤſche belegt, und ohne vorangehen-
de Suppe eine Schuͤſſel voll blau geſottener Bar-
ſchen nach der andern aufgetragen — denn die
Leckerhaftigkeit beſteht darin, ſie immer warm zu
genießen. Bei jeder friſchen Schuͤſſel erhaͤlt man
reine Teller — ein ſehr wohlausgeſonnenes Mit-
tel die Eßluſt zu erhalten, welche der Anblick der
Ueberreſte ſehr ſtoͤrt — neben den Fiſchen machte
friſche Butter und friſch geſottene Kartoffeln die
ganze Mahlzeit aus. Zu den Fiſchen trinkt man
immer weiße ſuͤße franzoͤſiſche Weine. Zum Nach-
tiſch erſchien eine große Verſchiedenheit von Leb-
kuchen, deren ſich mehrere Staͤdte ruͤhmen, die
beſten zu verfertigen, und guter Kaͤſe. Nach mei-
nem Beduͤnken kann der Genuß nicht weiſer ein-
gerichtet ſeyn, als er es bei dieſem Mahle iſt.
Das beſte in ſeiner Gattung ganz ungemiſcht zu
genießen — das ſcheint mir die wahre Eßweis-
heit. Daß die anweſenden Fiſcher jeder ihre Beute
auf der Schuͤſſel wieder erkannten, und die Ge-
ſchichte ihres Fanges erzaͤhlten — das verſteht
ſich. Macht man an den Orten, wo die Vogel-
jagd reichliche Ausbeute giebt, an Schnepfen,
Wachteln, Lerchen, nicht eben ſolche Parthien in
Deutſchland? Ich ſah dort bei allen Landfahrten
immer ſo viele Schuͤſſeln zuſammentragen, daß
die Hausſorgen der Damen, und ihr eiferſuͤch-
tiger Wetteifer, das leckerſte mitzubringen, alle
Luſtigkeit erſchwerte. Ich werde von der Fiſch-
parthie in Jagersdorf ein ſehr angenehmes Anden-
ken behalten.
Zwoͤlfter Abſchnitt.
September. Reiſe nach Leyden u. ſ. w.
Bis Woerden geht der Weg nach Alphen immer
neben Kanaͤlen her, meiſtens neben dem, welcher
die Kommunikation zwiſchen Leyden und Amſter-
dam erhaͤlt. Oft ſind ſie von beiden Seiten mit
Baͤumen bepflanzt, immer bietet die Ausſicht weite
Flaͤchen, und hie und da, bald einzeln, bald zahl-
reicher die laͤcherlichen Windmuͤhlen, die mit ihren
toͤlpiſchen Bewegungen durchaus behext ſcheinen.
Sind dieſe Muͤhlen an befahrnen aber nicht Haupt-
kanaͤlen gelegen — denn uͤber dieſe gehen Zug-
bruͤcken — ſo haben ſie eine Art Bruͤckchen, die,
wahrſcheinlich ſehr unſchuldig, in manchen unſern
deutſchen engliſchen Gaͤrten nachgeahmt ſind. Es
fuͤhren mehrere Stufen hinauf und herunter, da-
bei ſind ſie ſo ſchmal, daß ſie nur mit Ausſchluß
korpulenter Paſſagiere beſchritten werden koͤnnen,
und ſo leicht, daß ein Kind ſie ſchuͤtteln kann. Im
Hollaͤndiſchen heißen ſie — ich weiß nicht, ob al-
luſoriſch, „het Gewakel.“ Man koͤnnte die poe-
tiſche Beſchreibung mancher Reiſenden von dem
gepflanzten Paradies mancher gefuͤhlvollen, kunſt-
liebenden deutſchen Herrſchaft, drollig verunſtal-
ten, wenn man die leichte Bruͤcke, die ſich kuͤhn
uͤber die Silberfluth erhebt, ſchlichtweg „das Ge-
wakle uͤberm Graben“ nennte. Dieſe Gegend iſt
ſo bebaut und ſo bewohnt, daß man ſelten bemer-
ken kann, welches das letzte Haus des einen, oder
das erſte des andern Dorfes iſt. Zwiſchen innen
werden die zerſtreuten Ortſchaften wieder von ir-
gend einem Landgute mit ſchoͤngepflanzten Alleen
und Gebuͤſchen verbunden. Geht man mit der
Nachtſchuit, ſo blinken fortwaͤhrend hie und da,
nah und fern, die Lichter aus den gruͤn umpflanz-
ten Fenſtern in die ſtille Fluth. Oft findet man
Gebaͤude, welche jetzt nur Bauerhoͤfe ſind, aber
ehemals Herrſchaftliche waren, die noch in den
Titeln der Herrſchaften prangen. So iſt nicht
weit von Montfort eine ehemalige Herrſchaft, He-
lenſtein, woſelbſt noch ein Ueberreſt einer alten
Mauer, des in ehemaligen Kriegen zerſtoͤrten
Schloſſes zu ſehen iſt, und eines der letzten Haͤu-
ſer, wenn man von * * * nach Woerden faͤhrt,
heißt Polanen. Beide ſind jetzt Pachthoͤfe, allein
T
der Baron * * fuͤhrt noch den Titel eines Herrn
von Polanen und Helenſtein, beſitzt auch noch ei-
nige herrſchaftliche Vorrechte.
Woerden iſt befeſtigt, das heißt, es hat ein
friedliches gruͤnberaſtes Waͤllchen, und klare Waſ-
ſergraͤben. Ein Theil davon iſt mit ſchoͤnen Baͤu-
men beſetzt. Die Schuit von Haag nach Utrecht
geht taͤglich hier durch, und weiter nach Amſter-
dam. Es iſt ein freundliches Staͤdtchen, deſſen
inneres Weſen in Ehingen, Enzwahingen, Naum-
burg, Nordheim oder Friedberg ſehr fabelhaft klin-
gen wuͤrde. Die Straßen ſind alle mit Backſtei-
nen gepflaſtert, die Haͤuſer alle ohne Treppen vor
der Thuͤr, geben den Bewohnern das Anſehen ohne
allen Ruͤckhalt mit den Vorbeigehenden zu verkeh-
ren. Die meiſten haben nur das Erdgeſchoß,
mehr wie einen Stock in keinem Fall. Appetitli-
che Baͤckerlaͤdchen, buntfarbige Zitz- und Wolle-
Butiken, glaͤnzende Silberſchmidtsſchraͤnkchen, la-
den den Kaͤufer ein. Vor dem Hauſe iſt das Pflaſter
immer muſiviſch gearbeitet und mit einem ſchwar-
zen, dem Eiſen nachahmenden Gelaͤnder verſehen,
hinter dem, auf zierlichen Baͤnken, die Leute Abends
ihren Thee trinken. Alle Fenſter blitzen von Rein-
lichkeit, und laſſen ſchoͤn befranzte Vorhaͤnge durch-
ſchimmern — denn nie darf ein Sonnenſtrahl in
ein Zimmer fallen, die Luft ſelbſt laͤßt man nur
durch wenig aufgeſchobene Fenſter ein — denn
hier werden die Fenſter alle hinaufwaͤrts geſcho-
ben, nicht in Fluͤgeln geoͤffnet. Das Pflaſter, das
Gelaͤnder, alles Holzwerk vor den Haͤuſern, wird
alle Woche mit Lauge abgewaſchen, und die Stei-
ne mit ſchwarzer und rother Erde gerieben. Selbſt
bei ſtarkem Regenwetter fand ich hier nur Naͤſſe,
keinen Koth. Wenn man bedenkt, daß das Ge-
werb nur an den Ufern des Kanals getrieben wird,
hier alſo nur leichte Wagen durchrollen, daß aller
Unrath der Haͤuſer auf der Waſſerſeite fortgeſchaft
wird, ſo iſt die ausgeſuchte Reinlichkeit ſo eines
Staͤdtchens wohl begreiflich.
Von Woerden nach Bodegraven zu ſind an-
ſehnliche Ziegelbrennereien. Eine Ziegelbrennerei
iſt bei uns meiſtens, ſelbſt an den Thoren von Re-
ſidenzſtaͤdten, wie Stuttgardt, ein widrig raͤuche-
riges Bauwerk, oft nur ein Zuſammenhang aͤrm-
licher Schoppen und Scherbenhaufen. Hier iſt
alles nett und zweckmaͤßig. Eine halbe Stunde
lang faͤhrt man zwiſchen lauter zu dieſen Fabriken
gehoͤrigen Wohnungen und Gebaͤuden. Die ge-
brannten Steine, die hier von verſchiedener Farbe,
T 2
zu verſchiedenem Gebrauch verfertigt werden, ſind
zierlich in langen Mauern aufgeſchichtet, um die
Ofen her liegt der Torf unter wohlerhaltenen
Schuppen, die reinlichen Trockenhaͤuſer ruhen auf
Pfaͤhlen, werden aber gegen die Wetterſeite von
Schilfwaͤnden geſchuͤtzt, die willkuͤhrlich von ei-
nem Platz zum andern geſetzt werden, ſo, daß die
zu trocknenden Backſteine immer vor dem Regen
geſchuͤtzt werden koͤnnen. Das Material, ſo wie
die verfertigte Waare, wird auf den Kanaͤlen
transportirt, die Landwege mit feſtgeſtampften
Sand beſchuͤttet, ſind alſo in der Naͤhe dieſer thaͤ-
tigen Fabriken ſo wohlerhalten, als ſonſt wo.
Bodegraven iſt nur ein Dorf, aber groß und
zierlich. Landleute und Hirten wohnen hier auch
nicht, ſondern nur Handwerker, Schiffer und
Kraͤmer. Kurz hinter Bodegraven ſieht man die
Wierker Schanze, an dem Einfluß der Wierke in
den Kanal, linker Hand. Es iſt ein viereckiger
Wall, durch welchen eine wohlverwahrte Zug-
bruͤcke uͤber volle Waſſergraͤben in einen Raum
fuͤhrt, der nichts als einige Kaſernen hat, um
eine kleine Garniſon nebſt dem ihr noͤthigen Ge-
ſchuͤtz und Kriegsvorrath zu beherbergen. Solche
kleine Feſtungen haben in dieſem friedlichen gruͤ-
nenden Lande etwas recht ſchauderliches fuͤr mich,
etwas recht kontraſtirendes. Die Natur hat es
gar nicht zum Kampfplatz beſtimmt. Sie erinnern
mich immer an die Schanzen, welche die Spanier
anfangs in Hispaniola anlegten. Eine feſte Stadt
vereint — freilich auf eine Ungluͤck bringende Art
— den Kriegszwang mit den Banden des Buͤrger-
lebens, allein eine ſolche Schanze, wo nur eine
oͤde Kaſerne zwiſchen den hohen Waͤllen ſteht, nur
der ſtumme Todesmund der Kanonen aus den
Schießſcharten vorblickt, nur die ſchwarzen Kugel-
pyramiden das leere, ſpaͤrlich begraſte Pflaſter des
Hofes verzieren — das iſt das eiſernſte Bild der
Gewalt, es paßt ſich nicht in dieſes Land. Auch
das unter Waſſer ſetzen ſollte nicht ſeyn, das hat
etwas Feiges, Zerſtoͤrendes, es fordert keine per-
ſoͤnliche Kraftanſtrengung, und diejenigen, wel-
che es verfuͤgen, ſind nie die, welche davon
leiden.
Vor Alphen wird der Kanal breiter, und iſt
vor und hinter dieſem allerliebſten Staͤdtchen ſehr
ſchoͤn. Der Zufall hielt mich hier ein paar Tage
auf; die Freundin, mit der ich hier eine Zuſam-
menkunft auf einige Stunden verabredet hatte,
ward gleich nach ihrer Ankunft unbaß, und konn-
te erſt am dritten Tage ihre Ruͤckkehr nach * *
antreten. Da meine Gaſtfreunde auf keine ſo
lange Abweſenheit von mir gerechnet hatten, ſchick-
te ich meine Begleiterin mit ihrem Wagen nach
* * zuruͤck, und wir beiden Weiber, die kranke * *
und ich blieben ganz allein. Wir geben wohl zu
wenig auf die Vortheile Achtung, die uns in zahl-
loſen Faͤllen aus der jetzigen Kultur erwachſen, und
deklamiren nur ſtets uͤber das Verderbniß das ſie
erzeugt. Wir beiden Weiber befanden uns jetzt
ganz allein, von allen Menſchen, die durch per-
ſoͤnliche Verhaͤltniſſe zu unſerm Schutze aufgern-
fen waren, auf mehrere Meilen entfernt, ohne
Kenntniß der Landesſprache vollkommen ſicher und
behaglich an dieſem Ort, den wir beide zum erſten
Mal ſahen. Man koͤnnte wohl noch hinzu ſetzen,
daß ein Dutzend Meilen von uns der Feind ſtand,
und demnach im ganzen Lande kriegeriſche Bewe-
gungen gemacht wurden. Welche Gewohnheit
von Geſetzmaͤßigkeit und Sittlichkeit gehoͤrt nicht
dazu, um einen ſo ruhigen Zuſtand der Geſell-
ſchaft hervor zu bringen! — muß nicht, wo er
beſteht, einem Haufen Boͤſen Gelegenheit und
Beiſpiel genommen ſeyn? Denke man ſich ſo ver-
einzelt zwei Frauen im funfzehnten Jahrhundert,
— welche Reihe von Gewaltthaͤtigkeiten verflicht
da nicht unſre Phantaſie, von der Geſchichte be-
reichert, in ihre Lage. Nicht allein die Wohltha-
ten der Ruhe und Sicherheit beſchaͤftigten meine
Betrachtungen, ſondern auch alle die ſanften Tu-
genden und forſchenden Wiſſenſchaften die aus ih-
nen entſtehen. Ich ſtand in einer ſtuͤrmiſchen
Mondnacht an dem Fenſter, und vertiefte mich in
dieſe Betrachtungen, indeß mein Blick auf der
Ausſicht, die vor mir lag, ruhete. Den Tag
uͤber hatte mich das lebendige Treiben auf dem
Kanal, und an dem gegenſeitigen Ufer ungemein
ergoͤtzt. Von halb drei bis drei Uhr hatte ich mei-
ne Aufmerkſamkeit darauf gewendet, die Fahrzeu-
ge zu zaͤhlen, die vor dem Fenſter vorbei ſchifften,
— ich hatte in der halben Stunde dreizehn Schif-
fe gezaͤhlt. Alles waren große Barken mit drei
Seegeln, meiſtens mit Torf, Brettern und
Saͤcken beladen — die kleinen Kaͤhne rechnete ich
nicht mit. Jetzt nach Mitternacht herrſchte eine
allgemeine Stille; auf und ab dem Kanal lagen
viele Fahrzeuge am Ufer, deren kleine Wimpel an
der Spitze des Maſtbaums bei den einzelnen
Windſtoͤßen flatterten. Ihr ſanftes Schwanken
bewegte zuweilen das ruhige Waſſer, daß es leiſe
gegen den Steindamm anſchlug. Der Mond
wandelte durch ſchweres Gewoͤlk, durch deſſen
Ritzen er wie ein maͤchtiger Stern hervor blickte,
bald trieb er die verdunkelnden Duͤnſte ſiegreich
aus einander, ſo daß ſie um das dunkle Blau in
deſſen Mitte er prangte, einen finſtern Wall auf-
thuͤrmten, deſſen Zinnen verſilbert, von ſeiner
Herrlichkeit zeugten. Vor mir, an der andern
Seite des Kanals, ſtand eine ſehr hohe Wind-
muͤhle, deren Fluͤgelſchatten die wunderbarſten
Geſtalten aufdie angrenzende Wieſe und das nahe
Gebuͤſch bildeten. Wie der Schatten eines unge-
heuren Schwerdtes, das der ſchwerfaͤllige Arm ei-
nes handfeſten Rieſen geſchwungen haͤtte, glitt die
dunkle Geſtalt, uͤber die Baumgipfel, uͤber die
Wieſe hin, tauchte in den Kanal, und fuhr mir
dann pfeilſchnell uͤber das Geſicht den finſtern
Wolken zu. Anfangs fuhr ich zuruͤck, wie der
große Schatten mir das Auge deckte, mir wars
als ſaͤhe ich ein grauſend Geſicht aus den weh-
klagend gehobenen Armen der Windmuͤhle heraus
gucken.
Dieſe abentheuerliche Windmuͤhle ſetzte eine
Brettmuͤhle in Bewegung, von der eben das gilt,
was ich von der Ziegelbrennerei bei Woerden ge-
ſagt habe. Brettmuͤhlen gewaͤhren meiſtens ſehr
mahleriſche Geſichtspunkte — wie manches Thal
ſah ich von ihnen verſchoͤnert, beſonders in den
Umgebungen des thuͤringer Waldes, wo derſelbe
kleine Bach, der ſtill und froͤhlich durch ſein Fel-
ſenthal huͤpft, mit ſeinem ſanften Murmeln ſchon
laͤngſt einen reichen Teppich von Blumen und Ra-
ſen um ſich bildete — wie ſah ich es durch die ro-
hen Huͤtten der Saͤgemuͤhlen verſchoͤnert, die oft
viere, ſechſe nach einander das klare Waſſer ein-
zwangen, daß es unwillig ſprudelnd und rauſchend
zu ſeinem Bette zuruͤckkehrt, und den blanken
Kieſeln in ſchnellem Laufe erzaͤhlt, welchem Des-
potismus es entgangen ſey. Dort beſtehen aber
dieſe Muͤhlen aus leicht zuſammen geſchlagnen
Schuppen, an deren ſchwarzen Schindeldaͤchern
Moos waͤchſt, oft iſt die ſchoͤne Wieſe in ihrer
Naͤhe von geſtauchtem Waſſer verſchlemmt, und
iſt der Fluß zum Floͤßen breit genug, ſo bietet die
Landung ein widriges Gemiſch von Balken und
Schutt und Moraſt dar. Der Farbenreichthum
der ſchoͤuen Jahrszeit, eine vortheilhafte Erleuch-
tung, macht eine ſolche Gegend zu einem mahle-
riſchen Gegenſtande, aber fuͤr den unbefangenen
Blick iſt ſie das Bild eines aͤrmlichen Erwerbs.
Die Alphnermuͤhle ſteht auf einer hohen gemauer-
ten Warte, an deren Grund ein langes Gebaͤude
auf gemauerten Pfoſten ruht, und zugleich freund-
lich und feſt iſt. Die Baumſtaͤmme, die Bretter,
das Saͤgemehl, alles hat ſeinen beſtimmten
Raum, keines verſperrt den Weg. Gegen die
Wieſe zu ſteht des Muͤllers Wohnhaus, ein nie-
deres reinliches Haͤuschen mit glaͤnzenden Fen-
ſtern, Vorhaͤngen, und unter ein paar ſchoͤnen
Weiden eine gruͤne Bank vor der Hausthuͤr.
Der Garten des Wirthshauſes erfreute mich
durch ſeine weit getriebene Obſt- und Gemuͤſekul-
tur. Es befand ſich eine Reihe Waͤrmekaſten da-
ſelbſt, die hundert und funfzig meiner Schritte
lang war, in denen man Trauben, Pfirſichen,
Aprikoſen, Melonen und ſeltnes Gemuͤſe zog.
Außer dem ſehr vortheilhaften Verkauf von Haag
bis nach Amſterdam in allen anſehnlichen Staͤdten,
hatte der Eigenthuͤmer den Vortheil, ſeinen Gaͤ-
ſten den auserleſenſten Nachtiſch vorſetzen zu koͤn-
nen. Ueberhaupt befand ich mich in dieſem Gaſt-
hof ſehr gut. Die Leute kannten die Beduͤrfniſſe
alle, die halbwegsverzaͤrtelte Frauen haben koͤnnen,
wenn alſo meine Sprache gleich ſehr unverſtaͤnd-
lich war, erriethen ſie ſchnell was ich verlangte,
und machtens nicht wie die Aufwaͤrterin eines
Gaſthofs auf dem Wege von Ulm nach Schafhau-
ſen, von der ich laues Waſſer und kaltes Waſſer
und noch ein Waſchbecken forderte, und die mich
ſehr beſtuͤrzt fragte: ob ich noch denſelben Abend
eine Waͤſche halten wollte? Das koͤnne nicht mehr
trocknen, der Kutſcher wolle um fuͤnf Uhr an-
ſpannen.
Sobald meine arme Freundin das Zimmer ver-
laſſen konnte, beſahen wir die naͤchſten Umge-
bungen der Stadt. Ich habe in der Gegend von
Amſterdam nicht ſo ſchoͤne Landhaͤuſer gefunden,
wie hier. Die zierlichen Gebaͤude, die herrlichen
Baumgruppen, die ſchoͤnen Waſſerbecken! — ge-
be doch der Himmel ihren Beſitzern Faͤhigkeit zu
geiſtigem Genuß bei ſo viel irrdiſchen Guͤtern. Einer
dieſer Landſitze zeichnete ſich durch die zierliche Un-
regelmaͤßigkeit ſeiner Kanaͤle aus. Er ſchien neuer-
dings angelegt mit Schlangengaͤngen, einzelnen
Raſenplaͤtzen, auf denen das Gebuͤſch in abſichtli-
cher Unordnung ſtand, dunkel belaubtes und hell-
gefaͤrbtes neben einander im vortheilhafteſten Ge-
miſch. Ich weiß nicht, ob bei dem faſt unmerk-
lichen Abfluß des Waſſers die krummen Kanaͤle
dem Boden angemeſſen ſind? Vielleicht erfordern
ſie nur eine ſorgfaͤltigere Reinigung. — Denn ge-
reinigt werden ſie alle, wenigſtens einmal im
Jahre, im Herbſte. Das geſchieht vermittelſt ſehr
langer Senſen, mit denen man die Gewaͤchſe am
Boden des Kanals abſchneidet, worauf ſie mit
Rechen herausgezogen werden. In den Tagen,
wo dieſe Arbeit ſtatt hat, iſt der Sumpfgeruch
ſehr laͤſtig. Man haͤuft die Pflanzen an den Ufern
der Kanaͤle wo ſie abtrocknen, und dann zur Duͤn-
gung benutzt werden. Auf breiten Kanaͤlen und
auf Teichen geſchieht das Abſchneiden der Pflan-
zen auf Kaͤhnen.
Gleich neben dem Landgute mit geſchlungenen
Gaͤngen, fand ich ein anderes im aͤcht franzoͤſi-
ſchen Geſchmack, mit hohen Hecken, Taxuspy-
ramiden, ſteinernen Delphinen und ſolcherlei
Mondkaͤlbern an den eckigen Waſſerbecken, und
im Hintergrunde ein ernſt ausſehendes Wohnhaus
mit einigen grobgearbeiteten Statuͤen auf der Gal-
lerie des niedern Dachſtuhls. Das ſah auch gut
aus. Moͤchte doch jeder koͤnnen ſeiner Phantaſie
ſo freien Lauf laſſen. Neben allen dieſen Plaͤtzen
ſind etwas abwaͤrts, meiſt mit Baͤumen maskirt,
die Wirthſchaftsgebaͤude angelegt. — Nicht weit
von Alphen hatte ein ſinnreicher Mann vor ſeine
Wirthſchaftsgebaͤude her eine hohe Bretterwand
ziehen laſſen, die als gothiſche Ruine ausgeſchnit-
ten und angemahlt war. — Unter dieſen Wirth-
ſchaftsgebaͤuden nimmt der Huͤhnerhof, oder die
Menagerie, wie es hier meiſtens heißt, immer ei-
nen ſehr wichtigen Platz ein. Und das mit eini-
gem Rechte, denn man findet auf den meiſten
dieſer Landhaͤuſer, ſehr ſchoͤnes fremdes Gefluͤgel.
