Viertes Buch .
W. Meiſters Lehrj. L
Erſtes Capitel .
L aertes ſtand nachdenklich am Fenſter und
blickte , auf ſeinen Arm geſtützt , in das Feld
hinaus . Philine ſchlich über den großen
Saal herbey , lehnte ſich auf den Freund ,
und verſpottete ſein ernſthaftes Anſehn .
Lache nur nicht , verſetzte er , es iſt ab¬
ſcheulich , wie die Zeit vergeht , wie alles ſich
verändert und ein Ende nimmt ! Sieh nur ,
hier ſtand vor kurzem noch ein ſchönes La¬
ger , wie luſtig ſahen die Zelte aus ! wie
lebhaft ging es darin zu ! wie ſorgfältig be¬
wachte man den ganzen Bezirk ! und nun iſt
alles auf einmal verſchwunden . Nur kurze
Zeit wird das zertretne Stroh und die ein¬
L 2
gegrabenen Kochlöcher noch eine Spur zei¬
gen , dann wird alles bald umgepflügt ſeyn ,
und die Gegenwart ſo vieler tauſend rüſti¬
gen Menſchen in dieſer Gegend wird nur
noch in den Köpfen einiger alten Leute
ſpuken .
Philine fing an zu ſingen , und zog ihren
Freund zu einem Tanze in den Saal . Laß
uns , rief ſie , da wir der Zeit nicht nachlau¬
fen können , wenn ſie vorüber iſt , ſie wenig¬
ſtens als eine ſchöne Göttin , indem ſie bey
uns vorbeyzieht , fröhlich und zierlich ver¬
ehren .
Sie hatten kaum einige Wendungen ge¬
macht , als Madam Melina durch den Saal
ging . Philine war boshaft genug , ſie gleich¬
falls zum Tanze einzuladen , und ſie dadurch
an die Mißgeſtalt zu erinnern , in welche ſie
durch ihre Schwangerſchaft verſetzt war .
Wenn ich nur , ſagte Philine hinter ihrem
Rücken , keine Frau mehr guter Hoffnung ſe¬
hen ſollte !
Sie hofft doch , ſagte Laertes .
Aber es kleidet ſie ſo häßlich . Haſt du
die vordere Wackelfalte des verkürzten Rocks
geſehen , die immer voraus ſpaziert , wenn ſie
ſich bewegt ? Sie hat gar keine Art noch
Geſchick , ſich nur ein bischen zu muſtern und
ihren Zuſtand zu verbergen .
Laß nur , ſagte Laertes , die Zeit wird ihr
ſchon zu Hülfe kommen .
Es wäre doch immer hübſcher , rief Phi¬
line , wenn man die Kinder von den Bäumen
ſchüttelte .
Der Baron trat herein , und ſagte ihnen
etwas freundliches im Nahmen des Grafen
und der Gräfin , die ganz früh abgereiſt wa¬
ren , und machte ihnen einige Geſchenke . Er
ging darauf zu Wilhelmen , der ſich im Ne¬
benzimmer mit Mignon beſchäftigte . Das
Kind hatte ſich ſehr freundlich und zuthätig
bezeigt , nach Wilhelms Eltern , Geſchwiſtern
und Verwandten gefragt , und ihn dadurch
an ſeine Pflicht erinnert , den Seinigen von
ſich einige Nachricht zu geben .
Der Baron brachte ihm nebſt einem Ab¬
ſchiedsgruße von den Herrſchaften , die Ver¬
ſicherung , wie ſehr der Graf mit ihm , ſeinem
Spiele , ſeinen poetiſchen Arbeiten und ſeinen
theatraliſchen Bemühungen zufrieden gewe¬
ſen ſey . Er zog darauf zum Beweis dieſer
Geſinnung einen Beutel hervor , durch deſſen
ſchönes Gewebe die reizende Farbe neuer
Goldſtücke durchſchimmerte ; Wilhelm trat
zurück , und weigerte ſich ihn anzunehmen .
Sehen Sie , fuhr der Baron fort , dieſe
Gabe als einen Erſatz für Ihre Zeit , als
eine Erkenntlichkeit für Ihre Mühe , nicht
als eine Belohnung Ihres Talents an .
Wenn uns dieſes einen guten Nahmen und
die Neigung der Menſchen verſchaft , ſo iſt
billig , daß wir durch Fleiß und Anſtrengung
zugleich die Mittel erwerben , unſre Bedürf¬
niſſe zu befriedigen , da wir doch einmal nicht
ganz Geiſt ſind . Wären wir in der Stadt ,
wo alles zu finden iſt ; ſo hätte man dieſe
kleine Summe in eine Uhr , einen Ring oder
ſonſt etwas verwandelt ; nun gebe ich aber
den Zauberſtab unmittelbar in Ihre Hände ,
ſchaffen Sie ſich ein Kleinod dafür , das Ih¬
nen am liebſten und am dienlichſten iſt , und
verwahren Sie es zu unſerm Andenken . Da¬
bey halten Sie ja den Beutel in Ehren . Die
Damen haben ihn ſelbſt geſtrickt , und ihre
Abſicht war , durch das Gefäß dem Inhalt
die annehmlichſte Form zu geben .
Vergeben Sie , verſetzte Wilhelm , meiner
Verlegenheit und meinen Zweifeln , dieſes Ge¬
ſchenk anzunehmen . Es vernichtet gleichſam
das Wenige was ich gethan habe , und hin¬
dert das freye Spiel einer glücklichen Erin¬
nerung . Geld iſt eine ſchöne Sache , wo et¬
was abgethan werden ſoll , und ich wünſchte
nicht in dem Andenken Ihres Hauſes ſo ganz
abgethan zu ſeyn .
Das iſt nicht der Fall , verſetzte der Ba¬
ron ; aber indem Sie ſelbſt zart empfinden ,
werden Sie nicht verlangen , daß der Graf
ſich völlig als Ihren Schuldner denken ſoll :
ein Mann der ſeinen größten Ehrgeiz darin
ſetzt , aufmerkſam und gerecht zu ſeyn . Ihm
iſt nicht entgangen , welche Mühe Sie ſich
gegeben , und wie Sie ſeinen Abſichten ganz
Ihre Zeit gewidmet haben , ja er weiß , daß
Sie , um gewiſſe Anſtalten zu beſchleunigen ,
Ihr eignes Geld nicht ſchonten . Wie will
ich wieder vor ihm erſcheinen , wenn ich ihn
nicht verſichern kann , daß ſeine Erkenntlich¬
keit Ihnen Vergnügen gemacht hat .
Wenn ich nur an mich ſelbſt denken ,
wenn ich nur meinen eigenen Empfindungen
folgen dürfte , verſetzte Wilhelm , würde ich
mich , ohnerachtet aller Gründe , hartnäckig
weigern , dieſe Gabe , ſo ſchön und ehrenvoll
ſie iſt , anzunehmen ; aber ich leugne nicht ,
daß ſie mich in dem Augenblicke , indem ſie
mich in Verlegenheit ſetzt , aus einer Verle¬
genheit reißt , in der ich mich bisher gegen
die Meinigen befand , und die mir manchen
ſtillen Kummer verurſachte . Ich habe ſo¬
wohl mit dem Gelde als mit der Zeit , von
denen ich Rechenſchaft zu geben habe , nicht
zum Beſten hausgehalten , nun wird es mir
durch den Edelmuth des Herrn Grafen mög¬
lich , den Meinigen getroſt von dem Glücke
Nachricht zu geben , zu dem mich dieſer ſon¬
derbare Seitenweg geführt hat . Ich opfre
die Delikateſſe , die uns wie ein zartes Ge¬
wiſſen bey ſolchen Gelegenheiten warnt , einer
höhern Pflicht auf , und um meinem Vater
muthig unter die Augen treten zu können ,
ſteh ich beſchämt vor den Ihrigen .
Es iſt ſonderbar , verſetzte der Baron ,
welch ein wunderlich Bedenken man ſich
macht , Geld von Freunden und Gönnern
anzunehmen , von denen man jede andere
Gabe mit Dank und Freude empfangen
würde . Die menſchliche Natur hat mehr
ähnliche Eigenheiten , ſolche Skrupel gern zu
erzeugen und ſorgfältig zu nähren .
Iſt es nicht das nemliche mit allen
Ehrenpunkten ? fragte Wilhelm .
Ach ja , verſetzte der Baron , und andern
Vorurtheilen . Wir wollen ſie nicht ausjä¬
ten , um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich
mit auszuraufen . Aber mich freut immer ,
wenn einzelne Perſonen fühlen , über was
man ſich hinausſetzen kann und ſoll , und ich
denke mit Vergnügen an die Geſchichte des
geiſtreichen Dichters , der für ein Hoftheater
einige Stücke verfertigte , welche den ganzen
Beyfall des Monarchen erhielten . Ich muß
ihn anſehnlich belohnen , ſagte der großmü¬
thige Fürſt , man forſche an ihm , ob ihm
irgend ein Kleinod Vergnügen macht , oder
ob er nicht verſchmäht Geld anzunehmen .
Nach ſeiner ſcherzhaften Art antwortete der
Dichter dem abgeordneten Hofmann , ich dan¬
ke lebhaft für die gnädigen Geſinnungen ,
und da der Kaiſer alle Tage Geld von uns
nimmt , ſo ſehe ich nicht ein , warum ich mich
ſchämen ſollte , Geld von ihm anzunehmen .
Der Baron hatte kaum das Zimmer ver¬
laſſen , als Wilhelm eifrig die Baarſchaft
zählte , die ihm ſo unvermuthet , und wie er
glaubte , ſo unverdient zugekommen war . Es
ſchien , als ob ihm der Werth und die Würde
des Goldes , die uns in ſpätern Jahren erſt
fühlbar werden , ahndungsweiſe zum erſten¬
mal entgegen blickten , als die ſchönen blin¬
kenden Stücke aus dem zierlichen Beutel her¬
vorrollten . Er machte ſeine Rechnung und
fand , daß er , beſonders da Melina den Vor¬
ſchuß ſogleich wieder zu bezahlen verſprochen
hatte , eben ſo viel , ja noch mehr in Caſſa
habe , als an jenem Tage , da Philine ihm
den erſten Strauß abfordern ließ . Mit
heimlicher Zufriedenheit blickte er auf ſein
Talent , mit einem kleinen Stolze auf das
Glück , das ihn geleitet und begleitet hatte .
Er ergriff nunmehr mit Zuverſicht die Feder ,
um einen Brief zu ſchreiben , der auf einmal
die Familie aus aller Verlegenheit und ſein
bisheriges Betragen in das beſte Licht ſetzen
ſollte . Er vermied eine eigentliche Erzäh¬
lung , und ließ nur in bedeutenden und my¬
ſtiſchen Ausdrücken dasjenige , was ihm be¬
gegnet ſeyn könnte , errathen . Der gute Zu¬
ſtand ſeiner Caſſe , der Erwerb , den er ſeinem
Talent ſchuldig war , die Gunſt der Großen ,
die Neigung der Frauen , die Bekanntſchaft
in einem weiten Kreiſe , die Ausbildung ſei¬
ner körperlichen und geiſtigen Anlagen , die
Hoffnung für die Zukunft bildeten ein ſol¬
ches wunderliches Luftgemählde , daß Fata
Morgagna ſelbſt es nicht ſeltſamer hätte
durcheinander wirken können .
In dieſer glücklichen Exaltation fuhr er
fort , nachdem der Brief geſchloſſen war , ein
langes Selbſtgeſpräch zu unterhalten , in wel¬
chem er den Inhalt des Schreibens recapi¬
tulirte , und ſich eine thätige und würdige
Zukunft ausmahlte . Das Beyſpiel ſo vieler
edler Krieger hatte ihn angefeuert , die Sha¬
keſpeariſche Dichtung hatte ihm eine neue
Welt eröfnet , und von den Lippen der ſchö¬
nen Gräfin hatte er ein unausſprechliches
Feuer in ſich geſogen . Das alles konnte ,
das ſollte nicht ohne Wirkung aufs Leben
bleiben .
Der Stallmeiſter kam und fragte : ob ſie
mit Einpacken fertig ſeyen ? Leider hatte
auſſer Melina noch niemand daran gedacht .
Nun ſollte man eilig aufbrechen . Der Graf
hatte verſprochen , die ganze Geſellſchaft einige
Tagereiſen weit transportiren zu laſſen , die
Pferde waren eben bereit , und konnten nicht
lange entbehrt werden . Wilhelm fragte nach
ſeinem Koffer ; Madam Melina hatte ſich
ihn zu Nutze gemacht ; er verlangte nach ſei¬
nem Gelde , Herr Melina hatte es ganz un¬
ten in den Koffer mit großer Sorgfalt ge¬
packt . Philine ſagte : ich habe in dem mei¬
nigen noch Platz , nahm Wilhelms Kleider ,
und befahl Mignon das Übrige nachzubrin¬
gen . Wilhelm mußte es nicht ohne Wider¬
willen geſchehen laſſen .
Indem man aufpackte , und alles zuberei¬
tete , ſagte Melina : es iſt mir verdrießlich ,
daß wir wie Seiltänzer und Marktſchreyer
reiſen ; ich wünſchte , daß Mignon Weiber¬
kleider anzöge , und daß der Harfenſpieler
ſich noch geſchwinde den Bart ſcheren ließe .
Mignon hielt ſich feſt an Wilhelm , und ſag¬
te mit großer Lebhaftigkeit : ich bin ein Kna¬
be , ich will kein Mädchen ſeyn . Der Alte
ſchwieg , und Philine machte bey dieſer Gele¬
genheit über die Eigenheit des Grafen , ihres
Beſchützers , einige luſtige Anmerkungen . Wenn
der Harfner ſeinen Bart abſchneidet , ſagte ſie ,
ſo mag er ihn nur ſorgfältig auf Band nä¬
hen und bewahren , daß er ihn gleich wieder
vornehmen kann , ſobald er dem Herrn Gra¬
fen irgendwo in der Welt begegnet ; denn
dieſer Bart allein hat ihm die Gnade dieſes
Herrn verſchaft .
Als man in ſie drang und eine Erklä¬
rung dieſer ſonderbaren Äuſſerung verlangte ,
ließ ſie ſich folgendergeſtalt vernehmen : der
Graf glaubt , daß es zur Illuſion ſehr viel
beytrage , wenn der Schauſpieler auch im ge¬
meinen Leben ſeine Rolle fortſpielt , und ſei¬
nen Character ſoutenirt , deswegen war er
dem Pedanten ſo günſtig , und er fand , es
ſey recht geſcheid , daß der Harfner ſeinen
falſchen Bart nicht allein Abends auf dem
Theater , ſondern auch beſtändig bey Tage
trage , und freute ſich ſehr über das natürli¬
che Ausſehen der Maskerade .
Als die andern über dieſen Irrthum und
über die ſonderbaren Meinungen des Grafen
ſpotteten , ging der Harfner mit Wilhelm bey
Seite , nahm von ihm Abſchied , und bat mit
Thränen , ihn ja ſogleich zu entlaſſen . Wil¬
helm redete ihm zu , und verſicherte , daß er
ihn gegen jedermann ſchützen werde , daß ihm
niemand ein Haar krümmen , vielweniger
ohne ſeinen Willen abſchneiden ſollte .
Der Alte war ſehr bewegt , und in ſeinen
Augen glühte ein ſonderbares Feuer . Nicht
die¬
dieſer Anlaß treibt mich hinweg , rief er aus ,
ſchon lange mache ich mir ſtille Vorwürfe ,
daß ich um Sie bleibe . Ich ſollte nirgends
verweilen , denn das Unglück ereilt mich und
beſchädigt die , die ſich zu mir geſellen . Fürch¬
ten Sie alles , wenn Sie mich nicht entlaſſen ,
aber fragen Sie mich nicht , ich gehöre nicht
mir zu , ich kann nicht bleiben .
Wem gehörſt du an ? Wer kann eine
ſolche Gewalt über dich ausüben ?
Mein Herr , laſſen Sie mir mein ſchau¬
dervolles Geheimniß , und geben Sie mich
los . Die Rache , die mich verfolgt , iſt nicht
des irrdiſchen Richters ; ich gehöre einem un¬
erbittlichen Schickſale ; ich kann nicht bleiben ,
und ich darf nicht !
In dieſem Zuſtande , in dem ich dich ſehe ,
werde ich dich gewiß nicht laſſen .
Es iſt Hochverrath an Ihnen , mein
Wohlthäter , wenn ich zaudre . Ich bin ſicher
W. Meiſters Lehrj. 2. M
bey Ihnen , aber Sie ſind in Gefahr . Sie
wiſſen nicht , wen Sie in Ihrer Nähe hegen .
Ich bin ſchuldig , aber unglücklicher als ſchul¬
dig . Meine Gegenwart verſcheucht das
Glück , und die gute That wird ohnmächtig ,
wenn ich dazu trete . Flüchtig und unſtät
ſollt ich ſeyn , daß mein unglücklicher Genius
mich nicht einholet , der mich nur langſam
verfolgt , und nur dann ſich merken läßt ,
wenn ich mein Haupt niederlegen und ruhen
will . Dankbarer kann ich mich nicht bezei¬
gen , als wenn ich Sie verlaſſe .
Sonderbarer Menſch ! du kannſt mir das
Vertrauen in dich ſo wenig nehmen , als die
Hoffnung , dich glücklich zu ſehen . Ich will
in die Geheimniſſe deines Aberglaubens nicht
eindringen , aber wenn du ja in Ahndung
wunderbarer Verknüpfungen und Vorbedeu¬
tungen lebſt ; ſo ſage ich dir zu deinem Troſt
und zu deiner Aufmunterung : geſelle dich zu
meinem Glücke , und wir wollen ſehen , wel¬
cher Genius der ſtärkſte iſt , dein ſchwarzer
oder mein weißer !
Wilhelm ergriff dieſe Gelegenheit , um
ihm noch mancherley Tröſtliches zu ſagen ;
denn er hatte ſchon ſeit einiger Zeit in ſei¬
nem wunderbaren Begleiter einen Menſchen
zu ſehen geglaubt , der durch Zufall oder Ge¬
ſchick eine große Schuld auf ſich geladen
hat , und nun die Erinnerung derſelben im¬
mer mit ſich fortſchleppt . Noch vor wenigen
Tagen hatte Wilhelm ſeinen Geſang behorcht ,
und folgende Zeilen wohl gemerkt :
Ihm färbt der Morgenſonne Licht
Den reinen Horizont mit Flammen ,
Und über ſeinem ſchuldigen Haupte bricht
Das ſchöne Bild der ganzen Welt zuſammen .
Der Alte mochte nun ſagen was er woll¬
te , ſo hatte Wilhelm immer ein ſtärker Ar¬
M 2
gument , wußte alles zum Beſten zu kehren
und zu wenden , wußte ſo brav , ſo herzlich
und tröſtlich zu ſprechen , daß der Alte ſelbſt
wieder aufzuleben und ſeinen Grillen zu ent¬
ſagen ſchien .
Zweytes Capitel .
M elina hatte Hoffnung , in einer kleinen aber
wohlhabenden Stadt mit ſeiner Geſellſchaft
unterzukommen . Schon befanden ſie ſich an
dem Orte , wohin ſie die Pferde des Gra¬
fen gebracht hatten , und ſahen ſich nach an¬
dern Wagen und Pferden um , mit denen ſie
weiter zu kommen hofften . Melina hatte
den Transport übernommen , und zeigte ſich ,
nach ſeiner Gewohnheit , übrigens ſehr karg .
Dagegen hatte Wilhelm die ſchönen Duka¬
ten der Gräfin in der Taſche , auf deren fröh¬
liche Verwendung er das größte Recht zu
haben glaubte , und ſehr leicht vergaß er ,
daß er ſie in der ſtattlichen Bilanz , die er
den Seinigen zuſchickte , ſchon ſehr ruhmredig
aufgeführt hatte .
Sein Freund Shakeſpear , den er mit
großer Freude auch als ſeinen Pathen aner¬
kannte , und ſich nur um ſo lieber Wilhelm
nennen ließ , hatte ihm einen Prinzen be¬
kannt gemacht , der ſich unter geringer , ja
ſogar ſchlechter Geſellſchaft eine Zeitlang auf¬
hält , und , ohngeachtet ſeiner edlen Natur ,
an der Roheit , Unſchicklichkeit und Al¬
bernheit ſolcher ganz ſinnlichen Burſche ſich
ergötzt . Höchſt willkommen war ihm das
Ideal , womit er ſeinen gegenwärtigen Zu¬
ſtand vergleichen konnte , und der Selbſtbe¬
trug , wozu er eine faſt unüberwindliche Nei¬
gung ſpürte , ward ihm dadurch auſſerordent¬
lich erleichtert .
Er fing nun an über ſeine Kleidung nach¬
zudenken . Er fand , daß ein Weſtchen , über
das man im Nothfall einen kurzen Mantel
würfe , für einen Wanderer eine ſehr ange¬
meſſene Tracht ſey . Lange geſtrickte Bein¬
kleider und ein Paar Schnürſtiefeln ſchienen
die wahre Tracht eines Fußgängers . Dann
verſchafte er ſich eine ſchöne ſeidne Schärpe ,
die er zuerſt unter dem Vorwande , den Leib
warm zu halten , umband ; dagegen befreyte
er ſeinen Hals von der Knechtſchaft einer
Binde , und ließ ſich einige Streifen Neſſel¬
tuch ans Hemde heften , die aber etwas breit
geriethen , und das völlige Anſehn eines an¬
tiken Kragens erhielten . Das ſchöne ſeidne
Halstuch , das gerettete Andenken Marianens ,
lag nur locker geknüpft unter der neſſeltuch¬
nen Krauſe . Ein runder Hut mit einem
bunten Bande und einer großen Feder mach¬
te die Maskerade vollkommen .
Die Frauen betheuerten , dieſe Tracht laſſe
ihm vorzüglich gut . Philine ſtellte ſich ganz
bezaubert darüber , und bat ſich ſeine ſchönen
Haare aus , die er , um dem natürlichen Ideal
nur deſto näher zu kommen , unbarmherzig
abgeſchnitten hatte . Sie empfahl ſich da¬
durch nicht übel , und unſer Freund , der
durch ſeine Freygebigkeit ſich das Recht er¬
worben hatte , auf Prinz Harry’s Manier
mit den übrigen umzugehen , kam bald ſelbſt
in den Geſchmack , einige tolle Streiche anzu¬
geben und zu befördern . Man focht , man
tanzte , man erfand allerley Spiele , und in
der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des
leidlichen Weins , den man angetroffen hatte ,
in ſtarkem Maaße , und Philine lauerte in
der Unordnung dieſer Lebensart dem ſpröden
Helden auf , für den ſein guter Genius Sor¬
ge tragen möge .
Eine vorzügliche Unterhaltung , mit der
ſich die Geſellſchaft beſonders ergötzte , be¬
ſtand in einem extemporirten Spiel , in wel¬
chem ſie ihre bisherigen Gönner und Wohl¬
thäter nachahmten und durchzogen . Einige
unter ihnen hatten ſich ſehr gut die Eigen¬
heiten des äuſſern Anſtands verſchiedner vor¬
nehmer Perſonen gemerkt , und die Nachbil¬
dung derſelben ward von der übrigen Ge¬
ſellſchaft mit dem größten Beyfall aufgenom¬
men , und als Philine aus dem geheimen
Archiv ihrer Erfahrungen einige beſondere
Liebeserklärungen , die an ſie geſchehen wa¬
ren , vorbrachte , wußte man ſich vor Lachen
und Schadenfreude kaum zu laſſen .
Wilhelm ſchalt ihre Undankbarkeit ; allein
man ſetzte ihm entgegen , daß ſie das , was
ſie dort erhalten , genugſam abverdient , und
daß überhaupt das Betragen gegen ſo ver¬
dienſtvolle Leute , wie ſie ſich zu ſeyn rühm¬
ten , nicht das beſte geweſen ſey . Nun be¬
ſchwerte man ſich , mit wie wenig Achtung
man ihnen begegnet , wie ſehr man ſie zurück
geſetzt habe . Das Spotten , Necken und
Nachahmen ging wieder an , und man ward
immer bitterer und ungerechter .
Ich wünſchte , ſagte Wilhelm darauf , daß
durch euere Äuſſerungen weder Neid noch
Eigenliebe durchſchiene , und daß ihr jene
Perſonen und ihre Verhältniſſe aus dem rech¬
ten Geſichtspunkte betrachtetet . Es iſt eine
eigene Sache , ſchon durch die Geburt auf
einen erhabenen Platz in der menſchlichen
Geſellſchaft geſetzt zu ſeyn . Wem ererbte
Reichthümer eine vollkommene Leichtigkeit
des Daſeyns verſchaft haben , wer ſich , wenn
ich mich ſo ausdrücken darf , von allem Bey¬
weſen der Menſchheit , von Jugend auf ,
reichlich umgeben findet , gewöhnt ſich meiſt
dieſe Güter als das Erſte und Größte zu
betrachten , und der Werth einer von der
Natur ſchön ausgeſtatteten Menſchheit wird
ihm nicht ſo deutlich . Das Betragen der
Vornehmen gegen Geringere und auch unter
einander , iſt nach äuſſern Vorzügen abge¬
meſſen ; ſie erlauben jedem ſeinen Titel , ſei¬
nen Rang , ſeine Kleider und Equipage , nur
nicht ſeine Verdienſte geltend zu machen .
Dieſen Worten gab die Geſellſchaft einen
unmäßigen Beyfall . Man fand abſcheulich ,
daß der Mann von Verdienſt immer zurück
ſtehen müſſe , und daß in der großen Welt
keine Spur von natürlichem und herzlichem
Umgang zu finden ſey . Sie kamen beſon¬
ders über dieſen letzten Punkt aus dem Hun¬
dertſten ins Tauſendſte .
Scheltet ſie nicht darüber , rief Wilhelm
aus , bedauert ſie vielmehr . Denn von je¬
nem Glück , das wir als das höchſte erken¬
nen , das aus dem innern Reichthum der
Natur fließt , haben ſie ſelten eine erhöhte
Empfindung . Nur uns Armen , die wir we¬
nig oder nichts beſitzen , iſt es gegönnt , das
Glück der Freundſchaft in reichem Maaße
zu genießen . Wir können unſre Geliebten
weder durch Gnade erheben , noch durch
Gunſt befördern , noch durch Geſchenke be¬
glücken . Wir haben nichts als uns ſelbſt .
Dieſes ganze Selbſt müſſen wir hingeben ,
und , wenn es einigen Werth haben ſoll , dem
Freunde das Gut auf ewig verſichern . Welch
ein Genuß , welch ein Glück für den Geber
und Empfänger ! In welchen ſeeligen Zu¬
ſtand verſetzt uns die Treue , ſie giebt dem
vorübergehenden Menſchenleben eine himm¬
liſche Gewißheit ; ſie macht das Hauptcapital
unſres Reichthums aus .
Mignon hatte ſich ihm unter dieſen Wor¬
ten genähert , ſchlang ſeine zarten Arme um
ihn , und blieb mit dem Köpfchen an ſeine
Bruſt gelehnt ſtehen . Er legte die Hand
auf des Kindes Haupt , und fuhr fort : Wie
leicht wird es einem Großen , die Gemüther
zu gewinnen , wie leicht eignet er ſich die
Herzen zu . Ein gefälliges , bequemes , nur
einigermaßen menſchliches Betragen thut
Wunder , und wie viele Mittel hat er , die
einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten .
