Dieſelbe an dieſelbe .
Auf der Höhe von Gibraltar .
D ie Sonne taucht freundlich aus den Fluthen
herauf . Sie beleuchtet meinen Blicken zum
letzten Mahle das daͤmmernde Europa . Thraͤnen
benetzen meine Wangen , unwillkuͤhrlich ſtrecke
ich meine Arme nach dem heimiſchen Geſtade
aus ! ach , es ſchwindet von Minute zu Minute
weiter zuruͤck . Jch weine , ja , Adele , ich weine !
Die Weiblichkeit behauptet ihre vollen Rechte ,
und draͤngt den maͤnnlichen Muth in den Hinter-
grund . — Jch habe mich auf einige Augenblicke
in die Kajuͤte gefluͤchtet , um mich in der Ein-
ſamkeit recht aus zu weinen . Große Schmerzen
beruhigt der Menſch nur durch ſich ſelbſt , er
erhebt ſich nur durch eigne Kraft . Die mitlei-
digen Troͤſter , welche ſich auf dem Verdeck um
mich her verſammelten , thaten mir nur weher .
Wie kann man ſo in’s allgemeine hin zuſpre-
chen , wo man die feinſten Urſachen der Ruͤh-
rung nicht kennt , wohl ſelbſt ausgeſprochen nicht
kennen wuͤrde ! Wie will man den verwandten
Ton treffen , um dieſen Mißklang in Einklang
aufzuloͤſen ! Sogar der freundliche Kapitaͤn ver-
wies mich nur an mich ſelbſt , als er mir mit
ſeiner ſchoͤnen Stimme voll Ruͤhrung ſagte :
„ Liebe , ſchoͤne Miß , ſie verlaſſen ein Land voll
Unruhe und Verwirrung ; mein Vaterland , das
heilige Land der Freiheit , wird ſie als Tochter
aufnehmen , und dieſe bangen Thraͤnen trocknen .
Betrachten ſie mich als ihren Bruder , und ge-
bieten ſie uͤber Alles , was dieſer Bruder ſein
nennt . ‟ Guter Mann ! es iſt nicht das Ge-
fuͤhl des Verlaſſenſeyns , was mich beklemmt .
Jn den Saͤlen der Tuillerien wuͤrde ich mir
viel verwaiſ’ter erſcheinen .
Siehe , meine Thraͤnen ſind waͤhrend des
Schreibens getrocknet , und mein Muth kehrt
zuruͤck . Jch muß wieder hinauf , damit der
lange Aufenthalt in dem verſchloſſenen Raume
mir nicht nachtheilig werde . Jch will nicht ſee-
krank werden , wenn es irgend zu vermeiden
iſt . Krankheit wirkt auf den Geiſt , aber der
Geiſt beherrſcht mehr noch den Koͤrper . Der
meinige ſoll ſich aufheitern und ſtark ſeyn . Nur
noch einen Abſchiedsblick nach der Wiege mei-
ner Kindheit , nach den Graͤbern meiner Lieben ;
dann theilnehmend gelebt mit der Gegenwart ,
und die Vergangenheit noch ein Mahl wieder-
holt fuͤr meine Adele .
Unſer Leben gleicht des Jaͤgers Traͤumen ,
Der am waldbekraͤnzten Huͤgel ruht .
Er entſchlief am milden Strahl der Sonne ,
Von der Liebe , von der Jagden Wonne ,
Und erwachet in der Stuͤrme Wuth .
Sohn des Huͤgels , morgen wirſt du fragen :
Was verloͤſcht Ronkatlins hellen Schein ?
Hat das Meer den gluͤh’ nden Stern verſchlungen ?
Selmas Bardenharfen ſind verklungen ,
Toskars Tochter klaget dort allein !
Ach , Malwina wandelt zu der Halle ,
Staubumſchleiert lehnen Schild und Speer .
Es empfaͤngt ſie geiſterhaftes Grauſen ,
Kleiner Menſchen Soͤhne drinnen hauſen ,
Jhre Helden findet ſie nicht mehr .
Bald auch kehren Lutas ſanfte Maͤdchen ,
Ohne die Geſpielinn von der Jagd ,
Wenden ihren Thraͤnenblick voll Trauern
Nach Torluthas moosbewachſ’nen Mauern ,
Wo der Eichen Flamme nicht mehr lacht .
Du ſiehſt , liebe Adele , daß Oſſian mein
treuer Begleiter iſt . Wie haͤtte ich den ver-
geſſen ? er iſt ja ein Geſchenk von Dir . Jmmer
ſchon war er mein Lieblingsdichter , und jetzt iſt
er mir uͤber Alles theuer , das liebſte Gut ,
welches ich aus dem Schiffbruche gerettet . Erſt
jetzt verſtehe ich ihn ganz , und bei ſeinen Klag-
geſaͤngen ſchweigt mir das Leid im Buſen .
Oft ſtehe ich noch Abends einſam am Maſte
gelehnt , und betrachte die Gewoͤlke , welche der
untergegangenen Sonne nachziehen . Dann will
mich ’s oft beduͤnken , als lagerten die Helden
vergangener Zeiten auf ihrem roͤthlichen Saum .
Theure Geſtalten ! ihr begleitet Virginia nach
dem Lande , wo ſie einſt ruhen wird unter dem
mooſigen Steine , den die Hand eines Fremd-
lings mitleidvoll auf ihren Huͤgel legt . Doch
nicht von meinem Grabe wollte ich mit Dir
reden , traute Adele , als ich dieſes neue Blatt
anfing , ſondern von meinem Eintritt in das Le-
ben , und wie ich das wurde , was ich bin .
Meinen
Meinen Vater haſt Du gekannt , den ſchoͤ-
nen , herrlichen Mann . Du erinnerſt Dich noch
ſeines hohen maͤnnlichen Wuchſes , ſeiner ſtol-
zen Stirn , ſeiner Adlernaſe , der ſanften gro-
ßen blauen Augen , des freundlichen Mundes .
Du weißt noch , wie ernſt und feſt , wie wild
und freundlich er zu gleicher Zeit war . Als
juͤngerer Sohn des Ritters von Montorin , fuͤr
die Rechtsgelehrſamkeit beſtimmt , ſtudierte er
auf dem Kollegium zu Aix — als der Freiheits-
kampf in Amerika alle Herzen der europaͤiſchen
Jugend in Bewegung ſetzte . Sein aͤlterer Bru-
der , ſchon fruͤher im Militaͤr angeſtellt , wußte es
dahin zu bringen , daß er zu einem Regimente
verſetzt wurde , welches , im Laufe des Krieges , zur
Verſtaͤrkung der franzoͤſiſchen Huͤlfstruppen ein-
geſchifft werden ſollte . Lange hatte ſich ein
Oheim , deſſen Erbe er war , dieſem Wunſche
auf das lebhafteſte wiederſetzt . Der jugendliche
Enthuſiasmus ſiegte . Vor ſeiner Einſchiffung
muͤnſchte der aͤltere den juͤngern Bruder noch
zu ſehen , und nahm einen kleinen Umweg uͤber
Aix . Hier ergriff nun meinen Vater das un-
widerſtehliche Verlangen , den geliebten Bruder
Erſter Theil. [2]
in dieſen ehrenvollen Kampf zu begleiten . Plu-
tarch und Xenophon hatten den kaum erſt ſech-
zehnjaͤhrigen Juͤngling zum Manne gereift . Er
raffte zuſammen , was ſich ohne Aufſehen fort-
bringen ließ , und folgte heimlich dem Bruder ,
um als Freiwilliger den Feldzug mit zu machen .
Sie erreichten gluͤcklich den Hafen von Mar-
ſeille , wo die Flotte bereit lag , ſie aufzuneh-
men . Mit leichtem Herzen verließen ſie Frank-
reich . Dieſelben Wellen , die immer hin und
wieder kehren , auf deren Ruͤcken unſer Wa-
ſhington dahin tanzt , dieſelben trugen ſie froͤh-
lich zu dem erſehnten Ziele .