Pfauen ſind ſehr gewoͤhnlich. In * * * beluſti-
gen ſie mich oft, wenn ich einſam mit meinem
Buche im Gebuͤſche ſitze und ſie in ihrer zierlichen
Dummheit, oder dummen Zierlichkeit daher ſtol-
zirt kommen — dann moͤchten ſie gern vor mir
erſchrecken, ihr Hochmuth laͤßt das aber nicht zu,
ſondern ſie wenden den Hals mit einem veraͤchtlich
verdrießlichen Blick um, als haͤtten ſie mich nicht
geſehen, ziehen die plumpen Fuͤße an den Leib hin-
auf, und thun als wenn ſie ein Wuͤrmchen gefun-
den haͤtten. So viel Willkuͤhr haben ſie aber nur
in * * *, wo die ganze Welt, ſo weit der Graben
ſie gehen laͤßt, ihnen offen ſtand, außerdem be-
finden ſie ſich in wohlumzaͤunten Hoͤfen, mitten
unter ihren geiſtreichen Gefaͤhrten, den malabari-
ſchen Enten, den leidenſchaftlichen Truthuͤhnern,
und dem mannigfaltigen Geſchlecht der Gaͤnſe.
In dieſen Hoͤfen haben ſie reinliche Waſſerbecken
zum Trinken und Baden, meiſtens auch einen
eigends fuͤr ſie abgeſchlagenen Theil des Buſch-
werkes oder Parks. Ihr ſeht, daß auf das gefie-
derte Geſchlecht hier ſo viel Ruͤckſicht genommen iſt,
daß Treufreund und Hoffegut ſie ſchwerlich zum
Aufruhr wuͤrde bewegen koͤnnen. Es gedeiht ih-
nen aber auch vortrefflich; ich habe kaum irgend-
wo ſo gutes Gefluͤgel gegeſſen — die Gaͤuſe aus-
genommen, von denen mir die hieſigen Gourmands
ſelbſt verſichern, daß ſie in Deutſchland weit beſ-
ſer ſind. Enten jeder Art ſcheint dieſer Boden
um ſo guͤnſtiger, auch wilden, und das iſt eine
große Huͤlfsquelle fuͤr die jungen Herrn, welche
der ſtreng beobachtete Muͤßiggang zu großen Jaͤ-
gern macht. Wenn ſie nach einem ganzen Mor-
gen fruchtloſen Jagens in Gefahr ſtehen, den Ruf
ihrer Geſchicklichkeit zu verlieren, ſo ſchießen ſie
ſchnell ein paar ehrliche Entchen, die dem Huͤh-
nerhofe entkommen, und des ſie begleitenden
Jaͤgers Zeugniß, das ſie keck aufforderten, haͤtte
mich wahr gemacht, haͤtte mich nicht ſein ſpoͤtti-
ſcher Blick noch beſſer belehrt, wie die bekannten
Kennzeichen der Gattung.
Da ich bei meiner Reiſe nach dem Haag wie-
der uͤber Alphen kam, will ich euch gleich von hier
an weiter fuͤhren, wenn gleich zwiſchen meinem
erſten und zweiten Beſuch dieſer Stadt, einige Wo-
chen verſtrichen. Der Weg geht nach Leyden zu,
durch ein eben ſo bebautes Land, als ich jenſeits
erblickte, der Kanal, an dem der Weg hergeht,
iſt immer ſehr breit, und hie und da von andern
Kanaͤlen durchſchnirten, die nach Suͤdoſt in das
Land, und nach Nordweſt — wahrſcheinlich ge-
gen das Harlemmer Meer zu gehen. Nicht weit
von Koudekerk ſah ich einen nach dieſer Gegend zu,
der beſonders breit war. Der Anblick der großen
Kalkoͤfen, die hier an den Kanaͤlen gebaut ſind,
war mir eben ſo befremdend, wie ihr Geruch mir
unleidlich war. Die Luft iſt ganz mit Schwefel-
duͤnſten angefuͤllt. Dieſe Oefen, in denen See-
muſcheln zu Kalk gebrannt werden, haben ganz
die Form des Ofens, in dem die dienſtbaren Kin-
der Ifraels den tyranniſchen Egyptern Steine zu
dem Bau der gottloſen Pyramiden brennen muß-
ten. Sie ſehen wie Bienenkoͤrbe aus. So ſieht
man ſie in allen Bilderbibeln von den roheſten
Holkenbuͤchern, wie in Schwaben alle Bilder-
chen und Kupferſtichbuͤcher heißen, bis zu Huͤb-
ners Bibel, die doch wohl in ihrer Einfalt ein groͤſ-
ſeres und dankbareres Publikum hatte, als die
neuſten und vernuͤnftigſten. Haben denn die Hol-
laͤnder ihre Kalkoͤfen den Egyptern nachgeahmt,
und die damaligen Zeichner ſie alle von den Hol-
laͤndern copirt? Mir kams recht bibliſch vor, und
die aus der Kindheit ſtammende Fantaſie ſuchte
neben den weißen, kahlen Oefen die krummen
Palmenbaͤume, und die braunen Egypter, welche
in unſern frommen Kunſtwerken um die boͤſen Oefen
gefaͤlligſt herum zu wachſen, und grimmigſt her-
um zu ſchnauben belieben. Es iſt ein oͤder An-
blick. Die blendend weißen Maſſen mahlten ſich
hart auf dem ſatten Wieſengruͤn, brauner Rauch
umflorte den dunkelblauen Herbſthimmel, laͤngs
dem Kanale lagen Muſchelhaufen aufgeſchichtet,
von denen die Sonne peinlich blendend zuruͤckſtrahl-
te. Man fuͤhrt ſie von den noͤrdlichen Seeufern
in zahlloſen Laſten hierher. Welche zerſtoͤrte Schoͤ-
pfung! — Doch, lebten mehr Weſen um jenen
Muſchelhaufen zu bilden, als die Erde, welche
dieſen Roſenſtrauch traͤgt? Iſts nicht minder Sin-
nentaͤuſchung, daß uns jene Muſcheln deutlicher
aus Leben erinnern, als die Hand voll Erde, in
deren Staub jede Geſtaltung ſchon vernichtet iſt?
Dieſe Betrachtungen beſchaͤftigten mich ſehr ſanft,
bis unſere Ankunft in Leyden ſehr intereſſante Er-
innerungen in mir hervor rief. Leyden war mir
durch viele fruͤhe Eindruͤcke ehrwuͤrdig. Mancher
der beſten Koͤpfe unſrer Nation aus dem vorigen
Jahrhundert, bildete ſich hier, Aerzte, Rechts-
gelehrte, Staatsmaͤnner, brachten hier ein paar
Jahre ihrer Jugend zu. Eine lange Reihe von
Jahren durch pflegte man hier die ernſten Wiſſen-
ſchaften mit einer ehrwuͤrdigen Strenge, gegen
die der bunte Wechſel der Syſteme auf den heuti-
gen hohen Schulen ſonderbar abſticht. Die ern-
ſten alten Lehrer dieſer und einiger andern hollaͤn-
diſchen Schulen moͤgen manche verjaͤhrte Eigen-
ſchaft haben, moͤgen aus dem Lehrſtuhl ein Prie-
ſterthum machen, aber ſie bewachen auch dafuͤr
ihr Heiligſtes mit lobenswuͤrdiger Treue, und be-
dienen ihren Altar mit reinen Haͤnden. Das Neue
mag wohl uͤberall das Beſſere ſeyn — moͤchte es
doch aber von dem Alten manches Gute lernen.
Meiner weiblichen Fantaſie gabs einmal eine große
Nahrung auf eben dem Pflaſter herum zu ſchrei-
ten, das Leibnitz und Zinzendorf und mancher an-
dere wirkſame Mann im jugendlichen Streben nach
Wiſſenſchaft betrat. Ihre Schritte ſind verhallt,
U
dieſe willigen Steine tragen ſtumm neue Geſchlech-
ter, aber der Geiſt jener Maͤnner wirkte fort und
fort. Die oͤde Stille der ſchoͤnen Stadt betruͤbte
mich. Das Gras waͤchſt in machen der breiten,
geraden Straßen, und die regelmaͤßig gebauten
Haͤuſer ſcheinen ſehr ſpaͤrlich bewohnt. Mein Be-
gleiter und ich ſtiegen in einer der erſten Straßen
aus, und uͤbergaben unſre Chaiſe den Bedienten,
um ſogleich den Schauplatz der ſchrecklichen Ver-
wuͤſtung aufzuſuchen, die im Jenner des Jahres
1808 dieſe arme Stadt traf. Der ganze Vor-
gang behaͤlt viel Unbegreifliches. Unbegreiflich iſt
es, daß ein Schiff mit Schießpulver geladen, bis
mitten in die Stadt konnte gefuͤhrt werden; unbe-
greiflich, daß es hier drei Tage lang der Aufmerk-
ſamkeit der Polizei entging, ja daß der Fahrmann
ſelbſt ſo wenig Arg daraus hatte, daß von den
Schiffsleuten keiner daran dachte, die Gefahr zu
vermeiden, wenn ſie Mittag und Abend, von den
Faͤſſern nur durch einen Bretterboden getrennt,
ihre Speiſen kochten. Der Umfang der Verwuͤ-
ſtung macht ſchaudern, und ſie war das Werk ei-
nes Moments. Ich kann euch von dieſem ſchreck-
lichen Auftritt nichts intereſſanters ſagen, als was
der Bericht eines Augenzeugen in der Beſchreibung
einer einzelnen Epiſode aus dieſer Trauergeſchichte
enthaͤlt. Ich finde ſie in dem Brief, den ein ſehr
wuͤrdiger Leydner an ſeine Freunde nach Amſter-
dam ſchrieb.
„Ich befand mich in meinem Zimmer, als
„dieſer ſchreckliche Ausbruch ſtatt hatte. Augen-
„blicklich verließ ich das Haus und eilte durch die
„Straßen. Jeder Schritt vermehrte meinen
„Schrecken beim Anblick der ſcheuslichen Verwuͤ-
„ſtung, die ein Augenblick angerichtet hatte. Ich
„flog meinen Freunden * * zu Huͤlfe. Denken
„ſie ſich den Jammer, der mich ergrif, als ich den
„Platz nicht einmal mehr erkannte, wo ihr Haus
„geſtanden hatte. Die Gattin und das juͤngſte
„Kind meines Freundes, ſein Schwager, der eben
„bei ihm zum Beſuch war mit ſeiner jungen lie-
„benswuͤrdigen Gattin, und alles Hausgeſinde
„war unter dem Schutte begraben. Ich fand **
„auf den Truͤmmern ſeiner Wohnung beſinnungs-
„los umherirrend Dieſer wuͤrdige Mann war in einem Laden, um einen
kleinen Einkauf zu machen, als das Ungluͤck geſchah; er
ſtuͤrzt heraus, eilt nach ſeiner etwas entfernten Woh-
nung — aber lauge ſuchte er vergebens die Staͤtte ſei-; Verzweiflung und Schrek-
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„ken ſtanden auf ſeinem Geſichte geſchrieben. Ich
„beruhigte ihn uͤber das Schickſal ſeiner uͤbrigen
„Kinder, die ich unterwegs begegnet und bei ei-
„nem Freunde in Sicherheit gebracht hatte. Jetzt
„rufte ich Madame * * und ſie antwortete mir
„unter den Truͤmmern herauf. Gott ſey gedankt,
„ſie lebt! — Allein, wie ſollten wir helfen? wir
„waren allein, ohne Beiſtand, ohne Werkzeug,
„vor uns ein Haufen Schutt von einem ganzen
„Fluͤgel einer herabgeſtuͤrzten Mauer bedeckt. Doch
„Hofnung und Nothwendigkeit gab uns Betrieb-
„ſamkeit und Kraͤfte. Es gelang uns einen Platz
„abzuraͤumen, von dem aus ich mich unſern ar-
„men Freunden vernehmlich machen konnte, und
„da arbeitete ich ſo lange fort, bis ſie das Licht
„unſrer Laterne erblickten Das Ungluͤck fand Abends nach vier Uhr ſtatt, wo ſich
in dieſer Jahrszeit die Schrecken der Nacht zugeſellten., und bald bewerk-
„ſtelligte ich ein Loch, aus dem mir Madame * *
„die Hand reichen konnte. Wer druͤckt das Ent-
nes friedlichen Heerdes, keine Mauer ſtand noch auf der
ehemaligen Stelle. Endlich weißt ihn ein Birnbaum,
der auf ſeinem Hofe ſtand, zurecht. Feſt in die treue
Erde gewurzelt, war er dem Schickſal der ſteinernen
Menſchenwerke entgangen.
„zuͤcken aus, das ich empfand, indem ich dieſe
„Hand faßte! alles andere war leicht. Man ver-
„groͤßerte die Oeffnung, und bald zog ich, zuerſt
„das Kind, dann ſeine Mutter, und endlich Ma-
„dame * *, meines Freundes Schwaͤgerin, her-
„vor. Doch dieſe letzte, ſtieg ſie gleich lebend aus
„dieſer Gruft, ließ ihr Theuerſtes auf Erden in
„ihr zuruͤck. Welch ſchreckliches Schauſpiel war
„dieſe ganze Nacht durch der Schmerz dieſes un-
„gluͤcklichen Weibes! Sie wiſſen, daß wir Herrn
„von * * erſt ſehr ſpaͤt in der Nacht, und todt
„heraus gruben Dieſer allgemein geſchaͤtzte Mann, der mit ſeiner Sat-
tin und der ganzen Familie ſeines Schwagers in demſel-
ben Zimmer war, ward wahrſcheinlich von dem Kamin
an den ihn ſeine Frau bei der Exploſion gelehnt ſah, zer-
ſchmettert. Dieſe Ungluͤckliche, die uͤber die Haͤlfte ihrer
erſten Schwangerſchaft war, verließ die ganze Nacht die
Truͤmmer nicht, ließ vor ihren Augen wuͤhlen und wuͤh-
len, und horchte unter dem Geraͤuſch der Grabenden
nach dem Roͤcheln ihres ſterbenden Geliebten. O die
Gottheit muß einen Balſam haben fuͤr jede Wunde, da
ſie einem zarten weiblichen Herzen die Kraft gab, ſo eine
Nacht zu uͤberleben. Dieſe edeln Gatten liebten ſich
viele Jahre lang, ihre Treue uͤberwand alle Hinderniſſe,
nur erſt ſeit Kurzem waren ſie vereint. Der Koͤnig hat. Sein Bedienter, und drei
„Maͤgde des Hauſes wurden gerettet, und leben.
„Was dieſen grauſamen Auftritt noch ſchreck-
„licher machte, war das Feuer, das ſich, wahrend
„der Zeit wir die lebendig Begrabenen aus den
„Truͤmmern aufzuwuͤhlen trachteten, um uns her
„verbreitete. Es wuͤthete in der Bibliothek des
„Herrn * *, und zwang uns, ſo bald die Men-
„ſchen gerettet waren, die Stelle zu raͤumen. Herr
„* * ſtand auf dem Schutt und ſah ſeine ſchoͤnen
„Sammlungen, ſeine Papiere, die Frucht zwan-
„zigjaͤhriger Arbeit, einen Raub der Flamme wer-
„me werden. Dennoch verlohr er in dieſem fuͤrch-
„terlichen Augenblick nicht den Muth, er dankte
„nur Gott, ihm ſeine Gattin und ſeine Kinder er-
„halten zu haben, und am folgenden Sonntag
„predigte er mit wahrer Seelenſtaͤrke uͤber die Er-
„gebung in die Rathſchluͤſſe der Gottheit.“ —
Dieſe Predigt haͤtte ich hoͤren moͤgen. Bei
ſolchen Gelegenheiten iſts, als wenn auch in das
ſelbſtſuͤchtigſte Gemuͤth ein Strahl der goͤttlichen
Liebe fiel, das ganze Menſchengeſchlecht wird wie-
der zu einer Familie. Wie dauernd koͤnnte ein ſol-
Fr. v. * * die achtungsvollſte Theilnahme bewieſen, in-
dem er ſie als Pallaſtdame zur Geſellſchafterin ſeiner Ge-
mahlin berief.
cher Moment wirken, wenn ihn der Geiſtliche ganz
im liebenden Sinne des Evangeliums auslegte.
Freilich muß er ſich nicht dabei, wie ein gewiſſer
Schweitzer Prediger bei dem Bergfall in Geldau
benehmen. Dieſer gab jenem großen Auftritt den
Rachegeiſtern Gottes ſchuld, die jetzt auftraͤten,
die Suͤnder der Gemeine zu zuͤchtigen. Durch
dieſe Mittel muß die Religion und der Charakter
der Menſchheit noch tiefer ſinken.
Faͤllt euch aber nicht bei dem Schickſal des
wackern Herrn ** die Stelle aus Schillers Glocke ein,
welche die Feuersbrunſt ſo ergreifend beſchreibt,
und dann mit den Worten endet:
Einen Blick
nach dem Grabe
ſeiner Habe
ſendet noch der Menſch zuruͤck —
Greift froͤhlich dann zum Wanderſtabe,
was Feuerswuth ihm auch geraubt,
ein ſuͤßer Troſt iſt ihm geblieben,
er zaͤhlt die Haͤupter ſeiner Lieben
und ſieh! ihm fehlt kein theures Haupt.
Ich habe ſchon mehrmals uͤber den ganz ver-
ſchiedenen Grad von Theilnahme nachgedacht, die
der oben erwaͤhnte Bergfall in Geldau, und dieſer
Vorgang in Leyden erregte. Mir hat die wenige
Theilnahme, das ſchnelle Vergeſſen an dieſem,
mißfallen. Im Auslande meine ich, denn die
braven Hollaͤnder haben geholfen, wie ſie auf ih-
rem Wege dem Gemeinweſen immer zu helfen
ſuchen, mit freigebiger Großmuth, und der gute
Koͤnig that was er konnte, alſo unendlich viel.
Er gab nicht blos, ſondern eilte bei der erſten
Nachricht auf den Schauplatz des Ungluͤcks, und
troͤſtete die geaͤngſtete Stadt durch ſeine Gegen-
wart und ſeine perſoͤnliche Sorgfalt fuͤr die Heim-
loſen und Beraubten. Außer den erſten Zeitungs-
nachrichten haben wir Auslaͤnder Leyden laſſen
auffliegen ſo hoch es wollte, indeß wir Geldau
von allen ſchoͤnen Kuͤnſten darſtellen und entſtellen
ließen, in Verſen, Pappdeckel und Farben. Das
iſt ſehr ſchoͤn, aber Gefuͤhl und Vernunft moͤchte
doch wohl bei dem Leydener Ungluͤck eben ſo ernſt
ergriffen ſeyn. Schon daß Geldau durch eine
Wirkung der Naturkraͤfte zerſtoͤrt ward, macht
alle die Darſtellungen kleinlich. Gott wirkte —
und ich moͤchte nur auf den Truͤmmern knieen und
ſchweigen. Bey dem Ungluͤck in Leyden ſind eine
ſolche Menge Mittelglieder zwiſchen dem hohen
Schickſalswillen und ſeiner furchtbaren Vollzie-
hung, es iſt ſo viel Menſchenwerk in Bewegung
geſetzt, dem der Menſchenverſtand allenthalben
haͤtte begegnen koͤnnen, wozu jeder gemeine Ver-
ſtand gerathen haͤtte — und dennoch geſchah es.
Die gemeinſte Vorſicht ſteht neben dem fuͤrchterli-
chen Ungluͤck, wie Tireſias neben dem verblende-
ten Sohn des Lajus — haͤnderingend moͤchte man
rufen: und das ahndeteſt du nicht! Und wie viel
mehr verlor in Leyden die Maſſe von Menſchen-
fleiß und menſchlichen Geiſt! Viele nuͤtzliche, der
Nation und den Wiſſenſchaften werthe Dinge und
Menſchen wurden zerſtoͤrt, und koͤnnen nicht mehr er-
ſetzt werden. Auf Geldaus kleine Flur wird Gottes
Sonne ſcheinen und ſein Thau fallen, und bald
keimt aus der Erde liebendem Schoos neuer See-
gen empor. Aber was erſetzt die wackern Buͤrger,
die an jenem Tage zerſchmettert ſanken? wer denkt
die Gedanken wieder, die das Reſultat ihres le-
benslangen Forſchens waren, und die ein Moment
in Flammen verzehrte? So maleriſch iſt der Schutt-
haufen einer Stadt freilich nicht, wie Geldau’s
Berge, vielleicht laͤßt er ſich auch nicht ſo gut be-
ſingen. Nun herzlich gern! alle, die ihre Em-
pfindſamkeit und Muſe durch die Schweiz prome-
niren, finden’s ohne Zweifel ſehr ruͤhrend, daß
ein Plaͤtzchen, wo ihr Fuß wandelte, durch ſo ei-
nen furchtbaren Vorgang beruͤhmt ward — waͤre
ich mir nicht bewußt, jetzt in meine muͤrriſche
Laune zu gerathen, ſo nennte ich ihre vielfaͤltige
Theilnahme einen weichlichen Egoismus — und
damit traͤte ich doch mancher guten Seele zu nahe.
Ruͤckwaͤrts alſo zu meiner Erzaͤhlung.
Der Schutt iſt von dem Schauplatz des Un-
gluͤcks nicht allein weggeraͤumt, ſondern er iſt zu
einem ſehr ſchoͤnen freien Platz umgewandelt wor-
den, der ſchon mit Gras bedeckt und mit Baͤumen
bepflanzt iſt. Die Haͤuſer, welche dieſen Platz
umgaben, ſind alle wieder ausgebeſſert, einige
kleinere an der noͤrdlichen Seite ausgenommen,
deren Eigenthuͤmer vielleicht auf neue Unterſtuͤtzung
von ihren wohlthaͤtigen Mitbuͤrgern warten muͤſ-
ſen. An ihnen ſahe ich große Riſſe, die durch die
ganze Wand gingen, und mir auf eine ſchauder-
volle Art die Folgen eines Erdbebens darzuſtellen
ſchienen. Im erſten Moment war das auch die
Meinung der armen Einwohner, daß ein Erdbe-
ben ſie zerſtoͤre, und lange nach der Exploſion
deuchte es ihnen, daß die Erde ſchwanke. Da die
ganze Wirkung des Pulvers von der Oberflaͤche
des Waſſers ausging, kann dieſe Wahrnehmung
doch wohl nicht gegruͤndet geweſen ſeyn. Der Ka-
nal, auf dem das unſelige Fahrzeug lag, geht
jetzt faſt durch die Mitte des neu angelegten Spa-
zierganges.