Uns kommt alles ſeltner , wird alles ſchwerer ,
und wie natürlich iſt es , daß wir auf das ,
was wir erwerben und leiſten , einen größern
Werth legen . Welche rührende Beyſpiele
von treuen Dienern , die ſich für ihre Herren
aufopferten ! Wie ſchön hat uns Shakeſpear
ſolche geſchildert ! Die Treue iſt , in dieſem
Falle , ein Beſtreben einer edlen Seele , einem
Größern gleich zu werden . Durch fort¬
dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der
Diener ſeinem Herrn gleich , der ihn ſonſt
nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen
berechtigt iſt . Ja , dieſe Tugenden ſind nur
für den geringen Stand ; er kann ſie nicht
entbehren , und ſie kleiden ihn ſchön . Wer
ſich leicht loskaufen kann , wird ſo leicht ver¬
ſucht , ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬
heben . Ja , in dieſem Sinne glaube ich be¬
haupten zu können , daß ein Großer wohl
Freunde haben , aber nicht Freund ſeyn
könne .
Mignon drückte ſich immer feſter an ihn .
Nun gut , verſetzte einer aus der Geſell¬
ſchaft : wir brauchen ihre Freundſchaft nicht ,
und haben ſie niemals verlangt . Nur ſoll¬
ten ſie ſich beſſer auf Künſte verſtehen , die
ſie doch beſchützen wollen . Wenn wir am
beſten geſpielt haben , hat uns niemand zu¬
gehört ; alles war lauter Partheylichkeit .
Wem man günſtig war , der gefiel , und man
war dem nicht günſtig , der zu gefallen ver¬
diente . Es war nicht erlaubt , wie oft das
Alberne und Abgeſchmackte Aufmerkſamkeit
und Beyfall auf ſich zog .
Wenn ich abrechne , verſetzte Wilhelm ,
was Schadenfreude und Ironie geweſen ſeyn
mag : ſo denk ich , es geht in der Kunſt wie
in der Liebe ! Wie will der Weltmann bey
ſeinem zerſtreuten Leben die Innigkeit erhal¬
ten , in der ein Künſtler bleiben muß , wenn
er etwas Vollkommenes hervorzubringen
denkt , und die ſelbſt demjenigen nicht fremd
ſeyn darf , der einen ſolchen Antheil am
Werke nehmen will , wie der Künſtler ihn
wünſcht und hofft .
Glaubt mir , meine Freunde , es iſt mit
den Talenten wie mit der Tugend : man muß
ſie um ihrer ſelbſt willen lieben , oder ſie
ganz aufgeben . Und doch werden ſie beide
nicht anders erkannt und belohnt , als wenn
man ſie , gleich einem gefährlichen Geheim¬
niß , im Verborgnen üben kann .
Unterdeſſen , bis ein Kenner uns auffindet ,
kann man Hungers ſterben , rief einer aus
der Ecke .
Nicht eben ſogleich , verſetzte Wilhelm .
Ich habe geſehen , ſo lange einer lebt und
ſich rührt , findet er immer ſeine Nahrung ,
und wenn ſie auch gleich nicht die reichlichſte
iſt . Und worüber habt ihr euch denn zu be¬
ſchweren ? Sind wir nicht ganz unvermuthet ,
eben da es mit uns am ſchlimmſten aus¬
ſah , gut aufgenommen und bewirthet wor¬
den ? Und jetzt , da es uns noch an nichts
gebricht , fällt es uns denn ein , etwas zu un¬
ſerer Übung zu thun , und nur einigermaßen
weiter zu ſtreben ? Wir treiben fremde Din¬
ge , und entfernen , den Schulkindern ähnlich ,
alles , was uns nur an unſre Lection erinnern
könnte .
Wahrhaftig , ſagte Philine , es iſt unver¬
antwortlich ! laßt uns ein Stück wählen ;
wir wollen es auf der Stelle ſpielen . Jeder
muß ſein Möglichſtes thun , als wenn er vor
dem größten Auditorium ſtünde .
Man überlegte nicht lange ; das Stück
ward beſtimmt . Es war eines deren , die
damals in Deutſchland großen Beyfall fan¬
den,
den , und nun verſchollen ſind . Einige pfif¬
fen eine Symphonie , jeder beſann ſich ſchnell
auf ſeine Rolle , man fing an und ſpielte mit
der größten Aufmerkſamkeit das Stück durch ,
und wirklich über Erwartung gut . Man
applaudirte ſich wechſelsweiſe ; man hatte ſich
ſelten ſo wohl gehalten .
Als ſie fertig waren , empfanden ſie alle
ein ausnehmendes Vergnügen , theils über
ihre wohlzugebrachte Zeit , theils weil jeder
beſonders mit ſich zufrieden ſeyn konnte .
Wilhelm ließ ſich weitläuftig zu ihrem Lobe
heraus , und ihre Unterhaltung war heiter
und fröhlich .
Ihr ſolltet ſehen , rief unſer Freund , wie
weit wir kommen müßten , wenn wir unſre
Übungen auf dieſe Art fortſetzten , und nicht
blos auf Auswendiglernen , Probiren und
Spielen uns mechaniſch pflicht- und hand¬
werksmäßig einſchränkten . Wie viel mehr
W. Meiſters Lehrj. 2. N
Lob verdienen die Tonkünſtler , wie ſehr er¬
götzen ſie ſich , wie genau ſind ſie nicht , wenn
ſie gemeinſchaftlich ihre Übungen vornehmen .
Wie ſind ſie bemüht , ihre Inſtrumente über¬
einzuſtimmen , wie genau halten ſie Takt ,
wie zart wiſſen ſie die Stärke und Schwäche
des Tons auszudrücken ! Keinem fällt es ein ,
ſich bey dem Solo eines andern durch ein
vorlautes Accompagniren Ehre zu machen .
Jeder ſucht in dem Geiſt und Sinne des
Componiſten zu ſpielen , und jeder das , was
ihm aufgetragen iſt , es mag viel oder wenig
ſeyn , gut auszudrücken .
Sollten wir nicht eben ſo genau und eben
ſo geiſtreich zu Werke gehen , da wir eine
Kunſt treiben , die noch viel zarter als jede
Art von Muſik iſt , da wir die gewöhnlich¬
ſten und ſeltenſten Äuſſerungen der Menſch¬
heit geſchmackvoll und ergötzend darzuſtellen
berufen ſind ? Kann etwas abſcheulicher ſeyn ,
als in den Proben zu ſudeln , und ſich bey
der Vorſtellung auf Laune und gut Glück zu
verlaſſen ? Wir ſollten unſer größtes Glück
und Vergnügen darin ſetzen , mit einander
übereinzuſtimmen , um uns wechſelsweiſe zu
gefallen , und auch nur in ſo fern den Bey¬
fall des Publikums zu ſchätzen , als wir ihn
uns gleichſam unter einander ſchon ſelbſt ga¬
rantirt hätten . Warum iſt der Kapellmeiſter
ſeines Orcheſters gewiſſer , als der Director
ſeines Schauſpiels ? Weil dort jeder ſich ſei¬
nes Mißgriffs , der das äußere Ohr beleidigt ,
ſchämen muß ; aber wie ſelten hab’ ich einen
Schauſpieler verzeihliche und unverzeihliche
Mißgriffe , durch die das innere Ohr ſo
ſchnöde beleidigt wird , anerkennen und ſich
ihrer ſchämen ſehen ! Ich wünſchte nur , daß
das Theater ſo ſchmal wäre , als der Draht
eines Seiltänzers , damit ſich kein Ungeſchick¬
ter hinauf wagte , anſtatt daß jetzo ein jeder
N2
ſich Fähigkeit genug fühlt , darauf zu para¬
diren .
Die Geſellſchaft nahm dieſe Apoſtrophe
gut auf , indem jeder überzeugt war , daß
nicht von ihm die Rede ſeyn könne , da er
ſich noch vor kurzem nebſt den übrigen ſo
gut gehalten . Man kam vielmehr überein ,
daß man in dem Sinne , wie man angefan¬
gen , auf dieſer Reiſe und künftig , wenn man
zuſammen bliebe , eine geſellige Bearbeitung
wolle obwalten laſſen . Man fand nur , daß
weil dieſes eine Sache der guten Laune und
des freyen Willens ſey , ſo müſſe ſich eigent¬
lich kein Director darein miſchen . Man
nahm als ausgemacht an , daß unter guten
Menſchen die republikaniſche Form die beſte
ſey ; man behauptete , das Amt eines Di¬
rectors müſſe herum gehen ; er müſſe von
allen gewählt werden , und eine Art von
kleinem Senat ihm jederzeit beygeſetzt blei¬
ben . Sie waren ſo von dieſem Gedanken
eingenommen , daß ſie wünſchten , ihn gleich
ins Werk zu richten .
Ich habe nichts dagegen , ſagte Melina ,
wenn ihr auf der Reiſe einen ſolchen Ver¬
ſuch machen wollt ; ich ſuſpendire meine Di¬
rectorſchaft gern , bis wir wieder an Ort und
Stelle kommen . Er hofte , dabey zu ſparen ,
und manche Ausgaben der kleinen Republik
oder dem Interimsdirector aufzuwälzen . Nun
ging man ſehr lebhaft zu Rath , wie man
die Form des neuen Staates aufs Beſte ein¬
richten wolle .
Es iſt ein wanderndes Reich , ſagte Laer¬
tes , wir werden wenigſtens keine Grenzſtrei¬
tigkeiten haben .
Man ſchritt ſogleich zur Sache , und er¬
wählte Wilhelm zum erſten Director . Der
Senat ward beſtellt , die Frauen erhielten
Sitz und Stimme , man ſchlug Geſetze vor .
man verwarf , man genehmigte . Die Zeit
ging unvermerkt unter dieſem Spiele vor¬
über , und weil man ſie angenehm zubrachte ,
glaubte man auch wirklich etwas Nützliches
gethan und durch die neue Form eine neue
Ausſicht für die vaterländiſche Bühne eröf¬
net zu haben .
Drittes Capitel .
W ilhelm hoffte nunmehr , da er die Geſell¬
ſchaft in ſo guter Dispoſition ſah , ſich auch
mit ihr über das dichteriſche Verdienſt der
Stücke unterhalten zu können . Es iſt nicht
genug , ſagte er zu ihnen , als ſie des andern
Tages wieder zuſammen kamen , daß der
Schauſpieler ein Stück nur ſo oben hin an¬
ſehe , daſſelbe nach dem erſten Eindruck beur¬
theile , und ohne Prüfung ſein Gefallen oder
Mißfallen daran zu erkennen gebe . Dieß
iſt dem Zuſchauer wohl erlaubt , der gerührt
und unterhalten ſeyn , aber eigentlich nicht
urtheilen will . Der Schauſpieler dagegen
ſoll von dem Stücke und von den Urſachen
ſeines Lobes und Tadels Rechenſchaft geben
können : und wie will er das , wenn er nicht
in den Sinn ſeines Autors , wenn er nicht
in die Abſichten deſſelben einzudringen ver¬
ſteht ? Ich habe den Fehler , ein Stück aus
einer Rolle zu beurtheilen , eine Rolle nur
an ſich und nicht im Zuſammenhange mit
dem Stück zu betrachten , an mir ſelbſt in
dieſen Tagen ſo lebhaft bemerkt , daß ich euch
das Beyſpiel erzählen will , wenn ihr mir
ein geneigtes Gehör gönnen wollt .
Ihr kennt Shakeſpears unvergleichlichen
Hamlet aus einer Vorleſung , die euch noch
auf dem Schloſſe das größte Vergnügen
machte . Wir ſetzten uns vor , das Stück zu
ſpielen , und ich hatte , ohne zu wiſſen was
ich that , die Rolle des Prinzen übernommen ;
ich glaubte ſie zu ſtudieren , indem ich anfing
die ſtärkſten Stellen , die Selbſtgeſpräche und
jene Auftritte zu memoriren , in denen Kraft
der Seele , Erhebung des Geiſtes und Leb¬
haftigkeit freyen Spielraum haben , wo das
bewegte Gemüth ſich in einem gefühlvollen
Ausdrucke zeigen kann .
Auch glaubte ich recht in den Geiſt der
Rolle einzudringen , wenn ich die Laſt der
tiefen Schwermuth gleichſam ſelbſt auf mich
nähme , und unter dieſem Druck meinem Vor¬
bilde durch das ſeltſame Labyrinth ſo man¬
cher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen
ſuchte . So memorirte ich , und ſo übte ich
mich , und glaubte nach und nach , mit mei¬
nem Helden zu einer Perſon zu werden .
Allein je weiter ich kam , deſto ſchwerer
ward mir die Vorſtellung des Ganzen , und
mir ſchien zuletzt faſt unmöglich , zu einer
Überſicht zu gelangen . Nun ging ich das
Stück in einer ununterbrochenen Folge durch ,
und auch da wollte mir leider manches nicht
paſſen . Bald ſchienen ſich die Charaktere ,
bald der Ausdruck zu widerſprechen , und ich
verzweifelte faſt , einen Ton zu finden , in
welchem ich meine ganze Rolle mit allen Ab¬
weichungen und Schattirungen vortragen
könnte . In dieſen Irrgängen bemühte ich
mich lange vergebens , bis ich mich endlich
auf einem ganz beſondern Wege meinem
Ziele zu nähern hoffte .
Ich ſuchte jede Spur auf , die ſich von
dem Character Hamlets in früherer Zeit vor
dem Tode ſeines Vaters zeigte ; ich bemerkte ,
was unabhängig von dieſer traurigen Bege¬
benheit , unabhängig von den nachfolgenden
ſchrecklichen Ereigniſſen , dieſer intereſſante
Jüngling geweſen war , und was er ohne ſie
vielleicht geworden wäre .
Zart und edel entſproſſen wuchs die kö¬
nigliche Blume , unter den unmittelbaren Ein¬
flüſſen der Majeſtät , hervor ; der Begriff des
Rechts und der fürſtlichen Würde , das Ge¬
fühl des Guten und Anſtändigen mit dem
Bewußtſeyn der Höhe ſeiner Geburt , ent¬
wickelten ſich zugleich in ihm . Er war ein
Fürſt , ein gebohrner Fürſt , und wünſchte zu
regieren , nur damit der Gute ungehindert
gut ſeyn möchte . Angenehm von Geſtalt ,
geſittet von Natur , gefällig von Herzen aus ,
ſollte er das Muſter der Jugend ſeyn , und
die Freude der Welt werden .
Ohne irgend eine hervorſtechende Leiden¬
ſchaft , war ſeine Liebe zu Ophelien ein ſtil¬
les Vorgefühl ſüßer Bedürfniſſe ; ſein Eifer
zu ritterlichen Übungen war nicht ganz Ori¬
ginal , vielmehr mußte dieſe Luſt , durch das
Lob , das man dem Dritten beylegte , ge¬
ſchärft und erhöht werden ; rein fühlend
kannte er die Redlichen , und wußte die Ruhe
zu ſchätzen , die ein aufrichtiges Gemüth an
dem offnen Buſen eines Freundes genießt .
Bis auf einen gewiſſen Grad hatte er in
Künſten und Wiſſenſchaften das Gute und
Schöne erkennen und würdigen gelernt ; das
Abgeſchmackte war ihm zuwider , und wenn
in ſeiner zarten Seele der Haß aufkeimen
konnte , ſo war es nur eben ſo viel als nö¬
thig iſt , um bewegliche und falſche Höflinge
zu verachten , und ſpöttiſch mit ihnen zu ſpie¬
len . Er war gelaſſen in ſeinem Weſen , in
ſeinem Betragen einfach , weder im Müßig¬
gange behaglich , noch allzubegierig nach Be¬
ſchäftigung . Ein akademiſches Hinſchlendern
ſchien er auch bey Hofe fortzuſetzen . Er be¬
ſaß mehr Fröhlichkeit der Laune als des
Herzens , war ein guter Geſellſchafter , nach¬
giebig , beſcheiden , beſorgt , und konnte eine
Beleidigung vergeben und vergeſſen ; aber
niemals konnte er ſich mit dem vereinigen ,
der die Grenzen des Rechten , des Guten ,
des Anſtändigen überſchritt .
Wenn wir das Stück wieder zuſammen
leſen werden , könnt ihr beurtheilen , ob ich
auf dem rechten Wege bin . Wenigſtens
hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stel¬
len belegen zu können .
Man gab der Schilderung lauten Bey¬
fall ; man glaubte voraus zu ſehen , daß ſich
nun die Handelsweiſe Hamlets gar gut wer¬
de erklären laſſen ; man freute ſich über die
Art , in den Geiſt des Schriftſtellers einzu¬
dringen . Jeder nahm ſich vor , auch irgend
ein Stück auf dieſe Art zu ſtudieren und den
Sinn des Verfaſſers zu entwickeln .
Viertes Capitel .
N ur einige Tage mußte die Geſellſchaft an
dem Orte liegen bleiben , und ſogleich zeigten
ſich für verſchiedene Glieder derſelben nicht
unangenehme Abentheuer , beſonders aber
ward Laertes von einer Dame angereizt , die
in der Nachbarſchaft ein Gut hatte , gegen
die er ſich aber äußerſt kalt , ja unartig be¬
trug , und darüber von Philinen viele Spöt¬
tereyen erdulden mußte . Sie ergriff die Ge¬
legenheit , unſerm Freund die unglückliche
Liebesgeſchichte zu erzählen , über die der
arme Jüngling dem ganzen weiblichen Ge¬
ſchlechte feind geworden war . Wer wird
ihm übel nehmen , rief ſie aus , daß er ein
Geſchlecht haßt , das ihm ſo übel mitgeſpielt
hat , und ihm alle Übel , die ſonſt Männer
von Weibern zu befürchten haben , in einem
ſehr concentrirten Tranke zu verſchlucken gab ?
Stellen Sie ſich vor : binnen vier und zwan¬
zig Stunden war er Liebhaber , Bräutigam ,
Ehmann , Hahnrey , Patient und Wittwer !
Ich wüßte nicht , wie man ’s einem ärger
machen wollte !
Laertes lief halb lachend , halb verdrie߬
lich zur Stube hinaus , und Philine fing in
ihrer allerliebſten Art die Geſchichte zu er¬
zählen an , wie Laertes als ein junger Menſch
von achtzehn Jahren , eben als er bey einer
Theatergeſellſchaft eingetroffen , ein ſchönes
vierzehnjähriges Mädchen gefunden , die eben
mit ihrem Vater , der ſich mit dem Director
entzweyet , abzureiſen Willens geweſen . Er
habe ſich aus dem Stegreife ſterblich ver¬
liebt , dem Vater alle mögliche Vorſtellungen
gethan zu bleiben , und endlich verſprochen ,
das Mädchen zu heirathen . Nach einigen
angenehmen Stunden des Brautſtandes ſey
er getraut worden , habe eine glückliche Nacht
als Ehmann zugebracht , darauf habe ihn
ſeine Frau des andern Morgens , als er in
der Probe geweſen , nach Standesgebühr mit
einem Hörnerſchmuck beehrt ; weil er aber aus
allzugroßer Zärtlichkeit viel zu früh nach
Hauſe geeilt , habe er leider einen ältern
Liebhaber an ſeiner Stelle gefunden , habe
mit unſinniger Leidenſchaft drein geſchlagen ,
Liebhaber und Vater herausgefordert , und
ſey mit einer leidlichen Wunde davon ge¬
kommen . Vater und Tochter ſeyen darauf
noch in der Nacht abgereiſt , und er ſey lei¬
der auf eine doppelte Weiſe verwundet zu¬
rück geblieben . Sein Unglück habe ihn zu
dem ſchlechteſten Feldſcheer von der Welt ge¬
führt , und der Arme ſey leider mit ſchwar¬
zen Zähnen und triefenden Augen aus die¬
ſem Abentheuer geſchieden . Er ſey zu be¬
dau¬
dauern , weil er übrigens der bravſte Junge
ſey , den Gottes Erdboden trüge . Beſonders ,
ſagte ſie , thut es mir leid , daß der arme
Narr nun die Weiber haßt : denn wer die
Weiber haßt , wie kann der leben ?
Melina unterbrach ſie , mit der Nachricht ,
daß alles zum Transport völlig bereit ſey ,
und daß ſie morgen früh abfahren könnten .
Er überreichte ihnen eine Dispoſition , wie ſie
fahren ſollten .
Wenn mich ein guter Freund auf den
Schooß nimmt , ſagte Philine , ſo bin ich zu¬
frieden , daß wir eng und erbärmlich ſitzen ,
übrigens iſt mir alles einerley .
Es thut nichts , ſagte Laertes , der auch
herbey kam .
Es iſt verdrießlich ! ſagte Wilhelm , und
eilte weg . Er fand für ſein Geld noch einen
gar bequemen Wagen , den Melina verleug¬
net hatte . Eine andere Eintheilung ward
W. Meiſters Lehrj. 2. O
gemacht , und man freuete ſich , bequem abrei¬
ſen zu können , als die bedenkliche Nachricht
einlief : daß auf dem Wege , den ſie nehmen
wollten , ſich ein Freycorps ſehen laſſe , von
dem man nicht viel Gutes erwartete .
An dem Orte ſelbſt war man ſehr auf
dieſe Zeitung aufmerkſam , wenn ſie gleich
nur ſchwankend und zweydeutig war . Nach
der Stellung der Armeen ſchien es unmög¬
lich , daß ein feindliches Corps ſich habe durch¬
ſchleichen , oder daß ein freundliches ſo weit
habe zurück bleiben können . Jedermann war
eifrig , unſrer Geſellſchaft die Gefahr , die auf
ſie wartete , recht gefährlich zu beſchreiben ,
und ihr einen andern Weg anzurathen .
Die meiſten waren darüber in Unruhe
und Furcht geſetzt , und als nach der neuen
republikaniſchen Form die ſämmtlichen Glie¬
der des Staats zuſammen gerufen wurden ,
um über dieſen auſſerordentlichen Fall zu be¬
rathſchlagen , waren ſie faſt einſtimmig der
Meinung , daß man das Übel vermeiden und
am Orte bleiben , oder ihm ausweichen und
einen andern Weg erwählen müſſe .
Nur Wilhelm , von Furcht nicht einge¬
nommen , hielt für ſchimpflich , einen Plan ,
in den man mit ſo viel Überlegung einge¬
gangen war , nunmehr auf ein bloßes Ge¬
rücht aufzugeben . Er ſprach ihnen Muth
ein , und ſeine Gründe waren männlich und
überzeugend .
Noch , ſagte er , iſt es nichts als ein Ge¬
rücht , und wie viele entſtehen dergleichen
im Kriege ! Verſtändige Leute ſagen , daß
der Fall höchſt unwahrſcheinlich , ja beynah
unmöglich ſey . Sollten wir uns in einer
ſo wichtigen Sache bloß durch ein ſo unge¬
wiſſes Gerede beſtimmen laſſen ? Die Route ,
welche uns der Herr Graf angegeben hat ,
auf die unſer Paß lautet , iſt die kürzeſte ,
O 2
und wir finden auf ſelbiger den beſten Weg .
Sie führt uns nach der Stadt , wo ihr Be¬
kanntſchaften , Freunde vor euch ſeht , und
eine gute Aufnahme zu hoffen habt . Der
Umweg bringt uns auch dahin ; aber in wel¬
che ſchlimme Wege verwickelt er uns , wie
weit führt er uns ab . Können wir Hoffnung
haben , uns in der ſpäten Jahrszeit wieder
heraus zu finden , und was für Zeit und
Geld werden wir indeſſen verſplittern ! Er
ſagte noch viel , und trug die Sache von ſo
mancherley vortheilhaften Seiten vor , daß
ihre Furcht ſich verringerte , und ihr Muth
zunahm . Er wußte ihnen ſo viel von der
Mannszucht der regelmäßigen Truppen vor¬
zuſagen , und ihnen die Marodeurs und das
hergelaufene Geſindel ſo nichtswürdig zu
ſchildern , und ſelbſt die Gefahr ſo lieblich
und luſtig darzuſtellen , daß alle Gemüther
aufgeheitert wurden .
Laertes war vom erſten Moment an auf
ſeiner Seite , und verſicherte , daß er nicht
wanken noch weichen wolle . Der alte Pol¬
terer fand wenigſtens einige übereinſtimmen¬
de Ausdrücke in ſeiner Manier , Philine lach¬
te ſie alle zuſammen aus , und da Madam
Melina , die , ihrer hohen Schwangerſchaft un¬
geachtet , ihre natürliche Herzhaftigkeit nicht
verloren hatte , den Vorſchlag heroiſch fand ;
ſo konnte Melina , der denn freylich auf dem
nächſten Wege , auf den er accordirt hatte ,
viel zu ſparen hofte , nicht widerſtehen , und
man willigte in den Vorſchlag von ganzem
Herzen .
Nun fing man an , ſich auf alle Fälle
zur Vertheidigung einzurichten . Man kaufte
große Hirſchfänger , und hing ſie an wohl¬
geſtickten Riemen über die Schultern . Wil¬
helm ſteckte noch überdieß ein Paar Terze¬
role in den Gürtel , Laertes hatte ohnedem
eine gute Flinte bey ſich , und man machte
ſich mit einer hohen Freudigkeit auf den
Weg .
Den zweyten Tag ſchlugen die Fuhrleute ,
die der Gegend wohl kundig waren , vor : ſie
wollten auf einem waldigen Bergplatze Mit¬
tagsruhe halten , weil das Dorf weit abgele¬
gen ſey , und man bey guten Tagen gern
dieſen Weg nähme .
Die Witterung war ſchön und jedermann
ſtimmte leicht in den Vorſchlag ein . Wil¬
helm eilte zu Fuß durch das Gebirge vor¬
aus , und über ſeine ſonderbare Geſtalt mußte
jeder , der ihm begegnete , ſtutzig werden . Er
eilte mit ſchnellen und zufriedenen Schritten
den Wald hinauf , Laertes pfiff hinter ihm
drein , nur die Frauen ließen ſich in den
Wagen fortſchleppen . Mignon lief gleich¬
falls nebenher , ſtolz auf den Hirſchfänger ,
den man ihr , als die Geſellſchaft ſich bewaff¬
nete , nicht abſchlagen konnte . Um ihren Hut
hatte ſie die Perlenſchnur gewunden , die
Wilhelm von Marianens Reliquien übrig
behalten hatte . Friedrich der Blonde trug
die Flinte des Laertes , der Harfner hatte
das friedlichſte Anſehen . Sein langes Kleid
war in den Gürtel geſteckt , und ſo ging er
freyer . Er ſtützte ſich auf einen knotigen
Stab , ſein Inſtrument war bey den Wagen
zurück geblieben .
Nachdem ſie nicht ganz ohne Beſchwer¬
lichkeit die Höhe erſtiegen , erkannten ſie ſo¬
gleich den angezeigten Platz an den ſchönen
Buchen , die ihn umgaben und bedeckten .
Eine große ſanft-abhängige Waldwieſe lud
zum Bleiben ein ; eine eingefaßte Quelle bot
die lieblichſte Erquickung dar , und es zeigte
ſich an der andern Seite durch Schluchten
und Waldrücken eine ferne , ſchöne und hoff¬
nungsvolle Ausſicht . Da lagen Dörfer und
Mühlen in den Gründen , Städtchen in der
Ebene , und neue in der Ferne eintretende
Berge machten die Ausſicht noch hoffnungs¬
voller , indem ſie nur wie eine ſanfte Be¬
ſchränkung hereintraten .
Die erſten Ankommenden nahmen Beſitz
von der Gegend , ruhten im Schatten aus ,
machten ein Feuer an , und erwarteten ge¬
ſchäftig , ſingend die übrige Geſellſchaft , wel¬
che nach und nach herbey kam , und den
Platz , das ſchöne Wetter , die unausſprechlich
ſchöne Gegend mit Einem Munde begrüßte .
