Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

nur wie nach einem verschwundnen Traume.
Vergebens, daß sein Oheim ihn aufmuntern,
ihm seine Lage aus einem andern Gesichts¬
punkte zeigen will, die Empfindung seines
Nichts verläßt ihn nie.

Der zweyte Schlag, der ihn traf, verletzte
tiefer, beugte noch mehr. Es ist die Heirath
seiner Mutter. Ihm, einem treuen und zärt¬
lichen Sohne, blieb, da sein Vater starb,
eine Mutter noch übrig; er hoffte in Gesell¬
schaft seiner hinterlaßnen edlen Mutter die
Heldengestalt jenes großen Abgeschiednen zu
verehren; aber auch seine Mutter verliert er,
und es ist schlimmer als wenn sie ihm der
Tod geraubt hätte. Das zuverläßige Bild,
das sich ein wohlgerathnes Kind so gern von
seinen Eltern macht, verschwindet; bey dem
Todten ist keine Hülfe, und an der Lebendi¬
gen kein Halt. Sie ist auch ein Weib, und
unter dem allgemeinen Geschlechtsnahmen,
Gebrechlichkeit, ist auch sie begriffen.

nur wie nach einem verſchwundnen Traume.
Vergebens, daß ſein Oheim ihn aufmuntern,
ihm ſeine Lage aus einem andern Geſichts¬
punkte zeigen will, die Empfindung ſeines
Nichts verläßt ihn nie.

Der zweyte Schlag, der ihn traf, verletzte
tiefer, beugte noch mehr. Es iſt die Heirath
ſeiner Mutter. Ihm, einem treuen und zärt¬
lichen Sohne, blieb, da ſein Vater ſtarb,
eine Mutter noch übrig; er hoffte in Geſell¬
ſchaft ſeiner hinterlaßnen edlen Mutter die
Heldengeſtalt jenes großen Abgeſchiednen zu
verehren; aber auch ſeine Mutter verliert er,
und es iſt ſchlimmer als wenn ſie ihm der
Tod geraubt hätte. Das zuverläßige Bild,
das ſich ein wohlgerathnes Kind ſo gern von
ſeinen Eltern macht, verſchwindet; bey dem
Todten iſt keine Hülfe, und an der Lebendi¬
gen kein Halt. Sie iſt auch ein Weib, und
unter dem allgemeinen Geſchlechtsnahmen,
Gebrechlichkeit, iſt auch ſie begriffen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0285" n="276"/>
nur wie nach einem ver&#x017F;chwundnen Traume.<lb/>
Vergebens, daß &#x017F;ein Oheim ihn aufmuntern,<lb/>
ihm &#x017F;eine Lage aus einem andern Ge&#x017F;ichts¬<lb/>
punkte zeigen will, die Empfindung &#x017F;eines<lb/>
Nichts verläßt ihn nie.</p><lb/>
            <p>Der zweyte Schlag, der ihn traf, verletzte<lb/>
tiefer, beugte noch mehr. Es i&#x017F;t die Heirath<lb/>
&#x017F;einer Mutter. Ihm, einem treuen und zärt¬<lb/>
lichen Sohne, blieb, da &#x017F;ein Vater &#x017F;tarb,<lb/>
eine Mutter noch übrig; er hoffte in Ge&#x017F;ell¬<lb/>
&#x017F;chaft &#x017F;einer hinterlaßnen edlen Mutter die<lb/>
Heldenge&#x017F;talt jenes großen Abge&#x017F;chiednen zu<lb/>
verehren; aber auch &#x017F;eine Mutter verliert er,<lb/>
und es i&#x017F;t &#x017F;chlimmer als wenn &#x017F;ie ihm der<lb/>
Tod geraubt hätte. Das zuverläßige Bild,<lb/>
das &#x017F;ich ein wohlgerathnes Kind &#x017F;o gern von<lb/>
&#x017F;einen Eltern macht, ver&#x017F;chwindet; bey dem<lb/>
Todten i&#x017F;t keine Hülfe, und an der Lebendi¬<lb/>
gen kein Halt. Sie i&#x017F;t auch ein Weib, und<lb/>
unter dem allgemeinen Ge&#x017F;chlechtsnahmen,<lb/>
Gebrechlichkeit, i&#x017F;t auch &#x017F;ie begriffen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0285] nur wie nach einem verſchwundnen Traume. Vergebens, daß ſein Oheim ihn aufmuntern, ihm ſeine Lage aus einem andern Geſichts¬ punkte zeigen will, die Empfindung ſeines Nichts verläßt ihn nie. Der zweyte Schlag, der ihn traf, verletzte tiefer, beugte noch mehr. Es iſt die Heirath ſeiner Mutter. Ihm, einem treuen und zärt¬ lichen Sohne, blieb, da ſein Vater ſtarb, eine Mutter noch übrig; er hoffte in Geſell¬ ſchaft ſeiner hinterlaßnen edlen Mutter die Heldengeſtalt jenes großen Abgeſchiednen zu verehren; aber auch ſeine Mutter verliert er, und es iſt ſchlimmer als wenn ſie ihm der Tod geraubt hätte. Das zuverläßige Bild, das ſich ein wohlgerathnes Kind ſo gern von ſeinen Eltern macht, verſchwindet; bey dem Todten iſt keine Hülfe, und an der Lebendi¬ gen kein Halt. Sie iſt auch ein Weib, und unter dem allgemeinen Geſchlechtsnahmen, Gebrechlichkeit, iſt auch ſie begriffen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/285
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/285>, abgerufen am 17.05.2024.