Die alte Burg gewaͤhrte mir eine angenehme
halbe Stunde, in der ich, von den Umgebungen
veranlaßt, Vorwelt und Gegenwart vor meinem
Geiſte vorbeifuͤhrte. Es iſt nichts mehr von ihr uͤbrig,
als die Ringmauer, deren Geſtalt faſt einen zu
regelmaͤßigen Zirkel beſchreibt, um die ehemalige
Form zu bezeichnen. — Wie dem aber ſey, ſo
beweiſt die erhoͤhte Lage und die ſehr maſſive Grund-
mauer, daß hier die alte Burg lag. Jakoba von
Bayern, die Vielliebende, von der ich euch in ei-
nem meiner Briefe allerlei erzaͤhlte, bewohnte ſie
oft. Ich blickte aus dem Mauerzimmer, wo man
gegen Nordweſt bis aufs Harlemmer Meer ſieht,
auf dem ich auf dem dunkeln Hintergrunde eines
wolkigen Herbſthimmels weiße Seegel gleiten ſah.
Dorthin mochte auch wohl Jakoba oft ihren Blick
richten, wenn die Stuͤrme der Zeit ihre Zukunft
truͤbten. Wenn die Gegenſtaͤnde um uns beunru-
higend und fremd ſind, blicken wir am forſchend-
ſten in die Ferne, ſo wie wir, wenn die Erde uns
nicht mehr genuͤgt, am ſehnſuͤchtigſten gen Himmel
blicken. Es kann mich wunderbar anziehen, wenn
ich von einem Orte, wo irgend eine hiſtoriſche Per-
ſon vor Jahrhunderten ſtand, auf Gegenſtaͤnde
hinblicke, auf denen ihr Auge geruht muß haben,
und dann ihre und meine Stimmung und Begriffe
bei dem Anblicke vergleiche. Es iſt wohl eine kin-
diſche Weichheit, warum ich endlich immer uͤber
ihrer Aſche ſanft weinen moͤchte, wie uͤber eines
Kindes Wiege. Daß nun ſo vieler Schmerz und
ſo vieles Sehnen ſchweigt, und ich da ſtehe und
dahin ſehe mit ganz anderm Schmerz im Herzen,
und anderm Sehnen, und bald nach mir wieder
ein anderer daſtehen wird, wenn meine Aſche mit
Jakobas Aſche verfliegt. Es wird dann in meinem
Gemuͤthe und um mich her, wie nach einem Ge-
witterſturme im Fruͤhlinge, wo der ganze Aufruhr
der Natur ſich in die tiefe Stille aufloͤſt, in der
die einzelnen Waſſertropfen, die vom Laub fallen,
das einzige Geraͤuſch ſind. — Die gute Jakoba!
vielleicht entfiel meinem Auge die erſte Thraͤne um
ſie auf die alte Mauer. Außer dieſer Mauer, auf
deren innern Seite ein wenig Fuß breiter Weg her-
umgeht, iſt der ganze innere Raum von einem
Irrgarten eingenommen, zierlich von lauter hohen
Hecken in ſchneckenfoͤrmigen Kreiſen gepflanzt und
in der Mitte mit einem nun verſiegenden Spring-
brunnen verſehen. Ein ſtuͤrmiſcher Wind ſchuͤt-
telte die gelben Blaͤtter in das halb trockne Waſſer-
becken. Ich blickte in das ſinnreiche Gewirre der
Gaͤnge durch die entlaubten Zweige hin — wie
viele Jahre mußten verfließen, bis dieſe ſtarken
Buchen auf den Truͤmmern der Gemaͤcher wurzeln
konnten, wo Jakoba ihr haͤusliches Weſen trieb;
nun ſterben auch die ſtarken Buchen ab, deren
kuͤnſtliche Verſchlingung ſchon laͤngſt den Spott der
geſchmackvollen Nachkommenſchaft erregte.
Dreizehnter Abſchnitt.
Es war ſchon tiefe Nacht, wie wir in der Naͤhe
vom Haag an dem Hauſe im Buſch anlangten,
wo ſonſt eine Durchfahrt uͤber den Schloßhof ge-
ſtattet war, um auf einem naͤhern Weg in die
Stadt zu gelangen. Jetzt war das aͤußere Thor
verſchloſſen, und die Schildwache erklaͤrte ſehr hoͤf-
lich, daß niemand mehr durchfahren koͤnnte. Ich
hoͤrte nachmalen dieſes Verbot als einen Eingrif
in die Nationalrechte verurtheilen. Da das Haus
im Buſch ein ganz iſokirtes, nur zu dem Privat-
gebrauch der Koͤniglichen Familie eingerichtetes
Gebaͤude iſt, und der Weg dicht vor den Wohn-
zimmern vorbei uͤber das Pflaſter fuͤhrt, konnte ich
keinen Despotismus darin finden, daß der Fuͤrſt
dieſe Durchfahrt als ein Privatrecht behandelt und
den Reiſenden die wohlunterhaltene große Straße
angewieſen hatte. Ich dachte an einen einzigen
kleinen Spruch des Evangeliums, der alle Anſpruͤ-
che ſo leicht ſchlichtet, und alle Rechte ſo klar aus-
einander ſetzt, den wir aber auf die armen gekroͤn-
ten Haͤupter am wenigſten anwenden, und langte
im Haag an. Die Stadt war recht artig erleuch-
tet, und ſchien mir bei Laternenlichte recht huͤbſch;
aber ſo einen uͤberraſchenden Anblick hatte ich nicht
erwartet, wie mir der naͤchſte Morgen darbot.
Es war ſchoͤner Sonnenſchein — ich erblickte vor
mir ein klares, großes, viereckigtes Waſſerbecken,
deſſen Flut ein belebender Herbſtwind kraͤuſelte; in
ſeiner Mitte lag eine kleine mit Pappeln bepflanz-
te Inſel, die einer Menge Schwaͤnen zum Aufent-
halt diente. Still und wohlgefaͤllig gleiteten dieſe
ſchoͤnen Thiere uͤber die ſilberne Waſſerflaͤche; die
Sonne warf den Schatten der ſchoͤnen Gebaͤude
am oͤſtlichen Ufer in ſcharfen Umriſſen auf die ſtille
Flut und faͤrbte die herbſtlichen Blaͤtter der praͤch-
tigen Baͤume, die weſtlich des Pfeifenbergs — ſo
heißt der Spaziergang am Ufer des Waſſers —
beſchatteten, mit goldenem Schimmer. Die Glok-
kenſpiele der Thuͤrme ertoͤnten dabei, und die Haͤu-
ſer, die ich links die Straße hinab und rechts
durch die Baͤume ſchimmern ſah, trugen alle das
Gepraͤge der Feſtigkeit und des Wohlſtandes. Ich
war recht begierig, in dieſer einladenden Stadt
umher zu gehen, und fand bei der Befriedigung
meines Wunſches meine Erwartung keinesweges
getaͤuſcht. Fuͤrs Erſte iſt der Haag mein Ideal ei-
ner ſchoͤnen, angenehmen Stadt. Die ſchoͤnen
Haͤuſer, die freien Plaͤtze, die herrlichen Baͤume,
die reinere Luft, als in den bisher geſehenen hol-
laͤndiſchen Staͤdten, vereinen hier alle Vorzuͤge
dieſes kunſtvollen Landes mit vielen Vortheilen der
Natur. Die Hauptſtraßen ſind laͤngs den Kanaͤ-
len mit großen Baͤumen beſetzt, das Pflaſter iſt
vortreflich und aͤußerſt reinlich, die Umgebungen
haben den Vorzug, durch die Ausſicht auf die Duͤ-
nen, deren naͤchſte Reihe ſchon mit Buſchwerk be-
wachſen iſt, mehr Abwechſelung darzubieten, als
man in dieſer flachen Gegend zu ſehen gewohnt iſt.
Mit viel Vergnuͤgen nahm ich einer guͤnſtigen
Gelegenheit wahr, um das von dem edeln Ludwig
erſt vor kurzem geſtiftete Cadettenhaus zu beſuchen.
Es iſt ein ſchoͤnes luftiges hohes Gebaͤude, wo bis
jetzt einige achtzig junge Leute, theils auf eigne
Koſten, theils als koͤnigliche Zoͤglinge vom vier-
zehnten Jahre an, ausgebildet werden. Anfangs
war die Penſion auf dreihundert Gulden geſetzt,
nebſt einer ſehr maͤßigen Summe zur Ausſteuer
beim Eintritt. Fuͤr dieſes nichtsbedeutende Jahr-
geld wurden die Knaben ganz frei gehalten, und
traten nach vollendeter Erziehung als Officiere in
die Landarmee. Dieſe Leichtigkeit, ſeinen Sohn
erzogen und Officier zu ſehen, war zu lockend, ſie
veranlaßte die Eltern zu viele Kinder eben ſo noth-
wendigen Beſtimmungen, wie der Kriegsſtand iſt,
zu entziehen, und um dieſem Uebel vorzubeugen,
iſt die Penſion auf fuͤnfhundert Gulden erhoͤht,
welches fuͤr Holland, und im Vergleich einiger
unſrer deutſchen Penſionen immer noch ſehr wenig
iſt, da die jungen Leute auch Uniform und Waͤſche
in dem Inſtitute erhalten. — Ich fand das froͤh-
liche Geſchlecht bei dem Mittagseſſen. Es mogte
noch kein Frauenzimmer bei ihnen erſchienen ſeyn,
denn die muntern Geſichter, alle zwiſchen vier-
zehn und ſiebzehn Jahren, wendeten ſich hoͤchſt
verwundert zu mir hin, und einige von ihnen ſchie-
nen mich recht von Grund des Herzens komiſch
zu finden. Ich betrachtete dieſen ſchoͤnen
Garten mit muͤtterlicher Freude, — denn wie
der Garten einer frohen Zukunft kamen mir dieſe
lieben jungen Menſchengeſichter vor. Ich habe euch
ſchon geſagt, daß ich in Holland reinere Zuͤge, ein-
fachere Umriſſe, eine durchgaͤngigere Nationalphi-
ſionomie gefunden habe, als unter irgend einem
X
Volke, das ich an ſeinem Heerde beſuchte; unter
dieſen mehr als achtzig Juͤnglingen herrſchte nun
auch ausſchließend derſelbe Karakter, dieſelben Um-
riſſe. Schoͤne offne Stirnen, die Augen à fleur de
tite, wie man’s zu nennen pflegt, einen regel-
maͤßigen Mund, ein maͤunliches Kinn, eine ſcharf
gezeichnete Naſe — aber die Wangen ſtets zu lang
— ich kann es nicht anders ausdruͤcken. Allein
dieſe Stoͤrung ausgeſchloſſen, die erſt in ſpaͤtern
Jahren durch die Erſchlaffung der Muskeln ſchaͤd-
lich wird, ſprachen dieſe Geſichter alle bildſame,
von der Natur mildbegabte Menſchen aus. Ihr
ſchoͤner Wuchs, ihre anſehnliche Groͤße, ihre bluͤ-
hende Geſichtsfarbe, bewies die Zweckmaͤßigkeit
ihrer phiſiſchen Pflege. Sie fielen luſtig uͤber die
rauchenden Schuͤſſeln her, welche mir von dem
ſchneeweißen Tiſchtuch recht angenehm entgegen
dufteten. Der Nahrung mußte vollauf ſeyn, denn
wie die Geſellſchaft den Tiſch verließ, ſah ich noch
mehrere Schuͤſſeln ungeleert ſtehen. Nach anſtaͤn-
dig abgewartetem Gebet, das einer der Lehrer laut
und freundlich vortrug, ſtuͤrmte ein Theil in den Gar-
ten, ein anderer Theil brachte die Erholungsſtunde
in den Schlafſaͤlen, oder in andern Zimmern des
Hauſes zu. An beſtimmten Stunden gehen ſie
auch ſpatzieren. Ich unterhielt mich mit mehre-
ren der Lehrer, auch mit dem Gouverneur der An-
ſtalt, einem Hollaͤnder, der bei ſeinem angeſehe-
nen Range im Staat und in der Geſellſchaft einen
ſehr gewinnenden guͤtigen Ausdruck hatte, ſeine
Sprache war gebildet, und er druͤckte ſich mit Ei-
fer und Theilnahme uͤber ſeinen Wirkungskreis
aus. Ein paar der Lehrer waren Deutſche, der
Lehrer der Geſchichte iſt ein auch in der Litteratur
ruͤhmlich bekannter Mann, der Bruder des belieb-
ten ſchwaͤbiſchen Epigrammen-Dichters Haug.
Die Hollaͤnder ſelbſt geſtehen ihm eine vollkomme-
ne Kenntniß ihrer Sprache zu, und ſeine Briefe
uͤber Holland beweiſen, daß er das Land vielſeitig
beobachtet hat. Die Geſchichte ſcheint in dieſem
Inſtitut mit Ernſt und Liebe betrieben zu werden,
ſo wie auch bei der Auswahl der Buͤcher in der
Schulbibliothek auf dieſes wichtigſte Bildungsmit-
tel des Gemuͤths hauptſaͤchlich Ruͤckſicht genommen
iſt. Ich beſuchte auch noch die Schlafſaͤle, Eßzimmer
der Lehrer — die ich lieber mit ihren Zoͤglingen haͤtte
in Gemeinſchaft ſpeiſen ſehen — und die Lehr-
zimmer. Alle ſind ſehr ſchoͤn und anſtaͤndig. Die
Schlafſaͤle ſind hoch, hell, reinlich, es ſtehen
mehr und weniger Betten in denſelben, in keinem
X 2
mehr wie funfzehn. Fuͤr die Kranken ſind eigne
Zimmer bereitet, es ſey dann nur eine gleichguͤl-
tige aͤußere Verletzung, wie ein verſtauchter Fuß,
von welchem ein bluͤhender Knabe in dem einen
Saal im Bett gehalten, und von ſeinen Geſpielen
froͤhlich unterhalten ward. In den Saͤlen, auf
den Treppen, uͤberall begegnete ich dem jungen
Geſchlecht, das munter und ſchaͤkernd umherrann-
te, ſich hie und da balgte, lachte und ſchwatzte,
und vor dem mich begleitenden Lehrer munter ſein
Weſen trieb. Die Achtſamkeit und anſtaͤndige
Hoͤflichkeit ohne Scheu und Geckerei, mit der die
jungen Leute die neugierige fremde Frau uͤberall
begruͤßten, war ſehr angenehm, ſie war von dem
Gemiſch von Selbſtvertrauen und Beſcheidenheit
zuſammen geſetzt, aus dem in ſpaͤtern Jahren
Maͤnnerkraft und Maͤnnermilde hervorgeht. Bei
meinen Wuͤnſchen und Glauben an eine beſſere
Zukunft, konnte ich mir von dem zu bearbeitenden
Stoff, der ſo gluͤcklich von der Natur vorbereitet iſt,
guͤnſtige Reſultate verſprechen.
Von hier ging ich in das Erziehungshaus der
Soldatenkinder. Ihnen iſt ein Theil des Gebaͤu-
des eingeraͤumt, das der Koͤnig zur Zeit, wie er
hier reſidirte, fuͤr ſich zurichten ließ; daher man
die vergebliche Dekoration der praͤchtigen Zimmer,
in welchen nun die wilden Knaben hauſen, gar
ſehr beklagt. Ich glaube, das Gebaͤude iſt das
ehemalige alte Haus, ſchon in den fruͤhſten Zei-
ten der Stadt, zum Gouvernementshauſe gebaut,
nachmals aber vom Erbſtatthalter bewohnt; es iſt
ziemlich regelmaͤßig, ſieht aber antik aus, ein Theil
davon iſt noch dem Gebrauche der Regierung ein-
geraͤumt, und daher verſchloſſen. Das Corps de
Logis, der große viereckte Hof, und die anſtoßen-
den Hofraͤume gehoͤren der Soldatenſchule. Nach
der Abſicht des Koͤnigs ſoll die Anzahl der Kinder
bis zu drei tauſend ſteigen, noch iſt ſie nicht ganz
zur Haͤlfte vollzaͤhlig. Es werden alle Soldaten-
waiſen darin aufgenommen und auch andere huͤlf-
loſe Kinder, ſobald ſie geſund ſind, und nicht uͤber
das ſechſte Jahr zuruͤckgelegt haben; der Staat
uͤbernimmt ihre ganze Erziehung, wogegen ſie aber
alle zum Kriegsdienſt beſtimmt ſind. Daß eine
fehlerhafte phyſiſche Entwickelung, die bei einer
ſo großen Zahl Kinder, unerachtet der zweckmaͤſ-
ſigſten Pflege, dennoch vorfallen muß, Ausnah-
men machen wird, liegt wohl in der Natur der
Sache. Die Knaben lernen nichts, wie die zum
Kriegsdienſt, und zunaͤchſt fuͤr die gemeinen Sol-
daten, noͤthigen Kenntniſſe, wo von fruͤher Kind-
heit der wirkliche Dienſt mit inbegriffen iſt. Sie
haben viele Freiſtunden, und in dieſen treiben ſie
alle Spiele und Balgereien, die ihnen Thaͤtigkeits-
trieb und Muthwillen eingeben kann. Einer ge-
wiſſen Anzahl iſt immer ein Unterofficier zum Auf-
ſeher zugegeben, er verhuͤtet aber nur Ungluͤck,
legt ihnen keinen Zwang an. Religion, Leſen,
Schreiben, Rechnen, Aufangsgruͤnde der Mathe-
matik werden jetzt gelehrt. Da das Inſtitut nur
ein Jahr erſt beſteht, konnten die Kleinen noch
nicht weit fortgeſchritten ſeyn, und der Erziehungs-
plan kann ſich nur nach und nach entwickeln. Daß
ſo erzogene Knaben, die von Kindheit an den Staat
fuͤr ihren Vater, und den Krieg fuͤr ihren Beruf
halten, bei ihrem Eintritt in die buͤrgerliche Lauf-
bahn andere Anlagen mitbringen, wie die Hand-
werker, Hirten- und Pfluͤgerkinder, die ſonſt im
ſechszehnten Jahr aus einer ſchon ergriffenen Be-
ſtimmung herausgeriſſen, fuͤr den Kriegsſtand ver-
looſt oder geworben werden — laͤßt ſich wohl
nicht bezweifeln, daß in Holland, wo die buͤrger-
liche Lebensweiſe wenigſtens ſo erſchlafft iſt, wie
bei uns, der Landdienſt gehaßt und weniger geach-
tet, als der Seedienſt, und der Krieg um ſo mehr
gefuͤrchtet iſt, wie ihn das Land nur in einem ſehr
beſchraͤnkten Umkreis erfuhr, leidet auch keinen
Einwurf — mir daͤucht daher, daß dieſe Anſtalt
ſehr zweckmaͤßig und wohlthaͤtig iſt. Juͤnglinge
als Kinder des Staats zum Kriege erzogen, wer-
den, ein jedes in ſeinem Haufen, Beiſpiel und
Richtſchnur ſeyn — nur wenn dieſe Kinder eigne
Haufen bilden ſollten, bedrohten ſie mit den Ge-
fahren der orientaliſchen Leibwachten; allein un-
ter die uͤbrigen Truppen vertheilt, verſchafften ſie
ihrem Volke und ihrem Staate nur Vortheile.
Ich vergnuͤgte mich an den runden, froͤhlichen,
muthwilligen Geſichtern der umherſchlendernden
Knaben, und mußte uͤber die Beſchreibung lachen,
die man mir von dem Toben und graͤulichen Laͤrm
machte, den die Haufen von zwei, dreihundert
dieſer uͤbermuͤthigen Geſellen in den Spielſtunden
zuwege bringen ſollten. Wenn wir um uns blik-
ken, in die Huͤtten der Armuth, und ſehen, wie
die Kinder dort verkruͤppelt an Leib und Seele un-
tergehen, oder aͤrmlich zu einem aͤrmlichen Leben
aufwachſen, wenn wir die herzzerreißende, die
ganze Natur empoͤrende Freude ſehen, mit der un-
ſere Arme ſo oft ihre jungen Kinder zu Grabe
bringen, weil ſie ihnen das Leben zu friſten, nicht
die Mittel oder den Muth hatten — o wer
wuͤnſchte nicht ſeinem Lande ſo eine Soldatener-
ziehung! — Und wer unſere meiſten Waiſenhaͤu-
ſer kennt, den Druck des Kummers und der Barm-
herzigkeit, der auf den armen Knaben haftet, und
ſie durchs Leben begleitet — denn hier ſind die
vielen Ausnahmen mehr ruͤhrend als begluͤckend —
wer ſaͤh nicht lieber die uͤbermuͤthig frohen Geſich-
ter, die in einen Stand treten, den das Weib nie,
und der Buͤrger nur aus ſehr complicirten
verkehrten Begriffen verachten kann.Zur Entſchuldigung der ſehr friedliebenden Schreiberin
dieſer Zeilen mag es dienen, daß ſie den Kriegsſtand hier
ganz getrennt, und ohne Beziehung auf die jetzigen
Kriege dachte. Nach ihren Begriffen iſt der Mann vom
Krieger unter Umſtaͤnden unzertrennlich, und die Waf-
fenuͤbung zur Entwickelung des Mannes unerlaßlich —
ſie druͤckt ſich uͤber dieſen Punkt als letztes Reſultat ihrer
Anſichten gegen ihre Freunde mit Stollberg’s Wor-
ten aus:
„Die Weiber waren ſtets,
Wenn Maͤnner Maͤnner waren, ihrer werth —
Nur weiblicher, ſonſt ihnen gleich.“
Der Buſch iſt ein ungekuͤnſtelter ſchoͤner groſ-
ſer Wald, den einige herrliche Grasplaͤtze mit ſchoͤ-
nen Alleen eingefaßt, mit der Stadt verbinden.
Hirſche und Rehe weiden vertraulich, ungeachtet
der nahen Stadt und des dicht neben den Wieſen
hinfuͤhrenden Wegs, an dem Saume des Gehoͤl-
zes. Die Haͤuſer, welche ihm zunaͤchſt liegen,
gleichſam Fronte mit den Alleen und Grasplaͤtzen
machen, mußten, ſo lange der Haag noch durch
den Aufenthalt des Hofs, und den bluͤhenden Zu-
ſtand des Handels in dem umliegenden Lande,
volkreich und lebhaft war, unvergleichlich ange-
nehme Wohnungen darbieten. Dieſe Gebaͤnde
haben alle den Karakter von Vollendung und Ge-
maͤchlichkeit, ohne je durch Groͤße und Pracht zu
befremden. In den verſchlungenen Schattengaͤn-
gen des Buſches ſind in der guten Jahrszeit Re-
ſtaurateurs-Buden aufgeſchlagen, und noch jetzt
ſollen die Haager dieſen allerliebſten Ort fleißig
beſuchen. Die Ausſichten zeigen, ſo wie uͤberall,
Kirchthuͤrme, Wieſen, Buͤſche, Windmuͤhlen und
freundliche Haͤuſer, denn obſchon nur eine Meile
vom Meere entfernt, ſieht man es aus keinem
Punkte, die Hoͤhe der Duͤnen beraubt die Gegend
ſeines Anblicks, und ſchuͤtzt ſie gegen ſeine Wuth.