Fünftes Capitel .
H atte man oft zwiſchen vier Wänden gute
und fröhliche Stunden zuſammen genoſſen ;
ſo war man natürlich , noch viel aufgeweckter
hier , wo die Freyheit des Himmels und die
Schönheit der Gegend jedes Gemüth zu rei¬
nigen ſchien . Alle fühlten ſich einander nä¬
her , alle wünſchten in einem ſo angenehmen
Aufenthalt ihr ganzes Leben hinzubringen .
Man beneidete die Jäger , Köhler und Holz¬
hauer , Leute , die ihr Beruf an dieſen glückli¬
chen Wohnplätzen feſt hält ; über alles aber
pries man die reizende Wirthſchaft eines Zi¬
geunerhaufens . Man beneidete dieſe wun¬
derlichen Geſellen , die in ſeeligem Müßig¬
gange alle abentheuerlichen Reize der Natur
zu genießen berechtigt ſind ; man freute ſich ,
ihnen einigermaßen ähnlich zu ſeyn .
Indeſſen hatten die Frauen angefangen ,
Erdäpfel zu ſieden , und die mitgebrachten
Speiſen auszupacken und zu bereiten . Eini¬
ge Töpfe ſtanden beym Feuer , gruppenweiſe
lagerte ſich die Geſellſchaft unter den Bäu¬
men und Büſchen . Ihre ſeltſame Kleidun¬
gen und die mancherley Waffen gaben ihr
ein fremdes Anſehen . Die Pferde wurden
bey Seite gefüttert , und wenn man die Kut¬
ſchen hätte verſtecken wollen , ſo wäre der
Anblick dieſer kleinen Horde bis zur Illuſion
romantiſch geweſen .
Wilhelm genoß ein nie gefühltes Ver¬
gnügen . Er konnte hier eine wandernde
Colonie und ſich als Anführer derſelben den¬
ken . In dieſem Sinne unterhielt er ſich mit
einem jeden , und bildete den Wahn des
Moments ſo poetiſch als möglich aus . Die
Gefühle der Geſellſchaft erhöhten ſich ; man
aß , trank und jubilirte , und bekannte wie¬
derholt , niemals ſchönere Augenblicke erlebt
zu haben .
Nicht lange hatte das Vergnügen zuge¬
nommen , als bey den jungen Leuten die
Thätigkeit erwachte . Wilhelm und Laertes
griffen zu den Rappieren , und fingen die߬
mal in theatraliſcher Abſicht ihre Übungen
an . Sie wollten den Zweykampf darſtellen ,
in welchem Hamlet und ſein Gegner ein ſo
tragiſches Ende nehmen . Beide Freunde
waren überzeugt , daß man in dieſer wichti¬
gen Scene nicht , wie es wohl auf Theatern
zu geſchehen pflegt , nur ungeſchickt hin und
wieder ſtoßen dürfe ; ſie hofften ein Muſter
darzuſtellen , wie man , bey der Aufführung ,
auch dem Kenner der Fechtkunſt ein würdi¬
ges Schauſpiel zu geben habe . Man ſchloß
einen Kreis um ſie her ; beide fochten mit
Eifer und Einſicht , das Intereſſe der Zu¬
ſchauer wuchs mit jedem Gange .
Auf einmal aber fiel im nächſten Buſche
ein Schuß , und gleich darauf noch einer ,
und die Geſellſchaft fuhr erſchreckt auseinan¬
der . Bald erblickte man bewaffnete Leute ,
die auf den Ort zudrangen , wo die Pferde
nicht weit von den bepackten Kutſchen ihr
Futter einnahmen .
Ein allgemeiner Schrey entfuhr dem weib¬
lichen Geſchlechte , unſre Helden warfen die
Rappiere weg , griffen nach den Piſtolen , eil¬
ten den Räubern entgegen , und forderten ,
unter lebhaften Drohungen , Rechenſchaft des
Unternehmens .
Als man ihnen lakoniſch mit ein Paar
Musketenſchüſſen antwortete , druckte Wil¬
helm ſeine Piſtole auf einen Krauskopf ab ,
der den Wagen erſtiegen hatte , und die
Stricke des Gepäckes auseinander ſchnitt .
Wohlgetroffen ſtürzte er ſogleich herunter ;
Laertes hatte auch nicht fehl geſchoſſen , und
beide Freunde zogen beherzt ihre Seitenge¬
wehre , als ein Theil der räuberiſchen Bande ,
mit Fluchen und Gebrüll , auf ſie losbrach ,
einige Schüſſe auf ſie that , und ſich mit
blinkenden Säbeln ihrer Kühnheit entgegen
ſetzte . Unſre junge Helden hielten ſich tapfer ;
ſie riefen ihren übrigen Geſellen zu , und
munterten ſie zu einer allgemeinen Verthei¬
digung auf . Bald aber verlor Wilhelm den
Anblick des Lichtes , und das Bewußtſeyn
deſſen , was vorging . Von einem Schuß , der
ihn zwiſchen der Bruſt und dem linken Arm
verwundete , von einem Hiebe , der ihm den
Hut ſpaltete , und faſt bis auf die Hirnſchale
durchdrang , betäubt , fiel er nieder , und mu߬
te das unglückliche Ende des Überfalls nur
erſt in der Folge aus der Erzählung ver¬
nehmen .
Als er die Augen wieder aufſchlug , be¬
fand er ſich in der wunderbarſten Lage . Das
erſte , was ihm durch die Dämmerung , die
noch vor ſeinen Augen lag , entgegen blickte ,
war das Geſicht Philinens , das ſich über
das ſeine herüber neigte . Er fühlte ſich
ſchwach , und da er , um ſich empor zu rich¬
ten , eine Bewegung machte , fand er ſich in
Philinens Schooß , in den er auch wieder
zurück ſank . Sie ſaß auf dem Raſen , hatte
den Kopf des vor ihr ausgeſtreckten Jüng¬
lings leiſe an ſich gedrückt , und ihm in ihren
Armen , ſo viel ſie konnte , ein ſanftes Lager
bereitet . Mignon kniete mit zerſtreuten blu¬
tigen Haaren an ſeinen Füßen , und umfaßte
ſie mit vielen Thränen .
Als Wilhelm ſeine blutigen Kleider an¬
ſah , fragte er mit gebrochner Stimme , wo
er ſich befinde ? was ihm und den andern
begegnet ſey ? Philine bat ihn , ruhig zu blei¬
ben , die übrigen , ſagte ſie , ſeyen alle in Si¬
cherheit , und niemand als er und Laertes
verwundet . Weiter wollte ſie nichts erzäh¬
len , und bat ihn inſtändig , er möchte ſich
ruhig halten , weil ſeine Wunden nur ſchlecht
und in der Eile verbunden ſeyen . Er reichte
Mignon die Hand , und erkundigte ſich nach
der Urſache der blutigen Locken des Kindes ,
das er auch verwundet hielt .
Um ihn zu beruhigen , erzählte Philine :
dieſes gutherzige Geſchöpf , da es ſeinen
Freund verwundet geſehen , habe ſich in der
Geſchwindigkeit auf nichts beſonnen , um das
Blut zu ſtillen , es habe ſeine eigenen Haare
die um den Kopf geflogen , genommen , um
die Wunden zu ſtopfen , habe aber bald
von dem vergeblichen Unternehmen abſtehen
müſſen . Nachher verband man ihn mit
Schwamm und Moos , Philine hatte dazu
ihr Halstuch hergegeben .
Wilhelm bemerkte , daß Philine mit dem
Rücken gegen ihren Koffer ſaß , der noch
ganz wohl verſchloſſen und unbeſchädigt aus¬
ſah . Er fragte , ob die andern auch ſo glück¬
lich geweſen , ihre Haabſeligkeiten zu retten ?
Sie antwortete mit Achſelzucken und einem
Blick auf die Wieſe , wo zerbrochne Kaſten ,
zerſchlagne Koffer , zerſchnittne Mantelſäcke
und eine Menge kleiner Geräthſchaften zer¬
ſtreut hin und wieder lagen . Kein Menſch
war auf dem Platze zu ſehen , und die wun¬
derliche Gruppe fand ſich in dieſer Einſam¬
keit allein .
Wilhelm erfuhr nun immer mehr als er
wiſſen wollte : die übrigen Männer , die al¬
lenfalls noch Widerſtand hätten thun kön¬
nen , waren gleich in Schrecken geſetzt und
bald überwältigt ; ein Theil floh , ein Theil
ſah mit Entſetzen dem Unfalle zu . Die Fuhr¬
leute , die ſich noch wegen ihrer Pferde am
hartnäckigſten gehalten hatten , wurden nie¬
dergeworfen und gebunden , und in kurzem
war
war alles rein ausgeplündert und wegge¬
ſchleppt . Die beängſtigten Reiſenden fingen ,
ſobald die Sorge für ihr Leben vorüber war ,
ihren Verluſt zu bejammern an , eilten , mit
möglichſter Geſchwindigkeit , dem benachbar¬
ten Dorfe zu , führten den leicht verwundeten
Laertes mit ſich , und brachten nur wenige
Trümmer ihrer Beſitzthümer davon . Der
Harfner hatte ſein beſchädigtes Inſtrument
an einen Baum gelehnt , und war mit nach
dem Orte geeilt , einen Wundarzt aufzuſu¬
chen , und ſeinem für todt zurück gelaſſenen
Wohlthäter nach Möglichkeit beyzuſpringen .
W. Meiſters Lehrj. 2. P
Sechstes Capitel .
U nſre drey verunglückten Abenteurer blie¬
ben indeß noch eine Zeitlang in ihrer ſeltſa¬
men Lage , niemand eilte ihnen zu Hülfe .
Der Abend kam herbey , die Nacht drohte
hereinzubrechen ; Philinens Gleichgültigkeit
fing an in Unruhe überzugehen , Mignon lief
hin und wieder , und die Ungeduld des Kin¬
des nahm mit jedem Augenblicke zu . End¬
lich da ihnen ihr Wunſch gewährt ward ,
und Menſchen ſich ihnen näherten , überfiel ſie
ein neuer Schrecken . Sie hörten ganz deut¬
lich einen Trupp Pferde in dem Wege her¬
auf kommen , den auch ſie zurück gelegt hat¬
ten , und fürchteten , daß abermals eine Ge¬
ſellſchaft ungebetner Gäſte dieſen Wahlplatz
beſuchen möchte , um Nachleſe zu halten .
Wie angenehm wurden ſie dagegen über¬
raſcht , als ihnen aus den Büſchen , auf einem
Schimmel reitend , ein Frauenzimmer zu Ge¬
ſichte kam , die von einem ältlichen Herrn
und einigen Cavalieren begleitet wurde ;
Reitknechte , Bedienten und ein Trupp Huſa¬
ren folgten nach .
Philine , die zu dieſer Erſcheinung große
Augen machte , war eben im Begriff zu ru¬
fen und die ſchöne Amazone um Hülfe an¬
zuflehen , als dieſe ſchon erſtaunt ihre Augen
nach der wunderbaren Gruppe wendete , ſo¬
gleich ihr Pferd lenkte , herzuritt und ſtille
hielt . Sie erkundigte ſich eifrig nach dem
Verwundeten , deſſen Lage , in dem Schooße
der leichtfertigen Samariterin , ihr höchſt ſon¬
derbar vorzukommen ſchien .
Iſt es Ihr Mann ? fragte ſie Philinen .
Es iſt nur ein guter Freund , verſetzte dieſe
mit einem Ton , der Wilhelmen höchſt zuwi¬
P 2
der war . Er hatte ſeine Augen auf die
ſanften , hohen , ſtillen , theilnehmenden Ge¬
ſichtszüge der Ankommenden geheftet ; er
glaubte nie etwas edleres noch liebenswürdi¬
geres geſehen zu haben . Ein weiter Manns¬
überrock verbarg ihm ihre Geſtalt ; ſie hatte
ihn , wie es ſchien , gegen die Einflüſſe der
kühlen Abendluft von einem ihrer Geſellſchaf¬
ter geborgt .
Die Ritter waren indeß auch näher ge¬
kommen ; einige ſtiegen ab , die Dame that
ein gleiches , und fragte , mit menſchenfreund¬
licher Theilnehmung , nach allen Umſtänden
des Unfalls , der die Reiſenden betroffen hat¬
te , beſonders aber nach den Wunden des
hingeſtreckten Jünglings . Darauf wandte
ſie ſich ſchnell um , und ging mit einem alten
Herrn ſeitwärts nach den Wagen , welche
langſam den Berg herauf kamen , und auf
dem Wahlplatze ſtille hielten .
Nachdem die junge Dame eine kurze Zeit
am Schlage der einen Kutſche geſtanden , und
ſich mit den Ankommenden unterhalten hat¬
te , ſtieg ein Mann von unterſetzter Geſtalt
heraus , den ſie zu unſerm verwundeten Hel¬
den führte . An dem Käſtchen , das er in der
Hand hatte , und an der ledernen Taſche mit
Inſtrumenten erkannte man ihn bald für ei¬
nen Wundarzt . Seine Manieren waren
mehr rauh als einnehmend , doch ſeine Hand
leicht , und ſeine Hülfe willkommen .
Er unterſuchte genau , erklärte , keine
Wunde ſey gefährlich , er wolle ſie auf der
Stelle verbinden , alsdann könne man den
Kranken in das nächſte Dorf bringen .
Die Beſorgniſſe der jungen Dame ſchie¬
nen ſich zu vermehren . Sehen Sie nur ,
ſagte ſie , nachdem ſie einigemal hin und her¬
gegangen war , und den alten Herrn wieder
herbey führte , ſehn Sie , wie man ihn zuge¬
richtet hat ! Und leidet er nicht um unſert¬
willen ? Wilhelm hörte dieſe Worte , und
verſtand ſie nicht . Sie ging unruhig hin
und wieder ; es ſchien , als könnte ſie ſich
nicht von dem Anblick des Verwundeten los¬
reiſſen , und als fürchtete ſie zugleich den
Wohlſtand zu verletzen , wenn ſie ſtehen blie¬
be , zu der Zeit , da man ihn , wiewohl mit
Mühe , zu entkleiden anfing . Der Chirurgus
ſchnitt , eben den linken Ermel auf , als der
alte Herr hinzutrat und ihr , mit einem ernſt¬
haften Tone , die Nothwendigkeit ihre Reiſe
fortzuſetzen vorſtellte . Wilhelm hatte ſeine
Augen auf ſie gerichtet , und war von ihren
Blicken ſo eingenommen , daß er kaum fühl¬
te , was mit ihm vorging .
Philine war indeſſen aufgeſtanden , um
der gnädigen Dame die Hand zu küſſen .
Als ſie neben einander ſtanden , glaubte un¬
ſer Freund nie einen ſolchen Abſtand geſehn
zu haben . Philine war ihm noch nie in ei¬
nem ſo ungünſtigen Lichte erſchienen . Sie
ſollte , wie es ihm vorkam , ſich jener edlen
Natur nicht nahen , noch weniger ſie be¬
rühren .
Die Dame fragte Philinen verſchiednes ,
aber leiſe . Endlich kehrte ſie ſich zu dem
alten Herrn , der noch immer trocken dabey
ſtand , und ſagte : lieber Oheim , darf ich auf
Ihre Koſten freygebig ſeyn ? Sie zog ſogleich
den Überrock aus , und ihre Abſicht , ihn dem
Verwundeten und Unbekleideten hinzugeben ,
war nicht zu verkennen .
Wilhelm , den der heilſame Blick ihrer
Augen bisher feſt gehalten hatte , war nun ,
als der Überrock fiel , von ihrer ſchönen Ge¬
ſtalt überraſcht . Sie trat näher herzu , und
legte den Rock ſanft über ihn hin . In die¬
ſem Augenblicke , da er den Mund öffnen
und einige Worte des Dankes ſtammeln
wollte , wirkte der lebhafte Eindruck ihrer
Gegenwart ſo ſonderbar auf ſeine ſchon an¬
gegriffenen Sinne , daß es ihm auf einmal
vorkam , als ſey ihr Haupt mit Strahlen
umgeben , und über ihr ganzes Bild verbreite
ſich nach und nach ein glänzendes Licht . Der
Chirurgus berührte ihn eben unſanfter , in¬
dem er die Kugel , welche in der Wunde
ſtack , herauszuziehen Anſtalt machte . Die
Heilige verſchwand vor den Augen des Hin¬
ſinkenden ; er verlor alles Bewußtſeyn , und
als er wieder zu ſich kam , waren Reiter und
Wagen , die Schöne ſammt ihren Begleitern
verſchwunden .
Siebentes Capitel .
N achdem unſer Freund verbunden und an¬
gekleidet war , eilte der Chirurgus weg , eben
als der Harfenſpieler mit einer Anzahl
Bauern herauf kam . Sie bereiteten eilig
aus abgehauenen Äſten und eingeflochtnem
Reiſig eine Trage , luden den Verwundeten
drauf und brachten ihn unter Anführung
eines reitenden Jägers , den die Herrſchaft
zurück gelaſſen hatte , ſachte den Berg hinun¬
ter . Der Harfner , ſtill und in ſich gekehrt ,
trug ſein beſchädigtes Inſtrument , einige Leu¬
te ſchleppten Philinens Koffer , ſie ſchlenderte
mit einem Bündel nach , Mignon ſprang
bald voraus , bald zur Seite durch Buſch
und Wald , und blickte ſehnlich nach ihrem
kranken Beſchützer hinüber .
Dieſer lag , in ſeinen warmen Üeberrock
gehüllt , ruhig auf der Bahre . Eine elektri¬
ſche Wärme ſchien aus der feinen Wolle in
ſeinen Körper überzugehen ; genug er fühlte
ſich in die behaglichſte Empfindung verſetzt .
Die ſchöne Beſitzerin des Kleides hatte mäch¬
tig auf ihn gewirkt . Er ſah noch den Rock
von ihren Schultern fallen , die edelſte Ge¬
ſtalt , von Strahlen umgeben , vor ſich ſtehen ,
und ſeine Seele eilte der Verſchwundnen
durch Felſen und Wälder auf dem Fuße nach .
Nur mit ſinkender Nacht kam der Zug
im Dorfe vor dem Wirthshauſe an , in wel¬
chem ſich die übrige Geſellſchaft befand , und
verzweiflungsvoll den unerſetzlichen Verluſt
beklagte . Die einzige kleine Stube des Hau¬
ſes war von Menſchen vollgepfropft ; einige
lagen auf der Streue , andere hatten die
Bänke eingenommen ; einige ſich hinter den
Ofen gedruckt , und Frau Melina erwartete ,
in einer benachbarten Kammer , ängſtlich ihre
Niederkunft . Der Schrecken hatte ſie be¬
ſchleunigt , und unter dem Beyſtande der
Wirthin , einer jungen , unerfahrnen Frau ,
konnte man wenig Gutes erwarten .
Als die neuen Ankömmlinge herein ge¬
laſſen zu werden verlangten , entſtand ein
allgemeines Murren . Man behauptete nun ,
daß man allein auf Wilhelms Rath unter
ſeiner beſondern Anführung dieſen gefährli¬
chen Weg unternommen , und ſich dieſem Un¬
fall ausgeſetzt habe . Man warf die Schuld
des übeln Ausgangs auf ihn , widerſetzte ſich
an der Thüre ſeinem Eintritt , und behaupte¬
te : er müſſe anderswo unterzukommen ſuchen .
Philinen begegnete man noch ſchnöder , der
Harfenſpieler und Mignon mußten auch das
ihrige leiden .
Nicht lange hörte der Jäger , dem die
Vorſorge für die Verlaßnen von ſeiner ſchö¬
nen Herrſchaft ernſtlich anbefohlen war , dem
Streite mit Geduld zu ; er fuhr mit Fluchen
und Drohen auf die Geſellſchaft los , gebot
ihnen zuſammen zu rücken , und den Ankom¬
menden Platz zu machen . Man fing an ſich
zu bequemen . Er bereitete Wilhelmen einen
Platz auf einem Tiſche , den er in eine Ecke
ſchob ; Philine ließ ihren Koffer darneben
ſtellen , und ſetzte ſich drauf . Jeder druckte
ſich ſo gut er konnte , und der Jäger begab
ſich weg , um zu ſehen , ob er nicht ein be¬
quemeres Quartier für das Ehepaar aus¬
machen könne .
Kaum war er fort , als der Unwille wie¬
der laut zu werden anfing , und ein Vorwurf
den andern drängte . Jedermann erzählte
und erhöhte ſeinen Verluſt , man ſchalt die
Verwegenheit , durch die man ſo vieles ein¬
gebüßt , man verhehlte ſogar die Schaden¬
freude nicht , die man über die Wunden un¬
ſers Freundes empfand , man verhöhnte Phi¬
linen , und wollte ihr die Art und Weiſe , wie
ſie ihren Koffer gerettet , zum Verbrechen
machen . Aus allerley Anzüglichkeiten und
Stichelreden hätte man ſchließen ſollen , ſie
habe ſich während der Plünderung und Nie¬
derlage um die Gunſt des Anführers der
Bande bemüht , und habe ihn , wer weiß
durch welche Künſte und Gefälligkeiten , ver¬
mocht , ihren Koffer frey zu geben . Man
wollte ſie eine ganze Weile vermißt haben .
Sie antwortete nichts und klapperte nur mit
den großen Schlöſſern ihres Koffers , um ihre
Neider recht von ſeiner Gegenwart zu über¬
zeugen , und die Verzweiflung des Haufens
durch ihr eignes Glück zu vermehren .
Achtes Capitel .
W ilhelm , ob er gleich durch den ſtarken Ver¬
luſt des Blutes ſchwach und nach der Er¬
ſcheinung jenes hülfreichen Engels mild und
ſanft geworden war , konnte ſich doch zuletzt
des Verdruſſes über die harten und unge¬
rechten Reden nicht enthalten , welche bey ſei¬
nem Stillſchweigen von der unzufriednen
Geſellſchaft immer erneuert wurden . Endlich
fühlte er ſich geſtärkt genug , um ſich aufzu¬
richten , und ihnen die Unart vorzuſtellen ,
mit der ſie ihren Freund und Führer beun¬
ruhigten . Er hob ſein verbundnes Haupt in
die Höhe , und fing , indem er ſich mit eini¬
ger Mühe ſtützte und gegen die Wand lehn¬
te , folgendergeſtalt zu reden an :
Ich vergebe dem Schmerze , den jeder
über ſeinen Verluſt empfindet , daß ihr mich
in einem Augenblicke beleidigt , wo ihr mich
beklagen ſolltet , daß ihr mir widerſteht und
mich von euch ſtoßt , das erſtemal da ich
Hülfe von euch erwarten könnte . Für die
Dienſte , die ich euch erzeigte , für die Gefäl¬
ligkeiten , die ich euch erwies , habe ich mich
durch euren Dank , durch euer freundſchaftli¬
ches Betragen bisher genugſam belohnt ge¬
funden ; verleitet mich nicht , zwingt mein
Gemüth nicht zurückzugehn und zu überden¬
ken , was ich für euch gethan habe ; dieſe
Berechnuug Berechnung würde mir nur peinlich werden .
Der Zufall hat mich zu euch geführt , Um¬
ſtände und eine heimliche Neigung haben
mich bey euch gehalten . Ich nahm an euren
Arbeiten , an euren Vergnügungen Theil ;
meine wenigen Kenntniſſe waren zu eurem
Dienſte . Gebt ihr mir jetzt auf eine bittre
Weiſe den Unfall Schuld , der uns betroffen
hat ; ſo erinnert ihr euch nicht , daß der erſte
Vorſchlag dieſen Weg zu nehmen , von frem¬
den Leuten kam , von euch allen geprüft wor¬
den , und ſo gut von jedem als von mir ge¬
billigt worden iſt .
Wäre unſre Reiſe glücklich vollbracht , ſo
würde ſich jeder wegen des guten Einfalls
loben , daß er dieſen Weg angerathen , daß
er ihn vorgezogen , er würde ſich unſrer Über¬
legungen und ſeines ausgeübten Stimmrechts
mit Freuden erinnern ; jetzo macht ihr mich
allein verantwortlich , ihr zwingt mir eine
Schuld auf , die ich willig übernehmen woll¬
te , wenn mich das reinſte Bewußtſeyn nicht
frey ſpräche , ja wenn ich mich nicht auf euch
ſelbſt berufen könnte . Habt ihr gegen mich
etwas zu ſagen , ſo bringt es ordentlich vor ,
und ich werde mich zu vertheidigen wiſſen ;
habt ihr nichts Gegründetes anzugeben , ſo
ſchweigt,
ſchweigt , und quält mich nicht , jetzt da ich
der Ruhe ſo äuſſerſt bedürftig bin .
Statt aller Antwort fingen die Mädchen
abermals zu weinen und ihren Verluſt um¬
ſtändlich zu erzählen an . Melina war ganz
auſſer Faſſung : denn er hatte freylich am
meiſten und mehr als wir denken können
eingebüßt . Wie ein Raſender ſtolperte er in
dem engen Raume hin und her , ſtieß den
Kopf wider die Wand , fluchte und ſchalt auf
das unziemlichſte ; und da nun gar zu glei¬
cher Zeit die aus der Kammer trat ,
mit der Nachricht , daß ſeine Frau mit einem
todten Kinde niedergekommen , erlaubte er ſich
die heftigſten Ausbrüche , und einſtimmig mit
ihm heulte , ſchrie , brummte und lermte alles
durcheinander .
Wilhelm , der zugleich von mitleidiger
Theilnehmung an ihrem Zuſtande und von
Verdruß über ihre niedrige Geſinnung bis in
W. Meiſters Lehrj. 2. Q
ſein Innerſtes bewegt war , fühlte ohnerach¬
tet der Schwäche ſeines Körpers die ganze
Kraft ſeiner Seele lebendig . Faſt , rief er
aus , muß ich euch verachten , ſo beklagens¬
werth ihr auch ſeyn mögt . Kein Unglück be¬
rechtigt uns , einen Unſchuldigen mit Vorwür¬
fen zu beladen ; habe ich Theil an dieſem
falſchen Schritte , ſo büße ich auch mein
Theil . Ich liege verwundet hier , und wenn
die Geſellſchaft verloren hat , ſo verliere ich
das meiſte . Was an Garderobe geraubt
worden , was an Dekorationen zu Grunde
gegangen , war mein ; denn Sie , Herr Meli¬
na , haben mich noch nicht bezahlt , und ich
ſpreche Sie von dieſer Forderung hiermit
völlig frey .
Sie haben gut ſchenken , rief Melina , was
niemand wiederſehen wird . Ihr Geld lag in
meiner Frauen Koffer , und es iſt Ihre Schuld ,
daß es Ihnen verloren geht . Aber o ! wenn
das alles wäre ! — Er fing aufs neue zu
ſtampfen , zu ſchimpfen und zu ſchreyen an .
Jedermann erinnerte ſich der ſchönen Kleider
aus der Garderobe des Grafen , der Schnal¬
len , Uhren , Doſen , Hüte , welche Melina von
dem Kammerdiener ſo glücklich gehandelt
hatte . Jedem fielen ſeine eigenen , obgleich
viel geringeren Schätze dabey wieder ins
Gedächtniß ; man blickte mit Verdruß auf
Philinens Koffer , man gab Wilhelmen zu
verſtehen , er habe wahrlich nicht übel gethan ,
ſich mit dieſer Schönen zu aſſociiren , und
durch ihr Glück auch ſeine Habſeligkeiten zu
retten .