Mit hochklopfendem Buſen landeten die Juͤng-
linge , und begannen den Kampf gegen die Macht
des ſtolzen Englands . Drei Jahre fochten ſie
neben einander , mit wechſelndem Gluͤcke , doch
umſchwebte meiſtens der Sieg ihre Fahnen .
Jhre Heldenherzen riſſen ſie zu jeder ſchwieri-
gen Unternehmung voran . Wo die Gefahr
war , fochten die Bruͤder . Bei Eutav wankte
das Bataillon , welches der aͤltere als Oberſt
kommandirte , auf einen Augenblick . Ein moͤr-
deriſches Kartaͤtſchenfeuer der Englaͤnder trennte
die Glieder ; da entriß mein Oheim dem wei-
chenden Faͤhnrich das Panier : „ Wer mich
liebt und die Ehre , ‟ rief er „ der folge mir !
Freiheit und Sieg ! Freiheit und Sieg ! ‟ Mit
dieſen Worten ſtuͤrmte er im raſchen Laufe ge-
gen die feindliche Batterie vor . „ Freiheit und
Sieg ! ‟ rief mein Vater ; „ Freiheit , Sieg und
unſer Oberſt ! ‟ toͤnte es durch alle Glieder . Man
ſtuͤrmte ihm nach . Die Batterie war genom-
men , aber toͤdlich verwundet erreichte mein
edler Oheim das Ziel ſeiner Anſtrengung . Ein
Schuß in die Bruſt hatte ihn ſchon im halben
Laufe getroffen . Er hielt die linke Hand feſt
auf die Wunde gedruͤckt , um das fließende Blut
noch einige Augenblicke aufzuhalten , pflanzte
mit bebender Rechte die flatternde Fahne neben
dem feindlichen Geſchuͤtz auf , und ſank dann
ſterbend nieder . „ Mein Wunſch iſt erfuͤllt , ‟
ſagte er mit ſchwacher Stimme , „ der Sieg iſt
unſer . Freiheit und Menſchenrechte habe ich
dieſem dereinſt gluͤcklichem Lande erkaͤmpfen hel-
fen . Weine nicht , mein Bruder , weinet nicht ,
Kameraden , ich ſterbe den ſchoͤnſten Tod . ‟ Mit
dieſen Worten hauchte der jugendliche Held in
*
den Armen des Bruders ſeine große Seele aus .
Nur ein einfacher , kleiner Huͤgel konnte uͤber ſeine
irdiſchen Reſte errichtet werden , aber ſein Pantheon
iſt der Ort , wo er fiel , und mit heiliger Ehrfurcht ,
wie die Spartanerinn zu dem Paſſe von Ther-
mopylaͤ , werde ich dahin wallen . Er kaͤmpfte
nicht den zweideutigen Kampf fuͤr Land und
Beſitzthum , er focht fuͤr fremdes Gluͤck , fuͤr
die Menſchheit , fuͤr den Gott im Buſen . Jn
den Jahren des Genuſſes , ließ er ein glaͤnzen-
des Loos daheim , und hohe Erwartungen ; trug
in Wuͤſten alle Beſchwerden und Muͤhſeligkei-
ten des Krieges , um fuͤr ein fremdes gedruͤck-
tes Volk zu kaͤmpfen . Jndem ich mir ihn ſo
vergegenwaͤrtige , fuͤhle ich , was Ahnenſtolz iſt ,
und wie er entſpringt . Ja , ich bin ſtolz auf
ihn , auf den edlen nicht auf den adeligen
Menſchen . Urſpruͤnglich waren beide Worte
nur eins . Wehe ! daß man in der Folge Zei-
chen und Sache trennen mußte .
Nach dem Frieden kehrte mein Vater nach
Frankreich zuruͤck . Er fand den alten Herzog ,
ſeinen Oheim , tief gebeugt , uͤber den Verluſt
ſeines Lieblings , wurde aber , als nunmehriger
Erbe , mit allen Zeichen der Werthſchaͤtzung em-
pfangen , bei Hofe vorgeſtellt , bewundert und mit
Schmeicheleten uͤberhaͤuft . Die Frauen fanden
ihn unbeſchreiblich ſchoͤn , den Maͤnnern gebot er
Ehrfurcht , ein Theil der juͤngern , nicht ſehr be-
guͤnſtigten , ſchloß ſich mit Begeiſternng an ihn an .
Der Oheim that zweckmaͤßige Schritte , und er-
hielt die ſehr nahe Ausſicht zu einer anſehnlichen
Hofbedienung fuͤr ihn . Mein Vater liebte aber
den Hof nicht , ſo wenig man auch hinter ſei-
nem gefaͤlligen , zarten Benehmen , welches der
Abdruck ſeines menſchenfreundlichen Herzens war ,
ſeine Abneigung ahndete . Der Oheim war hoͤchſt
unangenehm uͤberraſcht , als ihm mein Vater
mit Feſtigkeit erklaͤrte , er werde ſich niemahls
an den Hof feſſeln . Nun beſtand der Oheim
darauf , ihm ein Regiement zu kaufen . Mein
Vater unterdruͤckte die Aeußerungen ſeiner Ge-
danken uͤber dieſes unrechtmaͤßige Verfahren ,
und weigerte ſich gleichfalls , ſcheinbar aus dem
Grunde , weil er den Soldatenſtand nicht liebe .
Man fand dieſe Abneigung hoͤchſt ungereimt
an einem jungen Helden , der nur eben mit fri-
ſchen Lorbern heimgekehrt war . Mein Vater aber
erwiederte , es ſey ganz ein anderes fuͤr Frei-
heit und Menſchenrecht in den Kampf zu ziehn ,
als auf Paraden zu glaͤnzen , und , als Soͤld-
ling , voͤllig fremden Zwecken zu dienen . Man
verſtand einander faſt gar nicht . Der Neffe
wuͤnſchte , zu ſeinen Studien zuruͤck zu kehren ,
und mit ſeinen geliebten Griechen und Roͤmern
zu leben ; der Oheim nannte dieß Pedanterie
und Verkehrtheit , wodurch er eben fuͤr die hoͤ-
here Welt und ſeine glaͤnzenden Entwuͤrfe ver-
dorben worden , und dem feinern Leben immer
mehr entfremdet wuͤrde . Die Spannung ſtieg
zwiſchen Beiden , ſo ſehr mein Vater ſich auch
Muͤhe gab , durch kindliche Zuvorkommenheit ,
dieſe Unzufriedenheit zu bekaͤmpfen . Endlich
erhielt mein Vater die Einwilligung , auf einige
Zeit , ein kleines Gut in der Provence beſuchen
zu duͤrfen , welches er von ſeiner Mutter geerbt ,
und ſeit ſeiner erſten Kindheit nicht geſehen
hatte . Er verließ in den erſten Fruͤhlingsta-
gen das geraͤuſchvolle Paris , wie der Vogel
den Kaͤfich . Er hatte dort wohl Freunde ge-
funden , aber die Luft , welche ſie gemeinſchaft-
lich umfangen hielt , war ſo ſchwuͤhl , daß ſie das
freie Aufathmen gar ſehr erſchwerte . Jetzt ſog
er wieder die junge Bruſt voll friſcher Lebens-
luſt und frohen Muth .
Du haſt Chaumerive geſehen , am noͤrdlichen
Ufer der Durance , dieſen ſchoͤnen Schauplatz
meiner frohen Jugend . Gewiß gedenkſt Du
noch des blumigen Thales , das ſich , mit Reben-
huͤgel umkraͤnzt , laͤngs den Ufern dahin zieht .