Das Haus im Buſch iſt ein ſehr kleines Wohn-
haus, mit wenigen Wirthſchaftsgebaͤuden, dem
Umfang nach ein bloßes Jagdſchloß, und in der
Zimmereinrichtung, ein paar Saͤle ausgenommen,
um nichts praͤchtiger, wie das Haus eines wohl-
habenden Privatmanns. Ich beſah das moderne
Geraͤth mit weiblicher Neugier, und verglich es
mit den deutſchen Schloͤſſern, die ich ehrenhalber
hie und da ſehen muß, denn es wird einem faſt
uͤbel ausgelegt, wenn man ſeine Langeweile bei
bloßen Sopha’s, Brumeaux und Lustres nicht ber-
gen kann. Im Hauſe, im Buſch koͤnnte ich mit
euch Lieben, groß und klein, ohne alle Umſtaͤnde
leben, Molly koͤnnte in dem kleinen Prinzenzimmer
all ihr Weſen treiben, ohne daß groß Ungluͤck ge-
ſchaͤhe, und wir ſetzen unſern Theetiſch ſehr unbe-
fangen an das Fenſter, wo man ſchoͤne Grasplaͤtze
rings mit Blumen und bluͤhenden Stauden einge-
faßt erblickt, herrliche hohe Baͤume nehmen die
reinlich gehaltenen Wege auf, und unter den Pap-
pel- und Ahornſtaͤmmen ſchimmert hie und da ein
ruhiger Teich hervor.
Es iſt ein eigenes Gefuͤhl fuͤr eine Mutter des
Mittelſtandes, ſich die Kindheit eines Prinzen vor-
zuſtellen. Wohlbemerkt: des Mittelſtandes, und
ich moͤchte wohl dazu ſetzen — unſrer Zeit. Wir
ſtehen ganz natuͤrlich auf dem hoͤchſten Standpunkt
zur Anſicht des Lebens, indem wir als Hausfrauen
viei Gelegenheit haben, das Volk zu beobachten,
und den hoͤhern Staͤnden nahe genug ſtehen, oft
ſo in ſie hinuͤber gehen, durch Vermoͤgen oder Amts-
wuͤrde des Mannes, daß wir ſie nicht nur beob-
achten, ſondern auch auswendig lernen koͤnnen.
Solchergeſtalt in Stand geſetzt, alle Mittel zur
Ausbildung eines jungen Menſchen, das heißt,
eines Werdenden, zu beurtheilen und zu ſchaͤtzen,
wird uns das Herz immer ſchwerer, je guͤnſtiger
das Gluͤck — nach der gemeinen Anſicht — die
Kindheit des jungen Geſchoͤpfes bedachte. Der
Erbe eines Reichsbarons erloſchenen Andenkens —
wie wehmuͤthig ſah ich oft die Knaben zu dem daͤ-
miſchen Capellan wandern, der ſie durch einen
poͤbelhaften Fluch zum Beten, und mit dem Stock
zum Lernen zwang, bis die Mutter ſie mit Zucker-
brodt und Kuͤſſen nach der Lexion empfing, der
Vater ſie zu ſeiner Erholung nach der Schnepfen-
jagd mit den Jagdhunden Spaͤßchen machen ließ,
indeß der geiſtliche Mentor vor ihm kroch, und der
Mutter Haushaltsrechnungen kopirte. Oder denkt
euch anſtatt des Capellans einen hungrigen Candi-
daten, dem im Hintergrunde die lang erſehnte
Pfarre, und die Hand der lang verbluͤhten Gou-
vernante der Fraͤuleins erwartet. — Modificirt
euch das, wie ihr wollt, viel Glorreiches wird nicht
herauskommen, ſo lange der Junker zu Hauſe iſt.
Heil und Segen daher dem adlichen Knaben, der
fruͤh in eine Penſion kommt, in vieler Ruͤckſicht,
gleichviel in welche — die Hauptſache iſt immer,
daß er fern ſey von der Kriecherei der Untergebenen,
und der Leerheit oder Rohheit ſeiner Pair’s. Da
macht die zaͤrtlichſte Sorgfalt der Eltern kein
Uebles gut. Ich ſah ſchon Beiſpiele der herzlich-
ſten Wohlmeinenheit fuͤr das Beſte der Kinder,
beſonders der Knaben — da wird nichts gewon-
nen, wie eine flache, weichliche Kuͤnſtlichkeit, die
den armen Wicht außer die wirkliche Welt ver-
ſetzt, und ihn glauben machen muß, daß da fuͤr
ihn ſo viele außerordentliche Bewegungen gemacht
werden, er auch ein ganz außerordentlich merk-
wuͤrdiges Geſchoͤpfe iſt. Befinde ich mich aber
nun gar in den kindiſchen Umgebungen eines Koͤ-
nigsſohns! — Mein Gott! dieſe Menſchen, die
Aller Herzen erforſchen ſollten koͤnnen, die alle
Schmerzen ihrer Mitmenſchen ſollten im Buſen
getragen, alle ihre Freuden getheilt haben, um
Gott aͤhulich das furchtbare Recht zu uͤben, ohne
menſchliches Mitgefuͤhl, und dennoch mit uner-
muͤdlicher Schonung ſtets den Einzelnen dem Gan-
zen unter zu ordnen — die Menſchen werden un-
ter Umſtaͤnden erzogen, wo alles, was Menſch-
heit heißt, nur hiſtoriſch ihnen bekannt wird.
Steht dann das gekroͤnte Kind dem hohen
Gange des Schickſals noch dazu ſo ſichtlich nahe,
wie der Throuerbe Hollands! — Klares Augen-
paar, ſorgloſe Stirne, gelocktes Kinderhaupt!
blicke zuruͤck, blicke vorwaͤrts — ach, und blicke
mit dieſem vertrauensvollen Auge zu Gott auf —
der bleibt feſt, wie es um dich auch wechſelt.
In des kleinen Mannes Zimmerchen ſtand ſein
kleines ſchlichtes weißes Umhangsbettchen, neben
dem ſeiner Pflegerin. Ich haͤtte mich uͤber das
Hauptkiſſen des Knaben mit Gebet beugen moͤ-
gen. — Es iſt wohl das Einzige, auf dem er
ſorglos ruhen wird. Der Erbprinz ſoll ein ſehr
munterer, unruhiger Knabe ſeyn, der ſeiner Hof-
meiſterin und ſelbſt ſeinem Vater, der ihn innig
liebt und verzieht, zu ſchaffen macht. Muͤtterchen
C. wird doch gerne hoͤren, ob denn ein Erbprinz
auf eine andere Art unartig iſt, wie ihr Walo,
und ſich damit troͤſten wollen, daß dieſer nicht un-
artiger ſey, wie jener. Nun ſieh einmal, da ward
ihm, wie man ihn vom Haag nach Utrecht fuͤhrte,
die Zeit im Wagen lang, wie es ihm nicht gelang
ſpatzierengehen zu duͤrfen, forderte er, um einer
Urſache willen heraus, die keine Widerrede geſtat-
tete; kaum hatte er aber den Fuß auf den Boden
geſetzt, ſo war ihm der Zweck aus den Augen, und
er ſpielte, ſprang und lief durch die Wieſe. Auf
die Erinnerung ſeiner ehrenfeſten Hofmeiſterin er-
wiederte er ſehr unbefangen: „O, ich bedurfte gar
nichts — ich hatte nur Langeweile.“ Sieh, mein
gutes Muͤtterchen, welche Koͤnigsnatur ſich in dei-
nem Knaben regt! denn waͤr nicht Walo faͤhig
eben ſo geiſtreich zu handeln? Freilich, ſeinen Va-
ter zwingen aus dem Staatsrath zu laufen, wie
der kleine Prinz that, das koͤnnte er nicht, aus der
einfachen Urſache, weil ſein Vater nicht in den Staats-
rath hinein geht. Mein koͤniglicher Bambino kam
einmal darauf, ſeine Geſellen, die Pagen, vor der
Thuͤr des Staatsraths zu verſammeln, wo ſie nach
allen Kraͤften mit Peitſchen knallen mußten, bis
der gute Koͤnig ſelbſt herauskam, und dem Unwe-
ſen ſteuerte. Daß ſo ein Puͤrſchchen einer koͤnig-
lichen Gouvernante angſt und bange machen kann,
begreift man wohl. Auch beklagte ſie ſich eines
Tages, wie ſie ihn zum Nachtiſch brachte, bitter-
lich uͤber ihn, und ſagte zum H. v. **: „Es gibt
einen jungen Menſchen, mit dem man nicht mehr
fertig werden kann; er will nichts lernen, und
hat den ganzen Morgen geſtuͤrmt und gewuͤthet.“
Der Knabe hatte bisher ruhig am Fenſter geſtan-
den, nun wandte er ſich um, und ſagte ſehr ge-
faßt: „der junge Menſch, von dem die Rede iſt,
bin ich, Herr Praͤſident.“ Das iſt eine hoff-
nungsvolle Unbefangenheit! — Wie gluͤcklich
koͤnnte dieſe Beweglichkeit benutzt werden, wenn
er, ſtatt von den Haͤnden einer gewiß wohlmei-
nenden Hofmeiſterin gemeißelt, geknetet und ge-
ſchniegelt zu werden, in laͤndliche Umgebungen,
unter eine Zahl ruͤſtiger Jungen, in die vaͤterliche
Aufſicht eines maͤnnlichen Lehrers kaͤme. Nun —
das Schickſal walte! —
Ein Saal, auf eine wuͤrdige Weiſe das Haupt
einer Nation ankuͤndend, iſt der große Audienz-
ſaal. Das Licht faͤllt von oben und der einen
Seite auf die Gemaͤhlde, welche die Mauerbeklei-
dung bilden. Die Hauptfelder nehmen große hi-
ſtoriſche Darſtellungen ein, die kleinern und Dek-
kenwoͤlbung allegoriſche Figuren und Gruppen;
auf den Pfeilern ſtehen einzelne Bildniſſe beruͤhm-
ter Staatsmaͤnner und Krieger aus der hollaͤndi-
ſchen Geſchichte. Das Ganze iſt ſehr erhalten,
unter den einzelnen Geſtalten ſehr viele vorzuͤgliche,
mit dem Ausdruck von Kraft, der jenen Jahrhun-
derten des Freiheitskriegs eigen geweſen ſeyn muß,
denn ich fand ihn an ſo vielen Gemaͤhlden in Fa-
milien-Bildniſſen und hiſtoriſchen Darſtellungen.
Allein die Erfindung iſt uͤberladen und verworren;
das Auge arbeitet ſich muͤhſam durch die Huͤndlein
und Roſſe uͤber den Triumphzug der Helden zu
den Wolken hinauf, wo die ſchwebenden Goͤtter-
geſtalten ihm wieder keine Ruhe laſſen. Mir ver-
urſacht ſo ein Haufe von Geſtalten in aktiven Stel-
lungen eine ſolche Spannung, daß ich endlich kein
klares Bild davon trage. Wenn ich jetzt noch die
Augen ſchließe, blicken mich die einzelnen herrlichen
Koͤpfe mit ihren lebendigen Augen an, ich koͤnnte
ſie mahlen, wenn die Kreide meine Phantaſie dol-
metſchen wollte; aber das Ganze iſt mir nicht
deutlich geworden. Bei einer einfachen Anord-
nung iſt das nie der Fall, und bei der hoͤchſten
Stufe darſtellender Kunſt, bei der Geſtaltung in
Stein, faßt die Erinnerung das Bild mit einer
Klarheit auf, die jeder Biegung jedes Gliedes eine
Bedeutung giebt, und allein den Begriff eines
Ideals in der Seele hervorruft.
Bei glaͤnzender Erleuchtung und der Pracht
der Hof- und Ordens-Uniformen, muß dieſer
ſchoͤne Saal ſehr impoſant ſeyn. Ich wuͤnſche, er
wuͤrde ganz ſo erhalten, und in einer beſſern Zeit
das Andenken ſchoͤnerer Zeiten zuruͤckrufen.
In einem andern Saale wuͤnſchte ich alle mei-
ne kunſtfleißigen Freundinnen zu verſammeln, um
den Kunſtfleiß einer wunderlichen Nation zu be-
wundern, die, wie mir nebenbei einfaͤllt, wahr-
ſcheinlich in ihrer Kultur einige Aehnlichkeit mit den
Hollaͤndern hat. Dieſer Saal iſt ganz chineſiſch
verziert, und das ganze Geraͤth deſſelben ein Ge-
ſchenk des Kaiſers von China an die letzte Prinzeſ-
ſin von Oranien. Die Wandbekleidung beſteht in
einem weißen Atlas mit lauter ganz und halb er-
habnen Figuren, die Voͤgel und Blumen aus einer
fremden Welt, vielleicht aus Eldorado, vorſtellen.
Sie ſtehen mit aufgeſperrten Schnaͤbeln neben glaͤn-
zendem Schilfe in ſo natuͤrlicher und doch theatra-
liſcher Stellung, daß man glaubt, jetzt werden
einem die Ohren von ihrem Schreien gellen. An-
dere picken an herrlichen wunderbaren Beeren, an-
dere erheben ſich uͤber praͤchtige fremde Blumen,
und Paradisvoͤgelein mit den ſchimmerndſten Far-
ben ſchweben in der Luft. Alle Schilfhalme, Federn,
Schnaͤbel und Pfoten ſind von Pergamentſtreifen
und Drath, mit Seide und Gold umſponnen, ſo, daß
Y
ſie locker, halb hervorgelehnt, nur theilweiſe an
dem Atlas haftend, daſtehen. Unter die Schwei-
fe der Pfauen konnte ich meine Hand legen, in-
deß die Leiber halb erhaben an dem Grunde feſt-
hingen; ein Pfoͤtchen war Basrelief, indeß ein
anderes hervorſtand mit der truͤgendſten Aehnlichkeit
mit Seide umſponnen, die jedes Gelenk und Kralle
abzeichnete. Die Felſen ſind von bunten Stoffen
mit Baumwolle gepolſtert, ganz in den abentheuer-
lichen Formen, die uns unſere aͤchtchineſiſchen Faͤ-
cher darbieten, und mit ſchoͤnen Straͤuchen bewach-
ſen, an denen glaͤnzende Fruͤchte hangen. Die
Voͤgel ſind vielleicht nach der Natur, der Pfau
gewiß, nur nicht ganz ſo groß, wie die, welche
wir auf unſern Hoͤfen haben. Die Pracht der Far-
ben iſt nicht zu beſchreiben, das Gemiſch von Gold
und Gruͤn an den Federn, das Roth, das Blau
— ich denke, die Saͤle, welche Tauſend und eine
Nacht uns ſchildert, muͤſten ſo ausgeſehen haben.
Die Thuͤren dieſes Gemachs ſind von ſchwarzem
Lak mit goldenen Geſtalten — ich haͤtte gewuͤnſcht,
man haͤtte dem Geraͤthe auch eine orientaliſche
Form gegeben, und den weißen Atlas mit der
abentheuerlichen Stickerei von Maͤnnerchen, Fel-
ſen, Baͤumen und Haͤuſerchen, der die Stuͤhle
und Sopha’s deckt, zu großen Polſtern, oder ſonſt
das chineſiſche Geraͤth nachahmende Sitze verwen-
det. Auch den engliſchen Fußteppich haͤtte ich fort-
gewuͤnſcht — er ſtoͤrte die Illuſion. Zu eurem
Troſte kann ich euch ſagen, daß dieſes Kunſtwerk
ſorgſam in Ehren gehalten wird, denn die Waͤnde
ſind uͤberall mit atlaſſenen, geſtickten Rouleaux,
die eine zweite Tapete bilden, vor dem Staube ge-
ſchuͤtzt, und nur bei beſonderer Veranlaſſung ſetzt
man die fremde Welt hinter ihnen dem Schaulu-
ſtigen aus. —
Das Wetter war ſtuͤrmiſch und verſprach keine
guͤnſtige Aenderung, ich ſtand alſo nicht an, bei
abwechſelndem Regen und Sonnenſchein und ei-
nem ſchon hinter den Duͤnen ſehr heftigen Nord-
weſtwind, nach Schewelingen zu gehen. Wir ar-
men Weiber, daß wir nie allein gehen koͤnnen!
Wie gern ich dieſen Weg allein gemacht haͤtte! —
Es ſind eine Menge ziemlich baufaͤlliger Chaiſen
ſtets bereit, von dem Haag nach Schewelingen zu
fahren, und wir gelangten in einer ſolchen —
denn unſere Pferde waren den Morgen ſchon muͤde
geworden, muſten alſo auf die morgende Reiſe
Kraͤfte ſammeln — durch eine lange mit Back-
ſteinen gepflaſterte Allee, die einen großen Theil
Y 2
des Weges links und rechts an Gebuͤſch grenzt,
nach dem nicht beſonders huͤbſchen Dorfe. Es iſt
nur von Fiſchern bewohnt. Der Sage nach ſoll
die Kirche, welche jetzt am aͤußerſten Ende des
Dorfes gegen das Meer zu liegt, ehemals in der
Mitte deſſelben gelegen haben. Der alte Ocean ſpuͤlt
alſo hier mit maͤchtigem Beharren das kleine Men-
ſchenwerk fort. Dieſe Zerſtoͤrung muß aber bei ei-
ner nun veraͤnderten Geſtalt des Ufers ſtatt gefun-
den haben, denn jetzt ſteht die Kirche ſchon auf
den Duͤnen, die das Meer umguͤrten. Der fort-
geſpuͤlte Theil der Dorfes muß alſo auf einer Nie-
derung geſtanden haben, die ihn den Wellen preis
gab. Koͤnnten die Wellen noch jetzt uͤber das Ufer
ſchlagen, auch nur bis an die Kirche, ſo waͤre das
ganze Land dem Untergange ausgeſetzt. —
Der Sturm wuͤthete ungeheuer; er hatte den
Morgen Leichen von einem bei Cadwyk verun-
gluͤckten Fahrzeuge auf den Sand getrieben; ich
blickte uͤber die Wellen hin, ich ſehnte mich fort
von dem gleichguͤltigen Gaſthofsgewuͤhl, um in
das maͤchtige Element vor mir zu ſehen, und ſtahl
mich endlich hinweg an das Geſtade.
Es iſt nicht unbedingt wahr, daß der Anblick
der offenen See uͤberraſchend, hinreiſſend iſt; er
iſt befremdend, Fehlſchlagung erregend, wenn
man nach langer, langer Erwartung an das Ge-
ſtade tritt. Und an dieſes Geſtade! das oͤdeſte,
von jeder ſchaffenden Kraft entbloͤſſeſte! An ei-
nem Felſenufer, unter herabneigenden Tannen, in
Camoens Hoͤhle, am Geſtade, wo Oſſian ſang,
mag die erhabene Erde im Gegenſatz des maͤchti-
gen Gewaͤſſers ein uͤberraſchendes Bild darſtellen.
Aber trau’ der Fehlſchlagung dieſes hollaͤndiſchen
Ufers nicht, wenn du mit empfaͤnglichem Herzen
und beweglichem Geiſte dieſen Strand betrittſt. —
Oft, wenn ich unter euch ſaß, und durch den Zu-
fall veranlaßt, wie Ulyſſes, meine vielfachen Wan-
derungen erzaͤhlte, ſagte ich lachend: Das Welt-
meer muͤſte ich noch ſehen, dann wollte ich meinen
Wanderſtab im Tempel der heitern Ergebung auf-
haͤngen, und, nur von euren Armen geſtuͤtzt, den
freundlichen Genius mit der geſenkten Fackel er-
warten.
Nun ſtand ich an dem Geſtade des Weltmeers.
Rechts und links dehnt ſich ein unabſehbares Ufer
aus, das bald in den Wellen untergeht — alles
ein nackter, todter Sand! die maͤſſigen Huͤgel,
die er bildet, entziehen allenthalben den Anblick
des bebauten Landes, den Anblick ſchaffender
Kraft. Hier ſtand ich allein, dem Verderben im
Angeſicht, denn das furchtbare Element, deſſen
Treiben ich zu unterſcheiden anfing, deutete auf
eine zerſtoͤrte, nicht eine zu erwartende Schoͤpfung.
Der Wind heulte in meinem Gewande, daß
ich meine eigne Stimme nicht hoͤrte; er drohte mir
zweimal, mich niederzuwerfen, wie ich unvorſich-
tig auf der Fußſpitze auf dem naſſen Sand einher-
laufen wollte. Ferner und naͤher, rechts und links
und vor mir, hoͤrte ich das Fallen einzelner Waſ-
ſerſtroͤme, die das fortwaͤhrende Rauſchen der Wo-
gen unterbrachen, ich faßte Fuß an einer großen
Fiſcherbarke, die durch die Ebbe aufs Trockne ge-
ſetzt war, und ſuchte mich mit den Gegenſtaͤnden
um mich her zu befreunden.
Jetze ſah ich graue Mauern vor mir aufſteigen
in parallelen Streifen vor dem Sturme her aus
Nordweſt; der Urſprung jeder von der andern an
Zeit und Laͤnge verſchieden. Die graue Mauer
wuchs und erhob ſich, ward immer dunkler, je
hoͤher ſie ſtieg, den wolkenſchweren Himmel uͤber
ſich, unſichere Sonnenhelle durch ihn hervorbre-
chend, ſchon tief in Weſten. Nun kraͤuſelte weiſ-
ſer Schaum auf der Zinne der grauen Mauer, und
der Schaum wuchs, und ſtieg hoͤher und hoͤher,
und ſtraͤubte ſich gegen den Rand der Mauer, als
peitſchte ihn der Sturm ruͤckwaͤrts, bis er ploͤtzlich
noch hoͤher ſtieg, und mit furchtbarem Guß uͤber
die Mauer ſtuͤrzend gegen den Himmel ſpruͤtzte,
und in der Tiefe bruͤllte. — Indeß wuchs neben
der uͤberſtuͤrzenden ſchon eine neue Mauer auf,
noch hoͤher und dunkler, je weiter ſie in das hohe
Meer hinaus ſtand, ſie ſchritt fort und ſtuͤrzte ein,
wie die vorige, indeß noch eine, und noch eine,
und tauſende, in dem weiten Geſichtskreis das
Spiel furchtbaren Grimmes und ſchnellen Unter-
ganges trieben. Je naͤher dem ſanft abgedachten
Ufer, je kleiner wand die Welle, bis die letzte den
Sandboden feſtſchlagend bis uͤber mein Haupt den
lockern Duft herauf ſchlug, indeß ich noch ſicher an
dem Fahrzeuge lehnte.
