oder später gelebt, oder sich überlebt haben, so gelangt er dennoch in dieses Gestade, und er würde das Leben für das äusserste Maas des Elendes, so wie den Tod für eine Wohlthat der Natur ansehen, wenn er klug wäre. Niemand hat diese Nothwendigkeit zu sterben mit einem lebhaftern Pinsel als Swift beschrieben (a).
Alle die Gebrechen, welche wir bei dem Alter be- schrieben haben, zeigen sich an dem abgelebten Greise umständlicher. Erstlich ist das gesammte Nervensystem nunmehr ohne allen Nuzzen. Das Gehirn, welches langsam callöse geworden, läst auch die alten Spuren der Jdeen fahren, und weigert sich, neue Eindrükke an- zunehmen (b). Von den Trieben und Begierden ist keine Spur weiter vorhanden, die Begierde nach der allernächsten Nothwendigkeit ausgenommen, z. E. nach der Speise, welche das lezzte von allem ist, so uns verläst.
Sie weinen übrigens wie Kinder, die sich nicht rä- chen können, und diese Kräfte bleiben ihnen ganz allein übrig, um das was sie wünschen, zu bekommen. Hier- auf fragen sie auch nicht weiter nach den Speisen, wenn man sie ihnen nicht vorhält (c), sie essen endlich überhaupt gar nicht (c*), so daß endlich blos ein von der Trokken- heit entstandener Durst ihr allerlezzter Jnstinkt ist (d). Endlich empfinden sie vor ihrem Tode keinen Reiz des Auswurfs mehr (e), und sie schlafen fast in eins weg. Der gute A. de Moivre mein Vorgänger bei der Aca- demie der Wissenschaften wurde acht und achtzig Jahr alt. Jm lezzten Jahre schlief er zwanzig Stunden, er wachte nur vier Stunden, und endlich hörte er auf, län- ger schlafend zu leben.
(f)
Sie
(a)[Spaltenumbruch]In GULLIVERI itineribus.
(b)FISCHER p. 111. man kann- te sein eigen Haus nicht mehr ZAC- CHIAS Med. leg. p. 24.
(c)FISCHER ibid.
(c*) Jm Jahre 95. FISCHER p. 93.
(d)[Spaltenumbruch]Ibid.
(e)FISCHER p. 111. Alte Meer- bären essen nicht. Nov. Comm. Acad. Petropol. II. p. 353.
(f)MARQUET p. 28.
III. Abſ. Der Zuſtand des Menſchen.
oder ſpaͤter gelebt, oder ſich uͤberlebt haben, ſo gelangt er dennoch in dieſes Geſtade, und er wuͤrde das Leben fuͤr das aͤuſſerſte Maas des Elendes, ſo wie den Tod fuͤr eine Wohlthat der Natur anſehen, wenn er klug waͤre. Niemand hat dieſe Nothwendigkeit zu ſterben mit einem lebhaftern Pinſel als Swift beſchrieben (a).
Alle die Gebrechen, welche wir bei dem Alter be- ſchrieben haben, zeigen ſich an dem abgelebten Greiſe umſtaͤndlicher. Erſtlich iſt das geſammte Nervenſyſtem nunmehr ohne allen Nuzzen. Das Gehirn, welches langſam calloͤſe geworden, laͤſt auch die alten Spuren der Jdeen fahren, und weigert ſich, neue Eindruͤkke an- zunehmen (b). Von den Trieben und Begierden iſt keine Spur weiter vorhanden, die Begierde nach der allernaͤchſten Nothwendigkeit ausgenommen, z. E. nach der Speiſe, welche das lezzte von allem iſt, ſo uns verlaͤſt.