Vor allen aber des dunklen Fluſſes , der vor
unſrer Wohnung ſtroͤmt , von zahlloſen Fiſcher-
barken bedeckt ; denn gewiß iſt Dir die kuͤhne
Wallfarth noch im Gedaͤchtniß , welche wir beide
eines Nachmittags , auf ſeinem gruͤnen Uferwall
unternahmen , um ſeinen Ausfluß in die Rhone
zu ſehn . Wir gelangten dahin ; aber ſchon be-
gann die Sonne zu ſinken , als wir , gefeſſelt
von dem großen Schauſpiel , an die Ruͤckkehr
dachten , wo Dir dann Dunkelheit und Ermuͤ-
dung manche Thraͤne auspreßten . Hierher be-
gab ſich mein Vater . Freilich war es damals
bei weiten nicht ſo reizend , als Du es gefun-
den . Seit laͤnger als zwoͤlf Jahren von dem
Beſitzer vernachlaͤſſigt , waren die Gebaͤude ver-
fallen , die Gaͤrten verwildert , die Felder und
Weinberge nur fuͤr den augenblicklichen Nutzen
beſtellt . Mangel und Schmutz blickten aus den
einzelnen Huͤtten hervor , und blaßgelbe Geſtal-
ten , in Lumpen gehuͤllt , verrichteten traͤge die
noͤthigen Frohnarbeiten . Doch die Natur war
gleich uͤppig . Die wilde Durance tanzte eben
ſo trotzig daher . Die dunkeln Oliven ſchattir-
ten eben ſo anmuthig mit der friſchen Zitrone ,
und Tymian und Lawendel dufteten ſelbſt von
oͤden Triften .
Es bedurfte nur feſten Willen , Einſicht und
Geſchmack , um mit geringen Aufopferungen ein
Paradies zu ſchaffen , welches ſpaͤterhin jedes
Auge entzuͤckte . Mein Vater hatte ſchon im
Augenblicke der Ankunft ſeinen Entſchluß ge-
faßt . Er entließ den reich gewordenen Paͤch-
ter , mit einer angemeſſenen Verguͤtung , ver-
theilte den groͤßten Theil des Ackers unter ſeine
Bauern , gegen eine jaͤhrliche geringe , von ihnen
ſelbſt beſtimmte Pacht , und hob alle Zeichen der
Dienſtbarkeit auf . Er ſtellte ſich den erſtaun-
ten Menſchen , nur als ihren Freund und Rath-
geber dar , und gewann alle Herzen . Jeder-
mann griff muthig zur Arbeit , und die entwor-
fene Verbeſſerung ruͤckte mit Rieſenſchritten vor .
Der Weinbau wurde ganz auf die Huͤgel be-
ſchraͤnkt , dort aber um ſo ſorgfaͤltiger betrieben .
Es wurden fuͤr die Kelter nur gleichzeitig rei-
fende Gewaͤchſe von verwandten Eigenſchaften
gepflanzt . Der Oelbaum wurde nur ſparſam
zwiſchen den Reben geduldet , und bekraͤnzte
meiſt nur den Ruͤcken der Hoͤhen und die
noͤrdliche Seite . Die Ebenen wurden mit Wei-
zen beſaͤet , und ſorgfaͤltig von den ſchattenden
Baͤumen und dem wuchernden Geſtraͤuche gerei-
nigt . Die ſumpfigen Wieſen und Triften , laͤngs
dem Fluſſe , wurden durch zweckmaͤßige Graͤben
trocken gelegt und , durch Ausrottungen ein ſehr
großer Theil Acker fuͤr den faſt unbekannten
Kartoffelbau gewonnen . Auf dem magerſten
Theil des Landes wurden Maulbeer-Pflanzungen
angelegt , und Pommeranzen , Zitronen und alle
uͤbrigen Obſtarten in den Gaͤrten mit großer
Sorgfalt gezogen . So wurde durch kluge Son-
derung dieſes mannigfaltigen , ſonſt durch ein-
ander geworfenen Anbaues derſelben Grund-
flaͤche , ein zehnfacher Ertrag abgewonnen . Ueppig
wallte der goldne Weizen , wo ihn ſonſt der
Maulbeerbaum und das Geſtraͤuch erſtickte , und
der freie Weinſtock lieferte den koͤſtlichſten Wein .
Die entwaͤſſerten Triften naͤhrten zahlreiche und
kraͤftige Herden , wo ſonſt nur einige magere
Kuͤhe des Paͤchters weideten . Jetzt nahm der
Landmann , durch Vorſchuͤſſe meines Vaters un-
terſtuͤtzt , an allen Theil , und Wohlſtand kehrte
in ſeine reinliche Huͤtte zuruͤck , Geſundheit und
Kraft ſprach ſich in ſeiner regſamen Geſtalt
aus , und jene liebenswuͤrdige Froͤhlichkeit , welche
den guten Provenzalen ſo eigenthuͤmlich iſt .
O , wie wurde aber auch mein Vater von ſei-
nen treuen Unterthanen geliebt ! Seine Aus-
ſpruͤche waren Orakel , ſeine Felder und Berge
wurden am beſten bearbeitet , ſeine Bauten un-
glaublich ſchnell ausgefuͤhrt , und bei den Aus-
zahlungen entſtand nur Streit daruͤber , daß
er zu viel geben , und der Arbeiter zu wenig
nehmen wollte .
Welche hohe Zinſen trugen die kleinen ,
anfangs gemachten Aufopferungen ! Wie wur-
de ihm ſeine Leutſeligkeit in der Folge mit
Wucher vergolten ! Wie ruͤhrend aber war es
auch , den edlen Mann im Kreiſe ſeiner Unter-
thanen zu erblicken . Doch liebte er dieſe Be-
nennung nicht ; er nannte ſie nur ſeine Freunde .
„ Jch bin aͤrmer als ſie , ‟ pflegte er zu ſagen ,
„ich bedarf ihrer Huͤlfe mehr , als ſie der mei-
nigen , denn ich bin weniger abgehaͤrtet , und
mir ſind ſo viele Beduͤrfniſſe anerzogen , deren
Entbehrung ſie gar nicht gewahr werden . ‟ Der
fein gebildete Mann , deſſen geiſtreiche Unter-
haltung von Hoͤflingen bewundert wurde , war
mit dieſen Kindern der Natur ſo einfach als
ſie . Er ſtimmte ſeine Begriffe zu den ihrigen
herab , um dieſe zu lenken , legte oft geſel-
lig Hand an bei ihren Arbeiten , miſchte ſich
in ihre Spiele , und erfreute ſich herzlich bei
ihren froͤhlichen Scherzen . Bei jedem trau-
rigen , ja nur ruͤhrenden , Anlaß fuͤllte ſich au-
genblicklich ſein blaues Auge mit Thraͤnen , welche
er jedoch ſorgfaͤltig zu verbergen ſuchte . Er half ,
wo er konnte , und troͤſtete , wo keine Huͤlfe
war . So trat er wie ein Halbgott unter dieſe
gedruͤckten , vernachlaͤſſigten Menſchen und ein
neuer Morgen brach an fuͤr dieſes kleine freund-
liche Thal . Dem Vater ſelbſt ſchien ein ſchoͤ-
nerer Lebensmorgen aufgegangen . Jm lieblich-
ſten Wechſel flogen die Tage , flogen Sommer
und Herbſt dahin . Die Muſen beſuchten ihn
am winterlichen Kamine , deſſen Geſimſe es
nie an friſchen Blumen gebrach . Hier ahmte
er denn oft Anakreons Lieder nach beim ſchaͤu-
menden Becher voll ſuͤßen , feurigen Moſtes , oͤfter
noch die heimiſchen Geſaͤnge der alten Trouba-
dours . So durch Einſamkeit und Dichtkunſt zur
Liebe vorbereitet , fanden ihn die erſten entzuͤk-
kenden Tage des neuen Fruͤhlings . Man hatte
in Paris vergebens auf ſeine Ruͤckkunft gewar-
tet , der Herzog hatte vergebens ſchriftlich dar-
auf gedrungen ; mein , ſich zu gluͤcklich fuͤhlen-
der Vater , hatte immer aus zu weichen gewußt ,
indem er ſeine Gegenwart als nothwendig zur
Vollendung der begonnenen Bauten darſtellte .