Ich tauchte meinen ſtaunenden Geiſt in die Flu-
then der Zeit hinein, und fragte die Sandkoͤrner
um mich, dieſe Zeugen zerſtoͤrter Schoͤpfung, und
die Wogen vor mir, das Bild ewigen Wechſels:
— ſagt mir, wo ſind die Welten, die ihr bilde-
tet, wo ſind die Welten, die ihr verſchlangt? und
das hohle, furchtbare Getobe rief mir nur immer
zu: in die Ewigkeit trugen wir ſie hin! — Ich
dachte mir dieſen Meeresſtrand in den vergange-
nen Jahrhunderten, und die Sandhuͤgel in meinem
Ruͤcken beſchaͤmten mich, und die rauſchende Fluth
rief: Geſchoͤpfe von geſtern her! damals waͤlzten
wir unſer Waſſer da, wo jetzt der todte Damm
uns ohnmaͤchtig trotzt. — Ich dachte hinuͤber an
das Geſtade, wo vom Abend her der Sturm heulte,
und wie manches Menſchenalter der Menſch hier
ſtand, nicht ahndend, daß dort Bruͤder lebten,
und wie manches Menſchenalter hindurch dieſe Wel-
len Bruͤder zum Brudermord hinuͤber trugen, und
wie das Antlitz der Welt ſich wandelte mit ihren Be-
wohnern und ihren Schmerzen — nur dieſe Wo-
gen bruͤllten fort in ewiger Freiheit, und dieſe Win-
de rauſchten dahin in ewiger Nacht. Ich ward ſo
klein und einſam! — hinter mir der todte Sand-
huͤgel, vor mir das unendliche Meer, und ging
meine Fantaſie vorwaͤrts, ſo reichte mir der Ein-
wohner von Neufundland zuerſt die Bruder-
hand.
Der Sturm nahm zu, und ich wollte zu-
ruͤckkehren, ehe meine Gefaͤhrten mich vermiß-
ten, und ſo ſah ich den Strand erſt nach einer
Stunde wieder, wie das Toben des Windes
ſich etwas gelegt hatte, um die ruͤckkehrende
Fluth zu beobachten.
Laͤngs dem Doͤrfchen lag eine lange Reihe Fi-
ſcherbarken auf dem Strande, ſo lange die Ebbe
am niedrigſten ſtand, von keiner Welle beruͤhrt.
Nun fingen die Wellen an ihre Waͤnde zu beſpuͤ-
len, bald wankten ſie unter ihren Schlaͤgen, und
nach einer Stunde wiegten ſie ſich auf dem elaſti-
ſchen Elemente. Wir gingen den Strand hinab,
und forderten die hoͤher ſteigende Fluth heraus —
fuͤnf und zehn, und zwoͤlf Schritt ſchlich ich der
Welle entgegen, und ſah ſie heran kommen, an-
fangs ganz fern breitete ſich nur ein kleiner Schleier
von klarem Waſſer um meinen Fuß, nun eilte ich
und die Welle hinter mir drein, daß ich kaum der
Schnellen entrann.
Immer beſchraͤnkter und ſchmaͤler ward nach
jeder Anfluth der Raum, den die Welle verließ —
man ſah ſie von Weiten nahen, kleine Wellen
ſpielten wie weiße Laͤmmer um die Mutter her,
noch ſchienen die kleinen fern, bis ſie ploͤtzlich den
Vorwitzigen erreichten, der nicht immer ſchnell ge-
nug fliehen konnte, denn einmal ereilten ſie * *,
daß er bis an das halbe Bein in der Fluth ſtand,
und indem er den Strand herauf lief, lief die Welle
mit, ſo daß er anſcheinend nicht entrann, ſondern
auf demſelben Fleck gefeſſelt ſchien. Je tiefer am
Boden man hinaus in die Wellen blickt, je furcht-
barer bemeiſtert ſich das Bild der Phantaſie. Das
Meer ſteigt immer hoͤher und hoͤher, und die ſchwe-
re Bruſt fuͤhlt es, ſich um ſie lagern, denn die
hohe Woge verbirgt den Himmel, und die Naͤhe
der Waſſerberge entzieht den letzten Anblick des
muͤtterlichen Bodens — den kahlen Strand um
uns her.
Wir ſchaͤkerten lange an dem naſſen Geſtade,
lachten uͤber die verworrenen Geſtalten, die der
noch immer dauernde Sturm unſern Kleidungen
gab, ſuchten Muſcheln im Sande, und zaͤhlten
die Zeitraͤume, in denen die Wogen am Strand
rollten. Ich haͤtte den Abend, trotz dem Sturme,
hier zubringen moͤgen, haͤtte ſich nicht bald ein
Haufen Fiſcher um uns verſammelt, die durch ih-
ren elenden Aufzug, durch ihr ungeſtuͤmes Betteln,
durch die Zudringlichkeit, mit der ſie uns Meer-
muſcheln zum Verkauf anboten, uns unertraͤglich
belaͤſtigten. — Waͤre ich nun auch kein Weib ge-
weſen, ſondern haͤtte hier in der Unabhaͤngigkeit
des Mannes geſtanden, ſo waͤre ich doch nicht
einſam geblieben. Lebte ich eine Zeitlang in die-
ſer Gegend, ſo braͤchte ich ein paar Naͤchte hier
zu, und ſchlich mich im Mondſchein an das Ge-
ſtade. So ſaß ich einſt manche Stunde an dem
ſtillen Neufchateller See, und ſah den Mond uͤber
den Schneebergen einherwandeln. —
Von den Bettlern wirklich verjagt, gingen wir
den Strand immer weiter nach Norden hinab, bis
ſie zuruͤckblieben, einen zerlumpten Knaben aus-
genommen, der ſich beharrlich vorgeſetzt hatte,
unſer Cicerone zu ſeyn. So verhaßt mir dieſe
Stoͤrung war, konnte ich doch endlich dem Lachen
nicht widerſtehen, wie der Burſche unermuͤdlich
war, mir alle die Gegenſtaͤnde, welche meine Auf-
merkſamkeit beſchaͤftigten, zu erklaͤren. Ich ſprach
lebhaft mit meinem Gefaͤhrten in ſeiner Sprache,
und zeigte auf das Meer hin, das wir jetzt, in-
dem wir die Duͤnen hinan kletterten, weiter uͤber-
ſahen. Die Gegenſtaͤnde auffaſſend, auf die ich
deutete, machten ſeine Auslegungen mit unſerm
Geſpraͤch einen ſo barocken Contraſt, daß mein
Unwille uͤber die Stoͤrung nur von meiner Lach-
luſt aufgewogen werden konnte. Es war faſt
ſechs Uhr, die Sonne, bereit in die Fluthen zu
tauchen, durchbrach noch einmal die Wolken,
faͤrbte ihren Weg golden, und die Hoͤhe uͤber ſich
mit dunkelm tiefen Blau. — Nach Norden und
Suͤden thuͤrmten ſich ſchwarze Dunſtgebirge. Nun
ſcholl das Gebruͤll des Meers zu uns her, und die
Ferne ſah aus wie ein Eismeer — ich kann keinen
lebendigern Vergleich finden, als die Eismeere der
Alpengebuͤrge. Die Bewegung der Wogen ent-
geht von Weitem dem Auge, es erblickt nur den
weißen Schaum, der jetzt in der Sonne glaͤnzte,
und die ſchwarzen Gewaͤſſer, die wie tiefe Spal-
ten dazwiſchen gelagert ſind. Dort begrenzen aber
himmelanſteigende Gebirge den Horizont, hier
ruht der Himmel allein auf dem ſtarren Erdball.
Nichts troſtloſer unfruchtbarers kann ſich die Ein-
bildungskraft erdenken, wie die Seeſeite der Duͤ-
nen! der niedrigere Theil beſteht aus ganz duͤrren
grauem Sande, der aus ſehr harten, groben Koͤr-
nern, ohne Beimiſchung von Kieſeln, aufge-
ſchwemmt iſt. Hoͤher hinauf iſt ein duͤrres gro-
bes Gras in kleinen Buͤſcheln angeſaͤet, das die-
ſem todten Sande die erſten Pflanzentheile beimi-
ſchen ſoll. Es ſcheint gar nicht abgeſchnitten zu
werden, denn ſeine langen, ſteifen, aͤrmlichen Hal-
me waren von keiner Sichel beruͤhrt, vom Sturme
auf den duͤrren Boden niedergeworfen worden.
Auf dem Ruͤcken der Duͤnen wird das Gras etwas
haͤufiger, hie und da bedeckt es beinahe den Bo-
den. Mitten in dieſer Einoͤde ſteht ein Telegraph
— er gehoͤrt zu der Dekoration des Bildes. Das
hoͤlzerne Geruͤſt ſtreckt ſeine kahlen Balken uͤber
den Sand, und man blickt, Geheimniſſe ahndend,
an ihm hinauf. Das unbelebte Holz, das die le-
bendige Sprache vertritt, ſcheint auf einem Augen-
blick lebendiger, als das todte Papier, daß
wafts a sigh from Indus to the Pose.
Wohl wehen Seufzer von dieſen Geruͤſten! Groſ-
ſer Gott! welche Maſſe von Jammer verkuͤndig-
ten ſie von der Donau bis an die Nordſee!
Zwiſchen Schewelingen und dem Haag ſind
die Duͤnen ſchon zu bewachſenen Huͤgeln gediehen,
und geben der nahen Landſchaft einen, fuͤr dieſe
Gegend, befremdlichen Charakter; ja, es finden
ſich hie und da laufende Quellen, und in Zorg-
fliet, einem Landgute an der Suͤdſeite des Weges,
hatte ich, ſeit ich in Holland war, zum erſtenmale
den Genuß, ein Glas Quellwaſſer zu trinken.
Der Weg von dem Haag nach Delft fuͤhrt
durch einen klaſſiſchen Boden, fuͤr eine Epoche der
hollaͤndiſchen Geſchichte, die von den neuen und
alten Dichtern dieſes Landes benutzt worden iſt.
Rechts vom Wege ab, iſt die Ebene bei Nusdorp,
die Barnwelds Soͤhne ihren Mitverſchwornen zum
Sammelplatz beſtimmten, als ſie, ihren Vater zu
raͤchen, die Ermordung Morizens von Naſſau be-
ſchloſſen hatten. Hart am Wege liegt ein Land-
gut, das ehedem Olden Barnweld bewohnte. —
Es iſt immer eine eigene Empfindung, Orte, die
man nur mit großen tragiſchen Begebenheiten zu-
gleich nennen hoͤrte, ſo ſtill vom Lichte der Sonne
umfloſſen, mit allen Ausmahlungen eines behag-
lichen Alltaglebens ausſtaffirt zu ſehen. Im Haag
ſtand ich mit eben dieſen Betrachtungen beſchaͤf-
tigt, auf der Stelle, wo van der Witte, ein Opfer
der Volkswuth fiel, die nicht einmal die Form
des Geſetzes zu beduͤrfen glaubte. Es gingen
Maͤgde mit Gemuͤskoͤrben daruͤber, es ſpielten
Knaben da — freilich wuſch des Himmels Re-
gen das vergoſſene Blut von den Steinen, freilich
wuͤrde ja das Ohr keine Freudentoͤne aufnehmen
koͤnnen, wenn die des Jammers nicht ſo bald ver-
hallten — aber doch laͤchelt man ſchmerzlich, wenn
die Menſchen ſogar vieles vergeſſen. —
Delft iſt ein ſehr netter, lebendiger Ort. Ich
hielt mich einige Augenblicke bei dem Prinzenhauſe
auf, wo Wilhelm von Oranien ermordet ward.
Haͤtte jene Geſchichte doch nicht die viele Beimi-
ſchung von Religionseifer! Das iſt eine Zuthat,
die jede Farbe des Gemaͤhldes unrein macht! Ich
fuͤhle nie ein rechtes Zutrauen zu den Leuten, die
um das Ueberirdiſche mit Feuer und Schwerd ſich
herum ſchlagen, denn es kann keiner den andern
verſtehen, weil ein jeder das Ueberirdiſche ganz
aus ſeinem Geſichtspunkte anſieht. Gilts dann
aber den Kirchenglauben, ſo kann der Tauſch, den
damals die guten Leute eingingen, der menſchli-
chen Vernunft nicht ſo gar glaͤnzend vorkommen.
Galt es aber rein weg politiſche Unabhaͤngigkeit,
auch vom Pabſte, und zuerſt vom Pabſte — dann
verſteht man ſich und weiß, wofuͤr ſie ſtritten.
Des Olden Barnwelds Proceß hat etwas wahr-
haft niederſchlagendes durch die Beſchuldigung
des Arminianismus.
Monumente haben mich von jeher ſehr ange-
zogen — und noch keines hat mich befriedigt. Sie
erinnerten mich entweder nicht an den Gegenſtand,
den ſie bedeuteten, oder genuͤgten meiner Vorſtel-
lung des Gegenſtandes gar nicht, oder verletzten
meine Empfindung fuͤr Kunſt — denn Kunſt-
geſchmack fordert Kenntniſſe und Uebungen, die
mir fehlen. — Es iſt meines Beduͤnkens noch
recht ſchwer, den Plan eines Monuments zu ent-
werfen. Privatperſonen verwechſeln meiſtens die
Abſicht, und wollen vielmehr ihrem Schmerz ein
Denkmal ſetzen, als dem Todten. Mehr als ein-
mal ſah ich Denkmale, deren Erfindung edel und
einfach zur Seele ſprach, aber die Inſchrift zog
mich ſogleich von den Hoͤhen der Poeſie wieder in
das ſchwuͤle Erdenleben, und ſtatt der Seele ins
Empiraͤum zu folgen, bannte ſie mich unter die
Vettern und Baaſen des Todten. — Noch vor
wenig Tagen ſah ich den Entwurf eines Grab-
ſteins fuͤr zween, in der Bluͤthe des Lebens geſtor-
bene Schweſtern. Es war ein einfacher ſtehen-
der Stein, ganz antik geformt, oben eine Verzie-
rung von Mohnhaͤuptern, darunter zwei Sterne —
das Bild der Dioskuren, und dann Raum zur In-
ſchrift. Wie beſaͤnftigend, wie erhebend! der
Mohn, als wahrſtes Bild des Todes, dieſe Ster-
ne, das edelſte Bild von den Todten, und fuͤr die
Lebenden! — Setzte man nun die Namen der
Entſchlafenen darunter, und deutete an, wer die-
ſen Stein ihnen weihte — wie ruͤhrend fuͤr jedes
Auge, das auf dieſem Denkmal ruhte! Aber da
ſoll nun mit vielen Worten ſtehen, wie, wer, und
warum ein jeder Antheil an dieſem Denkmal hat
mit Namen und Karakter. Und iſts nicht natuͤr-
lich? — was bedarf denn eines Denkmahls, als
unſer Schmerz? Bedarfs der Gegenſtand deſſelben
fuͤr uns? O, was waͤre der Schmerz, der nicht
in Nacht und Licht und Bluͤte und Schnee uͤberall
ſeinen Todten wiederfindet? — Der kalte Stein
iſt uns nur ein dauernder Schrei des Jammers,
er ſoll andere herbeirufen, daß ſie wiſſen, wie elend
wir ſind. Alſo iſts Eigennutz, iſt Beduͤrfniß der
Schwaͤche, iſt der Wohlthaten eine, welche uns
das gute Schickſal ſchenkte fuͤr den Erdentraum.
Ganz anders iſt es mit Denkmalen, die
wir dem Todten, abgeſehen von uns, ſetzen.
Wir errichten durch ſie ein Buͤndniß zwiſchen ihm
und der Nachwelt, und die Denkmale muͤſſen ihr
ſagen, was der Todte der Mitwelt war. Hier
darf der Stein reden durch Wort und Bild, ja,
es ſcheint mir ein ſchoͤner Gedanke, Unternehmun-
gen, Staͤdten, Sternen, Blumengeſchlechtern,
die Namen ihrer Beſchuͤtzer, Erbauer, Entdecker,
zu geben. Da ſpricht das Denkmal ſich ſelbſt
aus. — Es fordert zur Nacheiferung auf, es
zeigt den Lohn des Verdienſtes. Mit Neugier und
Theilnahme ſuchte ich in der großen Kirche von
Delft das Grabmal Wilhelms von Oranien auf.
Die Nation ſetzte es ihrem Helden, und ſo lange
Z
Zeit nach ſeinem Tode, daß die Geſchichte ſchon Zeit
hatte, uͤber ihn zu richten. Mir daͤucht, dieſer
Zeitraum ſpricht wenigſtens ſo wahr, wie die hun-
dert Jahre, die zwiſchen dem Tod und der Heilig-
ſprechung nach paͤpſtlichem Ausſpruch verfloſſen
ſeyn muͤſſen. Die Kirche iſt ein ſchoͤnes, großes
Gebaͤude. Kahl, wie alle proteſtantiſche Kirchen,
und eben ſo mit gemeinen Stuͤhlen zum gemeinen
Sitzort verſtellt. Das große Chor iſt durch ein Git-
ter abgeſondert, der Boden deckt lauter Grabge-
woͤlbe, an den Mauern ſind verſchiedene Denk-
maͤler und in der Mitte befindet ſich Wilhelms von
Oranien Grabmal. Auf dem erſten Blick ſcheint
es ein Tempel in dem Tempel. Es ruht in Ge-
ſtalt eines laͤnglichen Vierecks auf porphirnen Saͤu-
len, die auf einen grau marmornen Grundſtein
geſetzt ſind, und hat ein grau und weiß marmornes
Geſims. An den vier abgeſtumpften Ecken ſtehen,
zwiſchen zweien Saͤulen ziemlich unbequem einge-
engt, vier bronzene Statuͤen von gleicher Hoͤhe,
wie die Saͤulen, vier chriſtliche Tugenden vorſtel-
lend; an den vier Seiten des Geſimſes, ſo wie auf
dem Dom, befinden ſich viel Genien und Basre-
liefs, recht angenehm angebracht, aber ſehr ent-
behrlich fuͤr den Eindruck des Ganzen, oder ihn
vielmehr verkleinernd. Unter dieſem Tempel
erblickſt du einen grauen, marmornen Sarkophag,
auf dem Wilhelm in der gewoͤhnlichen Stellung
aͤhnlicher Geſtalten des Mittelalters ausgeſtreckt
liegt, nur nicht die Haͤnde gefaltet, ſondern an
der Seite ausgeſtreckt, geruͤſtet, und zu ſeinen
Fuͤßen ſein treuer Hund. Ich wollte, der Ver-
theidiger der hollaͤndiſchen Freiheit faltete lieber die
Haͤnde. Wollte man dieſe kunſtwidrige, aber ruͤhren-
de Stellung der frommen alten Kunſt beibehalten,
ſo haͤtte man auch dieſe glaͤubigen Haͤnde nicht ver-
achten ſollen, die den Zuſchauer immer ſo ruͤhrend
mit der ſcheidenden Seele zu Gott hin geleiten.
Ohne ſie liegt die runde, durch die Hoͤhe des Sar-
kophags dem Betrachtenden verkuͤrzte Geſtalt, wie
im Verdauungsſtuͤndchen begriffen, vor ihm, und
erweckt weder fromme noch poetiſche Gedanken.
Das Geſicht gegen ihn, zu ſeinen Fuͤßen, ſteht,
zu allgemeiner Bewunderung nur auf dem einen
großen Zehen ruhend, in fliegender Stellung,
Fama, der Ruhm, mit der Poſaune in der Hand,
wie ſie eben wieder zu Odem zu kommen ſucht.
Der Kuͤnſtler dachte wohl nicht daran, welche ern-
ſte Moral darin lag, daß ſeines Helden Schlaf
nun ſo tief iſt, daß ihn der laute Ton der Ruhms-
Z 2
trompete ſelbſt, die ſeinen Schlaf, ſo lange er auf
Erden handelte, ſo oft ſtoͤrte, nun nicht mehr un-
terbricht. — Nun, ſollte man denken, waͤr das
Denkmal fertig? Nein, die Hauptſache kommt
noch. Zum Haupte des weißen Marmorbildes,
auf dem ſchwarzgrauen Sarkophag, ſitzt, der Fa-
ma den Ruͤcken zugekehrt — dieſe Allegorie ent-
ging wohl wieder dem Kuͤnſtler? — in voller Ruͤ-
ſtung, den Kommandoſtab auf das Knie geſtuͤtzt,
abermal Wilhelm — eine ſchoͤne kraͤftige Geſtalt
in Lebensgroͤße von Bronze gegoſſen. Er ragt halb
aus dem Tempel heraus und blickt in die Kirche.
Jetzt ſtellt euch das Ganze vor; den unverhaͤlt-
nißmaͤßig kleinen Tempel, den Sarkophag mit der
Todtengeſtalt, die ihn ganz ausfuͤllt, und dieſen
Wilhelm am Eingang, der dem Ganzen den Ruͤk-
ken zukehrt, ſo kann es euch nicht entgehen, daß
der bronzene Wilhelm wie ein Kutſcher daſitzt, der
den marmornen Wilhelm in die Ewigkeit hinein
faͤhrt, indeß Fama, hinten aufſtehend, die Ab-
ſchiedsviſitenkarten abgiebt. Ich bin mir ſelbſt gram,
ſo einen widrigen Vergleich gefunden zu haben —
aber er dringt ſich auf, er uͤberraſchte meinen Ge-
ſellſchafter als unentfliehbar, und ich beſchreibe euch
dieſes Denkmal ſo genau, damit ihr euern Ge-
ſchmack reinigt, indem ihr ſtreng dem Einfachen, Wah-
ren nachſtrebt. Die Arbeit an dieſem Kunſtwerk
ſcheint vortreflich, das wackere Volk, das nie knik-
kerte, wenn es auf Nationalehre ankam, hat keine
Koſten geſcheut, und der Held, den es der Nachwelt
einfuͤhren ſollte, hat dieſes Denkmal ſo reichlich ver-
dient, daß er keines ſteinernen Denkmals bedarf.
Und nun ſteht die ſchoͤne Arbeit da, und muß mir
ſolche fatale Gedanken erregen.
In eben dieſer Kirche iſt ein einfaches, altes
Denkmal — ich denke, von Jan Hill, eines Ad-
miral; es iſt alt und einfaͤltig, aber erfreute mich
in ſeinem alten, frommen Sinne, denn der Todte
liegt ruhig da in ſeiner betenden Stellung, und in
dem kleinen Dome, der ſich uͤber ihn woͤlbt,
haͤngt eine brennende Lampe. Ich denke, ſie mag
ehemals wirklich da gehangen und gebrannt haben,
und das Ganze eine ſehr alte Stiftung ſeyn. Jetzt
iſt ſie auf dem Grund gemalt, machte mir aber
noch eine angenehme Taͤuſchung.
Erasmus Denkmal, rechts von Wilhelm von
Oranien ſeinem, iſt ganz neu, aber ſehr gewoͤhn-
lich — ein Aſchenkrug, ſein Bruſtbild en basrelief
auf einem runden Schild an die Urne gelehnt, wie
auf Briefſiegeln haͤufig zu ſehen iſt; mir daͤucht,
auch ein weinender Genius; das alles von weiſ-
ſem Marmor auf einem dunkelgrauen Grunde und
mit einer weißen Draperie umgeben — nichts
mehr und nichts weniger! — Oben auf der Hoͤhe
der abgeſtumpften Pyramide, welche das Ganze
zuſammenhaͤlt, waren die Todtenkoͤpfe mit
kreuzweis gelegten Beinen nirgend vergeſſen —
dieſe kunſtwidrigen Schreckbilder! — wie iſt doch
des Menſchen Sinn zu dieſer barbariſchen Vorſtel-
lung gekommen? Warum iſt das Knochenbild mehr
Bild des nicht mehr Lebens, als die ſchlafende
Geſtalt der Leiche durch alle Veraͤnderungen durch,
bis Blumen aus der Aſche keimen? — Wer hat
je die Wirkung des legaliſirten und autoriſirten
Todesſchreckens in den letzten Jahrtauſenden be-
rechnet?
