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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Aurelie schien an allem, was vorging, we¬
nig Antheil zu nehmen, vielmehr führte sie
zuletzt unsern Freund in ein Seitenzimmer,
und indem sie ans Fenster trat und den ge¬
stirnten Himmel anschaute, sagte sie zu ihm:
Sie sind uns manches über Hamlet schuldig
geblieben; ich will zwar nicht voreilig seyn,
und wünsche, daß mein Bruder auch mit an¬
hören möge, was Sie uns noch zu sagen
haben, doch lassen Sie mich Ihre Gedanken
über Ophelien hören.

Von ihr läßt sich nicht viel sagen, ver¬
setzte Wilhelm, denn nur mit wenig Meister¬
zügen ist ihr Charakter vollendet. Ihr gan¬
zes Wesen schwebt in reifer süßer Sinnlich¬
keit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf
dessen Hand sie Anspruch machen darf, fließt
so aus der Quelle, das gute Herz überläßt
sich so ganz seinem Verlangen, daß Vater
und Bruder beide fürchten, beide geradezu

Aurelie ſchien an allem, was vorging, we¬
nig Antheil zu nehmen, vielmehr führte ſie
zuletzt unſern Freund in ein Seitenzimmer,
und indem ſie ans Fenſter trat und den ge¬
ſtirnten Himmel anſchaute, ſagte ſie zu ihm:
Sie ſind uns manches über Hamlet ſchuldig
geblieben; ich will zwar nicht voreilig ſeyn,
und wünſche, daß mein Bruder auch mit an¬
hören möge, was Sie uns noch zu ſagen
haben, doch laſſen Sie mich Ihre Gedanken
über Ophelien hören.

Von ihr läßt ſich nicht viel ſagen, ver¬
ſetzte Wilhelm, denn nur mit wenig Meiſter¬
zügen iſt ihr Charakter vollendet. Ihr gan¬
zes Weſen ſchwebt in reifer ſüßer Sinnlich¬
keit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf
deſſen Hand ſie Anſpruch machen darf, fließt
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ſich ſo ganz ſeinem Verlangen, daß Vater
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[282/0291] Aurelie ſchien an allem, was vorging, we¬ nig Antheil zu nehmen, vielmehr führte ſie zuletzt unſern Freund in ein Seitenzimmer, und indem ſie ans Fenſter trat und den ge¬ ſtirnten Himmel anſchaute, ſagte ſie zu ihm: Sie ſind uns manches über Hamlet ſchuldig geblieben; ich will zwar nicht voreilig ſeyn, und wünſche, daß mein Bruder auch mit an¬ hören möge, was Sie uns noch zu ſagen haben, doch laſſen Sie mich Ihre Gedanken über Ophelien hören. Von ihr läßt ſich nicht viel ſagen, ver¬ ſetzte Wilhelm, denn nur mit wenig Meiſter¬ zügen iſt ihr Charakter vollendet. Ihr gan¬ zes Weſen ſchwebt in reifer ſüßer Sinnlich¬ keit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf deſſen Hand ſie Anſpruch machen darf, fließt ſo aus der Quelle, das gute Herz überläßt ſich ſo ganz ſeinem Verlangen, daß Vater und Bruder beide fürchten, beide geradezu

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/291>, abgerufen am 22.11.2024.