Sie weinen uͤbrigens wie Kinder, die ſich nicht raͤ- chen koͤnnen, und dieſe Kraͤfte bleiben ihnen ganz allein uͤbrig, um das was ſie wuͤnſchen, zu bekommen. Hier- auf fragen ſie auch nicht weiter nach den Speiſen, wenn man ſie ihnen nicht vorhaͤlt (c), ſie eſſen endlich uͤberhaupt gar nicht (c*), ſo daß endlich blos ein von der Trokken- heit entſtandener Durſt ihr allerlezzter Jnſtinkt iſt (d). Endlich empfinden ſie vor ihrem Tode keinen Reiz des Auswurfs mehr (e), und ſie ſchlafen faſt in eins weg. Der gute A. de Moivre mein Vorgaͤnger bei der Aca- demie der Wiſſenſchaften wurde acht und achtzig Jahr alt. Jm lezzten Jahre ſchlief er zwanzig Stunden, er wachte nur vier Stunden, und endlich hoͤrte er auf, laͤn- ger ſchlafend zu leben.
(f)
Sie
(a)[Spaltenumbruch]In GULLIVERI itineribus.
(b)FISCHER p. 111. man kann- te ſein eigen Haus nicht mehr ZAC- CHIAS Med. leg. p. 24.
(c)FISCHER ibid.
(c*) Jm Jahre 95. FISCHER p. 93.
(d)[Spaltenumbruch]Ibid.
(e)FISCHER p. 111. Alte Meer- baͤren eſſen nicht. Nov. Comm. Acad. Petropol. II. p. 353.
(f)MARQUET p. 28.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0977"n="923[925]"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">III.</hi> Abſ. Der Zuſtand des Menſchen.</hi></fw><lb/>
oder ſpaͤter gelebt, oder ſich uͤberlebt haben, ſo gelangt er<lb/>
dennoch in dieſes Geſtade, und er wuͤrde das Leben fuͤr<lb/>
das aͤuſſerſte Maas des Elendes, ſo wie den Tod fuͤr<lb/>
eine Wohlthat der Natur anſehen, wenn er klug waͤre.<lb/>
Niemand hat dieſe Nothwendigkeit zu ſterben mit einem<lb/>
lebhaftern Pinſel als <hirendition="#fr">Swift</hi> beſchrieben <noteplace="foot"n="(a)"><cb/><hirendition="#aq">In GULLIVERI itineribus.</hi></note>.</p><lb/><p>Alle die Gebrechen, welche wir bei dem Alter be-<lb/>ſchrieben haben, zeigen ſich an dem abgelebten Greiſe<lb/>
umſtaͤndlicher. Erſtlich iſt das geſammte Nervenſyſtem<lb/>
nunmehr ohne allen Nuzzen. Das Gehirn, welches<lb/>
langſam calloͤſe geworden, laͤſt auch die alten Spuren<lb/>
der Jdeen fahren, und weigert ſich, neue Eindruͤkke an-<lb/>
zunehmen <noteplace="foot"n="(b)"><hirendition="#aq">FISCHER p.</hi> 111. man kann-<lb/>
te ſein eigen Haus nicht mehr <hirendition="#aq">ZAC-<lb/>
CHIAS Med. leg. p.</hi> 24.</note>. Von den Trieben und Begierden iſt<lb/>
keine Spur weiter vorhanden, die Begierde nach der<lb/>
allernaͤchſten Nothwendigkeit ausgenommen, z. E. nach<lb/>
der Speiſe, welche das lezzte von allem iſt, ſo uns verlaͤſt.</p><lb/><p>Sie weinen uͤbrigens wie Kinder, die ſich nicht raͤ-<lb/>
chen koͤnnen, und dieſe Kraͤfte bleiben ihnen ganz allein<lb/>
uͤbrig, um das was ſie wuͤnſchen, zu bekommen. Hier-<lb/>
auf fragen ſie auch nicht weiter nach den Speiſen, wenn<lb/>
man ſie ihnen nicht vorhaͤlt <noteplace="foot"n="(c)"><hirendition="#aq">FISCHER ibid.</hi></note>, ſie eſſen endlich uͤberhaupt<lb/>
gar nicht <noteplace="foot"n="(c*)">Jm Jahre 95. <hirendition="#aq">FISCHER<lb/>
p.</hi> 93.</note>, ſo daß endlich blos ein von der Trokken-<lb/>
heit entſtandener Durſt ihr allerlezzter Jnſtinkt iſt <noteplace="foot"n="(d)"><cb/><hirendition="#aq">Ibid.</hi></note>.<lb/>
Endlich empfinden ſie vor ihrem Tode keinen Reiz des<lb/>
Auswurfs mehr <noteplace="foot"n="(e)"><hirendition="#aq">FISCHER p.</hi> 111. Alte Meer-<lb/>
baͤren eſſen nicht. <hirendition="#aq">Nov. Comm.<lb/>
Acad. Petropol. II. p.</hi> 353.</note>, und ſie ſchlafen faſt in eins weg.<lb/>
Der gute <hirendition="#fr">A. de Moivre</hi> mein Vorgaͤnger bei der Aca-<lb/>
demie der Wiſſenſchaften wurde acht und achtzig Jahr<lb/>
alt. Jm lezzten Jahre ſchlief er zwanzig Stunden, er<lb/>
wachte nur vier Stunden, und endlich hoͤrte er auf, laͤn-<lb/>
ger ſchlafend zu leben.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Sie</fw><lb/><noteplace="foot"n="(f)"><hirendition="#aq">MARQUET p.</hi> 28.</note><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[923[925]/0977]