In der zweiten Kirche ſah ich ein Denkmal
des Admirals Tranp, das ſeine Gebeine deckt.
Es ſtellte, ſo wie Hill und Wilhelm ſeines, nichts
Hiſtoriſches dar, ſondern einige Allegorien, Bas-
reliefs, Trophaͤen und Todtenkoͤpfe, und an der
Vorderſeite des Sarkophags die Schlacht, wo er
gegen Albemarl ſein Leben verlor. Daß Schiffe
und Kanonenſchuͤſſe und Meereswogen kein Gegen-
ſtand des Meiſſels ſind, bedarf wohl keiner Be-
merkung — und mehr kann ich euch von keinem
der andern Denkmale ſagen — ſie erregen mir
nur unangenehme Empfindungen; mein Gefuͤhl
fuͤr Verdienſt, Ruhm und Kunſt iſt gleich wenig
befriedigt.
Von Delft naͤher gegen Rotterdam wird das
Land linker Hand ſehr widrig. Man uͤberſieht un-
geheure Torfſtechereien, die nun unter Waſſer ſte-
hen — hie und da tritt ein ſchwarzer, keimloſer
Boden heraus, zuweilen kleine Strecken uͤber-
ſchwemmter Wieſen, deren Halme durch das Waſ-
ſer ſchimmern. — Der Himmel hatte ſich um-
woͤlkt, die Landſchaft hat etwas unendlich truͤbes!
Auf Erden der vom truͤgeriſchen Elemente ver-
ſchlungene Boden, und uͤber ihm die ſchwankenden
Wolkengeſtalten, die ſich chaotiſch mit dem truͤben
Gewaͤſſer vermiſchen.
Ich eilte von dieſer phantaſtiſchen Anſicht zu der
… techniſchen, und ließ mir eine neu angelegte
Schleuſe zeigen, die in den Leck, der uns ſtets zur
linken Hand floß, die Gewaͤſſer des naͤchſten Torf-
moors ausleert, denn hier waren ſchon ein paar Muͤh-
len gebaut, und in vollem Gange, und in den naͤch-
ſten zwei Jahren verſprach man mir Weideland,
wo jetzt das oͤde Waſſer ſeine ſtinkenden Duͤnſte
aushauchte. Hierſollten nun Graͤben gezogen und
Polder eingedeicht werden, und mit dieſer erhei-
ternden Ausſicht beſchaͤftigt, nahte ich mich Rot-
terdam.
Ich wollte, ihr ſaͤhet Rotterdam. Wenn die
Menſchenwerke ſo konſequent groß ſind, daß ihr
Anblick an den Goͤtterfunken mahnt, der ſie er-
ſchuf, ſo machen ſie einen ſehr ſchoͤnen Eindruck.
Dieſe Stadt iſt fuͤr den Handel geſchaffen — das
ſagt der erſte Blick, und alle naͤhere Betrachtun-
gen beſtaͤtigen es. Die breiten Kanaͤle, allenthal-
ben mit Quaderſteinen eingefaßt, ſind in vielen
Straßen mit hohen Baͤumen bepflanzt, neben de-
nen breite Wege hergehen, und feſte, ſchoͤn ge-
mauerte Haͤuſer umgeben ſie. Auf den Kanaͤlen,
die des nahen Stromes wegen ein viel bewegteres
Waſſer haben, als in Amſterdam, liegen unzaͤh-
lige Schiffe aller Nationen, und vor den ſchoͤnen
Haͤuſern erblickt man durch die freundlichen Zwei-
ge der Buchen und Linden Dreimaſter und Oſtin-
dienfahrer, und hoͤrt die verſchiedenſten Zungen re-
den, auf den wandelnden Wohnungen, die hier
auf eine Zeitlang Anſaſſen geworden ſcheinen.
Die Gewohnheit macht, daß man die Schiffe der
verſchiedenen Nationen ſogleich an der Bauart er-
kennt, und ſo ſieht man heut einen Nachbar fort-
ſegeln, der ſein Haus nach Tornea fuͤhrt, und mor-
gen fruͤh ſteht vielieicht ein Nachbar, der vor ſechs
Wochen im Tajo wohnte, und einem andern die
Hand bietet, der ſo eben von dem Voͤlker ſcheiden-
den Rheinſtrom anlangte. Was iſt dieſes Men-
ſchenvereinen fuͤr eine ſchoͤne Seite des Handels! —
Daß dieſer Trieb beides ſo grauſam in ſich ver-
binden muß, dieſes Aufſuchen der fernſten Na-
tionen, weil die Natur ihre Guͤter weiſe uͤber den
Erdball vertheilte, und das ſtarre Vereinzeln,
weil der Eigennutz allein am mehrſten zu beſitzen
waͤhnt.
Wenn dieſer Anblick in dem jetzigen ungluͤckli-
chen Augenblick, wo aller Handel gelaͤhmt iſt, ſo
reich und mannichfaltig iſt, was muß er erſt in
ruhigen Zeiten ſeyn? beſonders der des Hafens.
Die Maas iſt hier ein breites majeſtaͤtiſches Ge-
waͤſſer, das die ſchwerſten Schiffe in die Kanaͤle
einfuͤhrt — der Hafen von Amſterdam erlaubt das
bekanntlich nicht, ſie muͤſſen an dem Pampus er-
leichtert werden, weil er zu ſeicht iſt, geladene
Schiffe zu tragen. — Die gegenuͤber liegenden
Ufer haben nichts ausgezeichnetes, ſie ſind meiſt
mit Buſchwerk geziert, aber ſo niedrig, daß ſie
nur die Thurmſpitzen der nahgelegenen Orte zei-
gen; doch das Leben nah um mich her machte das
Ferne verſchwinden. Es wehte ein bitter kalter
Nordoſt, bei dem dennoch viele Fahrzeuge den
Strom herab, meiſtens in den Hafen einſegelten.
Die Schnelligkeit der Bewegung, die Gewalt, mit
welcher das Waſſer au den Kiel hinauf gepeitſcht
ward, die Kunſt, mit der das Steuerruder die
Stroͤmung zu gewinnen weiß, und das maͤchtige
Element uͤberliſtend, ſchnell ihm zum Trotz unter
den Schutz des Steindammes einlaͤuft — das iſt
ein herrlicher Anblick! — und wie neugierig der
muͤßige Zuſchauer nun die Ankoͤmmlinge muſtert,
wie erwartend der Geſchaͤfts- und Handelsmann
au den Quai tritt, und in ſeiner Kunſtſprache Nach-
richten einſammelt — natuͤrlich ſah ich jetzt nur
Fahrzeuge, welche den Fluß herab kamen, wie
muß das Schauſpiel nicht an Intereſſe gewinnen,
wenn das Meer offen iſt. Ich ſah ein Schiff an-
landen, das Reiſende nebſt ihren Reiſewagen fuͤhr-
te, und beobachtete mit Vergnuͤgen, mit welcher
Leichtigkeit der Wagen aus dem Schiff heraus ge-
wunden ward, auf die Anfahrt. Dieſes Geſchaͤft
koſtete nicht die mindeſte Anſtrengung, er hob ſich,
und ſtand auf dem Quai, der doch wohl an die
7 oder 8 Fuß hoͤher, wie das Verdeck des Schiffes
war, ſo ſanft, daß ich ganz ſorglos darin ſitzen
bleiben wuͤrde, wenn ich auf dieſe Weiſe in Rot-
terdam ankaͤm. Zwiſchen den vielen Fahrzeugen
mit zwei und drei Segeln, die den Strom herab
fuhren, lavirten auch einige gegen den Wind, um
an das entgegengeſetzte Ufer zu gelangen — der
Anblick iſt druͤckend; es ſcheint bei jeder Wendung
als wuͤrf die Welle das Schiff weiter zuruͤck, wie
es vorgedrungen iſt — es ward mir Bild des Le-
bens, ich ſah mit banger Seele dahin. Einen Au-
genblick fangen die Segel den Wind auf, die Barke
ruͤckt in einer aͤngſtlich geſenkten Richtung ſchnell
fort — dann wendet ſie ſich, die Segel fallen
muthlos zuſammen, ſie flattern zitternd in dem
Winde, der Strom treibt das Fahrzeug im Kreiſe
— und mit muͤhſeliger Arbeit gibt ihm der Steuer-
mann die Richtung wieder, mit der es fortkaͤm-
pfen kann, gegen die Stuͤrme des Himmels.
Zwiſchen den ſchwankenden Schiffen und den
ſchwellenden hohen Segeln kreuzten dann wieder
mit unglaublicher Schnelligkeit kleine Kaͤhne, auf
denen nur ein Mann mit zwei Rudern arbeitend,
Waſſer und Wind zu ſpotten ſchien. Der Menſch
ſcheint mit dem Kahne eins zu ſeyn, und machte
mirs recht lebhaft, wie die Maͤhrchen von den See-
jungfern und Seemaͤnnern entſtanden ſeyn muͤſ-
ſen — denn denken wir uns noch kleinere Fahr-
zeug, ſo muͤſſen ſie von Menſchen, die den Anblick
dieſer ſchnellen Bewegungen nicht gewohnt ſind,
wie Fiſchſchwaͤnze, und das Ganze wie Meerun-
geheuer, beſchrieben worden ſeyn.
Links von dem Hafen iſt das Schiffswerft und
das Arſenal — ein ſchoͤnes etwas hochliegendes
Gebaͤude, daneben die Stuͤckgießerei. — Es war
ein Schiff von vier und neunzig Kanonen auf dem
Stapel, das hier viel ungeheurer ausſah, wie die,
welche ich in Amſterdam in der Arbeit begriffen
ſah. Dort oͤffnet ſich das Ufer gegen das weite
unabſehlige Y. Dort war das Schiff ſchon in
See gelaſſen, und obſchon am Ufer befeſtigt, hatte
es doch hinter und vor ſich einen ſo weiten Raum,
daß kein Vergleichspunkt ſeine Groͤße beurtheilen
ließ. Hier iſt das Waſſerbecken, woran die Docke
liegt, beſchraͤnkt, das nahe Arſenal mit ſeinem ern-
ſten hohen Gemaͤuer, die umliegenden Gebaͤude
alle, deren Hoͤhe und Groͤße zu meſſen auch des
Binnenlaͤnders Auge gewohnt iſt, geben uns einen
Begriff von der Groͤße des Schiffes, wenn es in
ſeiner ganzen Hoͤhe auf dem Ufer liegt. Das
Werk kam mir jetzt rieſenmaͤßig vor. Es war bis
auf das obere Verdeck vollendet, hatte alſo ſeine
ganze Hoͤhe — ein Schlagregen, den wir dieſen
Morgen ſchon gehabt hatten, hatte dieſes unge-
heure Holzgebaͤude dunkel gefaͤrbt, und in ſeiner
ſchraͤgen Stellung gegen das Baſſin, ſah es von
der naͤchſten Kanalsbruͤcke wie ein Theil des Arſe-
nals aus, der durch ein Erdbeben abgeriſſen, und
gegen die Tiefe geſenkt waͤre. Die Anzahl neu-
gegoſſener Kanonen, die hier in langen Reihen
bis auf eine weite Strecke neben einander lagen,
ſchien mir unzaͤhlbar. Lavetten, Tauwerk, Anker
waren aufgehaͤuft auf beiden Seiten, daß ich mich
wie in ein Labyrinth in den Zwiſchenraͤumen ver-
lohr, und wohl begriff, daß das Kriegsſchiff, was
vorige Woche neugebaut die Maas herabſegelte,
und das, was jetzt ſeiner Vollendung nahe war,
ſo wie ein drittes, das ſo eben auf die Docke ge-
bracht wurde, dieſe Vorraͤthe kaum anbraͤche, viel-
weniger verminderte. Wenn wir Binnenlaͤnder
von unſern ſparſamen ſchlaͤfrigen Flußfahrten hie-
her kommen, fangen wir an, die jetzige Niederge-
ſchlagenheit der ſeehandelnden Nationen zu begrei-
fen. — Die vielen hundert Fahrzeuge, die jetzt
hier vor Anker liegen, ſind gezwungen, da ſie haͤt-
ten in Friedenszeiten ſchon vielmals mit andern
Hunderten abgewechſelt — welche Stockung muß
dieſes durch alle Gewerbe verbreiten! Dieſe ſchmerz-
liche Betrachtung fuͤhrt dann wieder zur erfreuli-
chen von den Huͤlfsquellen, die einem kultivirten,
durch Geſetze geregelten Volke zu Gebote ſtehen.
Ohne Zweifel verarmen die Menſchen, allein ſie
warten doch, und im Warten entſtehen wieder
Mittel zum warten. Denken wir uns einen Ha-
fen oder Handelsort der Levante unter aͤhnlichem
Drucke — was wuͤrde aus ſo einer Stadt und ih-
ren Bewohnern? Wohl mag die Verarmung man-
chen hier demoraliſiren, aber die Beſchraͤnkung be-
lebt auch aufs neue manches ſittliche Gute, und
der Charakter dieſes braven Volks, ſo wie die Zuͤge,
die ich aufſammelte, muͤſten mich truͤgen, oder
dem groͤßern Theil der Hollaͤnder entſtehen aus
ihrer ungluͤcklichen Lage noch die ſittlichen Vor-
theile der Beſchraͤnkung. Dieſe gebiert dann ein
Zuſammenhalten von Kraft, die in beſſern Zeiten
den Wohlſtand ſchnell wieder herſtellen kann.
Der lange Quai vom Hafen laͤngs der Maas,
wuͤrde der von mir vorgezogene Theil der Stadt
ſeyn. — Er iſt in einer Laͤnge von einer halben
Stunde mit lauter ſchoͤnen Haͤuſern beſetzt, von
denen einige Pallaͤſte genannt werden koͤnnen, ſo
wie das Haus der oſtindiſchen Compagnie, einige
engliſche Handelshaͤuſer, und eine Synagoge.
Die Ausſicht auf die Maas iſt von nichts beſchraͤnkt,
denn der Quai iſt ſo breit, daß man aus den Haͤu-
ſern uͤber die Baͤume, womit er bepflanzt iſt, hin-
wegſieht, und dieſe den Fußgaͤnger doch vor dem
Winde ſchuͤtzen. Dieſe Gegend leidet nicht von
dem Geraͤuſch, welches die Schifffahrt auf den
Kanaͤlen mit ſich bringt, ſie hat eine herrliche reine
Luft, und den Anblick der ſegelnden Schiffe, die
unaufhoͤrlich Strom auf Strom ab gehen. Die
Boͤrſe iſt ebenfalls ein ſchoͤnes Gebaͤude von ge-
hauenen Steinen, inwendig mit einer hohen offenen
Gallerie, die auf viereckigen Saͤulen von ſchoͤnem
Ebenmaße ruht. Die Form des Gebaͤudes iſt eben
ſo wie in Amſterdam, aber an Schoͤnheit und
Groͤße der Bauart laͤßt es die Boͤrſe von Amſter-
dam weit zuruͤck.
Ich wanderte kreuz und quer durch die Stadt,
und fand mehr Leben und Bewegung hier als in
irgend einem Orte, den ich in dieſem Lande ſah.
Die Kaufladen der Obſt- und Blumenhaͤndler wa-
ren hier nicht ſo reichlich verſehen, noch ſo ſchoͤn
ausgeſchmuͤckt, wie in der Hauptſtadt — dennoch
gab mir, in der weit fortgeruͤckten Jahreszeit der
Anblick eines großen Platzes voll bluͤhender Stau-
den eine große Freude. Das Volk iſt hier, wie
in ganz Holland ſehr gut gekleidet, aber die Bett-
ler ſind auch hier, ſo wie in ganz Holland, die
zerlumpteſten, die ich je ſah. Der Anblick ihres
Schmutzes und ihrer Bloͤße hat etwas Schauder-
volles, das ſie von der uͤbrigen Menſchheit auszu-
ſchließen ſcheint. Wenn man bei dem Anblick ei-
nes ſolchen graubleichen Angeſichts mit ſtieren Au-
gen und rauher Stimme denkt, daß dieſer Menſch
vom Ungluͤck der Zeiten in dieſe Lage gebracht
ward, ſo blickt man angſtvoll zu den Bewohnern
der nahen Pallaͤſte auf, und ſehnt ſich in die nie-
dern Huͤtten des Landmanns, wo die Armuth nie
ihre Pfeile in das Gift peinigender Erinnerung an
Ueppigkeit taucht.
Auf meinen Wanderungen kam ich auch auf
den Platz, wo Erasmus Bildſaͤule errichtet iſt.
Dieſer Mann in ſeiner Moͤnchskutte und den ecki-
gen Hut oder Barett auf dem Haupte, iſt kein
Gegenſtand der plaſtiſchen Kunſt. Es freut mich,
daß ſein Andenken geehrt iſt, aber an der Erhal-
tung dieſer Geſtalt liegt mir wenig.
Man hat bei manchen Kalender-Verbeſſerun-
gen und Veraͤnderungen, die den Heiligen geweih-
ten Tage auf verſchiedene Weiſe benutzen wollen.
Mauche Monumente von Menſchen, die der Ge-
ſchichte angehoͤren, ſey es der allgemeinen oder
eines Volkes, einer Stadt oder Dorfes, haben
mich auf den Wunſch gebracht, daß man die alten
Namen doch ungeſtoͤrt laſſen moͤchte, aber an ih-
ren Tagen dem Volke etwas von ihren Namens-
vettern erzaͤhlen moͤchte, die auf die Welt gewirkt
haben. — Die Mordpredigt in Oudewater, die ich
im Auguſt hoͤrte, koͤnnte zu dieſer Meinung fuͤh-
ren, wenn ich gleich nicht wuͤnſchte, daß ſie zum
Beiſpiel diente. Die Moral wuͤrde allenthalben
leicht zu finden ſeyn, und der Unterricht, welcher
dem Volke dadurch zu Theil wuͤrde, koͤnnte ſie als
Menſchen und als Buͤrger vielleicht inniger ver-
binden, wie manche der Vortraͤge, die ſie jetzt in
den Kirchen vorleſen hoͤren. — Wie aufmerkſam
das Volk eine ſolche aus geſchichtlichen Darſtel-
lungen gezogne Sitten- und Tugendlehre auffaßt,
lehret uns die genaue Bekanntſchaft, welche das
katholiſche Volk mit ſeinen Legenden hat. Wie
dieſe frommen Geſchichten zuerſt erzaͤhlt worden,
mußten ſie den groͤßten Enthuſiasmus bewirken,
A a
noch jetzt beruht auf ihnen viel Gutes und From-
mes unter unſerm Volke — ließe ſich denn dieſes
Mittel, die Herzen zu bilden, nicht benutzen?
Erasmus wuͤrde ſich am wenigſten wundern,
daß gerade der Anblick ſeiner Bildſaͤule dieſe Ideen
in mir erregte. Er wuͤnſchte ja auch die ſanften
Uebergaͤuge, und wollte lieber verbeſſern, als ab-
ſchaffen.
Vierzehnter Abſchnitt.
In Gouda ſah ich die Pfeifenfabriken, die mir
Freude machten, von denen ich euch aber nichts
ſage, weil ihr Beſchreibungen davon leſen koͤnnt
in allen techniſchen Buͤchern; leſet ſie aber auch,
denn die mechaniſchen Kunſtgriffe bei dieſer Arbeit
ſind ſehr huͤbſch. Mit ſo einer irdenen, langen,
wohlverzierten Pfeife zu rauchen, ſcheint mir die
wahre Ode des Rauchens zu ſeyn, die perſiſche
Pfeife iſt die Epopee. — Man koͤnnte die Gattun-
gen ſehr vervielfaͤltigen, denn die kurze, kleine
Pfeife der Soldaten und Tageloͤhner verdient ge-
wiß den Rang der Knittelverſe und Inproviſato-
ren, unter denen oft einzelne Koͤrnlein des Schoͤn-
ſten aus allen Gattungen mit unter vorkommen,
den Ulmer Pfeifenkopf weiß ich in keine Dichtart
zu ordnen, ſeine unpoetiſche Form eignet ihn nur
zum Sinnbild der platteſten Proſa.
Man hatte mich ſehr ermahnt, die Kirche zu
beſuchen, die ihrer ſchoͤnen gemahlten Fenſter we-
A a 2
gen beruͤhmt iſt. Dieſe Mahlerei iſt nicht meine
Sache als Kunſt, und mir verhaßt, weil ſie das
klare Himmelslicht faͤrbt, das mir nie unmittel-
bar genug zukommen kann. — Ich trat alſo mit
einem Bischen Laune in die Kirche, ſie machte
aber bald der Billigkeit Platz. Ich weiß nicht,
ob man etwas ſchoͤneres von Glasmahlerei ſehen
kann? Mir ſchien dieſes das ſchoͤnſte, was ich in
mancher alten Kirche aufgeſucht hatte. Die Schei-
ben ſind alle vollſtaͤndig, und jedes Fenſter ent-
haͤlt noch obendrein das Wappen des Schenkers;
denn dieſe Gemaͤhlde ſind alle fromme Stiftungen
einzelner Buͤrger der Republik. Die Darſtellun-
gen ſind meiſtens bibliſch, oder doch aus der Kir-
chengeſchichte, es laufen ſogar einige Wunder mit-
unter, welche in die katholiſche Kirche gehoͤren,
aber hier unſchuldigerweiſe das Buͤrgerrecht erwor-
ben haben. Die Anordnung der Figuren iſt ganz
ſo ſteif und erdruͤckend, wie es die Art der Dar-
ſtellung und ihr Zeitalter mit ſich bringt; die Koͤ-
pfe ſtehen ſchaarenweiſe auf einem Plan, und des
Koͤnigs Salomon Thron ruht felſenfeſt auf ſeiner
Miniſter Glazen. Die Gewande ſind ganz im
Style des Mittelalters, und an keiner Figur auf-
ſer dem Geſicht und den Fingerſpitzen ein nackter
Theil zu ſehen, es ſey denn ein unentbehrlicher
krebsrother Kriegsknecht, wo es um des Glau-
bens willen irgend einen Acte de rigeur bedarf.
Als Kunſtſtudium muͤſſen dieſe Darſtellungen einen
merkwuͤrdigen Werth haben, mir Layen konnten
ſie gar kein Vergnuͤgen gewaͤhren, als das der Far-
ben — dieſes genoß ich aber auch wie ein Kind.