Dieſe ſchilderte er ſo pomphaft , daß der Her-
zog , von Ehrgeitz ergriffen , unaufgefordert
große Summen uͤberſchickte , damit Provence
und Languedoc von der Pracht ſeines Hau-
ſes reden moͤchten . Wie weit aber war das ,
was mein Vater ausfuͤhrte , von dieſen ſtolzen
Anſichten entfernt ! Zwar hoͤchſt geſchmackvoll wa-
ren die neuen Schoͤpfungen , aber auch eben ſo
einfach ; die Wohnung , von maͤßiger Groͤße , war
nur fuͤr eine haͤuslich gluͤckliche Familie berechnet ,
in den Gaͤrten Schoͤnheit mit Nuͤtzlichkeit ge-
paart . Die erſparten Summen kamen ihm gut
zu Statten , ſeinen laͤndlichen Freunden auf zu
helfen , und ſeinem neuen Wirthſchaftſyſteme
Schwung zu geben . Gegen das Ende des Kar-
navals hatten ſeine Pariſer Freunde beſtimmt auf
ſeine Gegenwart gerechnet , und ihm vielfaͤltig
ihre Erfindungen fuͤr die letzten Maskenbaͤlle
mitgetheilt , woran er theilnehmen ſollte . Er
lehnte ihre Einladungen ab ; doch veranlaßten
ſie ihn zu dem Einfall , zum Faſtnachtabend
nach Aix zu reiſen , um der dortigen Maskera-
de beizuwohnen . Mit innigem Vergnuͤgen be-
trat er dieſe Stadt wieder , wo ſein Geiſt die
erſte Nahrung erhalten , und wo noch ſo viele
ſeiner Jugendgeſpielen lebten . Mancher von
ihnen , der ſonſt mit ihm in einer Klaſſe ge-
wetteifert hatte , riß jetzt auf der Redner-
buͤhne des Parlements durch ſeine feurige
Beredtſamkeit hin . Einer derſelben — ich nenne
ihn bei ſeinem Vornamen Victor — der Sohn
eines Kaufmannes , jetzt Parlaments-Advokat ,
ein feuriger , unternehmender Kopf , deſſen Herz
fuͤr alles Große ſchlug , und der , mit Auf-
opferung ſeiner ſelbſt , fuͤr das Recht kaͤmpfte ,
war außer ſich vor Freuden , ſeinen Leo wieder
zu ſehn , und lud ihn , fuͤr die Nacht , in das
Haus ſeines Vaters ein . Zuvor wollten ſich
beide Freunde noch auf dem Orbitello treffen ,
und ſich des Maskengetuͤmmels freuen . Luſt
und Leben empfing meinen Vater auf dieſem ent-
zuͤckenden Corſo , mit welchem ſich kaum die Bou-
levards von Paris meſſen koͤnnen . Die Baͤu-
me bluͤhten , die Fontainen ſprangen , und bei
jedem Schritt umringten ihn huͤpfende kleine
Maͤdchen , reichten ihm duftende Straͤuße und
baten um Zuckerwerk fuͤr die Schwalbe . Er
ging froͤhlich auf dieſe alt griechiſche Luſt ein ,
und fuͤllte und leerte unaufhoͤrlich ſeine Taſchen
fuͤr dieſe lieblichen kleinen Geſchoͤpfe . So ge-
langte er zur mittleren Fontaine , wo er ſchon
in der Entfernung ſeinen Freund erkannte , an
ſeinem Arme hing ein Maͤdchen in der Tracht
der Baͤuerinnen von Arles , dieſer faſt griechi-
ſchen Kleidung , welche ſo ſchoͤn ſteht . Das kurze
Unterkleid war aus blasrother Seide , und das
Drolet oder Oberkleid aus dunkelgruͤnem Sam-
met , um die dunklen Locken wand ſich ein Tuch
in gleicher Farbe mit Gold durchwirkt . Schuh-
ſchnallen und Armſpangen waren mit den ſchoͤn-
ſten Edelſteinen beſetzt , und um den blendend wei-
ßen Hals hingen blaßrothe Korallen . So erſchien
dieſe Nymphengeſtalt zum erſten Male den ent-
zuͤckten Augen meines Vaters . Sie ward meine
Mutter ! Du verzeihſt mir gewiß , daß ich
bei dieſer Veranlaſſung etwas umſtaͤndlicher er-
zaͤhle , als es wohl noͤthig iſt . Dieſer Moment
entſchied ja uͤber das Leben zweier mir ſo un-
endlich theuern Perſonen , und uͤber mein Da-
ſeyn . Mein Vater war als Troubadour geklei-
det , und Victor ſtellte ihm ſeiner Schweſter vor .
Der Eindruck , den beide auf einander machten ,
war uͤberraſchend , und als man ſich in der
Morgenfruͤhe trennte , waren beide von dem
Gefuͤhl durchdrungen , daß Leben ohne einander
Tod ſey !
Die Liebe , dieſe Bluͤthenzeit des Lebens ,
dieſer Silberblick auf ſeines Stromes Wellen iſt
nirgend maͤchtiger , als unter dem ſchoͤnen proven-
zaliſchen Himmel , dem Vaterlande der Lieder .
Hier nur vereinigt ſie Feuer und Zartheit in
gleichem Maße , hier nur iſt ſie die einzige große
Angelegenheit des Lebens . Auch meine Aeltern
fuͤhlten ſie , vom erſten Augenblick , als ſolche .
Leo athmete nur fuͤr ſeine Klara , und Klara
dachte nur ihn . Victor war hoch erfreut uͤber
das Buͤndniß zweier ihm ſo theuren Weſen ,
und ſeine ſiegende Beredtſamkeit riß den Vater
mit ſich fort , der wohl anfangs etwas von
Standesunterſchied bemerkte . Der Zeitgeiſt ent-
faltete ſchon ſeine Schwingen , und fand beſon-
ders in den beiden Freunden begeiſterte Herolde .
Sie hatten fruͤher nur in der idealen Welt der
Alten gelebt , und ſich von je Abkoͤmmlinge alt-
griechiſcher Kolonien getraͤumt . Leo hatte in
Amerika den Standesunterſchied , welcher ſei-
nem ſanften Herzen niemahls zugeſagt , als un-
bedeutend anſehen lernen , und Victors ſtolzes
Selbſtgefuͤhl wurde davon beleidigt . So ſtand
der Verlobung der beiden Liebenden kein Hin-
derniß
derniß weiter im Wege , und Leo eilte auf
Fluͤgeln der Liebe nach Chaumerive , um die noͤ-
thigen Anſtalten zum Empfange ſeiner jungen
Gattinn zu treffen . Er ſchrieb ſeinem Oheime
mit aller kindlichen Zaͤrtlichkeit eines Sohnes
und dem Entzuͤcken eines gluͤcklichen Braͤuti-
gams , und bat um ſeinen Segen . Er ſaͤhe , fuͤr
den ſchlimmſten Fall , wohl einer Unzufrieden-
heit , einer Mißbilligung des ſtolzen Herzogs ent-
gegen , doch hielt er dieſes fuͤr kein Hinderniß
ſeines Gluͤcks , da er die Volljaͤhrigkeit erreicht
hatte , und Chaumerive ſein unbeſtrittenes Ei-
genthum war . Mochte doch der Herzog ihm
die Erbſchaft ſeines Namens und ſeiner Guͤter
entziehen , ſie waren niemals das Ziel ſeiner
Wuͤnſche geweſen . Wie befremdet aber war
er , als ihm ein Kourier die Antwort des Her-
zogs uͤberbrachte , der ihn im ungemeſſenſten
Zorn einen Niedertraͤchtigen nannte , der die
Ehre ſeines Hauſes beſchimpfe , ihm befahl , ſo-
gleich dieſe entehrende Verbindung fuͤr immer
auf zu geben , und ſich zu ihm nach Paris zu
verfuͤgen . Mein Vater war empoͤrt uͤber die-
ſen Befehl . Er fuͤhlte ſich Mann , und ward
Erſter Theil. [3]
wie ein Knabe geſcholten . Daß er dieß nicht
ſey , beſchloß er zu zeigen . Er reiſte ungeſaͤumt
nach Aix , und beſchleunigte die Anſtalten zu
ſeiner Vermaͤhlung . Er fuͤhlte zu zart , um
ſeiner Clara und ihrer Familie , durch Mitthei-
lung des erhaltenen Schreibens , truͤbe Stunden
zu verurſachen . Er gedachte Claren kuͤnftig
nach und nach mit der Spannung oder dem
Bruche zwiſchen ihm und dem Oheime bekannt
zu machen , da er annahm , ſie werde davon , bei
dieſer Entfernung von Paris , in ihrem kleinen
Paradieſe wohl nicht beruͤhrt werden . Am Ende
ſieht der Oheim auch wohl die Sache , wenn
ſie geſchehen , anders an , dachte er , als jetzt ,
wo er ſie noch zu hintertreiben hofft , und ſo
uͤberließ ſich der gluͤckliche Leo , ohne Sorge , der
Seligkeit ſeines neuen Standes . Wenig Tage
nach der Vermaͤhlung , fuͤhrte er die geliebte
Clara in ſeine Heimath . Die Bewohner von
Chaumerive empfingen ihre ſchoͤne Frau , wie
ſie ſie nannten , gleich einer Koͤniginn , und die
freundliche Clara beſaß ſchon in den erſten Ta-
gen alle Herzen , eben ſo unumſchraͤnkt , als
ihr Leo . Du haſt , meine geliebte Freundinn ,
noch nach vielen Jahren geſehen , wie dieſes
edle Paar geliebt wurde . Jeder Tag erhoͤhte
ihr Gluͤck , denn an jedem Tage entdeckte einer
an dem andern mehr liebenswuͤrdige Eigen-
ſchaften . Schoͤne , ſelige Zeit ! die nur zu bald
endete , und nie in dieſer Reinheit wiederkehrte .