Glaubt ihr denn , rief er endlich aus , daß
ich etwas Eignes haben werde , ſo lange ihr
darbt , und iſt es wohl das erſtemal , daß ich
in der Noth mit euch redlich theile ? Man
öffne den Koffer , und was mein iſt , will ich
zum öffentlichen Bedürfniß niederlegen .
Q 2
Es iſt mein Koffer , ſagte Philine , und
ich werde ihn nicht eher aufmachen , bis es
mir beliebt . Ihre Paar Fittige , die ich Ihnen
aufgehoben , können wenig betragen , und
wenn ſie an die redlichſten Juden verkauft
werden . Denken Sie an ſich , was Ihre Hei¬
lung koſten , was Ihnen in einem fremden
Lande begegnen kann .
Sie werden mir , Philine , verſetzte Wil¬
helm , nichts vorenthalten , was mein iſt , und
das wenige wird uns aus der erſten Verle¬
genheit retten . Allein der Menſch beſitzt
noch manches , womit er ſeinen Freunden bey¬
ſtehen kann , das eben nicht klingende Münze
zu ſeyn braucht . Alles was in mir iſt , ſoll
dieſen Unglücklichen gewidmet ſeyn , die ge¬
wis , wenn ſie wieder zu ſich ſelbſt kommen ,
ihr gegenwärtiges Betragen bereuen werden .
Ja , fuhr er fort , ich fühle daß ihr bedürft ,
und was ich vermag , will ich euch leiſten ,
ſchenkt mir euer Vertrauen aufs neue , beru¬
higt euch für dieſen Augenblick , nehmet an ,
was ich euch verſpreche ! Wer will die Zu¬
ſage im Namen aller von mir empfangen ?
Hier reckte er ſeine Hand aus , und rief :
ich verſpreche , daß ich nicht eher von euch
weichen , euch nicht eher verlaſſen will , als
bis ein jeder ſeinen Verluſt doppelt und drey¬
fach erſetzt ſieht , bis ihr den Zuſtand , in
dem ihr euch , durch weſſen Schuld es wolle ,
befindet , völlig vergeſſen , und mit einem
glücklichern vertauſcht habt .
Er hielt ſeine Hand noch immer ausge¬
ſtreckt , und niemand wollte ſie faſſen . Ich
verſprech’ es noch einmal , rief er aus , indem
er auf ſein Kiſſen zurück ſank . Alle blieben
ſtille ; ſie waren beſchämt , aber nicht getröſtet ,
und Philine , auf ihrem Koffer ſitzend , knackte
Nüſſe auf , die ſie in ihrer Taſche gefunden
hatte .
Neuntes Capitel .
D er Jäger kam mit einigen Leuten zurück ,
und machte Anſtalt , den Verwundeten weg¬
zuſchaffen . Er hatte den Pfarrer des Orts
beredet , das Ehepaar aufzunehmen ; Phili¬
nens Koffer ward fortgetragen , und ſie folgte
mit natürlichem Anſtand . Mignon lief vor¬
aus , und da der Kranke im Pfarrhaus an¬
kam , ward ihm ein weites Ehebette , das
ſchon lange Zeit als Gaſt– und Ehren-Bette
bereit ſtand , eingegeben . Hier bemerkte man
erſt , daß die Wunde aufgegangen war und
ſtark geblutet hatte . Man mußte für einen
neuen Verband ſorgen . Der Kranke verfiel
in ein Fieber , Philine wartete ihn treulich ,
und als die Müdigkeit ſie übermeiſterte , lös¬
te ſie der Harfenſpieler ab ; Mignon war ,
mit dem feſten Vorſatz , zu wachen , in einer
Ecke eingeſchlafen .
Des Morgens , als Wilhelm ſich ein we¬
nig erholt hatte , erfuhr er von dem Jäger ,
daß die Herrſchaft , die ihnen geſtern zu Hülfe
gekommen ſey , vor kurzem ihre Güter ver¬
laſſen habe , um den Kriegsbewegungen aus¬
zuweichen , und ſich bis zum Frieden in einer
ruhigern Gegend aufzuhalten . Er nannte
den ältlichen Herrn und ſeine Nichte , zeigte
den Ort an , wohin ſie ſich zuerſt begeben ,
erklärte Wilhelmen , wie das Fräulein ihm
eingebunden , für die Verlaßnen Sorge zu
tragen .
Der hereintretende Wundarzt unterbrach
die lebhaften Dankſagungen , in welche ſich
Wilhelm gegen den Jäger ergoß , machte
eine umſtändliche Beſchreibung der Wunden ,
verſicherte , daß ſie leicht heilen würden , wenn
der Patient ſich ruhig hielte und ſich ab¬
wartete .
Nachdem der Jäger weggeritten war , er¬
zählte Philine , daß er ihr einen Beutel mit
zwanzig Louisd’ oren zurück gelaſſen , daß er
dem Geiſtlichen ein Douceur für die Woh¬
nung gegeben , und die Curkoſten für den
Chirurgus bey ihm niedergelegt habe . Sie
gelte durchaus für Wilhelms Frau , introdu¬
zire ſich ein für allemal bey ihm in dieſer
Qualität , und werde nicht zugeben , daß er
ſich nach einer andern Wartung umſehe .
Philine , ſagte Wilhelm , ich bin Ihnen
bey dem Unfall , der uns begegnet iſt , ſchon
manchen Dank ſchuldig worden , und ich
wünſchte nicht , meine Verbindlichkeiten gegen
Sie vermehrt zu ſehen . Ich bin unruhig , ſo
lange Sie um mich ſind , denn ich weiß
nichts , womit ich Ihnen die Mühe vergelten
kann . Geben Sie mir meine Sachen , die
Sie in Ihrem Koffer gerettet haben , heraus ,
ſchließen Sie ſich an die übrige Geſellſchaft
an , ſuchen Sie ein ander Quartier , nehmen
Sie meinen Dank und die goldne Uhr als
eine kleine Erkenntlichkeit , nur verlaſſen Sie
mich ; Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr
als Sie glauben .
Sie lachte ihm ins Geſicht , als er geen¬
digt hatte . Du biſt ein Thor , ſagte ſie , du
wirſt nicht klug werden . Ich weiß beſſer
was dir gut iſt ; ich werde bleiben ; ich wer¬
de mich nicht von der Stelle rühren . Auf
den Dank der Männer habe ich niemals ge¬
rechnet , alſo auch auf deinen nicht ; und
wenn ich dich lieb habe , was geht ’s dich an ?
Sie blieb , und hatte ſich bald bey dem
Pfarrer und ſeiner Familie eingeſchmeichelt ,
indem ſie immer luſtig war , jedem etwas zu
ſchenken , jedem nach dem Sinne zu reden
wußte , und dabey immer that , was ſie woll¬
te . Wilhelm befand ſich nicht übel ; der
Chirurgus , ein unwiſſender , aber nicht unge¬
ſchickter Menſch , ließ die Natur walten , und
ſo war der Patient bald auf dem Wege der
Beſſerung . Sehnlich wünſchte dieſer ſich
wieder hergeſtellt zu ſehen , um ſeine Plane ,
ſeine Wünſche eifrig verfolgen zu können .
Unaufhörlich rief er ſich jene Begebenheit
zurück , welche einen unauslöſchlichen Ein¬
druck auf ſein Gemüth gemacht hatte . Er
ſah die ſchöne Amazone reitend aus den Bü¬
ſchen hervorkommen , ſie näherte ſich ihm ,
ſtieg ab , ging hin und wieder , und bemühte
ſich um ſeinetwillen . Er ſah das umhüllende
Kleid von ihren Schultern fallen ; ihr Ge¬
ſicht , ihre Geſtalt glänzend verſchwinden .
Alle ſeine Jugendträume knüpften ſich an
dieſes Bild . Er glaubte nunmehr die edle
heldenmüthige Chlorinde mit eignen Augen
geſehen zu haben ; ihm fiel der kranke Kö¬
nigsſohn wieder ein , an deſſen Lager die
ſchöne theilnehmende Prinzeſſin mit ſtiller
Beſcheidenheit herantritt .
Sollten nicht , ſagte er manchmal im Stil¬
len zu ſich ſelbſt , uns in der Jugend wie im
Schlafe , die Bilder zukünftiger Schickſale
umſchweben , und unſerm unbefangenen Auge
ahndungsvoll ſichtbar werden ? ſollten die
Keime deſſen , was uns begegnen wird , nicht
ſchon von der Hand des Schickſals ausge¬
ſtreut , ſollte nicht ein Vorgenuß der Früchte ,
die wir einſt zu brechen hoffen , möglich
ſeyn ?
Sein Krankenlager gab ihm Zeit jene
Scene tauſendmal zu wiederholen . Tauſend¬
mal rief er den Klang jener ſüßen Stimme
zurück , und wie beneidete er Philinen , die
jene hülfreiche Hand geküßt hatte . Oft kam
ihm die Geſchichte wie ein Traum vor , und
er würde ſie für ein Mährchen gehalten ha¬
ben , wenn nicht das Kleid zurück geblieben
wäre , das ihm die Gewisheit der Erſcheinung
verſicherte .
Mit der größten Sorgfalt für dieſes Ge¬
wand war das lebhafteſte Verlangen verbun¬
den , ſich damit zu bekleiden . Sobald er auf¬
ſtand , warf er es über , und ſorgte den gan¬
zen Tag , es möchte durch einen Flecken , oder
auf ſonſt eine Weiſe beſchädigt werden .
Zehntes Capitel .
L aertes beſuchte ſeinen Freund . Er war bey
jener lebhaften Scene im Wirthshauſe nicht
gegenwärtig geweſen , denn er lag in einer
obern Kammer . Über ſeinen Verluſt war er
ſehr getröſtet , und half ſich mit ſeinem ge¬
wöhnlichen : was thuts ? Er erzählte ver¬
ſchiedne lächerliche Züge von der Geſellſchaft ,
beſonders gab er Frau Melina Schuld : ſie
beweine den Verluſt ihrer Tochter nur des¬
wegen , weil ſie nicht das altdeutſche Vergnü¬
gen haben könne , eine Mechtilde taufen zu
laſſen . Was ihren Mann betreffe , ſo offen¬
bare ſichs nun , daß er viel Geld bey ſich
gehabt , und auch ſchon damals des Vor¬
ſchuſſes , den er Wilhelmen abgelockt , keines¬
weges bedurft habe . Melina wolle nunmehr
mit dem nächſten Poſtwagen abgehn , und
werde von Wilhelmen ein Empfehlungsſchrei¬
ben an ſeinen Freund den Director Serlo
verlangen , bey deſſen Geſellſchaft er , weil
die eigne Unternehmung geſcheitert , nun un¬
terzukommen hoffe .
Mignon war einige Tage ſehr ſtill gewe¬
ſen , und als man in ſie drang , geſtand ſie
endlich , daß ihr rechter Arm verrenkt ſey .
Das haſt du deiner Verwegenheit zu dan¬
ken , ſagte Philine , und erzählte : wie das
Kind im Gefechte ſeinen Hirſchfänger gezo¬
gen , und als es ſeinen Freund in Gefahr
geſehen , wacker auf die Freybeuter zugehauen
habe . Endlich ſey es beym Arme ergriffen
und auf die Seite geſchleudert worden . Man
ſchalt auf ſie , daß ſie das Übel nicht eher
entdeckt habe , doch merkte man wohl , daß
ſie ſich vor dem Chirurgus geſcheut , der ſie
bisher immer für einen Knaben gehalten
hatte . Man ſuchte das Übel zu heben , und
ſie mußte den Arm in der Binde tragen .
Hierüber war ſie aufs neue empfindlich , weil
ſie den beſten Theil der Pflege und War¬
tung ihres Freundes Philinen überlaſſen
mußte , und die angenehme Sünderin zeigte
ſich nur um deſto thätiger und aufmerkſamer .
Eines Morgens als Wilhelm erwachte ,
fand er ſich mit ihr in einer ſonderbaren
Nähe . Er war auf ſeinem weiten Lager in
der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere
Seite gerutſcht . Philine lag queer über den
vordern Theil hingeſtreckt ; ſie ſchien auf dem
Bette ſitzend und leſend eingeſchlafen zu ſeyn .
Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen ,
ſie war zurück und mit dem Kopf nah’ an
ſeine Bruſt geſunken , über die ſich ihre blon¬
den aufgelößten Haare in Wellen ausbreite¬
ten . Die Unordnung des Schlafs erhöhte
mehr als Kunſt und Vorſatz ihre Reize ; eine
kindiſche lächelnde Ruhe ſchwebte über ihrem
Geſichte . Er ſah ſie eine Zeitlang an , und
ſchien ſich ſelbſt über das Vergnügen zu ta¬
deln , womit er ſie anſah , und wir wiſſen
nicht , ob er ſeinen Zuſtand ſegnete oder ta¬
delte , der ihm Ruhe und Mäßigung zur
Pflicht machte . Er hatte ſie eine Zeitlang
aufmerkſam betrachtet , als ſie ſich zu regen
anfing . Er ſchloß die Augen ſachte zu , doch
konnte er nicht unterlaſſen zu blinzen und
nach ihr zu ſehen , als ſie ſich wieder zurecht
putzte und wegging , nach dem Frühſtück zu
fragen .
Nach und nach hatten ſich nun die ſämmt¬
lichen Schauſpieler bey Wilhelmen gemeldet ,
hatten Empfehlungsſchreiben und Reiſegeld
mehr oder weniger unartig und ungeſtüm
gefordert und immer mit Widerwillen Phili¬
nens erhalten . Vergebens ſtellte ſie ihrem
Freunde vor , daß der Jäger auch dieſen Leu¬
ten
ten eine anſehnliche Summe zurückgelaſſen ,
daß man ihn nur zum Beſten habe . Viel¬
mehr kamen ſie darüber in einen lebhaften
Zwiſt , und Wilhelm behauptete nunmehr ein
für allemal , daß ſie ſich gleichfalls an die
übrige Geſellſchaft anſchließen und ihr Glück
bey Serlo verſuchen ſollte .
Nur einige Augenblicke verließ ſie ihr
Gleichmuth , dann erholte ſie ſich ſchnell wie¬
der , und rief : wenn ich nur meinen Blonden
wieder hätte , ſo wollt’ ich mich um euch alle
nichts kümmern . Sie meinte Friedrichen ,
der ſich vom Wahlplatze verloren und nicht
wieder gezeigt hatte .
Des andern Morgens brachte Mignon
die Nachricht ans Bette : daß Philine in der
Nacht abgereiſt ſey ; im Nebenzimmer habe
ſie alles , was ihm gehöre , ſehr ordentlich zu¬
ſammen gelegt . Er empfand ihre Abweſen¬
heit ; er hatte an ihr eine treue Wärterin ,
W. Meiſters Lehrj. 2. R
eine muntere Geſellſchafterin verloren ; er
war nicht mehr gewohnt allein zu ſeyn . Al¬
lein Mignon füllte die Lücke bald wieder aus .
Seitdem jene leichtfertige Schöne in ihren
freundlichen Bemühungen den Verwundeten
umgab , hatte ſich die Kleine nach und nach
zurück gezogen , und war ſtille für ſich geblie¬
ben ; nun aber da ſie wieder freyes Feld ge¬
wann , trat ſie mit Aufmerkſamkeit und Liebe
hervor , war eifrig ihm zu dienen , und mun¬
ter ihn zu unterhalten .
Eilftes Capitel .
M it lebhaften Schritten nahete er ſich der
Beſſerung . Er hoffte nun in wenig Tagen
ſeine Reiſe antreten zu können . Er wollte
nicht etwa planlos ein ſchlenderndes Leben
fortſetzen , ſondern zweckmäßige Schritte ſoll¬
ten künftig ſeine Bahn bezeichnen . Zuerſt
wollte er die hülfreiche Herrſchaft aufſuchen ,
um ſeine Dankbarkeit an den Tag zu legen ,
alsdann zu ſeinem Freunde dem Director
eilen , um für die verunglückte Geſellſchaft
auf das beſte zu ſorgen , und zugleich die
Handelsfreunde , an die er mit Addreſſen ver¬
ſehen war , beſuchen , und die ihm aufgetrag¬
nen Geſchäfte verrichten . Er machte ſich
Hoffnung , daß ihm das Glück wie vorher
auch künftig beyſtehen , und ihm Gelegenheit
R 2
verſchaffen werde , durch eine glückliche Spe¬
kulation den Verluſt zu erſetzen , und die
Lücke ſeiner Caſſe wieder auszufüllen .
Das Verlangen , ſeine Retterin wieder zu
ſehen , wuchs mit jedem Tage . Um ſeine
Reiſeroute zu beſtimmen , ging er mit dem
Geiſtlichen zu Rathe , der ſchöne geographi¬
ſche und ſtatiſtiſche Kenntniſſe hatte , und
eine artige Bücher– und Karten–Sammlung
beſaß . Man ſuchte nach dem Orte , den die
edle Familie während des Kriegs zu ihrem
Sitz erwählt hatte , man ſuchte Nachrichten
von ihr ſelbſt auf ; allein der Ort war in
keiner Geographie , auf keiner Karte zu fin¬
den , und die genealogiſchen Handbücher ſag¬
ten nichts von einer ſolchen Familie .
Wilhelm wurde unruhig , und als er ſei¬
ne Bekümmerniß laut werden ließ , entdeckte
ihm der Harfenſpieler : er habe Urſache zu
glauben , daß der Jäger , es ſey aus welcher
Urſache es wolle , den wahren Nahmen ver¬
ſchwiegen habe .
Wilhelm , der nun einmal ſich in der
Nähe der Schönen glaubte , hoffte einige
Nachricht von ihr zu erhalten , wenn er den
Harfenſpieler abſchickte ; aber auch dieſe Hoff¬
nung ward getäuſcht . So ſehr der Alte ſich
auch erkundigte , konnte er doch auf keine
Spur kommen . In jenen Tagen waren ver¬
ſchiedene lebhafte Bewegungen und unvor¬
geſehene Durchmärſche in dieſen Gegenden
vorgefallen , niemand hatte auf die reiſende
Geſellſchaft beſonders Acht gegeben , ſo daß
der ausgeſendete Bote , um nicht für einen
jüdiſchen Spion angeſehn zu werden , wieder
zurück gehen und ohne Oelblatt vor ſeinem
Herrn und Freund erſcheinen mußte . Er
legte ſtrenge Rechenſchaft ab , wie er den
Auftrag auszurichten geſucht , und war be¬
müht , allen Verdacht einer Nachläſſigkeit von
ſich zu entfernen . Er ſuchte auf alle Weiſe
Wilhelms Betrübniß zu lindern , beſann ſich
auf alles , was er von dem Jäger erfahren
hatte , und brachte mancherley Muthmaßun¬
gen vor , wobey denn endlich ein Umſtand
vorkam , woraus Wilhelm einige räthſelhafte
Worte der ſchönen Verſchwundnen deuten
konnte .
Die räuberiſche Bande nämlich hatte
nicht der wandernden Truppe , ſondern jener
Herrſchaft aufgepaßt , bey der ſie mit Recht
vieles Geld und Koſtbarkeiten vermuthete ,
und von deren Zug ſie genaue Nachricht
mußte gehabt haben . Man wußte nicht , ob
man die That einem Freycorps , ob man ſie
Marodeurs oder Räubern zuſchreiben ſollte .
Genug , zum Glücke der vornehmen und rei¬
chen Caravane waren die Geringen und Ar¬
men zuerſt auf den Platz gekommen , und
hatten das Schickſal erduldet , das jenen zu¬
bereitet war . Darauf bezogen ſich die Wor¬
te der jungen Dame , deren ſich Wilhelm
noch gar wohl erinnerte . Wenn er nun ver¬
gnügt und glücklich ſeyn konnte , daß ein
vorſichtiger Genius ihn zum Opfer beſtimmt
hatte , eine vollkommene Sterbliche zu retten ,
ſo war er dagegen nahe an der Verzweif¬
lung , da ihm , ſie wieder zu finden , ſie wie¬
der zu ſehen , wenigſtens für den Augenblick ,
alle Hoffnung verſchwunden war .
Was dieſe ſonderbare Bewegung in ihm
vermehrte , war die Ähnlichkeit , die er zwi¬
ſchen der Gräfin und der ſchönen Unbekann¬
ten entdeckt zu haben glaubte . Sie glichen
ſich , wie ſich Schweſtern gleichen mögen , de¬
ren keine die jüngere noch die ältere genannt
werden darf , denn ſie ſcheinen Zwillinge zu
ſeyn .
Die Erinnerung an die liebenswürdige
Gräfin war ihm unendlich ſüß . Er rief ſich
ihr Bild nur allzugern wieder ins Gedächt¬
niß . Aber nun trat die Geſtalt der edlen
Amazone gleich dazwiſchen , eine Erſcheinung
verwandelte ſich in die andere , ohne daß er
im Stande geweſen wäre , dieſe oder jene feſt
zu halten .
Wie wunderbar mußte ihm daher die
Ähnlichkeit ihrer Handſchriften ſeyn ! denn er
verwahrte ein reizendes Lied von der Hand
der Gräfin in ſeiner Schreibtafel , und in
dem Überrocke hatte er ein Zettelchen gefun¬
den , worin man ſich mit viel zärtlicher Sorg¬
falt nach dem Befinden eines Oheims erkun¬
digte .
Wilhelm war überzeugt , daß ſeine Rette¬
rin dieſes Billet geſchrieben ; daß es auf der
Reiſe in einem Wirthshauſe aus einem Zim¬
mer in das andere geſchickt und von dem
Oheim in die Taſche geſteckt worden ſey . Er
hielt beide Handſchriften gegen einander , und
wenn die zierlich geſtellten Buchſtaben der
Gräfin ihm ſonſt ſo ſehr gefallen hatten ; ſo
fand er in den ähnlichen aber freyeren Zü¬
gen der Unbekannten eine unausſprechlich
fließende Harmonie . Das Billet enthielt
nichts , und ſchon die Züge ſchienen ihn , ſo
wie ehemals die Gegenwart der Schönen , zu
erheben .
Er verfiel in eine träumende Sehnſucht ,
und wie einſtimmend mit ſeinen Empfindun¬
gen war das Lied , das eben in dieſer Stun¬
de Mignon und der Harfner als ein unre¬
gelmäßiges Duett mit dem herzlichſten Aus¬
drucke ſangen :
Nur wer die Sehnſucht kennt ,
Weiß was ich leide !
Allein und abgetrennt
Von aller Freude ,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite .
Ach ! der mich liebt und kennt
Iſt in der Weite .
Es ſchwindelt mir , es brennt
Mein Eingeweide .
Nur wer die Sehnſucht kennt ,
Weiß was ich leide !
Zwölftes Capitel .
D ie ſanften Lockungen des lieben Schutzgei¬
ſtes , anſtatt unſern Freund auf irgend einen
Weg zu führen , nährten und vermehrten die
Unruhe , die er vorher empfunden hatte . Eine
heimliche Gluth ſchlich in ſeinen Adern , be¬
ſtimmte und unbeſtimmte Gegenſtände wech¬
ſelten in ſeiner Seele , und erregten ein end¬
loſes Verlangen . Bald wünſchte er ſich ein
Roß , bald Flügel , und indem es ihm un¬
möglich ſchien , bleiben zu können , ſah er ſich
erſt um , wohin er denn eigentlich begehre .
Der Faden ſeines Schickſals hatte ſich ſo
ſonderbar verworren ; er wünſchte die ſeltſa¬
men Knoten aufgelöſt oder zerſchnitten zu ſe¬
hen . Oft wenn er ein Pferd traben oder
einen Wagen rollen hörte , ſchaute er eilig
zum Fenſter hinaus , in der Hoffnung , es
würde jemand ſeyn , der ihn aufſuchte , und
wäre es auch nur durch Zufall , ihm Nach¬
richt , Gewisheit und Freude brächte . Er
erzählte ſich Geſchichten vor , wie ſein Freund
Werner in dieſe Gegend kommen und ihn
überraſchen könnte , daß Mariane vielleicht
erſcheinen dürfte . Der Ton eines jeden Poſt¬
horns ſetzte ihn in Bewegung . Melina ſoll¬
te von ſeinem Schickſale Nachricht geben ,
vorzüglich aber ſollte der Jäger wiederkom¬
men und ihn zu jener angebeteten Schönheit
einladen .
Von allem dieſem geſchah leider nichts ,
und er mußte zuletzt wieder mit ſich allein
bleiben , und indem er das Vergangne wieder
durchnahm , ward ihm ein Umſtand , je mehr
er ihn betrachtete und beleuchtete , immer wi¬
driger und unerträglicher . Es war ſeine ver¬
unglückte Heerführerſchaft , an die er ohne
Verdruß nicht denken konnte . Denn ob er
gleich am Abend jenes böſen Tages ſich vor
der Geſellſchaft ſo ziemlich herausgeredet hat¬
te ; ſo konnte er ſich doch ſelbſt ſeine Schuld
nicht verleugnen . Er ſchrieb ſich vielmehr in
hypochondriſchen Augenblicken den ganzen
Vorfall allein zu .
Die Eigenliebe läßt uns ſowohl unſre
Tugenden als unſre Fehler viel bedeutender ,
als ſie ſind , erſcheinen . Er hatte das Ver¬
trauen auf ſich rege gemacht , den Willen der
übrigen gelenkt , und war von Unerfahrenheit
und Kühnheit geleitet , vorangegangen ; es
ergriff ſie eine Gefahr , der ſie nicht gewach¬
ſen waren . Laute und ſtille Vorwürfe ver¬
folgten ihn , und wenn er der irregeführten
Geſellſchaft nach dem empfindlichen Verluſte
zugeſagt hatte , ſie nicht zu verlaſſen , bis er
ihnen das Verlorne mit Wucher erſetzt hät¬
te ; ſo hatte er ſich über eine neue Verwe¬
genheit zu ſchelten , womit er ein allgemeines
ausgetheiltes Übel auf ſeine Schultern zu
nehmen ſich vermaß . Bald verwies er ſich ,
daß er durch Aufſpannung und Drang des
Augenblicks ein ſolches Verſprechen gethan
hatte ; bald fühlte er wieder , daß jenes gut¬
müthige Hinreichen ſeiner Hand , die niemand
anzunehmen würdigte , nur eine leichte Förm¬
lichkeit ſey gegen das Gelübde , das ſein
Herz gethan hatte . Er ſann auf Mittel ,
ihnen wohlthätig und nützlich zu ſeyn , und
fand alle Urſache , ſeine Reiſe zu Serlo zu
beſchleunigen . Er packte nunmehr ſeine Sa¬
chen zuſammen , und eilte , ohne ſeine völlige
Geneſung abzuwarten , ohne auf den Rath
des Paſtors und Wundarztes zu hören , in
der wunderbaren Geſellſchaft Mignons und
des Alten , der Unthätigkeit zu entfliehen , in
der ihn ſein Schickſal abermals nur zu lange
gehalten hatte .
Dreyzehntes Capitel .
S erlo empfing ihn mit offnen Armen , und
rief ihm entgegen : Seh ich Sie ? Erkenn’ ich
Sie wieder ? Sie haben ſich wenig oder nicht
geändert , iſt Ihre Liebe zur edelſten Kunſt
noch immer ſo ſtark und lebendig ? So ſehr
erfreu ich mich über Ihre Ankunft , daß ich
ſelbſt das Mißtrauen nicht mehr fühle , das
Ihre letzten Briefe bey mir erregt haben .
Wilhelm bat betroffen um eine nähere
Erklärung .
