Wucher vergolten! Wie rührend aber war es auch, den edlen Mann im Kreise seiner Unter- thanen zu erblicken. Doch liebte er diese Be- nennung nicht; er nannte sie nur seine Freunde. "Jch bin ärmer als sie," pflegte er zu sagen, "ich bedarf ihrer Hülfe mehr, als sie der mei- nigen, denn ich bin weniger abgehärtet, und mir sind so viele Bedürfnisse anerzogen, deren Entbehrung sie gar nicht gewahr werden." Der fein gebildete Mann, dessen geistreiche Unter- haltung von Höflingen bewundert wurde, war mit diesen Kindern der Natur so einfach als sie. Er stimmte seine Begriffe zu den ihrigen herab, um diese zu lenken, legte oft gesel- lig Hand an bei ihren Arbeiten, mischte sich in ihre Spiele, und erfreute sich herzlich bei ihren fröhlichen Scherzen. Bei jedem trau- rigen, ja nur rührenden, Anlaß füllte sich au- genblicklich sein blaues Auge mit Thränen, welche er jedoch sorgfältig zu verbergen suchte. Er half, wo er konnte, und tröstete, wo keine Hülfe war. So trat er wie ein Halbgott unter diese gedrückten, vernachlässigten Menschen und ein neuer Morgen brach an für dieses kleine freund-
Wucher vergolten! Wie ruͤhrend aber war es auch, den edlen Mann im Kreiſe ſeiner Unter- thanen zu erblicken. Doch liebte er dieſe Be- nennung nicht; er nannte ſie nur ſeine Freunde. „Jch bin aͤrmer als ſie,‟ pflegte er zu ſagen, „ich bedarf ihrer Huͤlfe mehr, als ſie der mei- nigen, denn ich bin weniger abgehaͤrtet, und mir ſind ſo viele Beduͤrfniſſe anerzogen, deren Entbehrung ſie gar nicht gewahr werden.‟ Der fein gebildete Mann, deſſen geiſtreiche Unter- haltung von Hoͤflingen bewundert wurde, war mit dieſen Kindern der Natur ſo einfach als ſie. Er ſtimmte ſeine Begriffe zu den ihrigen herab, um dieſe zu lenken, legte oft geſel- lig Hand an bei ihren Arbeiten, miſchte ſich in ihre Spiele, und erfreute ſich herzlich bei ihren froͤhlichen Scherzen. Bei jedem trau- rigen, ja nur ruͤhrenden, Anlaß fuͤllte ſich au- genblicklich ſein blaues Auge mit Thraͤnen, welche er jedoch ſorgfaͤltig zu verbergen ſuchte. Er half, wo er konnte, und troͤſtete, wo keine Huͤlfe war. So trat er wie ein Halbgott unter dieſe gedruͤckten, vernachlaͤſſigten Menſchen und ein neuer Morgen brach an fuͤr dieſes kleine freund-
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Wucher vergolten! Wie ruͤhrend aber war es
auch, den edlen Mann im Kreiſe ſeiner Unter-
thanen zu erblicken. Doch liebte er dieſe Be-
nennung nicht; er nannte ſie nur ſeine Freunde.
„Jch bin aͤrmer als ſie,‟ pflegte er zu ſagen,
„ich bedarf ihrer Huͤlfe mehr, als ſie der mei-
nigen, denn ich bin weniger abgehaͤrtet, und
mir ſind ſo viele Beduͤrfniſſe anerzogen, deren
Entbehrung ſie gar nicht gewahr werden.‟ Der
fein gebildete Mann, deſſen geiſtreiche Unter-
haltung von Hoͤflingen bewundert wurde, war
mit dieſen Kindern der Natur ſo einfach als
ſie. Er ſtimmte ſeine Begriffe zu den ihrigen
herab, um dieſe zu lenken, legte oft geſel-
lig Hand an bei ihren Arbeiten, miſchte ſich
in ihre Spiele, und erfreute ſich herzlich bei
ihren froͤhlichen Scherzen. Bei jedem trau-
rigen, ja nur ruͤhrenden, Anlaß fuͤllte ſich au-
genblicklich ſein blaues Auge mit Thraͤnen, welche
er jedoch ſorgfaͤltig zu verbergen ſuchte. Er half,
wo er konnte, und troͤſtete, wo keine Huͤlfe
war. So trat er wie ein Halbgott unter dieſe
gedruͤckten, vernachlaͤſſigten Menſchen und ein
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/35>, abgerufen am 27.07.2024.
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