Kaum waren einige Monde , wie eben ſo
viel gluͤckliche Augenblicke geſchwunden , als in
einer rauhen Novembernacht ein ſtarkes Ge-
raͤuſch meinen Vater aus den Armen ſeiner
Gattinn aufſchreckte . Fackeln erleuchteten den
Hof , er ſieht im Schein derſelben einen ver-
ſchloſſenen Wagen halten , und in demſelben
Augenblick treten Polizeibeamte zu ihm ein .
Man zeigt ihm eine Lettre de cachet vor ,
und bemaͤchtigt ſich ſeiner Perſon . Kaum ver-
goͤnnte man dem uͤberraſchten Ungluͤcklichen Zeit
ſeine Lippen noch ein Mahl auf den Mund ſei-
ner ohnmaͤchtigen Gattinn zu druͤcken . Man
reißt ihn mit Raͤubereile hinunter . Am Wa-
gen haben ſich einige wenige ſeiner erwachten
Leute geſammelt . Sie wollen den geliebten
*
Herrn mit ihrem letzten Blutstropfen verthei-
digen ; man donnert ſie im Namen des Koͤ-
nigs zuruͤck , der Wagen wird verſchloſſen , und
dahin rollt er unaufhaltſam der furchtbaren Ba-
ſtille zu . Mein Vater , mein armer betaͤubter
Vater allein , und fuͤr den Augenblick ohne Aus-
ſicht auf Rettung . Aber er hatte eine maͤnn-
liche Seele , und dieſe verzweifelt nie . Der
Mann wagt auch den mißlichſten Kampf mit
dem Schickſal , und gibt die Hoffnung des
Sieges nur mit dem letzten Lebensfunken auf .
Wer vermoͤchte aber wohl die Verzweiflung
ſeiner ungluͤcklichen Klara zu ſchildern , als
ſie von ihrer tiefen Ohnmacht erwachte ! Noch
nach ſpaͤten Jahren gerieth ſie außer ſich ,
wenn ſie von dieſer fuͤrchterlichen Nacht ſprach .
Sie umklammerte dann unwillkuͤhrlich meinen
Vater mit krampfhafter Staͤrke , als fuͤrchte
ſie , ihn aufs neue zu verlieren , und Thraͤ-
nen und Kuͤſſe uͤberſtroͤmten ſein Geſicht .
Damals fehlte der Ungluͤcklichen ſogar die
Wohlthat der Thraͤnen . Stumm , gleich ei-
nem Marmorbilde , ſaß ſie da . Jhre Kam-
merfrau handelte an ihrer Statt , und ſandte
einen treuen Bothen zu Pferde nach Aix . Vic-
tor ſchaͤumte vor Wuth , er uͤberſah mit einem
Blick den ganzen Zuſammenhang , und zugleich
fuͤhlte er in ſeinem Buſen Kraft zu helfen , und
ſelbſt mit den Machthabern in die Schranken
zu treten . Er verſah ſich mit Geld und Wech-
ſeln , nahm Kourierpferde , und flog zu ſeiner an-
gebeteten Schweſter . Hier erſchien er , wie ein
rettender Engel . An ſeiner hohen Kraft rich-
tete ſich die Troſtloſe muͤhſam auf . Er hauchte
ihr einen Theil ſeiner Hoffnung ein , und be-
gab ſich ungeſaͤumt mit ihr nach Paris .
Jede zuruͤckgelegte Station belebte den Muth
der ungluͤcklichen Frau , ſie kam ja dem Gelieb-
ten naͤher , und ſchon allein in den Ringmauern
derſelben Stadt mit ihm zu leben , ſchien ihr
ein Gluͤck gegen jene ſchreckliche Entfernung .
Victor hoffte noch zuverſichtlicher . Die Nota-
blen waren verſammelt , alle Deputierte ſeiner
Provinz waren ihm bekannt und befreundet , er
durfte auf ihre kraͤftigſte Unterſtuͤtzung rechnen .
Seine Angelegenheit ſchien ihm die Sache der
ganzen Menſchheit ; wie konnte man ihm Ge-
rechtigkeit verſagen ? Jn dieſer Stimmung kam
das Geſchwiſterpaar in Paris an . Klara ver-
langte durchaus in einem Gaſthofe , der Ba-
ſtille ſo nahe als moͤglich , zu wohnen , denn es
ſchien ihr unbezweifelt gewiß , daß ihr Gemahl
ſich in derſelben befinde . Victor fand es frei-
lich ſehr moͤglich , daß er nach einem anderen ,
weit entfernten , feſten Schloſſe gebracht worden
ſey ; doch widerſprach er der Trauernden nicht ,
und gewaͤhrte ihr gern den ſchwachen Troſt . Er
ſelbſt fing ſeine Nachforſchungen mit raſtloſem
Eifer an . Er ſprach mit ſeinen Freunden , ging
nach Verſaille , um den Grafen von Mirabeau ,
einen alten Freund ſeines Hauſes , auf zu ſu-
chen . Ueberall fand er die herzlichſte Theilnahme
und den beſten Willen zu helfen ; doch war die
Sache ſo leicht nicht , als er gewaͤhnt . Alles kam
darauf an , zu erfahren , wohin der Gefangene ge-
bracht worden , und hieruͤber gelangte man durch-
aus nicht zur Gewißheit . Zwar hatte man von
Chaumerive den Weg nach Paris genommen , ſo
viel hatte man in der Nachtbarſchaft erfahren ;
ob man aber nicht ſpaͤterhin dieſe Straße ver-
laſſen , wer konnte das verbuͤrgen ? Der Herzog ,
welcher am erſten Auskunft zu geben vermochte ,
war faſt unzugaͤnglich . Er weigerte ſich durch-
aus Victor zu ſehen , ließ ihn jederzeit abweiſen ,
ſo oft er auch die Verſuche , ihn zu ſprechen , er-
neuerte . Nicht gluͤcklicher waren die Bemuͤhungen
derer , welche ihr Rang in ſeine Zirkel fuͤhrte .