Sie haben ſich , verſetzte Serlo , gegen
mich nicht wie ein alter Freund betragen ;
Sie haben mich wie einen großen Herrn be¬
handelt , dem man mit gutem Gewiſſen un¬
brauchbare Leute empfehlen darf . Unſer
Schickſal hängt von der Meinung des Pu¬
blikums ab , und ich fürchte , daß Ihr Herr
Melina mit den ſeinigen ſchwerlich bey uns
wohl aufgenommen werden dürfte .
Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunſten
ſprechen , aber Serlo fing an , eine ſo un¬
barmherzige Schilderung von ihnen zu ma¬
chen , daß unſer Freund ſehr zufrieden war ,
als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat ,
das Geſpräch unterbrach , und ihm ſogleich
als Schweſter Aurelia von ſeinem Freunde
vorgeſtellt ward . Sie empfing ihn auf das
freundſchaftlichſte , und ihre Unterhaltung war
ſo angenehm , daß er nicht einmal einen ent¬
ſchiedenen Zug des Kummers gewahr wurde ,
der ihrem geiſtreichen Geſicht noch ein beſon¬
deres Intereſſe gab .
Zum erſtenmal ſeit langer Zeit fand ſich
Wilhelm wieder in ſeinem Elemente . Bey
ſeinen Geſprächen hatte er ſonſt nur noth¬
dürftig gefällige Zuhörer gefunden , da er
ge¬
gegenwärtig mit Künſtlern und Kennern zu
ſprechen das Glück hatte , die ihn nicht allein
vollkommen verſtanden , ſondern die auch ſein
Geſpräch belehrend erwiederten . Mit wel¬
cher Geſchwindigkeit ging man die neuſten
Stücke durch ! mit welcher Sicherheit beur¬
theilte man ſie ! wie wußte man das Urtheil
des Publikums zu prüfen und zu ſchätzen !
in welcher Geſchwindigkeit klärte man einan¬
der auf !
Nun mußte ſich , bey Wilhelms Vorliebe
für Shakeſpearen , das Geſpräch nothwendig
auf dieſen Schriftſteller lenken . Er zeigte
die lebhafteſte Hoffnung auf die Epoche , wel¬
che dieſe vortrefflichen Stücke in Deutſchland
machen müßten , und bald brachte er ſeinen
Hamlet vor , der ihn ſo ſehr beſchäftigt hatte .
Serlo verſicherte , daß er das Stück längſt ,
wenn es nur möglich geweſen wäre , gegeben
hätte , daß er gern die Rolle des Polonius
W. Meiſters Lehrj. 2. S
übernehmen wolle . Dann ſetzte er mit Lä¬
cheln hinzu : und Ophelien finden ſich wohl
auch , wenn wir nur erſt den Prinzen haben .
Wilhelm bemerkte nicht , daß Aurelien
dieſer Scherz des Bruders zu mißfallen ſchien ;
er ward vielmehr nach ſeiner Art weitläuftig
und lehrreich , in welchem Sinne er den
Hamlet geſpielt haben wolle . Er legte ihnen
die Reſultate umſtändlich dar , mit welchen
wir ihn oben beſchäftigt geſehen , und gab
ſich alle Mühe , ſeine Meinung annehmlich
zu machen , ſo viel Zweifel auch Serlo gegen
ſeine Hypotheſe erregte . Nun gut , ſagte die¬
ſer zuletzt , wir geben Ihnen alles zu , was
wollen Sie weiter daraus erklären ?
Vieles , alles , verſetzte Wilhelm . Denken
Sie ſich einen Prinzen , wie ich ihn geſchil¬
dert habe , deſſen Vater unvermuthet ſtirbt .
Ehrgeitz und Herrſchſucht ſind nicht die Lei¬
denſchaften , die ihn beleben ; er hatte ſich’s
gefallen laſſen , Sohn eines Königs zu ſeyn ;
aber nun iſt er erſt genöthigt auf den Ab¬
ſtand aufmerkſamer zu werden , der den Kö¬
nig vom Unterthan ſcheidet . Das Recht zur
Krone war nicht erblich , und doch hätte ein
längeres Leben ſeines Vaters die Anſprüche
ſeines einzigen Sohnes mehr befeſtigt , und
die Hoffnung zur Krone geſichert . Dagegen
ſieht er ſich nun durch ſeinen Oheim , ohnge¬
achtet ſcheinbarer Verſprechungen , vielleicht
auf immer ausgeſchloſſen , er fühlt ſich nun
ſo arm an Gnade , an Gütern , und fremd in
dem , was er von Jugend auf als ſein Ei¬
genthum betrachten konnte . Hier nimmt ſein
Gemüth die erſte traurige Richtung . Er fühlt ,
daß er nicht mehr , ja nicht ſo viel iſt als
jeder Edelmann , er giebt ſich für einen Die¬
ner eines jeden , er iſt nicht höflich , nicht her¬
ablaſſend , nein , herabgeſunken und bedürftig .
Nach ſeinem vorigen Zuſtande blickt er
S 2
nur wie nach einem verſchwundnen Traume .
Vergebens , daß ſein Oheim ihn aufmuntern ,
ihm ſeine Lage aus einem andern Geſichts¬
punkte zeigen will , die Empfindung ſeines
Nichts verläßt ihn nie .
Der zweyte Schlag , der ihn traf , verletzte
tiefer , beugte noch mehr . Es iſt die Heirath
ſeiner Mutter . Ihm , einem treuen und zärt¬
lichen Sohne , blieb , da ſein Vater ſtarb ,
eine Mutter noch übrig ; er hoffte in Geſell¬
ſchaft ſeiner hinterlaßnen edlen Mutter die
Heldengeſtalt jenes großen Abgeſchiednen zu
verehren ; aber auch ſeine Mutter verliert er ,
und es iſt ſchlimmer als wenn ſie ihm der
Tod geraubt hätte . Das zuverläßige Bild ,
das ſich ein wohlgerathnes Kind ſo gern von
ſeinen Eltern macht , verſchwindet ; bey dem
Todten iſt keine Hülfe , und an der Lebendi¬
gen kein Halt . Sie iſt auch ein Weib , und
unter dem allgemeinen Geſchlechtsnahmen ,
Gebrechlichkeit , iſt auch ſie begriffen .
Nun erſt fühlt er ſich recht gebeugt , nun
erſt verwaiſt , und kein Glück der Welt kann
ihm wieder erſetzen , was er verloren hat .
Nicht traurig , nicht nachdenklich von Natur ,
wird ihm Trauer und Nachdenken zur ſchwe¬
ren Bürde . So ſehen wir ihn auftreten .
Ich glaube nicht , daß ich etwas in das Stück
hineinlege , oder einen Zug übertreibe .
Serlo ſah ſeine Schweſter an , und ſagte :
habe ich dir ein falſches Bild von unſerm
Freunde gemacht ? Er fängt gut an , und
wird uns noch manches vorerzählen und viel
überreden . Wilhelm ſchwur hoch und theuer ,
daß er nicht überreden , ſondern überzeugen
wolle , und bat nur noch um einen Augen¬
blick Geduld .
Denken Sie ſich , rief er aus , dieſen Jüng¬
ling , dieſen Fürſtenſohn recht lebhaft , verge¬
genwärtigen Sie ſich ſeine Lage , und dann
beobachten Sie ihn , wenn er erfährt , die
Geſtalt ſeines Vaters erſcheine ; ſtehen Sie
ihm bey in der ſchrecklichen Nacht , wenn der
ehrwürdige Geiſt ſelbſt vor ihm auftritt .
Ein ungeheures Entſetzen ergreift ihn ; er
redet die Wundergeſtalt an ; ſieht ſie win¬
ken , folgt und hört — Die ſchrecklichſte An¬
klage wider ſeinen Oheim ertönt in ſeinen
Ohren ; Aufforderung zur Rache und die
dringende wiederholte Bitte : erinnere Dich
meiner !
Und da der Geiſt verſchwunden iſt , wen
ſehen wir vor uns ſtehen ? Einen jungen
Helden , der nach Rache ſchnaubt ? Einen ge¬
bohrnen Fürſten , der ſich glücklich fühlt , ge¬
gen den Uſurpator ſeiner Krone aufgefordert
zu werden ? Nein ! Staunen und Trübſinn
überfällt den Einſamen ; er wird bitter gegen
die lächelnden Böſewichter ; ſchwört den Ab¬
geſchiednen nicht zu vergeſſen , und ſchließt
mit dem bedeutenden Seufzer : die Zeit iſt
aus dem Gelenke ; wehe mir , daß ich geboh¬
ren war , ſie wieder einzurichten .
In dieſen Worten , dünkt mich , liegt der
Schlüſſel zu Hamlets ganzen Betragen , und
mir iſt deutlich , daß Shakeſpear habe ſchil¬
dern wollen : eine große That auf eine Seele
gelegt , die der That nicht gewachſen iſt . Und
in dieſem Sinne find’ ich das Stück durch¬
gängig gearbeitet . Hier wird ein Eichbaum
in ein köſtliches Gefäß gepflanzt , das nur
liebliche Blumen in ſeinen Schooß hätte auf¬
nehmen ſollen ; die Wurzeln dehnen ſich aus ,
das Gefäß wird zernichtet .
Ein ſchönes , reines , edles , höchſt morali¬
ſches Weſen , ohne die ſinnliche Stärke , die
den Helden macht , geht unter einer Laſt zu
Grunde , die es weder tragen noch abwerfen
kann ; jede Pflicht iſt ihm heilig , dieſe zu
ſchwer . Das Unmögliche wird von ihm ge¬
fordert , nicht das Unmögliche an ſich , ſondern
das was ihm unmöglich iſt . Wie er ſich
windet , dreht , ängſtigt , vor und zurück tritt ;
immer erinnert wird , ſich immer erinnert , und
zuletzt faſt ſeinen Zweck aus dem Sinne ver¬
liert , ohne doch jemals wieder froh zu
werden .
Vierzehntes Capitel .
V erſchiedene Perſonen traten herein , die das
Geſpräch unterbrachen . Es waren Virtuo¬
ſen , die ſich bey Serlo gewöhnlich einmal
die Woche zu einem kleinen Concerte ver¬
ſammelten . Er liebte die Muſik ſehr , und
behauptete , daß ein Schauſpieler ohne dieſe
Liebe niemals zu einem deutlichen Begriff
und Gefühl ſeiner eigenen Kunſt gelangen
könne . So wie man viel leichter und an¬
ſtändiger agire , wenn die Gebährden durch
eine Melodie begleitet und geleitet werden ,
ſo müſſe der Schauſpieler ſich auch ſeine pro¬
ſaiſche Rolle gleichſam im Sinne componi¬
ren , daß er ſie nicht nur eintönig nach ſeiner
individuellen Art und Weiſe hinſudele , ſon¬
dern ſie in gehöriger Abwechſelung nach Takt
und Maaß behandle .
Aurelie ſchien an allem , was vorging , we¬
nig Antheil zu nehmen , vielmehr führte ſie
zuletzt unſern Freund in ein Seitenzimmer ,
und indem ſie ans Fenſter trat und den ge¬
ſtirnten Himmel anſchaute , ſagte ſie zu ihm :
Sie ſind uns manches über Hamlet ſchuldig
geblieben ; ich will zwar nicht voreilig ſeyn ,
und wünſche , daß mein Bruder auch mit an¬
hören möge , was Sie uns noch zu ſagen
haben , doch laſſen Sie mich Ihre Gedanken
über Ophelien hören .
Von ihr läßt ſich nicht viel ſagen , ver¬
ſetzte Wilhelm , denn nur mit wenig Meiſter¬
zügen iſt ihr Charakter vollendet . Ihr gan¬
zes Weſen ſchwebt in reifer ſüßer Sinnlich¬
keit . Ihre Neigung zu dem Prinzen , auf
deſſen Hand ſie Anſpruch machen darf , fließt
ſo aus der Quelle , das gute Herz überläßt
ſich ſo ganz ſeinem Verlangen , daß Vater
und Bruder beide fürchten , beide geradezu
und unbeſcheiden warnen . Der Wohlſtand ,
wie der leichte Flor auf ihrem Buſen , kann
die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen ,
er wird vielmehr ein Verräther dieſer leiſen
Bewegung . Ihre Einbildungskraft iſt ange¬
ſteckt , ihre ſtille Beſcheidenheit athmet eine
liebevolle Begierde , und ſollte die bequeme
Göttin Gelegenheit das Bäumchen ſchütteln ,
ſo würde die Frucht ſogleich herabfallen .
Und nun , ſagte Aurelie , wenn ſie ſich
verlaſſen ſieht , verſtoßen und verſchmäht ,
wenn in der Seele ihres wahnſinnigen Ge¬
liebten ſich das Höchſte zum Tiefſten um¬
wendet , und er ihr ſtatt des ſüßen Bechers
der Liebe den bittern Kelch der Leiden hin¬
reicht —
Ihr Herz bricht , rief Wilhelm aus , das
ganze Gerüſte ihres Daſeyns rückt aus ſei¬
nen Fugen , der Tod ihres Vaters ſtürmt
herein , und das ſchöne Gebäude ſtürzt völlig
zuſammen .
Wilhelm hatte nicht bemerkt , mit wel¬
chem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aus¬
ſprach . Nur auf das Kunſtwerk , deſſen Zu¬
ſammenhang und Vollkommenheit gerichtet ,
ahndete er nicht , daß ſeine Freundin eine
ganz andere Wirkung empfand ; nicht , daß
ein eigner tiefer Schmerz durch dieſe drama¬
tiſchen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt
ward .
Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von
ihren Armen unterſtützt , und ihre Augen , die
ſich mit Thränen füllten , gen Himmel ge¬
wendet . Endlich hielt ſie nicht länger ihren
verborgnen Schmerz zurück ; ſie faßte des
Freundes beide Hände , und rief , indem er
erſtaunt vor ihr ſtand : verzeihen Sie , ver¬
zeihen Sie einem geängſtigten Herzen ! die
Geſellſchaft ſchnürt und preßt mich zuſam¬
men , vor meinem unbarmherzigen Bruder
muß ich mich zu verbergen ſuchen ; nun hat
Ihre Gegenwart alle Bande aufgelöſt . Mein
Freund ! fuhr ſie fort , ſeit einem Augenblicke
ſind wir erſt bekannt , und ſchon werden Sie
mein Vertrauter . Sie konnte die Worte
kaum ausſprechen , und ſank an ſeine Schul¬
ter . Denken Sie nicht übler von mir , ſagte
ſie ſchluchzend , daß ich mich Ihnen ſo ſchnell
eröffne , daß Sie mich ſo ſchwach ſehen .
Seyn Sie , bleiben Sie mein Freund , ich
verdiene es . Er redete ihr auf das herzlich¬
ſte zu , umſonſt ! ihre Thränen floſſen und er¬
ſtickten ihre Worte .
In dieſem Augenblicke trat Serlo ſehr
unwillkommen herein , und ſehr unerwartet
Philine , die er bey der Hand hielt . Hier iſt
Ihr Freund , ſagte er zu ihr , er wird ſich
freun , Sie zu begrüßen .
Wie ! rief Wilhelm erſtaunt , muß ich Sie
hier ſehen ? Mit einem beſcheidnen , geſetzten
Weſen ging ſie auf ihn los , hieß ihn will¬
kommen , rühmte Serlo’s Güte , der ſie ohne
ihr Verdienſt , bloß in Hoffnung , daß ſie
ſich bilden werde , unter ſeine treffliche Trup¬
pe aufgenommen habe . Sie that dabey ge¬
gen Wilhelmen freundlich , doch aus einer
ehrerbietigen Entfernung .
Dieſe Verſtellung währte aber nicht län¬
ger , als die Beiden zugegen waren . Denn
als Aurelie ihren Schmerz zu verbergen weg¬
ging , und Serlo abgerufen ward , ſah Phili¬
ne erſt recht genau nach den Thüren , ob bei¬
de auch gewiß fort ſeyen , dann hüpfte ſie
wie thörigt in der Stube herum , ſetzte ſich
an die Erde , und wollte vor Kichern und
Lachen erſticken . Dann ſprang ſie auf ,
ſchmeichelte unſerm Freunde , und freute ſich
über alle maßen , daß ſie ſo klug geweſen ſey ,
vorauszugehen , das Terrain zu recognoſciren
und ſich einzuniſten .
Hier geht es bunt zu , ſagte ſie , gerade
ſo wie mir ’s recht iſt . Aurelie hat einen un¬
glücklichen Liebeshandel mit einem Edelman¬
ne gehabt , der ein prächtiger Menſch ſeyn
muß , und den ich ſelbſt wohl einmal ſehen
möchte . Er hat ihr ein Andenken hinterlaſ¬
ſen , oder ich müßte mich ſehr irren . Es
läuft da ein Knabe herum , ohngefähr von
drey Jahren , ſchön wie die Sonne ; der
Papa mag allerliebſt ſeyn , ich kann ſonſt die
Kinder nicht leiden , aber dieſer Junge freut
mich . Ich habe ihr nachgerechnet . Der Tod
ihres Mannes , die neue Bekanntſchaft , das
Alter des Kindes , alles trift zuſammen .
Nun iſt der Freund ſeiner Wege gegan¬
gen ; ſeit einem Jahre ſieht er ſie nicht mehr .
Sie iſt darüber auſſer ſich und untröſtlich .
Die Närrin ! — Der Bruder hat unter der
Truppe eine Tänzerin , mit der er ſchön thut ,
ein Aktrischen , mit der er vertraut iſt , in der
Stadt noch einige Frauen , denen er aufwar¬
tet , und nun ſteh ich auch auf der Liſte .
Der Narr ! — Vom übrigen Volke ſollſt du
morgen hören . Und nun noch ein Wörtchen
von Philinen , die Du kennſt , die Erznärrin
iſt in Dich verliebt . Sie ſchwur , daß es
wahr ſey , und betheuerte , daß es ein rechter
Spaß ſey . Sie bat Wilhelmen inſtändig ,
er möchte ſich in Aurelien verlieben , dann
werde die Hetze erſt recht angehen . Sie
läuft ihrem Ungetreuen , Du ihr , ich Dir und
der Bruder mir nach . Wenn das nicht eine
Luſt auf ein halbes Jahr giebt , ſo will ich
an der erſten Epiſode ſterben , die ſich zu die¬
ſem vierfach verſchlungenen Romane hinzu¬
wirft . Sie bat ihn , er möchte ihr den Han¬
del nicht verderben , und ihr ſo viel Achtung
bezeigen , als ſie durch ihr öffentliches Betra¬
gen verdienen wolle .
Funf¬
Funfzehntes Capitel .
D en nächſten Morgen gedachte Wilhelm
Madam Melina zu beſuchen ; er fand ſie
nicht zu Hauſe , fragte nach den übrigen
Gliedern der wandernden Geſellſchaft , und
erfuhr : Philine habe ſie zum Frühſtück ein¬
geladen . Aus Neugier eilte er hin , und traf
ſie alle ſehr aufgeräumt und getröſtet . Das
kluge Geſchöpf hatte ſie verſammelt , ſie mit
Chocolade bewirthet , und ihnen zu verſtehen
gegeben , noch ſey nicht alle Ausſicht ver¬
ſperrt ; ſie hoffe durch ihren Einfluß den Di¬
rector zu überzeugen , wie vortheilhaft es
ihm ſey , ſo geſchickte Leute in ſeine Geſell¬
ſchaft aufzunehmen . Sie hörten ihr auf¬
merkſam zu , ſchlurften eine Taſſe nach der
andern hinunter , fanden das Mädchen gar
W. Meiſters Lehrj. 2. T
nicht übel , und nahmen ſich vor , das Beſte
von ihr zu reden .
Glauben Sie denn , ſagte Wilhelm , der
mit Philinen allein geblieben war , daß Serlo
ſich noch entſchließen werde , unſre Gefährten
zu behalten ? Mit nichten , verſetzte Philine ,
es iſt mir auch gar nichts daran gelegen ,
ich wollte , ſie wären je eher je lieber fort !
den einzigen Laertes wünſcht’ ich zu behal¬
ten ; die übrigen wollen wir ſchon nach und
nach bey Seite bringen .
Hierauf gab ſie ihrem Freunde zu verſte¬
hen , daß ſie gewiß überzeugt ſey , er werde
nunmehr ſein Talent nicht länger vergraben ,
ſondern unter Direction eines Serlo auf’s
Theater gehen . Sie konnte die Ordnung ,
den Geſchmack , den Geiſt , der hier herrſche ,
nicht genug rühmen ; ſie ſprach ſo ſchmei¬
chelnd zu unſerm Freunde , ſo ſchmeichel¬
haft von ſeinen Talenten , daß ſein Herz
und ſeine Einbildungskraft ſich eben ſo ſehr
dieſem Vorſchlage näherten , als ſein Ver¬
ſtand und ſeine Vernunft ſich davon entfern¬
ten . Er verbarg ſeine Neigung vor ſich
ſelbſt und vor Philinen , und brachte einen
unruhigen Tag zu , an dem er ſich nicht ent¬
ſchließen konnte , zu ſeinen Handelscorreſpon¬
denten zu gehen , und die Briefe , die dort
für ihn liegen möchten , abzuholen . Denn
ob er ſich gleich die Unruhe der Seinigen
dieſe Zeit über vorſtellen konnte , ſo ſcheute
er ſich doch , ihre Sorgen und Vorwürfe um¬
ſtändlich zu erfahren , um ſo mehr , da er ſich
einen großen und reinen Genuß dieſen Abend
von der Aufführung eines neuen Stücks ver¬
ſprach .
Serlo hatte ſich geweigert , ihn bey der
Probe zuzulaſſen . Sie müſſen uns , ſagte er ,
erſt von der beſten Seite kennen lernen , eh
wir zugeben , daß Sie uns in die Karte ſehen .
T 2
Mit der größten Zufriedenheit wohnte
aber auch unſer Freund den Abend darauf
der Vorſtellung bey . Es war das erſtemal ,
daß er ein Theater in ſolcher Vollkommenheit
ſah . Man traute ſämmtlichen Schauſpielern
fürtrefliche Gaben , glückliche Anlagen und
einen hohen und klaren Begriff von ihrer
Kunſt zu , und doch waren ſie einander nicht
gleich ; aber ſie hielten und trugen ſich wech¬
ſelsweiſe , feuerten einander an , und waren
in ihrem ganzen Spiele ſehr beſtimmt und
genau . Man fühlte bald , daß Serlo die
Seele des Ganzen war , und er zeichnete ſich
ſehr zu ſeinem Vortheil aus . Eine heitere
Laune , eine gemäßigte Lebhaftigkeit , ein be¬
ſtimmtes Gefühl des Schicklichen bey einer
großen Gabe der Nachahmung , mußte man
an ihm , wie er aufs Theater trat , wie er
den Mund öffnete , bewundern . Die innere
Behaglichkeit ſeines Daſeyns ſchien ſich über
alle Zuhörer auszubreiten , und die geiſtreiche
Art , mit der er die feinſten Schattirungen
der Rollen mit der größten Leichtigkeit aus¬
druckte , erweckte um ſoviel mehr Freude , als
er die Kunſt zu verbergen wußte , die er ſich
durch eine anhaltende Übung eigen gemacht
hatte .
Seine Schweſter Aurelie blieb nicht hin¬
ter ihm , und erhielt noch größeren Beyfall ,
indem ſie die Gemüther der Menſchen rühr¬
te , die er zu erheitern und zu erfreuen ſo
ſehr im Stande war .
Nach einigen Tagen , die auf eine ange¬
nehme Weiſe zugebracht wurden , verlangte
Aurelie nach unſerm Freund . Er eilte zu
ihr , und fand ſie auf dem Kanapee liegen ;
ſie ſchien am Kopfweh zu leiden , und ihr
ganzes Weſen konnte eine fieberhafte Bewe¬
gung nicht verbergen . Ihr Auge erheiterte
ſich , als ſie den Hereintretenden anſah . Ver¬
geben Sie ! rief ſie ihm entgegen , das Zu¬
trauen , das Sie mir einflößten , hat mich
ſchwach gemacht . Bisher konnt’ ich mich mit
meinen Schmerzen im Stillen unterhalten ,
ja ſie gaben mir Stärke und Troſt , nun ha¬
ben Sie , ich weiß nicht wie es zugegangen
iſt , die Bande der Verſchwiegenheit gelöſt ,
und Sie werden nun ſelbſt wider Willen
Theil an dem Kampfe nehmen , den ich gegen
mich ſelbſt ſtreite .
Wilhelm antwortete ihr freundlich und
verbindlich . Er verſicherte , daß ihr Bild und
ihre Schmerzen ihm beſtändig vor der Seele
geſchwebt , daß er ſie um ihr Vertrauen bit¬
te , daß er ſich ihr zum Freund widme .
Indem er ſo ſprach , wurden ſeine Augen
von dem Knaben angezogen , der vor ihr auf
der Erde ſaß , und allerley Spielwerk durch¬
einander warf . Er mochte , wie Philine ſchon
angegeben , ohngefähr drey Jahre alt ſeyn ,
und Wilhelm verſtand nun erſt , warum das
leichtfertige , in ihren Ausdrücken ſelten erha¬
bene Mädchen den Knaben der Sonne ver¬
glichen . Denn um die offnen braunen Au¬
gen und das volle Geſicht kräuſelten ſich die
ſchönſten goldnen Locken , an einer blendend
weißen Stirne zeigten ſich zarte dunkle ſanft¬
gebogene Augenbraunen , und die lebhafte
Farbe der Geſundheit glänzte auf ſeinen
Wangen . Setzen Sie ſich zu mir , ſagte Au¬
relie , Sie ſehen das glückliche Kind mit Ver¬
wundrung an ; gewiß , ich habe es mit Freu¬
den auf meine Arme genommen , ich bewahre
es mit Sorgfalt ; nur kann ich auch recht
an ihm den Grad meiner Schmerzen erken¬
nen , weil ich den Werth einer ſolchen Gabe
nur ſelten empfinde .
Erlauben Sie mir , fuhr ſie fort , daß ich
nun auch von mir und meinem Schickſale
rede ; denn es iſt mir ſehr daran gelegen , daß
Sie mich nicht verkennen . Ich glaubte eini¬
ge gelaſſene Augenblicke zu haben , darum
ließ ich Sie rufen ; Sie ſind nun da , und
ich habe meinen Faden verloren .
Ein verlaßnes Geſchöpf mehr in der
Welt ! werden Sie ſagen . Sie ſind ein
Mann , und denken : wie gebährdet ſie ſich
bey einem nothwendigen Übel , das gewiſſer
als der Tod über einem Weibe ſchwebt , bey
der Untreue eines Mannes , die Thörin ! —
O mein Freund , wäre mein Schickſal gemein ,
ich wollte gern gemeines Übel ertragen , aber
es iſt ſo außerordentlich , warum kann ichs
Ihnen nicht im Spiegel zeigen , warum nicht
jemand auftragen , es Ihnen zu erzählen ? O
wäre ich verführt , überraſcht und dann ver¬
laſſen , dann würde in der Verzweiflung noch
Troſt ſeyn ; aber ich bin weit ſchlimmer dar¬
an , ich habe mich ſelbſt hintergangen , mich
ſelbſt wider Wiſſen betrogen , das iſts , was
ich mir niemals verzeihen kann .
Bey edlen Geſinnungen , wie die Ihrigen
ſind , verſetzte der Freund , können Sie nicht
ganz unglücklich ſeyn .
Und wiſſen Sie , wem ich meine Geſin¬
nungen ſchuldig bin ? fragte Aurelie ; der al¬
lerſchlechteſten Erziehung , durch die jemals
ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen ,
dem ſchlimmſten Beyſpiele , um Sinne und
Neigung zu verführen .
Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬
ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬
wicklung bey einer Tante zu , die ſich zum
Geſetz machte , die Geſetze der Ehrbarkeit zu
verachten . Blindlings überließ ſie ſich einer
jeden Neigung , ſie mochte über den Gegen¬
ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn , wenn
ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬
ſen konnte .
Was mußten wir Kinder mit dem reinen
und deutlichen Blick der Unſchuld uns für
Begriffe von dem männlichen Geſchlechte
machen ? Wie dumpf , dringend , dreiſt , unge¬
ſchickt war jeder , den ſie herbeyreizte , wie
ſatt , übermüthig , leer und abgeſchmackt da¬
gegen , ſobald er ſeiner Wünſche Befriedigung
gefunden hatte . So hab’ ich dieſe Frau
Jahre lang unter dem Gebote der ſchlechte¬
ſten Menſchen erniedrigt geſehen ; was für
Begegnungen mußte ſie nicht erdulden , und
mit welcher Stirne wußte ſie ſich in ihr
Schickſal zu finden , ja mit welcher Art dieſe
ſchändlichen Feſſeln zu tragen .
So lernte ich Ihr Geſchlecht kennen ,
mein Freund , und wie rein haßte ichs , da
ich zu bemerken ſchien , daß ſelbſt leidliche
Männer , im Verhältniß gegen das unſrige ,
jedem guten Gefühl zu entſagen ſchienen , zu
dem ſie die Natur ſonſt noch mochte fähig
gemacht haben .
Leider mußt’ ich auch bey ſolchen Gele¬
genheiten viel traurige Erfahrungen über
mein eigen Geſchlecht machen , und wahrhaf¬
tig , als Mädchen von ſechzehn Jahren war
ich klüger als ich jetzt bin , jetzt , da ich mich
ſelbſt kaum verſtehe . Warum ſind wir ſo
klug , wenn wir jung ſind , ſo klug , um im¬
mer thörichter zu werden ?
Der Knabe machte Lerm , Aurelie war
ungeduldig und klingelte . Ein altes Weib
kam herein , ihn wegzuholen . Haſt du noch
immer Zahnweh ? ſagte Aurelie zu der Alten ,
die das Geſicht verbunden hatte . Faſt un¬
leidliches , verſetzte dieſe mit dumpfer Stim¬
me , hob den Knaben auf , der gerne mitzu¬
gehen ſchien , und brachte ihn weg .
Kaum war das Kind bey Seite , als Au¬
relie bitterlich zu weinen anfing . Ich kann
nichts als jammern und klagen , rief ſie aus ,
und ich ſchäme mich , wie ein armer Wurm
vor ihnen zu liegen . Meine Beſonnenheit
iſt ſchon weg , und ich kann nicht mehr er¬
zählen . Sie ſtockte und ſchwieg . Ihr Freund ,
der nichts Allgemeines ſagen wollte , und
nichts Beſonderes zu ſagen wußte , druckte
hre Hand , und ſah ſie eine Zeitlang an .
Endlich nahm er in der Verlegenheit ein
Buch auf , das er vor ſich auf dem Tiſchchen
liegen fand ; es waren Shakeſpears Werke
und Hamlet aufgeſchlagen .
Serlo , der eben zur Thür herein kam ,
nach dem Befinden ſeiner Schweſter fragte ,
ſchaute in das Buch , das unſer Freund in
der Hand hielt , und rief aus : find’ ich Sie
wieder über Ihrem Hamlet ? Eben recht ! Es
ſind mir gar manche Zweifel aufgeſtoßen , die
das canoniſche Anſehn , das Sie dem Stücke
ſo gerne geben möchten , ſehr zu vermindern
ſcheinen . Haben doch die Engländer ſelbſt
bekannt , daß das Hauptintereſſe ſich mit dem
dritten Akt ſchließe , daß die zwey letzten
Akte nur kümmerlich das Ganze zuſammen
hielten , und es iſt doch wahr , das Stück
will gegen das Ende weder gehen noch
rücken .
Es iſt ſehr möglich , ſagte Wilhelm , daß
einige Glieder einer Nation , die ſo viel Mei¬
ſterſtücke aufzuweiſen hat , durch Vorurtheile
und Beſchränktheit auf falſche Urtheile gelei¬
tet werden , aber das kann uns nicht hin¬
dern , mit eignen Augen zu ſehen , und ge¬
recht zu ſeyn . Ich bin weit entfernt , den
Plan dieſes Stücks zu tadeln , ich glaube
vielmehr , daß kein größerer erſonnen worden
ſey . Ja , er iſt nicht erſonnen , es iſt ſo .
Wie wollen Sie das auslegen ? fragte
Serlo .
Ich will nichts auslegen , verſetzte Wil¬
helm , ich will Ihnen nur vorſtellen , was ich
mir denke .
Aurelie hob ſich von ihrem Kiſſen auf ,
ſtützte ſich auf ihre Hand , und ſah unſern
Freund an , der mit der größten Verſiche¬
rung , daß er Recht habe , alſo zu reden fort¬
fuhr : es gefällt uns ſo wohl , es ſchmeichelt
ſo ſehr , wenn wir einen Helden ſehen , der
durch ſich ſelbſt handelt , der liebt und haßt ,
wenn es ihm ſein Herz gebietet , der unter¬
nimmt und ausführt , alle Hinderniſſe abwen¬
det und zu einem großen Zwecke gelangt .
Geſchichtsſchreiber und Dichter möchten uns
gerne überreden , daß ein ſo ſtolzes Loos dem
Menſchen fallen könne . Hier werden wir
anders belehrt ; der Held hat keinen Plan ,
aber das Stück iſt planvoll . Hier wird nicht
etwa durch eine ſtarr und eigenſinnig durch¬
geführte Idee von Rache ein Böſewicht be¬
ſtraft , nein es geſchieht eine ungeheure That ,
ſie wälzt ſich in ihren Folgen fort , reißt Un¬
ſchuldige mit ; der Verbrecher ſcheint dem
Abgrunde , der ihm beſtimmt iſt , ausweichen
zu wollen , und ſtürzt hinein , eben da , wo er
ſeinen Weg glücklich auszulaufen gedenkt .
Denn das iſt die Eigenſchaft der Greuel¬
that , daß ſie auch Böſes über den Unſchul¬
digen , wie der guten Handlung , daß ſie viele
Vortheile auch über den Unverdienten aus¬
breitet , ohne daß der Urheber von beiden oft
weder beſtraft noch belohnt wird . Hier in
unſerm Stücke wie wunderbar ! Das Fege¬
feuer ſendet ſeinen Geiſt und fordert Rache ,
aber vergebens . Alle Umſtände kommen zu¬
ſammen , und treiben die Rache , vergebens !
Weder Irrdiſchen noch Unterirrdiſchen kann
gelingen , was dem Schickſal allein vorbehal¬
ten iſt . Die Gerichtsſtunde kommt . Der
Böſe fällt mit dem Guten . Ein Geſchlecht
wird weggemäht , und das andere ſproßt auf .
Nach einer Pauſe , in der ſie einander an¬
ſahen , nahm Serlo das Wort : Sie machen
der Vorſehung kein ſonderlich Compliment ,
indem Sie den Dichter erheben , und dann
ſcheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres
Dichters , wie andere zu Ehren der Vorſehung ,
ihm Endzweck und Plane unterzuſchieben , an
die er nicht gedacht hat .
Sechs¬
Sechszehntes Capitel .
L aſſen Sie mich , ſagte Aurelie , nun auch eine
Frage thun . Ich habe Opheliens Rolle wie¬
der angeſehen , ich bin zufrieden damit , und
getraue mir ſie unter gewiſſen Umſtänden zu
ſpielen . Aber ſagen Sie mir , hätte der Dich¬
ter ſeiner Wahnſinnigen nicht andere Lied¬
chen unterlegen ſollen ? Könnte man nicht
Fragmente aus melancholiſchen Balladen
wählen ? was ſollen Zweydeutigkeiten und
lüſterne Albernheiten in dem Munde dieſes
edlen Mädchens ?
Beſte Freundin , verſetzte Wilhelm , ich
kann auch hier nicht ein Jota nachgeben .
Auch in dieſen Sonderbarkeiten , auch in die¬
ſer anſcheinenden Unſchicklichkeit liegt ein
großer Sinn . Wiſſen wir doch gleich zu
W. Meiſters Lehrj. 2. U
Anfange des Stücks , womit das Gemüth
des guten Kindes beſchäftigt iſt . Stille lebte
ſie vor ſich hin , aber kaum verbarg ſie ihre
Sehnſucht , ihre Wünſche . Heimlich klangen
die Töne der Lüſternheit in ihrer Seele , und
wie oft mag ſie verſucht haben , gleich einer
unvorſichtigen Wärterin ihre Sinnlichkeit zur
Ruhe zu ſingen mit Liedchen , die ſie nur
mehr wach halten mußten . Zuletzt , da ihr
jede Gewalt über ſich ſelbſt entriſſen iſt , da
ihr Herz auf der Zunge ſchwebt , wird dieſe
Zunge ihre Verrätherin , und in der Unſchuld
des Wahnſinns ergötzt ſie ſich vor König
und Königin an dem Nachklange ihrer ge¬
liebten , loſen Lieder : vom Mädchen , das ge¬
wonnen ward ; vom Mädchen , das zum Kna¬
ben ſchleicht , und ſo weiter .
Er hatte noch nicht ausgeredet , als auf
einmal eine wunderbare Scene vor ſeinen
Augen entſtand , die er ſich auf keine Weiſe
erklären konnte .
Serlo war einigemal in der Stube auf
und ab gegangen , ohne daß er irgend eine
Abſicht merken ließ . Auf einmal trat er an
Aureliens Putztiſch , griff ſchnell nach etwas
das darauf lag , und eilte mit ſeiner Beute
der Thüre zu . Aurelie bemerkte kaum ſeine
Handlung , als ſie auffuhr , ſich ihm in den
Weg warf , ihn mit unglaublicher Leiden¬
ſchaft angriff , und geſchickt genug war , ein
Ende des geraubten Gegenſtandes zu faſſen .
Sie rangen und balgten ſich ſehr hartnäckig ,
drehten und wanden ſich lebhaft mit einan¬
der herum ; er lachte , ſie ereiferte ſich , und
als Wilhelm hinzu eilte , ſie auseinander zu
bringen und zu beſänftigen , ſah er auf ein¬
mal Aurelien mit einem bloßen Dolch in der
Hand auf die Seite ſpringen , indem Serlo
die Scheide , die ihm zurückgeblieben war ,
verdrießlich auf den Boden warf . Wilhelm
trat erſtaunt zurück , und ſeine ſtumme Ver¬
U 2
wunderung ſchien nach der Urſache zu fragen ,
warum ein ſo ſonderbarer Streit über einen
ſo wunderbaren Hausrath habe unter ihnen
entſtehen können ?
Sie ſollen , ſprach Serlo , Schiedsrichter
zwiſchen uns beiden ſeyn . Was hat ſie mit
dem ſcharfen Stahle zu thun ? Laſſen Sie
ſich ihn zeigen . Dieſer Dolch ziemt keiner
Schauſpielerin ; ſpitz und ſcharf wie Nadel
und Meſſer ! Zu was die Poſſe ? Heftig wie
ſie iſt , thut ſie ſich noch einmal von ohnge¬
fähr ein Leids . Ich habe einen innerlichen
Haß gegen ſolche Sonderbarkeiten , ein ernſt¬
licher Gedanke dieſer Art iſt toll , und ein ſo
gefährliches Spielwerk iſt abgeſchmackt .
Ich habe ihn wieder , rief Aurelie , indem
ſie die blanke Klinge in die Höhe hielt , ich
will meinen treuen Freund nun beſſer ver¬
wahren . Verzeih mir , rief ſie aus , indem
ſie den Stahl küßte , daß ich dich ſo vernach¬
läßigt habe !
Serlo ſchien im Ernſte böſe zu werden . —
Nimm es wie du willſt , Bruder , fuhr ſie
fort , kannſt du denn wiſſen , ob mir nicht
etwa unter dieſer Form ein köſtlicher Talis¬
man beſcheert iſt ; ob ich nicht Hülfe und
Rath zur ſchlimmſten Zeit bey ihm finde ;
muß denn alles ſchädlich ſeyn , was gefähr¬
lich ausſieht ?
Dergleichen Reden , in denen kein Sinn
iſt , können mich toll machen , ſagte Serlo ,
und verließ mit heimlichem Grimme das Zim¬
mer . Aurelie verwahrte den Dolch ſorgfäl¬
tig in der Scheide , und ſteckte ihn zu ſich .
Laſſen Sie uns das Geſpräch fortſetzen , das
der unglückliche Bruder geſtört hat , fiel ſie
ein , als Wilhelm einige Fragen über den
ſonderbaren Streit vorbrachte .
Ich muß Ihre Schilderung Opheliens
wohl gelten laſſen , fuhr ſie fort : ich will die
Abſicht des Dichters nicht verkennen ; nur
kann ich ſie mehr bedauern , als mit ihr em¬
pfinden . Nun aber erlauben Sie mir eine
Betrachtung , zu der Sie mir in der kurzen
Zeit oft Gelegenheit gegeben haben : mit Be¬
wunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen
und richtigen Blick , mit dem Sie Dichtung
und beſonders dramatiſche Dichtung beur¬
theilen ; die tiefſten Abgründe der Erfindung
ſind Ihnen nicht verborgen , und die feinſten
Züge der Ausführung ſind Ihnen bemerkbar .
Ohne die Gegenſtände jemals in der Natur
erblickt zu haben , erkennen Sie die Wahr¬
heit im Bilde ; es ſcheint eine Vorempfin¬
dung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen ,
welche durch die harmoniſche Berührung der
Dichtkunſt erregt und entwickelt wird . Denn
wahrhaftig , fuhr ſie fort , von auſſen kommt
nichts in Sie hinein ; ich habe nicht leicht
jemanden geſehen , der die Menſchen , mit
denen er lebt , ſo wenig kennt , ſo von Grund
aus verkennt , wie Sie . Erlauben Sie mir ,
es zu ſagen : wenn man Sie Ihren Sha¬
keſpear erklären hört , glaubt man , Sie kä¬
men eben aus dem Rathe der Götter , und
hätten zugehört , wie man ſich daſelbſt bere¬
det , Menſchen zu bilden ; wenn Sie dagegen
mit Leuten umgehen , ſeh ich in Ihnen gleich¬
ſam das erſte , groß gebohrne Kind der Schö¬
pfung , das mit ſonderlicher Verwunderung
und erbaulicher Gutmüthigkeit Löwen und
Affen , Schafe und Elephanten anſtaunt , und
ſie treuherzig als ſeines gleichen anſpricht ,
weil ſie eben auch da ſind und ſich bewegen .
Die Ahndung meines ſchülerhaften We¬
ſens , werthe Freundin , verſetzte er , iſt mir
öfters läſtig , und ich werde Ihnen danken ,
wenn Sie mir über die Welt zu mehrerer
Klarheit verhelfen wollen . Ich habe von
Jugend auf die Augen meines Geiſtes mehr
nach Innen als nach Auſſen gerichtet , und
da iſt es ſehr natürlich , daß ich den Men¬
ſchen bis auf einen gewiſſen Grad habe ken¬
nen lernen , ohne die Menſchen im mindeſten
zu verſtehen und zu begreifen .
Gewiß , ſagte Aurelie , ich hatte Sie An¬
fangs in Verdacht , als wollten Sie uns zum
Beſten haben , da Sie von den Leuten , die
Sie meinem Bruder zugeſchickt haben , ſo
manches Gutes ſagten , wenn ich Ihre Briefe
mit den Verdienſten dieſer Menſchen zuſam¬
men hielt .
Die Bemerkung Aureliens , ſo wahr ſie
ſeyn mochte , und ſo gern ihr Freund dieſen
Mangel bey ſich geſtand , führte doch etwas
Drückendes , ja ſogar Beleidigendes mit ſich ,
daß er ſtill ward , und ſich zuſammen nahm ,
theils um keine Empfindlichkeit merken zu
laſſen , theils in ſeinem Buſen nach der Wahr¬
heit dieſes Vorwurfs zu forſchen .
Sie dürfen nicht darüber betreten ſeyn ,
fuhr Aurelie fort , zum Lichte des Verſtandes
können wir immer gelangen ; aber die Fülle
des Herzens kann uns niemand geben . Sind
Sie zum Künſtler beſtimmt ; ſo können Sie
dieſe Dunkelheit und Unſchuld nicht lange
genug bewahren ; ſie iſt die ſchöne Hülle
über der jungen Knoſpe ; Unglücks genug ,
wenn wir zu früh herausgetrieben werden .
Gewiß es iſt gut , wenn wir die nicht immer
kennen , für die wir arbeiten .
O ! ich war auch einmal in dieſem glück¬
lichen Zuſtande , als ich mit dem höchſten
Begrif von mir ſelbſt und meiner Nation
die Bühne betrat . Was waren die Deut¬
ſchen nicht in meiner Einbildung , was konn¬
ten ſie nicht ſeyn ! Zu dieſer Nation ſprach
ich , über die mich ein kleines Gerüſt erhob ,
von welcher mich eine Reihe Lampen trennte ,
deren Glanz und Dampf mich hinderte , die
Gegenſtände vor mir genau zu unterſcheiden .
Wie willkommen war mir der Klang des
Beyfalls , der aus der Menge herauf tönte ;
wie dankbar nahm ich das Geſchenk an , das
mir einſtimmig von ſo vielen Händen darge¬
bracht wurde . Lange wiegte ich mich ſo hin ;
wie ich wirkte , wirkte die Menge wieder auf
mich zurück , ich war mit meinem Publikum
in dem beſten Vernehmen ; ich glaubte eine
vollkommene Harmonie zu fühlen , und jeder¬
zeit die Edelſten und Beſten der Nation vor
mir zu ſehen .
Unglücklicherweiſe war es nicht die Schau¬
ſpielerin allein , deren Naturell und Kunſt
die Theaterfreunde intereſſirte , ſie machten
auch Anſprüche an das junge lebhafte Mäd¬
chen . Sie gaben mir nicht undeutlich zu
verſtehen , daß meine Pflicht ſey , die Empfin¬
dungen , die ich in ihnen rege gemacht , auch
perſönlich mit ihnen zu theilen . Leider war
das nicht meine Sache , ich wünſchte ihre
Gemüther zu erheben ; aber an das , was ſie
ihr Herz nannten , hatte ich nicht den minde¬
ſten Anſpruch , und nun wurden mir alle
Stände , Alter und Charaktere , einer um den
andern zur Laſt , und nichts war mir ver¬
drießlicher , als daß ich mich nicht wie ein
anderes ehrliches Mädchen in mein Zimmer
verſchließen , und ſo mir manche Mühe er¬
ſparen konnte .
Die Männer zeigten ſich meiſt , wie ich
ſie bey meiner Tante zu ſehen gewohnt war ,
und ſie würden mir auch diesmal nur wie¬
der Abſcheu erregt haben , wenn mich nicht
ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhal¬
ten hätten . Da ich nicht vermeiden konnte ,
ſie bald auf dem Theater , bald an öffentli¬
chen Orten , bald zu Hauſe zu ſehen , nahm
ich mir vor , ſie alle auszulauern , und mein
Bruder half mir wacker dazu . Und wenn
Sie denken , daß vom beweglichen Ladendie¬
ner und dem eingebildeten Kaufmannsſohn ,
bis zum gewandten abwiegenden Weltmann ,
dem kühnen Soldaten und dem raſchen Prin¬
zen , alle , nach und nach , bey mir vorbey ge¬
gangen ſind , und jeder nach ſeiner Art ſeinen
Roman anzuknüpfen gedachte ; ſo werden
Sie mir verzeihen , wenn ich mir einbildete ,
mit meiner Nation ziemlich bekannt zu ſeyn .
Den phantaſtiſch aufgeſtutzten Studenten ,
den demüthig-ſtolz verlegnen Gelehrten , den
ſchwankfüßigen genügſamen Domherrn , den
ſteifen aufmerkſamen Geſchäftsmann , den
derben Landbaron , den freundlich glatt-plat¬
ten Hofmann , den jungen aus der Bahn
ſchreitenden Geiſtlichen , den gelaſſenen , ſo
wie den ſchnellen und thätig ſpekulirenden
Kaufmann , alle habe ich in Bewegung geſe¬
hen , und beym Himmel ! wenige fanden ſich
darunter , die mir nur ein gemeines Intereſſe
einzuflößen im Stande geweſen wären , viel¬
mehr war es mir äußerſt verdrießlich , den
Beyfall der Thoren im einzelnen , mit Be¬
ſchwerlichkeit und langer Weile , einzucaſſi¬
ren , der mir im Ganzen ſo wohl behagt hat¬
te , den ich mir im Großen ſo gerne zueig¬
nete .
Wenn ich über mein Spiel ein vernünf¬
tiges Kompliment erwartete , wenn ich hoffte ,
ſie ſollten einen Autor loben , den ich hoch¬
ſchätzte ; ſo machten ſie eine alberne Anmer¬
kung über die andere , und nannten ein ab¬
geſchmacktes Stück , in welchem ſie wünſchten
mich ſpielen zu ſehen . Wenn ich in der Ge¬
ſellſchaft herum horchte , ob nicht etwa ein
edler , geiſtreicher , witziger Zug nachklänge ,
und zur rechten Zeit wieder zum Vorſchein
käme , konnte ich ſelten eine Spur verneh¬
men . Ein Fehler , der vorgekommen war ,
wenn ein Schauſpieler ſich verſprach oder ir¬
gend einen Provinzialiſm hören ließ , das
waren die wichtigen Puncte , an denen ſie
ſich feſt hielten , von denen ſie nicht los kom¬
men konnten . Ich wußte zuletzt nicht , wo¬
hin ich mich wenden ſollte ; ſie dünkten ſich
zu klug , ſich unterhalten zu laſſen , und ſie
glaubten mich wunderſam zu unterhalten ,
wenn ſie an mir herum tätſchelten . Ich fing
an , ſie alle von Herzen zu verachten , und es
war mir eben , als wenn die ganze Nation
ſich recht vorſätzlich bey mir durch ihre Ab¬
geſandte habe proſtituiren wollen . Sie kam
mir im Ganzen ſo links vor , ſo übel erzo¬
gen , ſo ſchlecht unterrichtet , ſo leer von ge¬
fälligem Weſen , ſo geſchmacklos . Oft rief
ich aus : es kann doch kein Deutſcher einen
Schuh zuſchnallen , der es nicht von einer
fremden Nation gelernt hat !
Sie ſehen , wie verblendet , wie hypochon¬
driſch ungerecht ich war , und je länger es
währte , deſto mehr nahm meine Krankheit
zu . Ich hätte mich umbringen können ; al¬
lein ich verfiel auf ein ander Extrem : ich
verheirathete mich , oder vielmehr ich ließ
mich verheirathen . Mein Bruder , der das
Theater übernommen hatte , wünſchte ſehr ei¬
nen Gehülfen zu haben . Seine Wahl fiel
auf einen jungen Mann , der mir nicht zu¬
wider war , dem alles mangelte , was mein
Bruder beſaß , Genie , Leben , Geiſt und ra¬
ſches Weſen ; an dem ſich aber auch alles
fand , was jenem abging : Liebe zur Ordnung ,
Fleiß , eine köſtliche Gabe hauszuhalten , und
mit Gelde umzugehen .
Er iſt mein Mann geworden , ohne daß
ich weiß wie , wir haben zuſammen gelebt ,
ohne daß ich recht weiß warum . Genug ,
unſre Sachen gingen gut . Wir nahmen viel
ein , davon war die Thätigkeit meines Bru¬
ders Urſache ; wir kamen gut aus , und das
war das Verdienſt meines Mannes . Ich
dachte nicht mehr an Welt und Nation .
Mit der Welt hatte ich nichts zu theilen ,
und den Begriff von Nation hatte ich ver¬
loren . Wenn ich auftrat , that ich ’s um zu
leben , ich öffnete den Mund nur , weil ich
nicht ſchweigen durfte , weil ich doch heraus
gekommen war , um zu reden .
Doch , daß ich es nicht zu arg mache ,
eigentlich hatte ich mich ganz in die Abſicht
meines Bruders ergeben ; ihm war um Bey¬
fall und Geld zu thun ; denn , unter uns , er
hört ſich gerne loben und braucht viel . Ich
ſpielte nun nicht mehr nach meinem Gefühl ,
nach meiner Überzeugung , ſondern wie er
mich anwies , und wenn ich es ihm zu Danke
gemacht hatte , war ich zufrieden . Er rich¬
tete ſich nach allen Schwächen des Publi¬
kums ; es ging Geld ein , er konnte nach ſei¬
ner Willkühr leben , und wir hatten gute
Tage mit ihm .
Ich
Ich war indeſſen in einen handwerks¬
mäßigen Schlendrian gefallen . Ich zog mei¬
ne Tage ohne Freude und Antheil hin , mei¬
ne Ehe war kinderlos und dauerte nur kurze
Zeit . Mein Mann ward krank , ſeine Kräfte
nahmen ſichtbar ab , die Sorge für ihn un¬
terbrach meine allgemeine Gleichgültigkeit .
In dieſen Tagen machte ich eine Bekannt¬
ſchaft , mit der ein neues Leben für mich an¬
fing , ein neues und ſchnelleres , denn es wird
bald zu Ende ſeyn .
Sie ſchwieg eine Zeitlang ſtille , dann fuhr
ſie fort : auf einmal ſtockt meine geſchwätzige
Laune , und ich getraue mir den Mund nicht
weiter aufzuthun . Laſſen Sie mich ein we¬
nig ausruhen ; Sie ſollen nicht weggehen ,
ohne ausführlich all mein Unglück zu wiſſen .
Rufen Sie doch indeſſen Mignon herein ,
und hören was ſie will .
Das Kind war während Aureliens Er¬
W. Meiſters Lehrj. 2. X
zählung einigemal im Zimmer geweſen . Da
man bey ſeinem Eintritt leiſer ſprach , war
es wieder weggeſchlichen , ſaß auf dem Saale
ſtill , und wartete . Als man ſie wieder her¬
einkommen hieß , brachte ſie ein Buch mit ,
das man bald an Form und Einband für
einen kleinen geographiſchen Atlas erkannte .
Sie hatte bey dem Pfarrer unterwegs mit
großer Verwundrung die erſten Landkarten
geſehen , ihn viel darüber gefragt , und ſich ,
ſo weit es gehen wollte , unterrichtet . Ihr
Verlangen etwas zu lernen ſchien durch dieſe
neue Kenntnis noch viel lebhafter zu werden .
Sie bat Wilhelmen inſtändig , ihr das Buch
zu kaufen . Sie habe dem Bildermann ihre
großen ſilbernen Schnallen dafür eingeſetzt ,
und wolle ſie , weil es heute Abend ſo ſpät
geworden , morgen früh wieder einlöſen . Es
ward ihr bewilligt , und ſie fing nun an , das¬
jenige , was ſie wußte , theils herzuſagen ,
theils nach ihrer Art die wunderlichſten Fra¬
gen zu thun . Man konnte auch hier wieder
bemerken , daß bey einer großen Anſtrengung
ſie nur ſchwer und mühſam begriff . So war
auch ihre Handſchrift , mit der ſie ſich viele
Mühe gab . Sie ſprach noch immer ſehr ge¬
brochen deutſch , und nur wenn ſie den Mund
zum Singen aufthat , wenn ſie die Zither
rührte , ſchien ſie ſich des einzigen Organs zu
bedienen , wodurch ſie ihr Innerſtes aufſchlieſ¬
ſen und mittheilen konnte .