Kein froͤhlicheres Lichtſpiel muß es geben, wie das
Blau, das Violett, das lachende Gruͤn! Es iſt
ein Zauber mit dem man im myſtiſchen Verkehr
ſteht, denn die Vernunft ſieht ganz dumm aus,
daß das Herz ſo leicht ſich bewegt bei den bunten
Strahlen des innig reinen farbenloſen Lichtes. Das
Blau iſt uͤber alles ſchoͤn, und bei architektoniſchen
Verzierungen muͤßten ſich dieſe Glaͤſer auch zu
modernem Gebrauche eignen. Verſchiedene der
Fenſter ſtellen Saͤulen dar, auch Portale, zwiſchen
denen der Himmel hervorblickt — ſo herrlich, ſo
ſtrahlend, daß es war, als muͤßte man die wir-
belnden Lerchen darin hoͤren. Und es war drauſ-
ſen eben ein wolkiger Himmel, aus dem nur ſel-
ten die Sonne hervorbrach — dann war aber der
Glanz der Farben dem Auge ſo ſchmerzhaft, daß
ich die meinigen abwaͤrts wandte, und mich an
ihrem Widerſchein auf dem Kirchenboden freute —
da mahlten ſie in mattem Schimmer ſanfte Tin-
ten auf die grauen Grabſteine. Das thut ja der
Widerſchein des Himmelslichtes auf allen Graͤ-
bern. —
Ich hatte einen hollaͤndiſchen Katalog, oder
Beſchreibung jedes der Fenſter mitgenommen,
konnte alſo des Fuͤhrers entbehren, welcher ſonſt
Fremde begleitet. Da mir die Geſchichten jedes
Feuſters wenig Intereſſe einfloͤßten, hatte ich mich
gar nicht um ſie bekuͤmmert, bis ich eine wunder-
bare Stimme erſchallen hoͤrte, die von dieſem, von
mir vernachlaͤßigten Fuͤhrer, herruͤhrte, der ein
halbes Dutzend wißbegierige Fremde umherleitete.
Der Menſch, eine lange, knochigte, breite Geſtalt
mit rabenſchwarzer Stutzperuͤcke, hielt in der einen
Hand das Buͤchlein, in der andern ein langes
Rohr mit ſilbernem Knopf, mit dem er auf die
jedesmalige Darſtellung deutete, und deſſen Bewe-
gung die Augen der Fremden erſtaunt und hinſtar-
rend folgten. Es ſollten Juden ſeyn, wie man
mir ſagte, und das miſchte eine wunderliche Em-
pfindung von wehmuͤthigem Staunen in meine
Luſtigkeit uͤber die Macht, mit der die geſellſchaft-
lichen Verhaͤltniſſe, die lebhafteſten Gefuͤhle ban-
nen, ſo daß dieſe Juden das Sanhedrin, und den
Herodes, Gethſemane und die Hirten an der Krip-
pe ſich vordemonſtriren ließen, wobei es die Be-
ſchreibung an derben Abzeichnungen ihres Volks
nicht fehlen ließ. Mein hollaͤndiſcher Cicerone
ſprach ſeine Erklaͤrung in einem harten Leierton,
der auf meine Ohren bald die Wirkung von dem
Geklapper einer Muͤhle hatte; allein ſein Geiſt
konnte ſich innerhalb des engen Raums ſeiner ge-
druckten Beſchreibung nicht beſchraͤnken laſſen, ſon-
dern durchbrach die Schranken ſehr oft in einem,
um ein paar Oktav hoͤhern, Ton und viel ſchnel-
lern Takt, indem er eigne Bemerkungen und Nutz-
anwendungen hinzufuͤgte. Hatte er dieſem Dran-
ge genuͤgt, ſo klapperte die Muͤhle ſeiner hiſtori-
ſchen Beſchreibung wieder fort, bis ein neuer Zu-
ſatz die Schuͤtte vorzuſchieben gebot. Die Stimme
dieſes Menſchen in der weiten widerhallenden Kir-
che machte den poſſirlichſten Eindruck von der
Welt! Ich haͤtte mich nicht von ihr trennen koͤn-
nen, bis er am Ende ſeines Buchs war, ſondern
folgte ihn mit ſehr glaͤubig ernſtem Geſicht. An-
fangs ſchien er mich mit unwilliger Geringſchaͤtzung
zu betrachten, weil er es wohl mochte wahrgenom-
men haben, wie ich mit frechem Vorwitz meiner
eigenen Einſicht trauend, dieſes ſein Reich und
Erbtheil habe durchwandeln wollen. Meine Auf-
merkſamkeit verſoͤhnte aber nach und nach ſeinen
Zorn, und er forderte durch eine ausdrucksvolle
Schwenkung ſeines Stabes meine Blicke auf, ſei-
nem Winke zu folgen.
Die Poſſe wurde durch die Ankunft des Orga-
niſten unterbrochen, den wir hatten bitten laſſen,
die Orgel zu ſpielen. Dieſes Inſtrument iſt erſt vor
einer Reihe Jahre gebaut, und ſeiner Schoͤnheit
wegen beruͤhmt. Vor der myſtiſchen Harmonie
ſeiner Toͤne ſanken die Gaukeleien, die mich ſo eben
zerſtreuet hatten, in Staub, und mein Gemuͤth
fuͤllte ſich mit dem Vergangenen, das ſo ſchnell
zum Unendlichen uͤbergeht. Die Legende ſchreibt
die Erfindung der Orgel einer Heiligen zu, und
einer der ſchoͤnſten Heiligen, der auch Raphael die
jungfraͤulichſte Stirne gab, welche ich je ſah. Ich
finde es billig, dieſen himmelverwandten Toͤnen
einen ſolchen Urſprung zu geben. Lange hoͤrte ich
ihnen zu am andern Ende der Kirche, wo ich mei-
ner Ruͤhrung freien Lauf laſſen konnte.
Eine lebhafte Fantaſie bezeichnet, wie mir
meine Erfahrung beweiſt, jeden Gegenſtand nach
dem Moment, wo er den lebhafteſten Eindruck
auf ſie machte, und jedes Mal, das er ihr nach-
her erſcheint, ruft er, ſo gleichguͤltig er an und
vor ſich ſeyn moͤchte, jenen Moment und mit ihm
fern oder naͤher zuſammenhaͤngende Umſtaͤnde zu-
ruͤck. Oft ſind ſolche Gegenſtaͤnde ſo geringfuͤgig,
daß die Anregung der Ideen und ihr Uebergang
unſerm Bewußtſeyn entwiſcht, und daberdaher entſteht
wohl die Erſcheinung in unſrer Seele, daß zuwei-
len ohne alle ſcheinbare Veranlaſſung Bilder der
Vergangenheit mit den lebendigſten Farben vor un-
ſere Seele treten, ohne daß wir entdecken koͤnnen,
was ſie herbei fuͤhrte. Gewohnte Aufmerkſamkeit
auf uns ſelbſt, oft auch Zufall, lehrt ſie uns zu-
weilen entdecken, noch oͤfter mag das Raͤthſel, in
unſerm Innern verborgen, ſich an dem geheimniß-
vollen Gang unſerer naͤchtlichen Traͤume anreihen.
So war ich letzthin in einem kleinen Dorfkramla-
den und ſuchte Band, meine Schuhe zu binden —
ploͤtzlich trat das Sterbezimmer und die Leichenge-
ſtalt einer lieben Freundin, die vor 25 Jahren in mei-
nen Armen ſtarb, die ich ankleiden und zum letzten
Ruhebett bereiten half, ſo lebhaft vor meine Augen,
daß ich zerſtreut den kleinen Kram betrachtete, meine
Freundinnen ſchwatzen ließ, und nach einer guten
Weile von ihnen aufgefordert ward, einen Han-
del abzuſchließen. Ich trat alſo wieder an den
Tiſch und ſchob die Baͤnder zuruͤck, die ich, weil
ſie von Wolle waren, nicht brauchen konnte. In-
dem erblickte ich unter ihnen ein blaues Band,
das ich ſeiner lebhaften Farbe wegen vorher aufge-
wickelt hatte, und ploͤtzlich fiel mir ein, daß ich
mit eben ſolchem Guſtels Todtenkleid zuſammenge-
heftet hatte. — In * * war ein Polizeigeſetz,
den Todten nur wollene Baͤnder ins Grab zu ge-
ben; mochte es den Luxus mindern, oder die Wol-
lenfabriken beguͤnſtigen ſollen. — Nun entdeckte
ich die Entſtehung meiner lebhaften Erinnerung an
Guſtchens Sterbezimmer durch den Anblick und
das Beruͤhren jenes wollenen Bandes. Wie oft
kann ein Lichtſtrahl, ein Geraͤuſch oder Geruch
eben ſo wirken — — der je die Bahre ſeines Ge-
liebteſten mit Roſen ſchmuͤckte, iſt fuͤr den die Roſe
je wieder etwas anderes, als ein Auferſtehungs-
bild? — und der je die Orgeltoͤne beim Requiem
ſeines liebſten Todten hoͤrte — kann der ſie hoͤren,
ohne ſich ganz in jenen Augenblick zu verſetzen?
So ſaß ich jetzt im fernen Weſten allein in der kah-
len proteſtantiſchen Kirche von Gouda, und ſahe
die Flammen der gelben Kerzen vor mir ſtehen,
und die Prieſter das ſchwarze Kreuz aufheben, und
die Weihrauchwolken uͤber den ſchwarz behangenen
Sarg emporſteigen, und empfand noch einmal die
Vernichtung in Schmerz, die wie die hoͤchſte Ent-
zuͤckung der Freude hoch uͤber die Erde empor
hebt. —
Die Harmonie ſchwieg und ich folgte meinen
Begleitern auf die Orgel, um das Kunſtwerk naͤ-
her zu betrachten. Ich fand im Organiſten einen
Greis von acht und ſiebenzig Jahren, ein Geſicht
voll himmliſcher Ruhe und Heiterkeit, mit blauen
klaren Augen, die noch von Freundlichkeit ſtrahl-
ten, obgleich ihnen das Licht des Tages faſt erlo-
ſchen war, und ſie die Noten nicht mehr erkann-
ten. Seit ſechzig Jahren, erzaͤhlte er, ſpiele er
in dieſer Kirche die Orgel; er beduͤrfe der Noten
nicht, denn alle die Geſaͤnge ſeyen in ſeinem Her-
zen, und er lerne noch jetzt neue nach dem Gehoͤr. —
Sechzig Jahre lang mit dieſen ruͤhrenden Weiſen
die Herzen erweckt, die Herzen beruhigt zu haben!
ſechzig Jahre mit dem beſten, in dem Gemuͤthe ſo
vieler, vieler Tauſende, mit Schmerz und Andacht
in unſichtbarem Verkehr geſtanden ſeyn! — Mei-
ne Theilnahme und Freude und meine nicht zu
verbergende Ruͤhrung machten den heitern Greis
ganz vertraut — ich bat ihn um Chorale, und er
ſpielte mir meine liebſten: Befiehl du deine We-
ge ꝛc. und Was Gott thut ꝛc. und Herzliebſter Je-
ſu ꝛc. — und ſeine klaren Augen, die keine Note
mehr ſuchten, blickten dabei gen Himmel, als er-
kennten ſie das Land deutlicher, an deſſen unbe-
kanntem Ufer nun ſein kleines Lebensſchiff ſo nahe
hingleitete. Koͤnnte ich euch doch an die ganze
herrliche Stelle aus Gray verweiſen, die alſo
endigt:
Still war ihr Lebensweg und dem Geraͤuſch entlegen,
Zufrieden wallten ſie auf ihren ſtillen Wegen.
Ich dachte mir, wie bald dieſer liebe Greis wenige
Schritte von dieſem Platz, fuͤr den er ſein langes
Leben lebte, in der ſtillen Gruft ruhen wuͤrde, und
dieſe Melodien uͤber ihn forttoͤnen wuͤrden, wenn
ſein Staub ſchon lange mit den belebenden Elemen-
ten wieder vereint waͤre. Er ſprach ſo heiter von
dieſem nahen Zeitpunkt, daß ich mit inniger Liebe
wie von einem frohen Sterbenden von ihm Abſchied
nahm. — Wunderbare Menſchenſeele! — in die-
ſem einen Moment fanden ſich nun dieſes Greiſes
Seele und die meine beiſammen, empfanden in
einem Gebet, dachten ſiegjauchzend vereint den be-
freienden Tod — er, der nie die ſtillen Waſſer
des Lecks verließ, ich, die ein wunderbares Schick-
ſal von Land zu Land fuͤhrte — und vor und nach
dieſem einen Moment beruͤhrten ſich nie unſre
Weſen.
Vor der Thuͤr zur Orgel entdeckten wir ein Ge-
maͤlde, das einen beſſern Platz verdiente, das ei-
nen Platz verdiente, wo es die Augen erfreuen und
die Kunſtliebenden unterrichten koͤnnte. Die Kir-
chendiener wußten nicht recht, woher es ſey; es
habe irgendwo im Rathhauſe gehangen, und weil
es dort an Platz fehle, ſey es hierher gebracht.
Das Koſtuͤm war aus den Zeiten des Muͤnſterſchen
Friedens; es ſtellte fuͤnf Maͤnner vor, von denen
drei Ritter und zween Geiſtliche an einem Tiſch
mit Geſpraͤch beſchaͤftigt ſchienen. Eine Gruppe
der lebendigſten Geſtalten in Lebensgroͤße, von
welchen die vorderſte, wie es ſchien, die Haupt-
geſtalt, nie wieder aus meiner Fantaſie ſchwinden
wird.
Es war die einzige ſitzende, ein bluͤhender
Mann, der, vom Gemaͤlde abſehend, mit uͤber-
einandergeſchlagenen Beinen, einen Arm uͤber die
Stullehne gelegt, mit einer feinen Sicherheit im
Blick ausſieht, als ſey er ſeiner Sache mit den
andern gewiß. Er iſt aber dennoch ſinnend mit
ihnen beſchaͤftigt, indeß der Ritter zur Rechten
mit ihm zu ſprechen ſcheint, der zur Linken aber jenem
auf die Rede ſieht. Die beiden hintern geiſtlichen
Figuren ſcheinen aufmerkſam zuzuhoͤren, zugleich
aber mit etwas beſchaͤftigt, das ich fuͤr eine Rolle
Papiere hielt — das unguͤnſtige Licht verhinderte
mich, dieſen Theil des Gemaͤldes genau zu ſehen.
Aber mein vorderer Ritter genuͤgte mir mit ſeinem
edeln Kopf und lichtbraun lockigem Haar, ſchoͤnen
ſcharfgezeichneten Augenbraunen, und einem Blick,
deſſen Blitzen ſein Wille hinderte, wie ein gewiſſer
Zug am Munde bezeichnete, der Selbſtbewachung
ausdruͤckte. Ein ſchoͤnes Geſicht! Eine blaue
ſeidne Bandouliere zieht das Auge auf die elegante
Geſtalt. — Ob das Bild meiſterhaft gemalt iſt,
weiß ich nicht zu beurtheilen, aber daß es die leb-
hafteſte Theilnahme erweckt, empfand ich, und
bezeugt mir das Erſtaunen meiner Begleiter, ſo
ein Bild in dieſem unbeſuchten Winkel zu finden.
Meines Ritters Kopf und Geſtalt waͤre das Ideal zu
Goͤthe’s Egmont — nicht zu dem, deſſen Vater-
und Gattenſorge uns einen druͤckenden Schmerz
zuruͤcklaͤßt, nachdem Alba’s Beil ſeinem Geiſte
eine reinere Freiheit gab, als die er fuͤr ſein Volk
zu erringen vermeinte.
Funfzehnter Abſchnitt.
Auf der Ruͤckreiſe nach Mainz.
Im Oktober.
Die Blaͤtter faͤrbten ſich, die Sonne ſinkt ſchon
fruͤh in Weſten nieder, der weite Weg, der mich
von Euch trennt, ſcheint mir abſchreckend, wenn
ich ihn zu betreten gedenke, und nicht der Aufmerk-
ſamkeit werth, wenn ich mich erinnere, daß er
mich zu Euch fuͤhrt, daß ich an den Ufern Eures
ſtillen Fluſſes einen Theil meiner langentbehrten
Lieben wieder um mich her verſammelt ſoll ſehen.
So ſchmerzlich es mir denn auch war, * * und
meine liebenswuͤrdigen Gaſtfreunde zu verlaſſen,
ſo trat ich den 19ten Oktober doch freudig meine
Ruͤckreiſe an. Ich verließ Holland mit einer leb-
haften Empfindung von Theilnahme, Achtung
und Sorge. Die Verhaͤltniſſe dieſes Volkes koͤn-
nen nicht bleiben, wie ſie ſind, und jetzt ſchon
vergiften ſie die Moralitaͤt deſſelben, ſie werden
ſich aͤndern, und nicht zum Beſten der Moralitaͤt,
denn dieſe beruht auf Wohlhabenheit. Aus ihr
entſtand ſie, das Volk wird arm werden, und ſie
wird mit ihr ſinken. Der Gedanke ergreift mich
mit Wehmuth, ich moͤchte mir ſeinen Wahn er-
weiſen, und kann es nicht. —
Andere Nationen erlitten auch furchtbare Er-
ſchuͤtterungen, ihre ganze Verfaſſung ward umge-
kehrt, alle ihre Anſichten veraͤndert, aber es war
etwas in ihnen, das die Grundlage ihres Weſens
erhielt. Dem Franzoſen blieb Enthuſiasmus fuͤr
Ehre und Ruhm; dem Deutſchen blieb Wiſſen-
ſchaft; dem Britten bleibt einſt Achtung fuͤr das
Geſetz. — Warum doch, da ich in dieſem Lande
ſo vieles fand, das meine Bewunderung erregte,
ſo viele kennen lernte, die meine Achtung erwar-
ben, dringt ſich mir die Sorge auf, daß deſſen
Bewohner mit ihrem Gelde alles verlieren wer-
den? —
Ich durchreiſte dieſelbe Gegend, die ich im
Juli beſuchte. An der Waal arbeitete man noch
an der Wiederherſtellung der Daͤmme; viele der
Haͤuſer, die ich vor drei Monaten anfangen ſah,
waren jetzt vollendet, und ſcheinen noch vor dem
Winter bewohnt werden zu ſollen. Wir ſetzten
dieſesmal nicht bei Rhenen, ſondern bei Cuilen-
burg uͤber den Rhein, der hier ſehr breit iſt, und
zwar auf dem groͤßten Floß, oder fliegenden Bruͤk-
ke, die ich noch ſah. Es befanden ſich außer un-
ſrer Chaiſe noch dreizehn andere Fuhrwerke darin,
ohne daß der Platz ſehr uͤberladen ſchien. Wir
eilten ſo ſchnell, daß ich die bekannten Gegenſtaͤnde
nur im Fluge begruͤßte. Statt bei Nimwegen
uͤber die Waal zu gehen, ſetzten wir ſchon bei Tiel
uͤber, und ich ſah noch den ſchoͤnen Anbau des Lan-
des an dem linken Ufer des Fluſſes bis an die Thore
von Nimwegen. In Cleve machte mich ein zufaͤl-
liges Zuſammentreffen mit dem Praͤfekten des De-
partements mit einer Thatſache aus der Geſchichte
der letzten Ueberſchwemmung bekannt, die ich euch
mittheilen muß.
Johanna Sebus, die Tochter eines armen
Mannes in einem der Doͤrfer, die bei dem Durch-
bruch der Daͤmme zuerſt litten, ſah ihre Huͤtte
ploͤtzlich von den Wogen umfloſſen. Sie lud ihre
von Gliederſchmerzen gelaͤhmte Mutter auf ihre
Schultern, und trug ſie mit Anſtrengung all’ ihrer
Kraͤfte durch die brauſenden Waſſer, die unter ih-
ren Schritten heranwuchſen, bis auf eine Hoͤhe,
wo ſie gegen das Verderben geſichert war. Die
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ſich vor ihr dahin gerettet hatten, riefen ihrem
Heldenmuthe Beifall zu, indeß ſie, unbekuͤmmert
uͤber den Ruhm ihrer That, der Mutter einen er-
traͤglichen Sitz zu machen ſuchte, und dann ſchwei-
gend den Huͤgel hinab in die Fluth zuruͤck eilte.
Alles rief ihr zu, daß der Tod ihrer harre — ſie
deutete auf einen Damm, wo eine benachbarte Da-
me, mit der das fromme Maͤdchen weiter in keiner
Verbindung ſtand, ſich mit ihren zwei Kindern
hingerettet hatte, und nun von einem Augenblick
zum andern von dem wach ſenden Waſſer verſchlun-
gen zu werden bedroht war. „Die will ich ret-
ten,“ rief Johanna, und ſtrebte durch die Fluth.
Sie gelangte zu der verzweifelnden Mutter, aber
weiter vermochte ihr Muth nichts. — Die Wogen
waren von Moment zu Moment geſtiegen, die
Ruͤckkehr, die Rettung war unmoͤglich. Sie be-
ſpuͤlten ſchon den Boden, der die Todesopfer trug.
Die elende Mutter ſah ſchaudernd in das nahende
Verderben, ſah verzweifelnd auf ihre Huͤlfe flehen-
den Kinder, ſchlang ihr Gewand um beide, und
ſtuͤrzte ſich mit ihnen in die Fluth. Nun ſtand Jo-
hanna, die dieſe Scene ſchweigend mit angeſehen
hatte, allein; man ſah ſie von der nahen Hoͤhe,
wohin ſie ihre Mutter gerettet hatte, ſtill ihre ge-
falteten Haͤnde gen Himmel gehoben, ohne Angſt,
ohne einen Ruf nach Huͤlfe — die Wogen ſtiegen,
ſie ſtand, ſie ſtiegen hoͤher, ſie wankte und ver-
ſchwand in der Fluth.
Der Praͤfekt des Departements bewog mehrere
Einwohner von Cleve, ſich zu vereinen, und Jo-
hanna auf dem Huͤgel, wo ſie ſich, der leidenden
Mutter zu helfen, in den Tod wagte, ein Denk-
mal zu ſtiften. Die Inſchrift eines einfachen Steins
ruft ihre Mitſchweſtern zur Nachfolge auf, und
eine Allegorie bezeichnet die That. Dieſe iſt aber
nicht fuͤr den Meiſſel geeignet, wenn ſie gleich von
einem zarten dichteriſchen Gefuͤhl zeugt. Das
Basrelief ſoll einen bluͤhenden Roſenſtrauch darſtel-
len, den die ſtuͤrmenden Wogen verſchlingen.
Was aber durch ſeine Beweglichkeit zur Einbil-
dungskraft ſpricht, kann die bleibende Schoͤpfung
des Bildhauers oder Malers nicht darſtellen.
Ein Denkmal, das wohl dauernder ſeyn wird,
wie der Stein auf Johanna’s Opferaltar, ſchenkte
ihr Goͤthe. Er beſang, wie mir in Cleve geſagt
ward, ihren Tod. Welchen hoͤhern Lohn kennt
das Lied, als ſolche Thaten zu verewigen. —
Wenn ich mich nicht vor der Beſchuldigung,
paradox zu ſeyn, ſcheute, ſo wuͤrde ich unbedingt
B b 2
jedem Reiſenden rathen, nicht zu Waſſer, ſondern
zu Lande die Rheinufer zu bereiſen. Macht er den
Weg nach Coͤlln hinab und wieder zuruͤck — nun
ſo gehe er einmal zu Waſſer, aber das zweite mal
laſſe er ſich nichts abhalten, ihn zu Lande zu ma-
chen. Ich glaube, ich kann meinen Satz beweiſen.