Der alte Hofmann ſtellte ſich voͤllig unwiſ-
ſend . Nach vielen mißlungenen Schritten brachte
es Mirabeau dahin , daß Victor eine geheime
Audienz beim Koͤnige erhielt . Der Monarch
ſchien zwar geruͤhrt bei der lebhaften Schilde-
rung des jungen Mannes , doch meinte er , man
muͤſſe die Anſichten eines herzoglichen Hauſes
auch beruͤckſichtigen , deſſen Haupt einer ſeiner
aͤlteſten und treuſten Diener ſey . Alles , was
man zuletzt erhielt , war ein Befehl an den
Gouverneur der Baſtille , daß , wenn ſich ein
Gefangener dieſes Namens in ſeinem Gewahr-
ſam befinde , dieſem , unter gehoͤriger Vorſicht ,
eine Zuſammenkunft mit ſeiner Gattinn und ſei-
nem Schwager zu geſtatten . Mit dieſem theu-
ren Papier eilten die Hoffnungsvollen in die
finſtern Mauern . Klarens Herz ſchlug laut vor
ungeſtuͤmer Freude . Aber o Schrecken ! dem
Gouverneur war dieſer Name gaͤnzlich unbe-
kannt . Er ſchlug nach vielen Weigerungen die
Regiſter vom Monat November auf , doch ver-
gebens . Victor entdeckte zwar , bei einer raſchen
Wendung , daß um dieſe Zeit ein junger Mann
eingebracht worden , aber Name und Wohnort
trafen nicht zu . Klara verlangte , voll ahnden-
den Gefuͤhls , dieſen Unbekannten zu ſehen , aber
der Gouverneur ſchlug es mit Feſtigkeit ab .
Der Befehl laute nur auf eine beſtimmte Per-
ſon , alles uͤbrige ſey gegen ſeine Pflicht . Hart
von Natur , und mehr noch durch Gewohnheit ,
weigerte er ſich auch nur die mindeſte Auskunft
uͤber dieſen Unbekannten zu geben . So verließ
man dieſen Ort des Schreckens voͤllig unver-
richteter Sache . Klara mit der feſten Ueber-
zeugung , der Unbekannte ſei ihr Gemahl , Vic-
tor zweifelhaft . Neue Verſuche , neue Hinder-
niſſe . Dem Koͤnige war ſchwieriger beizukom-
men . Er hielt es fuͤr unmoͤglich , daß Jemand
unter fremden Namen gefangen ſaͤße , und ver-
weigerte eine Erlaubniß , dieſen Fremden zu ſehn ,
weil Staatsgeheimniſſe dabei gefaͤhrdet werden
koͤnnten . Am Ende gab er einen aͤhnlichen Be-
fehl fuͤr St. Vicenz , und die Geſchwiſter rei-
ſeten dahin , obwohl Klara keinen Erfolg davon
hoffte . Die Nachforſchungen waren wieder ver-
geblich . So ging der Winter , und der groͤßte
Theil des Fruͤhlings voruͤber . Meine arme
Mutter ruͤckte ihrer Entbindung immer naͤher ,
und verſank immer tiefer in Gram . Jhre
einzige Erholung war , auf dem Platze vor
der Baſtille auf und nieder zu gehn , und
die duͤſtern Mauern an zu blicken , die ihr Alles
umſchloſſen . Jhr Bruder konnte ſie zu keinem
andern Spaziergange mehr bereden . Man kannte
ſie hier ſchon , und nannte ſie nur die ſchoͤne
Trauernde ; Jedermann betrachtete ſie mit Theil-
nahme . Jhr Bruder traf jetzt nur auf lebhaft
beſchaͤftigte und bewegte Gemuͤther ; die Span-
nung zwiſchen den Notablen und dem Hofe ſtieg
aufs hoͤchſte , und die Gaͤhrung war allgemein ,
in ihr ging alles Einzelne unter . Auch Victor ,
ob er gleich das Schickſal ſeines Freundes nie
aus den Augen verlor , warf ſich doch mit
Feuer in die oͤffentlichen Angelegenheiten . Jhm
war klar , daß eine große Umwaͤlzung der
Dinge unvermeidlich und nothwendig ſey . Die
Hoffnung fuͤr ſeinen Leo knuͤpfte er an das all-
gemeine Wohl , und raſtloſer als einer arbeitete
er , an der neuen Organiſation .
So kam der Julius heran , dieſer ſo oft
beſchriebene , und in der Weltgeſchichte ewig
merkwuͤrdige Monat . Meine Mutter wurde
von all dem Treiben um ſie her , nur ſehr we-
nig gewahr , ihr tiefer Kummer machte ſie un-
empfaͤnglich fuͤr die Außenwelt . Sie hoͤrte es
kaum , wenn man ſie bedauerte , und Voruͤber-
gehende ſie laut ein Opfer der Tyrannei nann-
ten . Tief in ſich gekehrt ging ſie auch am
14ten Julius Mittags auf ihrem gewoͤhnlichen
Spaziergange auf und nieder , und es dauerte
lange , ehe das Herbeiſtroͤmen einer zahlloſen
Volksmenge ſie aufmerkſam machte . Man um-
ringt ſie , Weiber und Maͤdchen umwinden ſie
mit dreifarbigen Baͤndern „ auch Du ſollſt ge-
raͤcht werden ! ‟ rufen ſie . Das Getuͤmmel nimmt
zu . Von allen Seiten das Geſchrei : „ Nieder
mit der Baſtille , nieder ! ‟ Kanonen werden
aufgepflanzt , die Thuͤrme vom Zeughauſe und
vom Garten werden eingeſtoßen , Loͤcher in die
Mauern gebrochen . Meine Mutter faͤngt an
zu begreifen , was vorgeht , ſie zittert vor Schreck
und Freude , ſie ſinkt auf die Knie und ſtreckt
die Arme nach dem fuͤrchterlichen Gefaͤngniſſe
aus ; die Sinne vergehen ihr , die mitleidigen
Umſtehenden ſind kaum im Stande ſie gegen
den gewaltſamen Andrang der Menge auf einige
Augenblicke zu ſchuͤtzen . Da arbeitet ſich Vic-
tor durch das dichteſte Gedraͤnge , faßt ſeine
ohnmaͤchtige Schweſter in ſeine Arme , draͤngt
ſich mit Rieſenkraft ruͤckwaͤrts , und traͤgt ſie in
ihre Wohnung zuruͤck . Sie ſchlaͤgt die Augen
auf , aber in demſelben Momente ſtellen ſich
auch heftige unbekannte Schmerzen ein , alles
verkuͤndigt eine beſchleunigte Entbindung . Vic-
tor ruft um Huͤlfe , er uͤbergibt ſie der Sorg-
falt der Frauen , ſpricht ihr Muth ein und
ſelige Hoffnung , und eilt zuruͤck , wohin Begei-
ſterung und Pflicht ihn rufen . Er legt mit der
Staͤrke eines Raſenden Hand an , er iſt der
Zweite in der Breche . Wuͤthend packt er ei-
nen der Jnvaliden , er muß ihm die Eingaͤnge
zu den Gefaͤngniſſen zeigen , und ohne auf die
uͤbrigen Ereigniſſe zu achten , iſt ſein einziges
Streben , die Thuͤren dieſer hoͤlliſchen Behaͤl-
ter zu oͤffnen . Werkzeuge ſind ſchnell gefunden ,
auch huͤlfreiche Arme in Menge . Man befreit
eine ziemliche Anzahl der ungluͤcklichen Schlacht-
opfer tyranniſcher Willkuͤhr , doch findet ſich kein
Leo . Endlich weicht eine beſonders ſtark befe-
ſtigte Thuͤr , und mein Vater ſtuͤrzt dem freude-
ſchwindelnden Victor in die Arme . Freiheit iſt
das erſte Wort , welches aus beider Bruſt ſich
hervordraͤngt , das zweite Klara ! Lebt ſie ? ruft
mein Vater . Sie iſt hier ! ſchreit mein Oheim !
und ſo machen ſich Beide , feſt umſchlungen , un-
aufhaltſam Bahn durch die theilnehmende Menge .
Sie erreichen faſt athemlos Klaras Wohnung .