Wir müſſen , da wir gegenwärtig von ihr
ſprechen , auch der Verlegenheit gedenken , in
die ſie ſeit einiger Zeit unſern Freund öfters
verſetzte . Wenn ſie kam oder ging , guten
Morgen , oder gute Nacht ſagte , ſchloß ſie
ihn ſo feſt in ihre Arme , und küßte ihn mit
ſolcher Inbrunſt , daß ihn die Heftigkeit die¬
ſer aufkeimenden Natur oft angſt und bange
machte . Die zuckende Lebhaftigkeit ſchien ſich
X 2
in ihrem Betragen täglich zu vermehren , und
ihr ganzes Weſen bewegte ſich in einer raſt¬
loſen Stille . Sie konnte nicht ſeyn , ohne
einen Bindfaden in den Händen zu drehen ,
ein Tuch zu kneten , Papier oder Hölzchen zu
kauen . Jedes ihrer Spiele ſchien nur eine
innere heftige Erſchütterung abzuleiten . Das
Einzige , was ihr einige Heiterkeit zu geben
ſchien , war die Nähe des kleinen Felix , mit
dem ſie ſich ſehr artig abzugeben wußte .
Aurelie , die nach einiger Ruhe geſtimmt
war , ſich mit ihrem Freunde über einen Ge¬
genſtand , der ihr ſo ſehr am Herzen lag ,
endlich zu erklären , ward über die Beharr¬
lichkeit der Kleinen diesmal ungeduldig , und
gab ihr zu verſtehen , daß ſie ſich wegbege¬
ben ſollte , und man mußte ſie endlich , da
alles nicht helfen wollte , ausdrücklich und
wider ihren Willen fortſchicken .
Jetzt oder niemals , ſagte Aurelie , muß
ich Ihnen den Reſt meiner Geſchichte erzäh¬
len . Wäre mein zärtlich geliebter , ungerech¬
ter Freund nur wenige Meilen von hier , ich
würde ſagen , ſetzen Sie ſich zu Pferde , ſu¬
chen Sie auf irgend eine Weiſe Bekannt¬
ſchaft mit ihm , und wenn Sie zurückkehren ,
ſo haben Sie mir gewiß verziehen , und be¬
dauern mich von Herzen . Jetzt kann ich
Ihnen nur mit Worten ſagen , wie liebens¬
würdig er war , und wie ſehr ich ihn liebte .
Eben zu der kritiſchen Zeit , da ich für die
Tage meines Mannes beſorgt ſeyn mußte ,
lernt ich ihn kennen . Er war eben aus
Amerika zurück gekommen , wo er in Geſell¬
ſchaft einiger Franzoſen mit vieler Diſtink¬
tion unter den Fahnen der vereinigten Staa¬
ten gedient hatte .
Er begegnete mir mit einem gelaßnen
Anſtande , mit einer offnen Gutmüthigkeit ,
ſprach über mich ſelbſt , meine Lage , mein
Spiel , wie ein alter Bekannter , ſo theilneh¬
mend und ſo deutlich , daß ich mich zum er¬
ſtenmal freuen konnte , meine Exiſtenz in ei¬
nem andern Weſen ſo klar wieder zu erken¬
nen . Seine Urtheile waren richtig ohne ab¬
ſprechend , treffend ohne lieblos zu ſeyn . Er
zeigte keine Härte , und ſein Muthwille war
zugleich gefällig . Er ſchien des guten Glücks
bey Frauen gewohnt zu ſeyn , das machte
mich aufmerkſam ; er war keinesweges ſchmei¬
chelnd und andringend , das machte mich
ſorglos .
In der Stadt ging er mit wenigen um ,
war meiſt zu Pferde , beſuchte ſeine vielen
Bekannten in der Gegend , und beſorgte die
Geſchäfte ſeines Hauſes . Kam er zurück ,
ſo ſtieg er bey mir ab , behandelte meinen
immer kränkern Mann mit warmer Sorge ,
ſchafte dem Leidenden durch einen geſchickten
Arzt Linderung , und wie er an allem , was
mich betraf , Theil nahm , ließ er mich auch
an ſeinem Schickſale Theil nehmen . Er er¬
zählte mir die Geſchichte ſeiner Campagne ,
ſeiner unüberwindlichen Neigung zum Sol¬
datenſtande , ſeine Familienverhältniſſe ; er
vertraute mir ſeine gegenwärtigen Beſchäfti¬
gungen . Genug , er hatte nichts geheimes
vor mir ; er entwickelte mir ſein Innerſtes ,
ließ mich in die verborgenſten Winkel ſeiner
Seele ſehen ; ich lernte ſeine Fähigkeiten , ſei¬
ne Leidenſchaften kennen . Es war das erſte¬
mal in meinem Leben , daß ich eines herzli¬
chen , geiſtreichen Umgangs genoß . Ich war
von ihm angezogen , von ihm hingeriſſen , eh’
ich über mich ſelbſt Betrachtungen anſtellen
konnte .
Inzwiſchen verlor ich meinen Mann ohn¬
gefähr wie ich ihn genommen hatte . Die
Laſt der theatraliſchen Geſchäfte fiel nun
ganz auf mich . Mein Bruder , unverbeſſer¬
lich auf dem Theater , war in der Haushal¬
tung niemals nütze ; ich beſorgte alles , und
ſtudierte dabey meine Rollen fleißiger als je¬
mals . Ich ſpielte wieder wie vor Alters , ja
mit ganz anderer Kraft und neuem Leben ,
zwar durch ihn und um ſeinetwillen , doch
nicht immer gelang es mir zum Beſten , wenn
ich meinen edlen Freund im Schauſpiel wu߬
te ; aber einigemal behorchte er mich , und
wie angenehm mich ſein unvermutheter Bey¬
fall überraſchte , können Sie denken .
Gewiß , ich bin ein ſeltſames Geſchöpf .
Bey jeder Rolle , die ich ſpielte , war es mir
eigentlich nur immer zu Muthe , als wenn
ich ihn lobte und zu ſeinen Ehren ſpräche ;
denn das war die Stimmung meines Her¬
zens , die Worte mochten übrigens ſeyn , wie
ſie wollten . Wußt’ ich ihn unter den Zuhö¬
rern , ſo getraute ich mich nicht , mit der gan¬
zen Gewalt zu ſprechen , eben als wenn ich
ihm meine Liebe , mein Lob nicht geradezu
ins Geſicht aufdringen wollte ; war er abwe¬
ſend , dann hatte ich freyes Spiel , ich that
mein Beſtes mit einer gewiſſen Ruhe , mit
einer unbeſchreiblichen Zufriedenheit . Der
Beyfall freute mich wieder , und wenn ich
dem Publikum Vergnügen machte , hätte ich
immer zugleich hinunter rufen mögen : das
ſeyd ihr ihm ſchuldig !
Ja , mir war wie durch ein Wunder das
Verhältniß zum Publikum , zur ganzen Na¬
tion verändert . Sie erſchien mir auf einmal
wieder in dem vortheilhafteſten Lichte , und
ich erſtaunte recht über meine bisherige Ver¬
blendung .
Wie unverſtändig , ſagt ich oft zu mir
ſelbſt , war es , als du ehemals auf eine Na¬
tion ſchalteſt , eben weil es eine Nation iſt .
Müſſen denn , können denn einzelne Men¬
ſchen ſo intereſſant ſeyn ? Keinesweges ! Es
fragt ſich , ob unter der großen Maſſe eine
Menge von Anlagen , Kräften und Fähigkei¬
ten vertheilt ſey , die durch günſtige Umſtän¬
de entwickelt , durch vorzügliche Menſchen zu
einem gemeinſamen Endzwecke geleitet wer¬
den können ? Ich freute mich nun , ſo wenig
hervorſtechende Originalität unter meinen
Landsleuten zu finden ; ich freute mich , daß
ſie eine Richtung von auſſen anzunehmen
nicht verſchmähten . Ich freute mich , einen
Anführer gefunden zu haben .
Lothar — Laſſen Sie mich meinen Freund
mit ſeinem geliebten Vornahmen nennen —
hatte mir immer die Deutſchen von der Sei¬
te der Tapferkeit vorgeſtellt , und mir gezeigt ,
daß keine bravere Nation in der Welt ſey ,
wenn ſie recht geführt werde , und ich ſchäm¬
te mich , an die erſte Eigenſchaft eines Volks
niemals gedacht zu haben . Ihm war die
Geſchichte bekannt , und mit den meiſten ver¬
dienſtvollen Männern ſeines Zeitalters ſtand
er in Verhältniſſen . So jung er war , hatte
er ein Auge auf die hervorkeimende hoff¬
nungsvolle Jugend ſeines Vaterlandes , auf
die ſtillen Arbeiten in ſo vielen Fächern be¬
ſchäftigter und thätiger Männer . Er ließ
mich einen Überblick über Deutſchland thun ,
was es ſey , und was es ſeyn könne , und ich
ſchämte mich , eine Nation nach der verwor¬
renen Menge beurtheilt zu haben , die ſich
in eine Theatergarderobe drängen mag . Er
machte mir ’s zur Pflicht , auch in meinem
Fache wahr , geiſtreich und belebend zu ſeyn .
Nun ſchien ich mir ſelbſt inſpirirt , ſo oft ich
auf das Theater trat . Mittelmäßige Stel¬
len wurden zu Gold in meinem Munde , und
hätte mir damals ein Dichter zweckmäßig
beygeſtanden , ich hätte die wunderbarſten
Wirkungen hervorgebracht .
So lebte die junge Wittwe Monate lang
fort . Er konnte mich nicht entbehren , und
ich war höchſt unglücklich , wenn er auſſen
blieb . Er zeigte mir die Briefe ſeiner Ver¬
wandten , ſeiner fürtrefflichen Schweſter . Er
nahm an den kleinſten Umſtänden meiner
Verhältniſſe Theil ; inniger , vollkommener iſt
keine Einigkeit zu denken . Der Nahme der
Liebe ward nicht genannt . Er ging und
kam , kam und ging — und nun , mein
Freund , iſt es hohe Zeit , daß Sie auch
gehen .
Siebzehntes Capitel .
W ilhelm konnte nun nicht länger den Be¬
ſuch bey ſeinen Handelsfreunden aufſchieben .
Er ging nicht ohne Verlegenheit dahin ; denn
er wußte , daß er Briefe von den Seinigen
daſelbſt antreffen werde . Er fürchtete ſich
vor den Vorwürfen , die ſie enthalten mu߬
ten ; wahrſcheinlich hatte man auch dem
Handelshauſe Nachricht von der Verlegen¬
heit gegeben , in der man ſich ſeinetwegen
befand . Er ſcheute ſich , nach ſo vielen rit¬
terlichen Abentheuern , vor dem ſchülerhaften
Anſehen , in dem er erſcheinen würde , und
nahm ſich vor , recht trotzig zu thun , und auf
dieſe Weiſe ſeine Verlegenheit zu verbergen .
Allein zu ſeiner großen Verwunderung
und Zufriedenheit ging alles ſehr gut und
leidlich ab . In dem großen lebhaften und
beſchäftigten Comtoir hatte man kaum Zeit ,
ſeine Briefe aufzuſuchen , ſeines längern Auſ¬
ſenbleibens ward nur im Vorbeygehn ge¬
dacht . Und als er die Briefe ſeines Vaters
und ſeines Freundes Werner eröffnete , fand
er ſie ſämmtlich ſehr leidlichen Inhalts . Der
Alte , in Hoffnung eines weitläuftigen Jour¬
nals , deſſen Führung er dem Sohne beym
Abſchiede ſorgfältig empfohlen , und wozu er
ihm ein tabellariſches Schema mitgegeben ,
ſchien über das Stillſchweigen der erſten Zeit
ziemlich beruhigt , ſo wie er ſich nur über
das Räthſelhafte des erſten und einzigen vom
Schloſſe des Grafen noch abgeſandten Brie¬
fes beſchwerte . Werner ſcherzte nur auf ſei¬
ne Art , erzählte luſtige Stadtgeſchichten , und
bat ſich Nachricht von Freunden und Be¬
kannten aus , die Wilhelm nunmehr in der
großen Handelsſtadt häufig würde kennen
lernen . Unſer Freund , der auſſerordentlich
erfreut war , um einen ſo wohlfeilen Preis
loszukommen , antwortete ſogleich in einigen
ſehr muntern Briefen , und verſprach dem
Vater ein ausführliches Reiſejournal , mit al¬
len verlangten geographiſchen , ſtatiſtiſchen
und merkantiliſchen Bemerkungen . Er hatte
vieles auf der Reiſe geſehen , und hoffte dar¬
aus ein leidliches Heft zuſammen ſchreiben
zu können . Er merkte nicht , daß er beynah
in eben dem Falle war , in dem er ſich be¬
fand , als er ein Schauſpiel , das weder ge¬
ſchrieben , noch weniger memorirt war , auf¬
zuführen , Lichter angezündet und Zuſchauer
herbey gerufen hatte . Als er daher wirklich
anfing , an ſeine Compoſition zu gehen , ward
er leider gewahr , daß er von Empfindungen
und Gedanken , von manchen Erfahrungen
des Herzens und Geiſtes ſprechen und erzäh¬
len konnte , nur nicht von äuſſern Gegenſtän¬
den , denen er , wie er nun merkte , nicht die
mindeſte Aufmerkſamkeit geſchenkt hatte .
In dieſer Verlegenheit kamen die Kennt¬
niſſe ſeines Freundes Laertes ihm gut zu
ſtatten . Die Gewohnheit hatte beide junge
Leute , ſo unähnlich ſie ſich waren , zuſammen
verbunden , und jener war bey allen ſeinen
Fehlern , mit ſeinen Sonderbarkeiten wirklich
ein intereſſanter Menſch . Mit einer heitern
glücklichen Sinnlichkeit begabt , hätte er alt
werden können , ohne über ſeinen Zuſtand ir¬
gend nachzudenken . Nun hatte ihm aber
ſein Unglück und ſeine Krankheit das reine
Gefühl der Jugend geraubt , und ihm dage¬
gen einen Blick auf die Vergänglichkeit , auf
das Zerſtückelte unſers Daſeyns eröffnet .
Daraus war eine launigte , rhapſodiſche Art
über die Gegenſtände zu denken , oder viel¬
mehr ihre unmittelbaren Eindrücke zu äuſſern ,
entſtanden . Er war nicht gern allein , trieb
ſich
ſich auf allen Kaffeehäuſern , an allen Wirths¬
tiſchen herum , und wenn er ja zu Hauſe
blieb , waren Reiſebeſchreibungen ſeine liebſte ,
ja ſeine einzige Lektüre . Dieſe konnte er
nun , da er eine große Leihbibliothek fand ,
nach Wunſch befriedigen , und bald ſpukte die
halbe Welt in ſeinem guten Gedächtniſſe .
Wie leicht konnte er daher ſeinem Freun¬
de Muth einſprechen , als dieſer ihm den völ¬
ligen Mangel an Vorrath zu der von ihm
ſo feyerlich verſprochenen Relation entdeckte .
Da wollen wir ein Kunſtſtück machen , ſagte
jener , das ſeines gleichen nicht haben ſoll .
Iſt nicht Deutſchland von einem Ende zum
andern durchreiſt , durchkreuzt , durchzogen ,
durchkrochen und durchflogen ? und hat nicht
jeder deutſche Reiſende den herrlichen Vor¬
theil , ſich ſeine großen oder kleinen Ausga¬
ben vom Publikum wieder erſtatten zu laſ¬
ſen ? Gieb mir nur deine Reiſeroute , ehe du
W. Meiſters Lehrj. 2. Y
zu uns kamſt , das andre weiß ich . Die
Quellen und Hülfsmittel zu deinem Werke
will ich dir aufſuchen ; an Quadratmeilen ,
die nicht gemeſſen ſind , und an Volksmenge ,
die nicht gezählt iſt , müſſen wir ’s nicht feh¬
len laſſen . Die Einkünfte der Länder neh¬
men wir aus Taſchenbüchern und Tabellen ,
die , wie bekannt , die zuverläſſigſten Docu¬
mente ſind . Darauf gründen wir unſre po¬
litiſche Raiſonnements ; an Seitenblicken auf
die Regierungen ſolls nicht fehlen . Ein Paar
Fürſten beſchreiben wir als wahre Väter des
Vaterlandes , damit man uns deſto eher glaubt ,
wenn wir einigen andern etwas anhängen ,
und wenn wir nicht geradezu durch den
Wohnort einiger berühmten Leute durchrei¬
ſen , ſo begegnen wir ihnen in einem Wirths¬
hauſe , laſſen ſie uns im Vertrauen das al¬
bernſte Zeug ſagen , und beſonders vergeſſen
wir nicht eine Liebesgeſchichte mit irgend
einem naiven Mädchen auf das anmuthigſte
einzuflechten , und es ſoll ein Werk geben ,
das nicht allein Vater und Mutter mit Ent¬
zücken erfüllen ſoll , ſondern das dir auch je¬
der Buchhändler mit Vergnügen bezahlt .
Man ſchritt zum Werke , und beide Freun¬
de hatten viel Luſt an ihrer Arbeit , indeß
Wilhelm Abends im Schauſpiel und in dem
Umgange mit Serlo und Aurelien die größte
Zufriedenheit fand , und ſeine Ideen , die nur
zu lange ſich in einem engen Kreiſe herum
gedreht hatten , täglich weiter ausbreitete .
Y 2
Achtzehntes Capitel .
N icht ohne das größte Intereſſe vernahm
er Stückweiſe den Lebenslauf Serlo’s , denn
es war nicht die Art dieſes ſeltnen Mannes ,
vertraulich zu ſeyn , und über irgend etwas
im Zuſammenhange zu ſprechen . Er war ,
man darf ſagen , auf dem Theater gebohren
und geſäugt . Schon als ſtummes Kind mu߬
te er durch ſeine bloße Gegenwart die Zu¬
ſchauer rühren , weil auch ſchon damals die
Verfaſſer dieſe natürlichen und unſchuldigen
Hülfsmittel kannten , und ſein erſtes : Vater
und Mutter , brachte in beliebten Stücken
ihm ſchon den größten Beyfall zuwege , ehe
er wußte , was das Händeklatſchen bedeute .
Als Amor kam er , zitternd , mehr als ein¬
mal , im Flugwerke herunter , entwickelte ſich
als Harlekin aus dem Ey , und machte als
kleiner Eſſenkehrer ſchon früh die artigſten
Streiche .
Leider mußte er den Beyfall , den er an
glänzenden Abenden erhielt , in den Zwiſchen¬
zeiten ſehr theuer bezahlen . Sein Vater ,
überzeugt , daß nur durch Schläge die Auf¬
merkſamkeit der Kinder erregt und feſtgehal¬
ten werden könne , prügelte ihn beym Ein¬
ſtudieren einer jeden Rolle zu abgemeſſenen
Zeiten ; nicht , weil das Kind ungeſchickt war ,
ſondern damit es ſich deſto gewiſſer und an¬
haltender geſchickt zeigen möge . So gab
man ehemals , indem ein Gränzſtein geſetzt
wurde , den umſtehenden Kindern tüchtige
Ohrfeigen , und die älteſten Leute erinnern
ſich noch genau des Ortes und der Stelle .
Er wuchs heran , und zeigte auſſerordentliche
Fähigkeiten des Geiſtes und Fertigkeiten des
Körpers , und dabey eine große Biegſamkeit
ſowohl in ſeiner Vorſtellungsart , als in Hand¬
lungen und Gebährden . Seine Nachah¬
mungsgabe überſtieg allen Glauben . Schon
als Knabe ahmte er Perſonen nach , ſo daß
man ſie zu ſehen glaubte , ob ſie ihm ſchon
an Geſtalt , Alter und Weſen völlig unähn¬
lich und unter einander verſchieden waren .
Dabey fehlte es ihm nicht an der Gabe ſich
in die Welt zu ſchicken , und ſobald er ſich
einigermaßen ſeiner Kräfte bewußt war , fand
er nichts natürlicher , als ſeinem Vater zu
entfliehen , der , wie die Vernunft des Kna¬
ben zunahm , und ſeine Geſchicklichkeit ſich
vermehrte , ihnen noch durch harte Begegnung
nachzuhelfen für nöthig fand .
Wie glücklich fühlte ſich der loſe Knabe
nun in der freyen Welt , da ihm ſeine Eu¬
lenſpiegelspoſſen überall eine gute Aufnahme
verſchafften . Sein guter Stern führte ihn
zuerſt eben in der Faſtnachtszeit in ein Klo¬
ſter , wo er , weil eben der Pater , der die
Umgänge zu beſorgen , und durch geiſtliche
Maskeraden die chriſtliche Gemeinde zu er¬
götzen hatte , geſtorben war , als ein hülfrei¬
cher Schutzengel auftrat . Auch übernahm er
ſogleich die Rolle Gabriels in der Verkündi¬
gung , und mißfiel dem hübſchen Mädchen
nicht , die als Maria ſeinen obligenten Gruß ,
mit äußerlicher Demuth und innerlichem
Stolze , ſehr zierlich aufnahm . Er ſpielte
darauf ſucceſſive in den Myſterien die wich¬
tigſten Rollen , und wußte ſich nicht wenig ,
da er endlich gar als Heiland der Welt ver¬
ſpottet , geſchlagen , und ans Kreuz geheftet
wurde .
Einige Kriegsknechte mochten bey dieſer
Gelegenheit ihre Rollen gar zu natürlich
ſpielen , daher er ſie , um ſich auf die ſchick¬
lichſte Weiſe an ihnen zu rächen , bey Gele¬
genheit des jüngſten Gerichts in die präch¬
tigſten Kleider von Kaiſern und Königen
ſteckte , und ihnen in dem Augenblicke , da ſie ,
mit ihren Rollen ſehr wohl zufrieden , auch
in dem Himmel allen andern vorauszugehen
den Schritt nahmen , unvermuthet in Teu¬
felsgeſtalt begegnete , und ſie mit der Ofen¬
gabel zur herzlichſten Erbauung ſämmtlicher
Zuſchauer und Bettler weidlich durchdroſch ,
und unbarmherzig zurück in die Grube ſtürz¬
te , wo ſie ſich von einem hervordringenden
Feuer aufs übelſte empfangen ſahen .
Er war klug genug einzuſehen , daß die
gekrönten Häupter ſein freches Unternehmen
nicht wohl vermerken , und ſelbſt vor ſeinem
privilegirten Ankläger- und Schergen-Amte
keinen Reſpekt haben würden ; er machte ſich
daher , noch ehe das tauſendjährige Reich an¬
ging , in aller Stille davon , und ward in einer
benachbarten Stadt von einer Geſellſchaft ,
die man damals Kinder der Freude nannte ,
mit offnen Armen aufgenommen . Es waren
verſtändige , geiſtreiche , lebhafte Menſchen ,
die wohl einſahen , daß die Summe unſrer
Exiſtenz durch Vernunft dividirt , niemals
rein aufgehe , ſondern daß immer ein wun¬
derlicher Bruch übrig bleibe . Dieſen hinder¬
lichen , und , wenn er ſich in die ganze Maſſe
vertheilt , gefährlichen , Bruch , ſuchten ſie zu
beſtimmten Zeiten vorſetzlich los zu werden .
Sie waren einen Tag der Woche recht aus¬
führlich Narren , und ſtraften an demſelben
wechſelſeitig durch allegoriſche Vorſtellungen ,
was ſie während der übrigen Tage an ſich
und andern närriſches bemerkt hatten . War
dieſe Art gleich roher als eine Folge von
Ausbildung , in welcher der ſittliche Menſch
ſich täglich zu bemerken , zu warnen und zu
ſtrafen pflegt ; ſo war ſie doch luſtiger und
ſicherer , denn indem man einen gewiſſen
Schooßnarren nicht verleugnete , ſo tractirte
man ihn auch nur für das was er war , an¬
ſtatt daß er auf dem andern Wege durch
Hülfe des Selbſtbetrugs oft im Hauſe zur
Herrſchaft gelangt , und die Vernunft zur
heimlichen Knechtſchaft zwingt , die ſich ein¬
bildet , ihn lange verjagt zu haben . Die
Narrenmaſke ging in der Geſellſchaft herum ,
und jedem war erlaubt , ſie , an ſeinem Tage ,
mit eigenen oder fremden Attributen , charak¬
teriſtiſch auszuzieren . In der Karnavalszeit
nahm man ſich die größte Freyheit , und
wetteiferte mit der Bemühung der Geiſtli¬
chen , das Volk zu unterhalten und anzuzie¬
hen . Die feyerlichen allegoriſchen Aufzüge
von Tugenden und Laſtern , Künſten und
Wiſſenſchaften , Welttheilen und Jahrszeiten
verſinnlichten dem Volke eine Menge Be¬
griffe , und gaben ihm Ideen entfernter Ge¬
genſtände , und ſo waren dieſe Scherze nicht
ohne Nutzen , da von einer andern Seite die
geiſtlichen Mummereyen nur einen abge¬
ſchmackten Aberglauben noch mehr befeſtigten .
Der junge Serlo war auch hier wieder
ganz in ſeinem Elemente ; eigentliche Erfin¬
dungskraft hatte er nicht , dagegen aber das
größte Geſchick , was er vor ſich fand zu
nutzen , zurecht zu ſtellen , und ſcheinbar zu
machen . Seine Einfälle , ſeine Nachahmungs¬
gabe , ja ſein beiſſender Witz , den er wenig¬
ſtens einen Tag in der Woche völlig frey ,
ſelbſt gegen ſeine Wohlthäter , üben durfte ,
machte ihn der ganzen Geſellſchaft werth , ja
unentbehrlich .
Doch trieb ihn ſeine Unruhe bald aus
dieſer vortheilhaften Lage in andere Gegen¬
den ſeines Vaterlandes , wo er wieder eine
neue Schule durchzugehen hatte . Er kam in
den gebildeten aber auch bildloſen Theil von
Deutſchland , wo es zur Verehrung des Gu¬
ten und Schönen zwar nicht an Wahrheit
aber oft an Geiſt gebricht ; er konnte mit
ſeinen Masken nichts mehr ausrichten ; er
mußte ſuchen auf Herz und Gemüth zu wir¬
ken . Nur kurze Zeit hielt er ſich bey klei¬
nen und großen Geſellſchaften auf , und merk¬
te , bey dieſer Gelegenheit , ſämmtlichen Stük¬
ken und Schauſpielern ihre Eigenheiten ab , die
Monotonie , die damals auf dem deutſchen
Theater herrſchte ; den albernen Fall und
Klang der Alexandriner , den geſchraubtplatten
Dialog ; die Trockenheit und Gemeinheit der
unmittelbaren Sittenprediger hatte er bald
gefaßt , und zugleich bemerkt , was rührte und
gefiel .