III. Abſ. Der Zuſtand des Menſchen.
oder ſpaͤter gelebt, oder ſich uͤberlebt haben, ſo gelangt er
dennoch in dieſes Geſtade, und er wuͤrde das Leben fuͤr
das aͤuſſerſte Maas des Elendes, ſo wie den Tod fuͤr
eine Wohlthat der Natur anſehen, wenn er klug waͤre.
Niemand hat dieſe Nothwendigkeit zu ſterben mit einem
lebhaftern Pinſel als Swift beſchrieben (a).
Alle die Gebrechen, welche wir bei dem Alter be-
ſchrieben haben, zeigen ſich an dem abgelebten Greiſe
umſtaͤndlicher. Erſtlich iſt das geſammte Nervenſyſtem
nunmehr ohne allen Nuzzen. Das Gehirn, welches
langſam calloͤſe geworden, laͤſt auch die alten Spuren
der Jdeen fahren, und weigert ſich, neue Eindruͤkke an-
zunehmen (b). Von den Trieben und Begierden iſt
keine Spur weiter vorhanden, die Begierde nach der
allernaͤchſten Nothwendigkeit ausgenommen, z. E. nach
der Speiſe, welche das lezzte von allem iſt, ſo uns verlaͤſt.
Sie weinen uͤbrigens wie Kinder, die ſich nicht raͤ-
chen koͤnnen, und dieſe Kraͤfte bleiben ihnen ganz allein
uͤbrig, um das was ſie wuͤnſchen, zu bekommen. Hier-
auf fragen ſie auch nicht weiter nach den Speiſen, wenn
man ſie ihnen nicht vorhaͤlt (c), ſie eſſen endlich uͤberhaupt
gar nicht (c*), ſo daß endlich blos ein von der Trokken-
heit entſtandener Durſt ihr allerlezzter Jnſtinkt iſt (d).
Endlich empfinden ſie vor ihrem Tode keinen Reiz des
Auswurfs mehr (e), und ſie ſchlafen faſt in eins weg.
Der gute A. de Moivre mein Vorgaͤnger bei der Aca-
demie der Wiſſenſchaften wurde acht und achtzig Jahr
alt. Jm lezzten Jahre ſchlief er zwanzig Stunden, er
wachte nur vier Stunden, und endlich hoͤrte er auf, laͤn-
ger ſchlafend zu leben.
Sie
(f)
(a)
In GULLIVERI itineribus.
(b) FISCHER p. 111. man kann-
te ſein eigen Haus nicht mehr ZAC-
CHIAS Med. leg. p. 24.
(c) FISCHER ibid.
(c*) Jm Jahre 95. FISCHER
p. 93.
(d)
Ibid.
(e) FISCHER p. 111. Alte Meer-
baͤren eſſen nicht. Nov. Comm.
Acad. Petropol. II. p. 353.
(f) MARQUET p. 28.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776, S. 923[925]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende08_1776/977>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.