Meine Mutter lag blaß und erſchoͤpft im Bette ,
ich ruhte an ihrer Bruſt . Seit wenig Minu-
ten hatte ich das Licht der Welt erblickt . Mein
Vater ſtuͤrzte knieend an dem Bette nieder . Jn
ſprachloſer Freude hing er an den Lippen der
Geliebten , und uͤberſtroͤmte ihre Haͤnde mit
Thraͤnen und Kuͤſſen . Dann nahm er mich in
ſeine Arme , und druͤckte mich , gewaltſam ſchluch-
zend , an ſein Herz . Ploͤtzlich hob er mich
hoch in die Hoͤhe , und rief laut und feierlich :
Virginia , Virginia ! du theures Pfand der neuen
Freiheit ! Roms Virginia ſprengte durch ihren
Tod Roms Bande ; du verbuͤrgſt mir durch
den Augenblick deiner Geburt die Freiheit dei-
nes Vaterlandes , und knuͤpfeſt mich mit tauſend
neuen Banden an daſſelbe . Er legte mich wieder
auf das Bett , und ſeine Rechte ſegnend auf
meine Stirn . Victor kniete tief erſchuͤttert ne-
ben ihm , und legte ebenfalls ſeine Hand , wie
zum Schwur , auf mein Haupt . „ Freiheit und
Vaterland ! Freiheit und Gleichheit ! ‟ ſprach er
mit hohem Ernſte . „ Vaterland , Freiheit und
Gleichheit ! ‟ ſprach mein Vater ihm nach . Dann
ſchlugen beide Maͤnner kraͤftig die Haͤnde in
einander , und umarmten ſich . Laͤchelnd und
ſelig ſah meine Mutter auf dieß erhabene Schau-
ſpiel herab . Sieh , Adele , ſo wurde ich gebo-
ren . Koͤnnte ich es jemals ertragen , daß man
den 14ten Julius mit Schmaͤhungen belegt ?
wuͤrden die Deinen mein Feſt jemals mit gu-
tem Herzen feiern wollen ? Nein , Virginia , die
erſtgeborne Tochter der Freiheit , muß in einem
freien Lande ſterben .
Von dieſem Zeitpunkt an waren meine Ael-
tern auf immer vereinigt und gluͤcklich . Die
Begebenheiten , die den Thron erſchuͤtterten , hat-
ten ihr Gluͤck gegruͤndet . Konnte die dankbare
Erinnerung daran , ſie jemals verlaſſen ? konn-
ten ſie jemals vergeſſen , daß die Deſpotie die
erſten friſcheſten Bluͤthen dieſes Gluͤckes abge-
ſtreift ? — Mein Vater theilte nunmehr ſeine
Zeit zwiſchen den Freuden ſeiner Haͤuslichkeit
und den ernſten Bemuͤhungen fuͤr das oͤffent-
liche Wohl . Er erneuerte ſeine fruͤheren Ver-
bindungen , und knuͤpfte neue . Sein Einfluß
wurde bei den Berathſchlagungen und Entwuͤr-
fen von ſegensreichem Nutzen . Auch auf ſeine
Familie wendete er ſeine zaͤrtlichſte Sorge . Sein
edles Herz mochte nur Boͤſes mit Gutem ver-
gelten , und ſein uͤberlegener Verſtand floͤßte ihm
gegen die Verkehrtheiten der Menſchen mehr Mit-
leid als Zorn ein . Er verſuchte den alten Her-
zog zu ſehn , und hoffte ihm in dieſer Kriſis
nuͤtzlich zu werden . Aber der erbitterte Mann
wich allen ſeinen Bemuͤhungen aus , und war
einer der erſten , welche die Sache ihres Va-
terlandes und ſeinen heiligen Boden verließen .
Naͤchſtdem war meines Vaters erſter Weg zu
Deiner Mutter . Er hatte dieſe , ſeine einzige
Schweſter , zwar wenig gekannt , aber er liebte
ſie mit bruͤderlichem Herzen . Sie war , als er
nach Amerika ging , noch ein zartes Kind , und
befand ſich ſchon im Kloſter St. Cyr zur Er-
ziehung . Nach ſeiner Zuruͤckkunft hatte er ſie
mehrere Mahle dort beſucht , und ſich ihrer auf-
bluͤhenden Schoͤnheit und ihres ſanften We-
ſens gefreut . Aber ein Sprachgitter bleibt
immer eine Scheidewand zwiſchen liebenden
Geſchwiſtern , welche , wenn auch nicht die
Liebe mindert , doch die Vertraulichkeit hemmt .
Mein Vater war ſchon in Chaumerive , als er
erfuhr , daß der Herzog Deine Mutter an den
Hof gebracht , wo ſie vielen Beifall ernte . Um
die Zeit ſeiner eigenen Verheirathung hoͤrte er ,
ſie werde ſich mit dem Herzog von P. vermaͤh-
len . Er ſchrieb ihr , ſie antwortete ihm zwar
zaͤrtlich , doch ſehr ſchuͤchtern , und deutete auf
den Zorn des Oheims , und auf die Beſchraͤn-
kung , worein ihre nahe bevorſtehende Verbin-
dung ſie zu verſetzen drohe . Sie pries ihn
gluͤcklich , als Mann ſein Schickſal einiger Ma-
ßen ſelbſt beſtimmen zu koͤnnen , und wuͤnſchte
ihm herzlich Gluͤck , doch warnte ſie ihn zugleich
mit maͤdchenhafter Furchtſamkeit . Zu dieſer ge-
liebten Schweſter flog nun mein Vater . Sie
empfing ihn mit der lebhafteſten Freude , aber
ihr Herz beklemmten aͤngſtliche Sorgen . Jhr
Gemahl hatte ihr wenige Stunden zuvor ange-
kuͤndigt , daß die Prinzeu entſchloſſen waͤren ,
uͤber die Graͤnze zu gehen , in Hoffnung , daß der
groͤßere Theil des Adels ihnen folgen werde , und
daß man von dort aus den Anmaßungen des
dritten Standes vernichtend begegnen koͤnne .
Er hatte ihr befohlen , ſich reiſefertig zu halten ,
um ihm zu folgen . Sie befand ſich im neun-
ten Monat ihrer Schwangerſchaft , liebte ihre
Umgebung , und fuͤrchtete den unbekannten rau-
hen Norden . So ſank ſie weinend in die
Arme ihres bekuͤmmerten Bruders . Der Her-
zog Dein Vater trat kurz darauf ins Zimmer .
Die Begruͤßung der beiden Schwaͤger war kalt
und foͤrmlich . Mein Vater lenkte ſogleich das
Geſpraͤch auf das Jntereſſe der Zeit , der Dei-
nige wich ihm mit ſtolzer Hoͤflichkeit aus , oder
ſprach mit wegwerfender Anmaßung ab . Jener
be-
beſchwor ihn zwar , wenigſtens Ruͤckſicht auf ſeine
kraͤnkelnde Gattinn zu nehmen , fand aber kein
Gehoͤr . Seine redlichen Anerbietungen zu ſichern-
den Maßregeln , in Betreff der Guͤter , fuͤr den
ſchlimmſten Fall , wurden mit Mißtrauen , ja
faſt mit Hohn , zuruͤck gewieſen . Denſelben Er-
folg hatte ſein edler Wille bei ſeinem Oheim ,
dem Herzog , auch er verſpottete jede Aeußerung
von Beſorgniß und wies jede , ihm angebotene
Dienſtleiſtung , in den beleidigendſten Ausdruͤcken ,
zuruͤck . Dennoch hat mein Vater dieſen Undank-
baren in der Folge , wider ihren Willen , die groͤßten
Dienſte geleiſtet , indem er ihre Guͤter , unter
Mitwirkung einiger ſeiner bewaͤhrteſten Freunde ,
durch Scheinkaͤufe groͤßten Theils rettete , und
ihnen von Zeit zu Zeit einen Theil der Einkuͤnfte ,
mit großer perſoͤnlicher Gefahr , uͤberſendete . Fuͤr
jetzt konnte er fuͤr die geliebte Schweſter nichts
weiter thun , als daß er ihr die Verguͤnſtigung aus-
wirkte , nach England zu gehen , wohin er ihr Paͤſſe
verſchaffte . Victor beſorgte , durch die Handels-
verhaͤltniſſe ſeines vaͤterlichen Hauſes , eine ſchnelle
und bequeme Ueberfahrt , eben ſo Anweiſung
bedeutender Summen auf Londoner Haͤuſer .
