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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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und unbescheiden warnen. Der Wohlstand,
wie der leichte Flor auf ihrem Busen, kann
die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen,
er wird vielmehr ein Verräther dieser leisen
Bewegung. Ihre Einbildungskraft ist ange¬
steckt, ihre stille Bescheidenheit athmet eine
liebevolle Begierde, und sollte die bequeme
Göttin Gelegenheit das Bäumchen schütteln,
so würde die Frucht sogleich herabfallen.

Und nun, sagte Aurelie, wenn sie sich
verlassen sieht, verstoßen und verschmäht,
wenn in der Seele ihres wahnsinnigen Ge¬
liebten sich das Höchste zum Tiefsten um¬
wendet, und er ihr statt des süßen Bechers
der Liebe den bittern Kelch der Leiden hin¬
reicht --

Ihr Herz bricht, rief Wilhelm aus, das
ganze Gerüste ihres Daseyns rückt aus sei¬
nen Fugen, der Tod ihres Vaters stürmt
herein, und das schöne Gebäude stürzt völlig
zusammen.

und unbeſcheiden warnen. Der Wohlſtand,
wie der leichte Flor auf ihrem Buſen, kann
die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen,
er wird vielmehr ein Verräther dieſer leiſen
Bewegung. Ihre Einbildungskraft iſt ange¬
ſteckt, ihre ſtille Beſcheidenheit athmet eine
liebevolle Begierde, und ſollte die bequeme
Göttin Gelegenheit das Bäumchen ſchütteln,
ſo würde die Frucht ſogleich herabfallen.

Und nun, ſagte Aurelie, wenn ſie ſich
verlaſſen ſieht, verſtoßen und verſchmäht,
wenn in der Seele ihres wahnſinnigen Ge¬
liebten ſich das Höchſte zum Tiefſten um¬
wendet, und er ihr ſtatt des ſüßen Bechers
der Liebe den bittern Kelch der Leiden hin¬
reicht —

Ihr Herz bricht, rief Wilhelm aus, das
ganze Gerüſte ihres Daſeyns rückt aus ſei¬
nen Fugen, der Tod ihres Vaters ſtürmt
herein, und das ſchöne Gebäude ſtürzt völlig
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[283/0292] und unbeſcheiden warnen. Der Wohlſtand, wie der leichte Flor auf ihrem Buſen, kann die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen, er wird vielmehr ein Verräther dieſer leiſen Bewegung. Ihre Einbildungskraft iſt ange¬ ſteckt, ihre ſtille Beſcheidenheit athmet eine liebevolle Begierde, und ſollte die bequeme Göttin Gelegenheit das Bäumchen ſchütteln, ſo würde die Frucht ſogleich herabfallen. Und nun, ſagte Aurelie, wenn ſie ſich verlaſſen ſieht, verſtoßen und verſchmäht, wenn in der Seele ihres wahnſinnigen Ge¬ liebten ſich das Höchſte zum Tiefſten um¬ wendet, und er ihr ſtatt des ſüßen Bechers der Liebe den bittern Kelch der Leiden hin¬ reicht — Ihr Herz bricht, rief Wilhelm aus, das ganze Gerüſte ihres Daſeyns rückt aus ſei¬ nen Fugen, der Tod ihres Vaters ſtürmt herein, und das ſchöne Gebäude ſtürzt völlig zuſammen.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/292>, abgerufen am 22.11.2024.