Nicht Eine Rolle der gangbaren Stücke ,
ſondern die ganzen Stücke blieben leicht in
ſeinem Gedächtniß , und zugleich der eigen¬
thümliche Ton des Schauſpielers , der ſie mit
Beyfall vorgetragen hatte . Nun kam er zu¬
fälligerweiſe auf ſeinen Streifereyen , da ihm
das Geld völlig ausgegangen war , zu dem
Einfall , allein , ganze Stücke , beſonders auf
Edelhöfen und in Dörfern vorzuſtellen , und
ſich dadurch überall ſogleich Unterhalt und
Nachtquartier zu verſchaffen . In jeder Schen¬
ke , jedem Zimmer und Garten war ſein Thea¬
ter gleich aufgeſchlagen ; mit einem ſchelmiſchen
Ernſt und anſcheinendem Enthuſiasmus wu߬
te er die Einbildungskraft ſeiner Zuſchauer
zu gewinnen , ihre Sinne zu täuſchen , und
vor ihren offenen Augen einen alten Schrank
zu einer Burg , und einen Fächer zum Dolche
umzuſchaffen . Seine Jugendwärme erſetzte
den Mangel eines tiefen Gefühls , ſeine Hef¬
tigkeit ſchien Stärke , und ſeine Schmeicheley
Zärtlichkeit . Diejenigen , die das Theater
ſchon kannten , erinnerte er an alles , was ſie
geſehen und gehört hatten , und in den übri¬
gen erregte er eine Ahndung von etwas
Wunderbaren , und den Wunſch , näher da¬
mit bekannt zu werden . Was an einem
Orte Wirkung that , verfehlte er nicht am
andern zu wiederholen , und hatte die herz¬
lichſte Schadenfreude , wenn er alle Men¬
ſchen , auf gleiche Weiſe , aus dem Stegreife ,
zum beſten haben konnte .
Bey ſeinem lebhaften , freyen und durch
nichts gehinderten Geiſte verbeſſerte er ſich ,
indem er Rollen und Stücke oft wiederholte ,
ſehr geſchwind . Bald rezitirte und ſpielte er
dem Sinne gemäßer , als die Muſter , die er
Anfangs nur nachgeahmt hatte . Auf dieſem
Wege kam er nach und nach dazu , natürlich
zu ſpielen und doch immer verſtellt zu ſeyn .
Er ſchien hingeriſſen , und lauerte auf den
Effekt , und ſein größter Stolz war : die
Menſchen ſtufenweiſe in Bewegung zu ſetzen .
Selbſt das tolle Handwerk , das er trieb ,
nöthigte ihn bald mit einer gewiſſen Mäßi¬
gung zu verfahren , und ſo lernte er , theils
gezwungen , theils aus Inſtinkt , das , wovon
ſo wenig Schauſpieler einen Begriff zu haben
ſcheinen : mit Organ und Gebährden ökono¬
miſch zu ſeyn .
So wußte er ſelbſt rohe und unfreundli¬
che Menſchen zu bändigen , und für ſich zu
intereſſiren , und da er überall mit Nahrung
und Obdach zufrieden war , jedes Geſchenk
dankbar annahm , das man ihm reichte , ja
manchmal gar das Geld , wenn er deſſen
nach ſeiner Meinung genug hatte , ausſchlug ;
ſo ſchickte man ihn mit Empfehlungsſchreiben
einander zu , und ſo wanderte er eine ganze
Zeit von einem Edelhofe zum andern , wo er
manches Vergnügen erregte , manches genoß ,
und nicht ohne die angenehmſten und artig¬
ſten Abentheuer blieb .
Bey der innerlichen Kälte ſeines Gemü¬
thes liebte er eigentlich niemand ; bey der
Klarheit ſeines Blicks konnte er niemand
achten , denn er ſah nur immer die äuſſern
Eigenheiten der Menſchen , und trug ſie in
ſeine mimiſche Sammlung ein . Dabey aber
war ſeine Selbſtigkeit äuſſerſt beleidigt , wenn
er nicht jedem gefiel , und wenn er nicht über¬
all Beyfall erregte . Wie dieſer zu erlangen
ſey , darauf hatte er nach und nach ſo genau
acht gegeben , und hatte ſeinen Sinn ſo ge¬
ſchärft , daß er nicht allein bey ſeinen Dar¬
ſtellungen , ſondern auch im gemeinen Leben
nicht mehr anders als ſchmeicheln konnte .
Und ſo arbeitete ſeine Gemüthsart , ſein Ta¬
lent und ſeine Lebensart dergeſtalt wechſels¬
weiſe gegen einander , daß er ſich unver¬
merkt zu einem vollkommnen Schauſpieler
ausgebildet ſah . Ja , durch eine ſeltſam ſchei¬
nende , aber ganz natürliche Wirkung und
Gegenwirkung ſtieg , durch Einſicht und
Übung , ſeine Rezitation , Declamation und
ſein Gebährdenſpiel zu einer hohen Stufe
von
von Wahrheit , Freyheit und Offenheit , in¬
dem er im Leben und Umgang immer heim¬
licher , künſtlicher , ja verſtellt und ängſtlich
zu werden ſchien .
Von ſeinen Schickſalen und Abentheuern
ſprechen wir vielleicht an einem andern Orte ,
und bemerken hier nur ſo viel : daß er in
ſpäteren Zeiten , da er ſchon ein gemachter
Mann , im Beſitz von entſchiednem Nahmen ,
und in einer ſehr guten obgleich nicht feſten
Lage war , ſich angewöhnt hatte , im Geſpräch
auf eine feine Weiſe theils ironiſch , theils
ſpöttiſch den Sophiſten zu machen , und da¬
durch faſt jede ernſthafte Unterhaltung zu
zerſtören . Beſonders gebrauchte er dieſe Ma¬
nier gegen Wilhelm , ſobald dieſer , wie es
ihm oft begegnete , ein allgemeines theoreti¬
ſches Geſpräch anzuknüpfen Luſt hatte . Dem¬
ungeachtet waren ſie ſehr gern beyſammen ,
indem durch ihre beiderſeitige Denkart die
W. Meiſters Lehrj. 2. Z
Unterhaltung lebhaft werden mußte . Wil¬
helm wünſchte , alles aus den Begriffen , die
er gefaßt hatte , zu entwickeln , und wollte
die Kunſt in einem Zuſammenhange behan¬
delt haben . Er wollte ausgeſprochene Re¬
geln feſtſetzen , beſtimmen , was recht , ſchön
und gut ſey , und was Beyfall verdiene ;
genug , er behandelte alles auf das ernſtlich¬
ſte . Serlo hingegen nahm die Sache ſehr
leicht , und indem er niemals direct auf eine
Frage antwortete , wußte er , durch eine Ge¬
ſchichte oder einen Schwank , die artigſte und
vergnüglichſte Erläuterung beyzubringen , und
die Geſellſchaft zu unterrichten , indem er ſie
erheiterte .
Neunzehntes Capitel .
I ndem nun Wilhelm auf dieſe Weiſe ſehr
angenehme Stunden zubrachte , befanden ſich
Melina und die übrigen in einer deſto ver¬
drießlichern Lage . Sie erſchienen unſerm
Freunde manchmal wie böſe Geiſter , und
machten ihm nicht blos durch ihre Gegen¬
wart , ſondern auch oft durch flämiſche Ge¬
ſichter und bittre Reden einen verdrießlichen
Augenblick . Serlo hatte ſie nicht einmal zu
Gaſtrollen gelaſſen , geſchweige daß er ihnen
Hoffnung zum Engagement gemacht hätte ,
und hatte demungeachtet nach und nach ihre
ſämmtlichen Fähigkeiten kennen gelernt . So
oft ſich Schauſpieler bey ihm geſellig ver¬
ſammelten , hatte er die Gewohnheit leſen zu
laſſen , und manchmal ſelbſt mitzuleſen . Er
Z 2
nahm Stücke vor , die noch gegeben werden
ſollten , die lange nicht gegeben waren , und
zwar meiſtens nur Theilweiſe . So ließ er
auch , nach einer erſten Aufführung , Stellen ,
bey denen er etwas zu erinnern hatte , wie¬
derholen , vermehrte dadurch die Einſicht der
Schauſpieler , und verſtärkte ihre Sicherheit ,
den rechten Punkt zu treffen . Und wie ein
geringer aber richtiger Verſtand mehr als
ein verworrnes und ungeläutertes Genie zur
Zufriedenheit anderer wirken kann ; ſo er¬
hub er mittelmäßige Talente , durch die deut¬
liche Einſicht , die er ihnen unmerklich ver¬
ſchafte , zu einer bewundernswürdigen Fä¬
higkeit . Nicht wenig trug dazu bey , daß er
auch Gedichte leſen ließ , und in ihnen das
Gefühl jenes Reizes erhielt , den ein wohl¬
vorgetragner Rythmus in unſrer Seele er¬
regt , anſtatt daß man bey andern Geſell¬
ſchaften ſchon anfing , nur diejenige Proſa
vorzutragen , wozu einem jeden der Schnabel
gewachſen war .
Bey ſolchen Gelegenheiten hatte er auch
die ſämmtlichen angekommenen Schauſpieler
kennen lernen , das was ſie waren , und was
ſie werden konnten , beurtheilt , und ſich in
der Stille vorgenommen , von ihren Talenten
bey einer Revolution , die ſeiner Geſellſchaft
drohete , ſogleich Vortheil zu ziehen . Er ließ
die Sache eine Weile auf ſich beruhen , lehn¬
te alle Interceſſionen Wilhelms für ſie mit
Achſelzucken ab , bis er ſeine Zeit erſah , und
ſeinem jungen Freunde ganz unerwartet den
Vorſchlag that : er ſolle doch ſelbſt bey ihm
aufs Theater gehen , und unter dieſer Bedin¬
gung wolle er auch die übrigen engagiren .
Die Leute müſſen alſo doch ſo unbrauch¬
bar nicht ſeyn , wie Sie mir ſolche bisher ge¬
ſchildert haben , verſetzte ihm Wilhelm , wenn
ſie jetzt auf einmal zuſammen angenommen
werden können , und ich dächte , ihre Talente
müßten auch ohne mich dieſelbigen bleiben .
Serlo eröffnete ihm darauf , unter dem
Siegel der Verſchwiegenheit , ſeine Lage : wie
ſein erſter Liebhaber Miene mache , ihn bey
der Erneuerung des Contracts zu ſteigern ,
und wie er nicht geſinnt ſey , ihm nachzuge¬
ben , beſonders da die Gunſt des Publikums
gegen ihn ſo groß nicht mehr ſey . Ließe er
dieſen gehen , ſo würde ſein ganzer Anhang
ihm folgen , wodurch denn die Geſellſchaft
einige gute , aber auch einige mittelmäßige
Glieder verlöre . Hierauf zeigte er Wilhel¬
men , was er dagegen an ihm , an Laertes ,
dem alten Polterer und ſelbſt an Frau Me¬
lina zu gewinnen hoffe . Ja , er verſprach
dem armen Pedanten als Juden , Miniſter ,
und überhaupt als Böſewicht einen entſchie¬
denen Beyfall zu verſchaffen .
Wilhelm ſtutzte , und vernahm den Vor¬
trag nicht ohne Unruhe , und nur um etwas
zu ſagen , verſetzte er , nachdem er tief Athem
geholt hatte : Sie ſprechen auf eine ſehr
freundliche Weiſe nur von dem Guten , was
Sie an uns finden und von uns hoffen ;
wie ſieht es denn aber mit den ſchwachen
Seiten aus , die Ihrem Scharfſinne gewiß
nicht entgangen ſind ?
Die wollen wir bald durch Fleiß , Übung
und Nachdenken zu ſtarken Seiten machen ,
verſetzte Serlo . Es iſt unter euch allen , die
ihr denn doch nur Naturaliſten und Pfuſcher
ſeyd , keiner , der nicht mehr oder weniger
Hoffnung von ſich gäbe ; denn ſo viel ich
alle beurtheilen kann , ſo iſt kein einziger
Stock darunter , und Stöcke allein ſind die
Unverbeſſerlichen , ſie mögen nun aus Eigen¬
dünkel , Dummheit oder Hypochondrie unge¬
lenk und unbiegſam ſeyn .
Serlo legte darauf mit wenigen Worten
die Bedingungen dar , die er machen könne
und wolle , bat Wilhelmen um ſchleunige
Entſcheidung , und verließ ihn in nicht gerin¬
ger Unruhe .
Bey der wunderlichen und gleichſam nur
zum Scherz unternommenen Arbeit jener fin¬
girten Reiſebeſchreibung , die er mit Laertes
ausarbeitete , war er auf die Zuſtände und
das tägliche Leben der wirklichen Welt auf¬
merkſamer geworden , als er ſonſt nicht ge¬
weſen war . Er begriff jetzt ſelbſt erſt die
Abſicht des Vaters , als er ihm die Führung
des Journals ſo lebhaft empfohlen . Er
fühlte zum erſtenmale , wie angenehm und
nützlich es ſeyn könne , ſich zur Mittelsperſon
ſo vieler Gewerbe und Bedürfniſſe zu ma¬
chen , und bis in die tiefſten Gebirge und
Wälder des feſten Landes Leben und Thä¬
tigkeit verbreiten zu helfen . Die lebhafte
Handelsſtadt , in der er ſich befand , gab ihm
bey der Unruhe des Laertes , der ihn überall
mit herumſchleppte , den anſchaulichſten Be¬
griff eines großen Mittelpunktes , woher al¬
les ausfließt , und wohin alles zurückkehrt ,
und es war das erſtemal , daß ſein Geiſt im
Anſchauen dieſer Art von Thätigkeit ſich
wirklich ergetzte . In dieſem Zuſtande hatte
ihm Serlo den Antrag gethan , und ſeine
Wünſche , ſeine Neigung , ſein Zutrauen auf
ein angebornes Talent , und ſeine Verpflich¬
tung gegen die hülfloſe Geſellſchaft wieder
rege gemacht .
Da ſteh ich nun , ſagte er zu ſich ſelbſt ,
abermals am Scheidewege zwiſchen den bei¬
den Frauen , die mir in meiner Jugend er¬
ſchienen . Die eine ſieht nicht mehr ſo küm¬
merlich aus , wie damals , und die andere
nicht ſo prächtig . Der einen wie der andern
zu folgen fühlſt du eine Art von innern Be¬
ruf , und von beiden Seiten ſind die äuſſern
Anläſſe ſtark genug ; es ſcheint dir unmöglich
dich zu entſcheiden , du wünſcheſt , daß irgend
ein Übergewicht von Auſſen deine Wahl be¬
ſtimmen möge , und doch , wenn du dich recht
unterſuchſt , ſo ſind es nur äuſſere Umſtände ,
die dir eine Neigung zu Gewerb , Erwerb
und Beſitz einflößen , aber dein innerſtes Be¬
dürfniß erzeugt und nährt den Wunſch , die
Anlagen , die in dir zum Guten und Schö¬
nen ruhen mögen , ſie ſeyen körperlich oder
geiſtig , immer mehr zu entwickeln und aus¬
zubilden . Und muß ich nicht das Schickſal
verehren , das mich ohne mein Zuthun hier¬
her an das Ziel aller meiner Wünſche führt ?
Geſchieht nicht alles , was ich mir ehemals
ausgedacht und vorgeſetzt , nun zufällig ohne
mein Mitwirken ? Sonderbar genug ! Der
Menſch ſcheint mit nichts vertrauter zu ſeyn ,
als mit ſeinen Hoffnungen und Wünſchen ,
die er lange im Herzen nährt und bewahrt ,
und doch , wenn ſie ihm nun begegnen , wenn
ſie ſich ihm gleichſam aufdringen , erkennt er
ſie nicht und weicht vor ihnen zurück . Alles ,
was ich mir vor jener unglücklichen Nacht ,
die mich von Marianen entfernte , nur träu¬
men ließ , ſteht vor mir , und bietet ſich mir
ſelbſt an . Hierher wollte ich flüchten , und
bin ſachte hergeleitet worden ; bey Serlo
wollte ich unterzukommen ſuchen , er ſucht
nun mich , und bietet mir Bedingungen an ,
die ich als Anfänger nie erwarten konnte .
War es denn bloß Liebe zu Marianen , die
mich ans Theater feſſelte ? oder war es Liebe
zur Kunſt , die mich an das Mädchen feſt¬
knüpfte ? War jene Ausſicht , jener Ausweg
nach der Bühne blos einem unordentlichen ,
unruhigen Menſchen willkommen , der ein
Leben fortzuſetzen wünſchte , das ihm die Ver¬
hältniſſe der bürgerlichen Welt nicht geſtat¬
teten , oder war es alles anders , reiner , wür¬
diger ? und was ſollte dich bewegen können ,
deine damalige Geſinnungen zu ändern ?
Haſt du nicht vielmehr bisher ſelbſt unwiſ¬
ſend deinen Plan verfolgt , und iſt nicht jetzt
der letzte Schritt noch mehr zu billigen , da
keine Nebenabſichten dabey im Spiele ſind ,
und da du zugleich ein feyerlich gegebenes
Wort halten , und dich auf eine edle Weiſe
von einer ſchweren Schuld befreyen kannſt ?
Alles , was in ſeinem Herzen und ſeiner
Einbildungskraft ſich bewegte , wechſelte nun
auf das lebhafteſte gegen einander ab . Daß
er ſeine Mignon behalten könne , daß er den
Harfner nicht zu verſtoßen brauche , war kein
kleines Gewicht auf der Wagſchale , und
doch ſchwankte ſie noch hin und wieder , als
er ſeine Freundin Aurelie gewohnterweiſe zu
beſuchen ging .
Zwanzigſtes Capitel .
E r fand ſie auf ihrem Ruhbette ; ſie ſchien
ſtille . Glauben Sie noch morgen ſpielen zu
können ? fragte er . O ja , verſetzte ſie leb¬
haft ; Sie wiſſen , daran hindert mich
nichts . — Wenn ich nur ein Mittel wüßte ,
den Beyfall unſers Parterr’s von mir abzu¬
lehnen : ſie meinen es gut , und werden mich
noch umbringen . Vorgeſtern dacht’ ich das
Herz müßte mir reißen ! Sonſt konnt’ ich es
wohl leiden , wenn ich mir ſelbſt gefiel , wenn
ich lange ſtudirt und mich vorbereitet hatte ‚
dann freute ich mich , wenn das willkommene
Zeichen : nun ſey es gelungen , von allen
Enden wiedertönte . Jetzo ſag ich nicht , was
ich will , nicht wie ichs will , ich werde hinge¬
riſſen , ich verwirre mich , und mein Spiel
macht einen weit größern Eindruck . Der
Beyfall wird lauter , und ich denke : wüßtet
ihr , was euch entzückt ! die dunkeln , heftigen ,
unbeſtimmten Anklänge rühren euch , zwingen
euch Bewundrung ab , und ihr fühlt nicht ,
daß es die Schmerzenstöne der Unglücklichen
ſind , der ihr euer Wohlwollen geſchenkt habt .
Heute früh hab’ ich gelernt , jetzt wieder¬
holt und verſucht . Ich bin müde , zerbrochen ,
und morgen geht es wieder von vorn an .
Morgen Abend ſoll geſpielt werden ; ſo
ſchlepp’ ich mich hin und her , es iſt mir
langweilig aufzuſtehen , und verdrießlich zu
Bette zu gehen . Alles macht einen ewigen
Zirkel in mir . Dann treten die leidigen Trö¬
ſtungen vor mir auf , dann werf ich ſie weg ,
und verwünſche ſie . Ich will mich nicht er¬
geben , nicht der Nothwendigkeit ergeben —
warum ſoll das nothwendig ſeyn , was mich
zu Grunde richtet ? Könnte es nicht auch
anders ſeyn ? Ich muß es eben bezahlen , daß
ich eine Deutſche bin ; es iſt der Charakter
der Deutſchen , daß ſie über allem ſchwer
werden , daß alles über ihnen ſchwer wird .
O , meine Freundin , fiel Wilhelm ein ,
könnten Sie doch aufhören ſelbſt den Dolch
zu ſchärfen , mit dem Sie ſich unabläſſig ver¬
wunden ! Bleibt Ihnen denn nichts ? Iſt
denn Ihre Jugend , Ihre Geſtalt , Ihre Ge¬
ſundheit , ſind Ihre Talente nichts ? Wenn
Sie ein Gut ohne Ihr Verſchulden verloren
haben , müſſen Sie denn alles Übrige hinter¬
drein werfen ? Iſt das auch nothwendig ?
Sie ſchwieg einige Augenblicke , dann fuhr
ſie auf : ich weiß es wohl , daß es Zeitver¬
derb iſt , nichts als Zeitverderb iſt die Liebe !
Was hätte ich nicht thun können ! thun ſol¬
len ! nun iſt alles rein zu Nichts geworden .
Ich bin ein armes verliebtes Geſchöpf , nichts
als verliebt ! Haben Sie Mitleiden mit mir ,
bey Gott , ich bin ein armes Geſchöpf !
Sie verſank in ſich , und nach einer kur¬
zen Pauſe rief ſie heftig aus : ihr ſeyd ge¬
wohnt , daß ſich euch alles an den Hals
wirft , nein ihr könnt es nicht fühlen , kein
Mann iſt im Stande , den Werth eines Wei¬
bes zu fühlen , das ſich zu ehren weiß . Bey
allen heiligen Engeln , bey allen Bildern der
Seeligkeit , die ſich ein reines gutmüthiges
Herz erſchaft , es iſt nichts Himmliſchers , als
ein weibliches Weſen , das ſich dem geliebten
Manne hingiebt .
Wir ſind kalt , ſtolz , hoch , klar , klug ,
wenn wir verdienen Weiber zu heißen , und
alle dieſe Vorzüge legen wir euch zu Füßen ,
ſobald wir lieben , ſobald wir hoffen , Gegen¬
liebe zu erwerben . O wie hab’ ich mein
ganzes Daſeyn ſo mit Wiſſen und Willen
weggeworfen ; aber nun will ich auch ver¬
zweifeln , abſichtlich verzweifeln . Es ſoll kein
Blutstropfen in mir ſeyn , der nicht geſtraft
wird.
wird , keine Faſer , die ich nicht peinigen will .
Lächeln Sie nur , lachen Sie nur über den
theatraliſchen Aufwand von Leidenſchaft .
Fern war von unſerm Freunde jede An¬
wandlung des Lachens . Der entſetzliche , halb
natürliche , halb erzwungene Zuſtand ſeiner
Freundin peinigte ihn nur zu ſehr . Er em¬
pfand die Foltern der unglücklichen Anſpan¬
nung mit ; ſein Gehirn zerrüttete ſich , und
ſein Blut war in einer fieberhaften Bewe¬
gung .
Sie war aufgeſtanden , und ging in der
Stube hin und wieder . Ich ſage mir alles
vor , rief ſie aus , warum ich ihn nicht lieben
ſollte . Ich weiß auch , daß er es nicht werth
iſt ; ich wende mein Gemüth ab , dahin und
dorthin , beſchäftige mich , wie es nur gehen
will . Bald nehm ich eine Rolle vor , wenn
ich ſie auch nicht zu ſpielen habe , ich übe die
alten , die ich durch und durch kenne , fleißi¬
W. Meiſters Lehrj. 2. A a
ger und fleißiger , ins Einzelne , und übe und
übe — mein Freund , mein Vertrauter , wel¬
che entſetzliche Arbeit iſt es , ſich mit Gewalt
von ſich ſelbſt zu entfernen ! Mein Verſtand
leidet , mein Gehirn iſt ſo angeſpannt ; um
mich vom Wahnſinne zu retten , überlaß ich
mich wieder dem Gefühle , daß ich ihn lie¬
be . — Ja , ich liebe ihn , ich liebe ihn ! rief
ſie unter tauſend Thränen , ich liebe ihn , und
ſo will ich ſterben .
Er faßte ſie bey der Hand , und bat ſie
auf das inſtändigſte , ſich nicht ſelbſt aufzu¬
reiben . O , ſagte er , wie ſonderbar iſt es ,
daß dem Menſchen nicht allein ſo manches
Unmögliche , ſondern auch ſo manches Mög¬
liche verſagt iſt . Sie waren nicht beſtimmt ,
ein treues Herz zu finden , das Ihre ganze
Glückſeeligkeit würde gemacht haben . Ich
war dazu beſtimmt , das ganze Heil meines
Lebens an eine Unglückliche feſtzuknüpfen , die
ich durch die Schwere meiner Treue wie ein
Rohr zu Boden zog , ja vielleicht gar zer¬
brach .
Er hatte Aurelien ſeine Geſchichte mit
Marianen vertraut , und konnte ſich alſo jetzt
darauf beziehen . Sie ſah ihm ſtarr in die
Augen , und fragte : können Sie ſagen , daß
Sie noch niemals ein Weib betrogen , daß
Sie keiner mit leichtſinniger Galanterie , mit
frevelhafter Betheurung , mit herzlockenden
Schwüren ihre Gunſt abzulocken geſucht ?
Das kann ich , verſetzte Wilhelm , und
zwar ohne Ruhmredigkeit ; denn mein Leben
war ſehr einfach , und ich bin ſelten in die
Verſuchung gerathen , zu verſuchen . Und
welche Warnung , meine ſchöne , meine edle
Freundin , iſt mir der traurige Zuſtand , in
den ich Sie verſetzt ſehe . Nehmen Sie ein
Gelübde von mir , das meinem Herzen ganz
angemeſſen iſt , das durch die Rührung , die
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Sie mir einflößten , ſich bey mir zur Sprache
und Form beſtimmt , und durch dieſen Au¬
genblick geheiligt wird : jeder flüchtigen Nei¬
gung will ich widerſtehen , und ſelbſt die
ernſtlichſten in meinem Buſen bewahren ; kein
weibliches Geſchöpf ſoll ein Bekenntniß der
Liebe von meinen Lippen vernehmen , dem ich
nicht mein ganzes Leben widmen kann .
Sie ſah ihn mit einer wilden Gleichgül¬
tigkeit an , und entfernte ſich , als er ihr die
Hand reichte , um einige Schritte . Es iſt
nichts daran gelegen , rief ſie , ſo viel Wei¬
berthränen mehr oder weniger , die See wird
darum doch nicht wachſen . Doch , fuhr ſie
fort , unter Tauſenden Eine gerettet , das iſt
doch etwas , unter Tauſenden Einen Redli¬
chen gefunden , das iſt anzunehmen . Wiſſen
Sie auch was Sie verſprechen ?
Ich weiß es , verſetzte Wilhelm lächelnd ,
und hielt ſeine Hand hin .
Ich nehm’ es an , verſetzte ſie , und machte
eine Bewegung mit ihrer Rechten , ſo daß er
glaubte , ſie würde die ſeine faſſen ; aber
ſchnell fuhr ſie in die Taſche , riß den Dolch
wie der Blitz heraus , und fuhr mit Spitze
und Schneide ihm raſch über die Hand weg .
Er zog ſie ſchnell zurück , aber ſchon lief das
Blut herunter .
Man muß euch Männer ſcharf zeichnen ,
wenn ihr merken ſollt , rief ſie mit einer wil¬
den Heiterkeit aus , die bald in eine haſtige
Geſchäftigkeit überging . Sie nahm ihr
Schnupftuch und umwickelte ſeine Hand da¬
mit , um das erſte hervordringende Blut zu
ſtillen . Verzeihen Sie einer Halbwahnſinni¬
gen , rief ſie aus , und laſſen Sie ſich dieſe
Tropfen Bluts nicht reuen . Ich bin ver¬
ſöhnt , ich bin wieder bey mir ſelber . Auf
meinen Knieen will ich Abbitte thun , laſſen
Sie mir den Troſt , Sie zu heilen .
Sie eilte nach ihrem Schranke , holte Lein¬
wand und einiges Geräth , ſtillte das Blut ,
und beſah die Wunde ſorgfältig . Der
Schnitt ging durch den Ballen gerade unter
dem Daumen , theilte die Lebenslinie , und
lief gegen den kleinen Finger aus . Sie ver¬
band ihn ſtill , und mit einer nachdenklichen
Bedeutſamkeit in ſich gekehrt . Er fragte
einigemal : Beſte , wie konnten Sie Ihren
Freund verletzen ?
Still ! erwiederte ſie , indem ſie den Fin¬
ger auf den Mund legte : ſtill !