Unten auf dem Rhein ſehe ich nur die Ufer, wel-
che, da ſie hoch und ſteil ſind, nie eine Ausſicht,
ſondern aͤngſtlich beſchraͤnkte Anſichten bieten. Fuͤr
den, der wirkliche Berge und Felſen ſah, haben
ſie dabei nie einen großen Karakter. Die alten
Schloͤſſer ſtellen ſie, von unten hinauf geſehen,
ohne allen Vorgrund, ohne alle Perſpektive, guk-
kaſtenmaͤßig dar; man uͤberſieht immer nur den
kleinen Theil, an den man hinauf ſieht, weil die
Gegenſtaͤnde zu nahe ſind. Ganz anders erblickt
man ſie von dem Landweg des linken Ufers —
dort ſehe ich in die Thaͤler hinein, in die Schluch-
ten, ich uͤberſehe neben mir die ehrwuͤrdigen Truͤm-
mer in ihrer Abſicht und Zuſammenhange; die Fel-
ſen werden jetzt wirklich groß, denn ſie trennen ſich
nun in einzelne Maſſen, ich ſehe ſie herab zu dem Fluſſe
ſteigen, der tief unter mir hingleitet, und ſehe ſie
uͤber meinem Haupte hoch aufſteigen. Jenſeits
erblicke ich den ganzen Reichthum abentheuerlicher
Geſtaltungen von Steinmaſſen, alle durch eine
maͤchtige Zerſtoͤrung nach regelmaͤßigen Geſetzen ge-
lagert. Die ſchwarzen Schluchten der Schiefer-
berge, die dichten Schichten feſten Geſteins, die
Zacken des Kalkfelſens, ſtehen jetzt alle frei und
von dem Hintergrunde getrennt vor mir. Die al-
ten Gemaͤuer haben einen Hintergrund an den hoͤ-
hern Huͤgeln. Die Huͤtten und Haͤuſer der Doͤrfer
ſtehen in einer Entfernung, wo ihre Armſeligkeit
ſich mir nicht aufdringt, ihre Details mich nicht
in die Muͤhſeligkeit des ſchweren Lebens ihrer
Bewohner hinein ziehn.
Das Schoͤnſte, was wir ſehen, was wir em-
pfinden, bleibt immer unbeſchreiblich, und daher
kann ich euch weniges von dieſem Wege ſagen, den
ich in einer eigenen Stimmung machte. Es waren
zwei Weſen in mir, das eine ſah die Welt und
ſprach von ihr, das andere ſah ſie und ſchwieg.
O, wie haͤtte das auch ſprechen koͤnnen! Wenn
mich der Anblick der alten Schloͤſſer vor einigen
Monaten vom Rhein aus ſo lebhaft an die Ritter-
zeit erinnerte, ſo bereicherte die naͤhere Anſicht
ihrer Truͤmmer auf der Landfahrt meine Fantaſie
mit Bildern der verſchiedenſten Zeiten. In einigen
der kleinen Staͤdtchen laͤngs dem Ufer, in Ander-
nach, in Bacherach, bezeichnet ſich das Gepraͤge
der roͤmiſchen Herrſchaft deutlich unter den Truͤm-
mern des Mittelalters aus. Die eckigen Thuͤrme
mit vorſtehenden Frieſen, von großen, rohen
von der Zeit geſchwaͤrzten Feldſteinen gebaut, ſpre-
chen einen Sinn der Altherrſchaft aus, nicht des
nachbarlichen Haders, wie die engen Feſten des
rohen Rittervolks. In Bacharach ward der ernſte
Blick in die Vergangenheit noch durch die Truͤm-
mer einer gothiſchen Kirche beſchaͤftigt, die von
den Schweden im dreißigjaͤhrigen Kriege zerſtoͤrt
ward. Sie ſteht in dem obern Theile der Stadt,
ſo, daß man unter der Stadt die hohen Boͤgen der
gothiſchen Fenſter mit den Reſten einiges ſchoͤnen
alten Schnitzwerks uͤber die ſchwarzen Mauern der
roͤmiſchen Befeſtigungstruͤmmer und neben den
verfallenen Thuͤrmen der alten Burg emporſteigen
ſieht. Mit welchem Fluch bezeichneten damals
die Schweden ihren Retterzug in dem verworrenen,
Haß erfuͤllten Deutſchland! Von der Oſtſee an
die Donau, uͤber Schwaben dem Rhein entlang,
kann man ihren Schritten folgen. Wo Schutthau-
fen noch nach Jahrhunderten dem Anbaue entgangen
ſind, wo in hoher Waldung die Furchen des ehe-
maligen Ackers noch ſichtbar werden, wo neben
den gebrechlichen Faͤhren noch große Steine den
Ort in den Fluͤſſen bezeichnen, der die Ufer nach-
barlich durch Bruͤcken verband, nennt das bange
Andenken unter dem Volke den Namen der ſchwe-
diſchen Heere. Oft hat mir die Geſchichte viel
mehr Erſtaunen erregt um deſſentwillen, was die
Menſchen vergeſſen, als was ſie leiden. Iſt denn
die Seltenheit von Nationalhaß, Nationalrache,
ein Beweis fuͤr die Guͤte der menſchlichen Natur,
oder gegen das Daſeyn des wirklichen Nationalgei-
ſtes, der mir mit dem Gefuͤhl fuͤrs Vaterland na-
he verſchwiſtert zu ſeyn ſcheint?
Wenn mich der nahe Anblick der Denkmale al-
ter Zeit lauf meinem Wege beſchaͤftigte, genoß ich
nicht weniger die Ausſicht auf die mich umgeben-
den Gegenſtaͤnde. Welche Mannigfaltigkeit, wel-
cher Reichthum in der Anſicht der Ufer, von der
erſten Erſcheinung der ſieben Bruͤder, die bald,
nachdem man Coͤlln im Ruͤcken hat, am rechten
Rheinufer hervortreten, bis zu dem letzten hohen
Uferfelſen, wo Ruͤdesheim ſich an das Rheingau
anſchließt. Alle die alten Burgen mit ihren bar-
bariſchen Namen, die auf noch barbariſchere Tha-
ten hindeuten, ſieht man im Fortſchreiten auf dem
Weg von den verſchiedenſten Seiten, ſieht von den
verfallenen Feſten herab halb verwachſene Fuß-
pfade ſich in die Schluchten verlieren, ſieht die
herabgerollten Felſenſtuͤcke ſchon mit Geſtraͤuch be-
wachſen, die Wege verſperren, auf denen ſonſt
die Reiſigen in die Burgthore einzogen, ſieht den
begluͤckenden Weinſtock an den kleinen Abhaͤngen
gedeihen, von denen ſonſt die Belagerer ihre An-
greifer mit herabrollenden Steinen zuruͤcktrieben.
Hie und da ragt aus dem Gemaͤuer, oft aus dem dun-
keln Schlunde eines Wachtthurms ein ſtarker Baum
heraus, ſtrebt mit ſeinem gruͤnenden Haupthaar
der Abendroͤthe entgegen, und iſt ein hehrer Stun-
denzeiger der langen Vergangenheit, die ſeinen
Wurzeln auf dieſem Steinſchutte fruchtbare Erde zu-
ſammentrug. — Der Abendroͤthe entgegen! — Nie
ſah ich einen ſolchen Zauber des Abendſtrahls, des
Sonnenlichtes, wie in dieſem Herbſt, auf dieſem
Wege! der Morgennebel war ſehr ſtark, ſehr
dauernd. Wir fuhren in eine Welt grauer Erſchei-
nungen hinein, die wandelnd und ſchwebend die
truͤbe, arme Wirklichkeit in einzelnen Fragmenten
darſtellten. Hier trat ein grauer Fels aus der
blaͤulichen Wolke, dort ein Kirchthurm mit ſeinem
ſpitzen Dach, das mich immer an nordiſche Schnee-
laſten erinnert; dann erblickte das Auge in der
Tiefe die graͤulichen Gewaͤſſer des Rheins, ſtill,
wie vom Nebel gedruͤckt, dahinſchleichen, bis ſein
ſchweres Gewand ſie wieder umhuͤllte — leiſe rieſelte
dann zur Seite eine Quelle dem Felſen entlang, der
Nebel theilte ſich einen Augenblick, und man ſah ſie
klagend uͤber das ſatte Gruͤn der kleinen Wieſe unter
niedern Zeitloſen und dunkeln Zentaureen in die Tiefe
irren. Ploͤtzlich entſtand eine Bewegung in dem
grauen Meere unter uns, und der grauen Decke uͤber
uns, ein leichtes Violett zeigte Wolkengeſtalten,
trennte ſie mit deutlichen Umriſſen; bald verwandelte
es ſich zu einem durchſichtigen Roth, und der Nebel
ſank auf die Spitzen der Huͤgel wie ein roͤthlicher
Schleier herab, durch den Felſen und Baͤume und
Gemaͤuer in ſchwankenden Umriſſen hervortraten.
Am Fuße der Huͤgel uͤber den tief rauſchenden
Fluß kaͤmpften nun die Wolken, ſanken und ſtiegen,
und ſo oft ſie an das Reich des Lichts herauf traten,
ward ihre Oberflache mit den Farben der Morgenroͤ-
the gemalt. Immer tiefer ſank der Schleier, immer
gluͤhender ward das Licht, bald war die Dunkelheit
bekaͤmpft und die letzten Wolken zogen ſich ſcheu in
die tiefen Thaͤler zuruͤck, indeß das ganze Flußthal
dem Mittagsſtrahl zujauchzte; mit welcher Pracht
der Farben ſchmuͤckte ſich nun die Natur, die Herrli-
che! ſie ſtirbt, wie die erhabenen Alten ihre Heroen
ſterben laſſen, wie der Gottbegeiſterte Oedipus im
Heiligthum der Eumeniden ſtirbt. Mit dem reich-
ſten Feierkleide geſchmuͤckt, mit Jugendgluth um-
geben, entſchwindet ihr Leben. Nie ſah ich eine ſol-
che Faͤrbung der Blaͤtter, der Stauden! Auf den Gi-
pfel der Huͤgel waren ganze Strecken, wo die Baͤume
noch in dem jugendlichſten Gruͤn prangten, daneben
Birkenwaͤldchen, deren Blaͤtter in ihrem ſanften, ein-
fachen Gelb das Beduͤrfniß nach Ruhe, nach Schlaf
im Erdenſchooſſe ausſprachen. Sie hatten den lan-
gen Sommer geliſpelt in den ſanften Luͤften, gezit-
tert bei ihrem Wehen, gerauſcht im Sturme; nun
wollten ſie ruhen an der Mutter Bruſt. Dicht neben
ihnen, zwiſchen ihnen, heben große, brennendrothe
Gipfel ihr Haupt auf — Thaue zitterten an den En-
den ihrer Zweige, und wie das Auge ſich bewegte,
malte ſich der Iris Bild tauſendfach in dem klaren
Spiegel. Und dann am Fuße des Huͤgels kleine
Wieſenſtuͤcke, deren ſmaragdenes Gruͤn einen neuen
Fruͤhling hinzauberte, indeß das ſanftgefaͤrbte Col-
chicum mit ſeinem bedeutenden deutſchen Namen ſie
mir zu einem Sinnbild machte, daß in dieſem an-
ſcheinenden Todesgepraͤng der Natur nur ewig
wiederkehrendes Leben gefeiert ſey.
Leſet in irgend einer Reiſebeſchreibung die Namen
der Orte und wie ſie einander folgen, St. Quar und
Andernach, die Pfalz, wo die Pfalzgraͤfinnen ihr Kind-
bett halten mußten — ein unbequemer Einfall, deſſen
Grund und Wahrheit euch die emphatiſchen Nach-
forſcher der deutſchen Geſchichte zeigen moͤgen —
ferner das alte Churfuͤrſtenmonument, und die Ge-
ſchichten alle des Brudermords, Weiberraubs, Tod-
ſiedens, welche jede einzelne Burg bezeichnen und ih-
re ehemaligen Bewohner ſo wenig an eine vaterlaͤn-
diſche Geſchichte anknuͤpfen, daß ſie eben ſowohl auf
dem Libanon oder Altai ſtehen koͤnnten, ohne ein Blatt
in Schroͤck’s Geſchichte der Deutſchen zu aͤndern —
alle dieſe Dinge haben mich nicht ſehr beſchaͤftigt ne-
ben der Magie des ſcheidenden Sommers. Ich will
ſie einmal an meinem Schreibpult ſtudiren; dieſes
Mal reiſte ich ſo in Ahndungen vertieft, als habe
ich das ganze Leben noch vor mir — hatte ichs denn
aber nicht? beſchraͤnkte es denn der Schauplatz,
der mich umgab? war er mir denn nicht Bild des
Grenzenloſen in ſeiner todverkuͤndenden Pracht?
Nicht weit von Bonn begegnete mir ein frommer
Umgang, der — ich weiß nicht, was fuͤr ein Gnaden-
bild beſucht hatte, deſſen Altar vor kurzem wieder
aufgerichtet war. In dieſem Wallfahrtszug ward
mir die Abweſenheit der jungen Maͤnner vom 18ten
bis 25ſten Jahre merklich. Zum Theil moͤgen ſie
ſich nicht zu den Wallfahrern geſellen, zum Theil
dem Kriegsrufe gefolgt ſeyn. Bei dem Straßen-
und Bruͤckenbau, bei dem Kanalbau, den wir zwi-
ſchen Koͤlln und Koblenz in großer Thaͤtigkeit fan-
den, bemerkte man den Mangel an ruͤſtigen Armen
gar nicht. Eine Menge Juͤnglinge und junger Maͤn-
ner waren dabei beſchaͤftigt. An mehr als einem
Orte werden große Arbeiten vorgenommen, um den
Verwuͤſtungen ein Ende zu machen, die von den
Stroͤmen bisher angerichtet wurden, welche von der
Eifel dem Rheine zulaufen. Sie haben in den letz-
ten Jahren gewaltſam verheert, da alle Vorkehrun-
gen nur partial, nie mit vereinter Anſtrengung ge-
macht wurden — die Regierung hat nunmehr ihre
Aufmerkſamkeit darauf gerichtet, die ſchoͤnen Thaͤ-
ler, die ſich auf den Fluß oͤffnen, vor der Willkuͤhr
der Bergfluthen zu ſchuͤtzen. —
Meine frommen Wallfahrer, Maͤnner und Wei-
ber, ſahen recht gemuͤthlich und wohlgenaͤhrt aus.
Sie waren wohlgekleidet, und blickten den Reiſen-
den, trotz ihrer Litaney, ganz neugierig und freund-
lich ins Geſicht. Ich kann mich uͤber die Wallfahr-
ten unmoͤglich recht gewaltig aͤrgern — wuͤrden
ſie gehoͤrig eingerichtet, gehoͤrig benutzt, ſo moͤch-
ten ſie vielleicht wohlthaͤtiger wirken, wie manches
Volksbuch. Nicht weit von Koblenz fand ich einen
ſchoͤnen neugefaßten Brunnen am Wege ſtehen.
Große Baͤume beſchatteten ihn, Weinberge umgaben
ihn, ein breiter Sitz lud den Wanderer zur Ruhe
ein, und die einfache Inſchrift: „Dem Wanderer,“
erklaͤrte die milde Abſicht des Stifters. Sie war
aber in lateiniſcher Sprache, dieſe Inſchrift. War
das recht? — in welcher Sprache ſollte ſie denn
ſeyn? — Deutſch; aber Deutſch! hoͤre ich allge-
ſammt rufen. Und dabei faͤllt mir ein, daß die
Sprache des alten Frankreichs in den neuen De-
partements ſchon ſehr gemein wird. In den kleinen
Staͤdtchen, worin wir Pferde wechſelten oder fuͤt-
terten, beluſtigten mich die Knaben von zehn bis
vierzehn Jahren, die an den Ecken der Gaſſen in
der neuen Sprache vorkehrten. Die kleinen Tauge-
nichtſe nehmen dabei den Gang und die Haltung
des franzoͤſiſchen Militaͤrs an, ſo, daß ich eine
Menge Gedanken daruͤber hatte. Die alten Fran-
zoſen ſcheinen an dieſer Amalgamation noch keinen
großen Glauben zu haben, wie ich bei ein paar
Gelegenheiten wahrnahm. Wie ich bei Koſtheim
uͤber den Rhein ſetzte, hielten mich die Faͤhrleute
ſehr lange auf, indeß ich mit der Schildwache ſprach,
die — ich weiß nicht, warum? da ſtand, denn
das Wachthaus iſt bei Caſſel. Der Menſch beant-
wortete mir mehrere Fragen uͤber die Belagerung
von Mainz, bei der er gedient hatte, und mir that
das Herz ſonderbar weh, wenn er immer auf kahle
Plaͤtze wies, und ſagte: da ſtanden Baͤume, dort
war ein Bauerhof. — Die Herren ſind etwas lang-
ſam, ſagte ich endlich auf die Faͤhrleute zeigend,
die, ihre kurzen Pfeifen im Munde, unerſchuͤtter-
lich fortkrochen. „Das ſind Deutſche, Madame,
ſie werden noch ganz andere Sachen ſehen, wenn
ſie weiter in das Land hinein kommen.“ Ich glau-
be, ich ward roth, und waͤre es nicht meiner Na-
tur zuwider geweſen, ſo waͤre ich jetzt, da die Faͤh-
re endlich ans Ufer ſtieß, langſam in meinen
Wagen eingeſtiegen, um meinen Nationalkarakter
trotzig zu beweiſen. —
Der neue Weg, der nach Koblenz zu am Ufer
des Rheins in die Felſen gebrochen iſt, wird ein
ſchoͤnes Denkmal der veraͤnderten Landesverfaſſung.
Sonſt konnte man gar nicht dem Rheinufer folgen,
ſondern reiſte auf halsbrechenden Straßen uͤber den
Hundsruͤck, uͤber Kreuznach von Mainz nach Ko-
blenz, oder zog den noch heilloſern Weg am jen-
ſeitigen Rheinufer uͤber Lienburg, Nachſtetten und
das Rheingau vor. Jetzt bleibt man dem ſchoͤnen
Fluß immer nahe, oft iſt die Straße, dem Felſen
abgewonnen, funfzig bis ſechzig Fuß ſenkrecht uͤber
die Waſſerflaͤche erhaben, und von der andern Seite
von eben ſo hohen Felſen begrenzt. Es wird noch
an ihr gearbeitet, auch die Gelaͤnder an der Fluß-
ſeite fehlen noch. Wir begegneten an dem ganzen
Rheinufer hinauf oft franzoͤſiſchen Ingenieurs, die
beim Feldmeſſen beſchaͤftigt waren; auch bei dem
noch thaͤtigen Arbeiten an dem neuen Wege fanden
wir mehrere Aufſicht habende Oſſiciers, deren artiges
Benehmen bei unſern Fragen meinen Dank forderte.
Von Bingen fuͤhrt jetzt der Poſtweg uͤber In-
gelheim, wo eine neue Station iſt. Die Chauſſee
iſt allenthalben mit Baͤumen bepflanzt, und auf
allen Feldern wachſen ſechs- bis zehnjaͤhrige Obſt-
baͤume hervor. Da die Einfuhr des Obſtes vom
Rheingau aus erſchwert iſt, waͤchſt die Obſtzucht
des linken Ufers anſehnlich. Die Rheingauer, die
ehedem ihr Obſt einſt friſch nach Mainz fuͤhrten,
trocknen nun den groͤßten Theil, und verkaufen ihn
in das obſtarme Heſſen. Die neuangeſtellten Beam-
ten des linken Ufers beklagen ſich ſehr bitterlich uͤber
die neue Zeit. — Beſonders ſchilderte der Poſtmei-
ſter in Ingelheim ſeinen Zuſtand recht traurig. Der
Hof, den er jetzt als Eigenthum beſaß, war ſonſt
ein geiſtliches Gut geweſen, und er der Paͤchter.
Er ſprach von ſeiner Pachtzeit, wie vom goldenen
Zeitalter. Nach kurzem Geſpraͤch lud er mich auf
das hoͤflichſte ein, von ſeinem neuen Gaſtzimmer
aus den Rhein zu ſehen. — Die Fenſter gewaͤhrten
uͤber das weinbewachſene Ufer hinweg die Ausſicht
auf das Rheingau. Ellfeld lag ſtill in Nebelflor
umhuͤllt, der Odenwald gluͤhte im Abendſtrahl —
alles feierte den Schluß des Tages. Ich befand
mich in einem artigen Salon mit Fußteppich, Spie-
geln, zierlichem Geraͤth. — Der Wirth ſetzte mir
auf meine Bitte Trauben vor — ich erkundigte mich
nach der Zahl ſeines Viehes, den Koſten, die ein
ſo ſchoͤnes neues Gebaͤu machte, das ſeinem bra-
ven großen Wohnhauſe gegenuͤber lag, und wuͤnſchte
jedem Verarmten ſo wohlhabend zu ſeyn, wie dem
armen Herrn Poſtmeiſter. Indeß der Vater den
Druck der Zeiten beklagte, ſchritt ſein vierzehnjaͤh-
riger Sohn in einem ſolchen kurzen, weiten Rock —
ich weiß nicht, wie das Ding jetzt heißt, was einſt
Roquelaur, dann Surtout, Schanzelupe, Chenille
— ich weiß nicht, wie, hieß, und nun bei den fran-
zoͤſiſchen Soldaten wohl Wachtrock heißen koͤnnte —
in ſo einem Rock neben mir her, ganz mit dem ka-
rakteriſtiſchen Gang eines jungen Franzoſen, und
erzaͤhlte mir in der neuen Sprache von den Luſtpar-
thien, welche die Mainzer nach Ingelheim machen,
um den Herbſt zu genießen. O Zeiten! O Sitten!
Der Abend ſank, wie wir nach Mainz hinein-
fuhren. Die Feſtungswerke ſind von dieſer Seite
her ſehr ausgedehnt. Ich betrachtete die ſonderba-
ren Kruͤmmungen des Wegs zwiſchen Schanzen,
geraden Linien, Graͤben und Palliſaden — alles
kommt mir wie Geheimniſſe des Todes vor — mit
ſehr ernſtem Blick. — Einſt ging ich hier zwiſchen
Gaͤrten und Hecken umher; deine Kindergeſtalt, ſtille
* *, ſchwebt noch vor meinem Blick.
Schon brauſte der Sturm in dem nahen Frank-
reich, ſchon ſtanden ſeine Krieger auf deutſchem Bo-
den, und noch wandelte ich hier, nicht ahndend,
nicht traͤumend, wie bald dieſer ganze Schauplatz
verwandelt ſeyn wuͤrde. Ich bleibe nur wenige Ta-
ge in Mainz, dann eile ich an’s jenſeitige Ufer.
Schutzgeiſter der Menſchheit, ich vertraue euch
die Lieben, die ich an dieſem Ufer verlaſſe; geleitet
mich freundlich zu denen, die mich jenſeits er-
warten! —