Erſter Theil. [4]
So wurde deine gute Mutter , wider ihren Wil-
len und mit einer grauſamen Eile , wie die Um-
ſtaͤnde ſie forderten , aus ihrem Vaterlande und
aus den Armen ihres kaum wiedergefundenen
Bruders geriſſen . . Kaum hatte ſie den eng-
laͤndiſchen Boden betreten , als ihre Niederkunft
heran nahete , und ſie Deinen Bruder Louis
gebahr .
Die Revolution ging nun ihren raſchen Gang .
Mein Vater und ſein Freund ſchwammen in
Seligkeit , alle die Traͤume ihrer fruͤheren Juͤng-
lingstage , in die Wirklichkeit heraus treten zu
ſehen . Beſchluͤſſe wurden gefaßt , Grundſaͤtze
wurden aufgeſtellt , welche die Bewunderung der
Welt erregten . Europa ſah eine herrliche Mor-
genroͤthe aufgluͤhen , und der groͤßere Theil ſei-
ner Bewohner jauchzte ihr entgegen . Arme
Sterbliche ! ihr haͤttet bedenken ſollen , was ſchon
die Erfahrung dem Landmann lehrt , daß das
hochflammende Roth im Oſten , auf einen ſchwuͤlen
Gewittertag deutet . Das ganze Heer menſch-
licher Leidenſchaften miſchte ſich ins Spiel , und
verfaͤlſchte die reine Begeiſterung , welche das
große Werk begonnen . Die Edlen unter den
Volksfuͤhrern , befanden ſich in der Lage des
Siſyphus , der Stein rollte wieder bergab ,
wenn ſie ihn bis zur Hoͤhe gewaͤlzt zu ha-
ben glaubten , und viele wurden von ſeinem ge-
waltſamen Sturz zerſchmettert . Mein Vater
redete und handelte muthig fuͤr ſeine Ueberzeu-
gung , aber er ſahe mit Schmerz daß das begon-
neue Werk nicht nach ſeinem ſanften edlen Sinne
zu beendigen ſey . Er hatte in ſeiner großen
Seele der Menſchheit einen hoͤheren Grad der
Reife zugetraut , als er jetzt fand . Mirabeau
ſtarb , die Jacobiner organiſirten ſich , und die
Parteien fingen an ſich zu bekaͤmpfen . Der
Hof und das Ausland trieben ihr finſteres Spiel ,
und verwirrten die geheimen Faͤden des Gewe-
bes ſo kuͤnſtlich , daß man bei den meiſten un-
glaublichen Begebniſſen , nicht mit Gewißheit
ſagen konnte , von welcher Seite die wirkſam-
ſten Schlaͤge gekommen . Sicher haͤtte deſſen un-
geachtet mein Vater den Kampf nicht geſcheut ;
doch meine Mutter zitterte fuͤr den theuern
ſchon ein Mahl verlorenen Gatten . Sie beſchwor
*
ihn taͤglich , dieſen unſichern Schauplatz zu ver-
laſſen , und ſie zuruͤck zu fuͤhren in ihre gluͤckliche
Heimath . Er konnte auf die Laͤnge , ihren
Thraͤnen nicht widerſtehen ; auch zog ihn die
Sorge fuͤr ſeine verlaſſenen Anlagen und fuͤr
das Wohl ſeiner Bauern zuruͤck nach Chau-
merive , Victor blieb in Paris . Sein Feuer-
geiſt fand ſich am Rande des Vulkans in ſei-
nem Elemente .
Jn Chaumerive legte nun mein Vater alle
Auszeichnungen ſeines Standes voͤllig ab . Die
Wappen wurden uͤberall abgenommen , die Li-
vreen abgeſchafft . Man richtete ſich bequem ,
aber ſehr einfach , ein . Mein Vater verſammelte
die ſaͤmmtlichen Bewohner , nannte ſie ſeine guten
Freunde und Nachbarn , erklaͤrte ſich ganz fuͤr
ihres Gleichen und bat ſie , ihn nie mehr gnaͤ-
diger Herr , ſondern ſchlechtweg Buͤrger zu nen-
nen . Die guten Leute erſtaunten , doch waren
ſie ſchon an einen hohen Grad von Leutſeligkeit
und Gleichheitsſinn bei meinem Vater gewoͤhnt ,
und liebten ihn nun nur um ſo ſtaͤrker . Sie leg-
ten ihm Rechenſchaft ab von ihren Haushalt ,
waͤhrend ſeiner Abweſenheit . Sie hatten ſeine
Aecker , gleich den ihrigen , beſtellt , und den Er-
trag gewiſſenhaft bewahrt . Mein Vater bezeigte
ihnen ſeine lebhafte Dankbarkeit , und die guten
Menſchen glaubten ſich ihm verpflichtet . Es
knuͤpften ſich die ſchoͤnen Bande der gegenſeiti-
gen Liebe und des Vertrauens immer feſter ,
und trotzten allen nachfolgenden Stuͤrmen der
Zeit . So unruhvoll und blutig auch die folgen-
den Jahre fuͤr Frankreich geweſen ſind , mein
friedliches Thal , die Wiege meiner Kindheit , iſt ,
Dank der Sinnesart meines guten Vaters ! im-
mer ſo ruhig und gluͤcklich geblieben , als laͤge
es auf einer Jnſel des ſtillen Oceans .
Der benachbarte Adel nannte ihn anfangs
einen Tollhaͤusler , und wich ihm aus ; ſpaͤter-
hin hielt er ihn fuͤr einen Schlaukopf , und
ſuchte oft ſeine Vermittelung . Erkannt haben
ihn nur Wenige ; man hielt fuͤr Klugheit , was
nur Vernunft und Gefuͤhl war .
Jn dieſer ſchoͤnen Umgebung , an der Hand
der Liebe , ging ich meine erſten Schritte , hier
wurde mein Geiſt ſich ſeiner bewußt . Meine
Aeltern machten zu meiner Erziehung keine kuͤnſt-
lichen Anſtalten , man uͤberließ mich der Natur ,
und dem guten Beiſpiele . Liebe , die zaͤrtlichſte
aufopferndſte Liebe umgab mich , und erzeugte in
mir tiefes , reges Gefuͤhl . Mein Geiſt bedurfte kei-
nes Sporns , er entwickelte ſich uͤberaus fruͤh-
zeitig , und ſchaffte ſich Nahrung . Jch lernte
faſt von ſelbſt leſen , in einem Alter , wo andere
Kinder kaum einige Worte im Zuſammenhange
ausſprechen . Meine Mutter ſchaffte mir Pup-
pen an und anderes Spielgeraͤth , ich wußte eben
nichts damit anzufangen , und warf es bald
bei Seite , traurig fragend „ Was ſoll Vir-
ginia nun machen ? ‟ Meine Mutter begriff
dieſe Eigenheit nicht , und verlor oft die Geduld .
Mein Vater erhielt , durch einen Zufall , ein altes
Werk , welches meine kindiſche Aufmerkſamkeit auf
ſich zog . Es war eine Weltgeſchichte , durchweg
in Kupfern bildlich dargeſtellt , der Text dane-
ben in veraltetem , doch kraͤftigem Styl . Jch beſah
eifrig die wirklich ſchoͤnen Kupfer , und verlangte
ihre Erklaͤrung ; meine Mutter verſtand ſich we-
nig darauf , und fertigte mich mit Auslegungen
ab , welche ſie fuͤr mein Alter paſſend glaubte ,
die mir aber nicht genuͤgten . Jch wendete mich
an meinen Vater , und dieſer erklaͤrte mir die Bil-
der einfach , aber wahr . Jch hing an ſeinen
Lippen , und wollte ihn nimmer wieder laſſen ;
aber der gute Vater mußte doch oft abweſend
ſeyn , und ich blieb dann mit meinem lieben
Buche allein . Wenn du erſt leſen kannſt , troͤ-
ſtete mich der Vater , dann kannſt du dir die
Geſchichten ſelbſt erklaͤren . Das war ein Blitz-
ſtrahl in meine Seele geworfen . Jch uͤbte mich
unermuͤdet , und in kurzen las ich fertig in
meiner lieben Geſchichte . Nun war meine Be-
ſchaͤftigung gefunden , ich fuͤhlte keine Leere mehr .
Alle Zeit wo ich nicht im Freien herumſprang
oder mit meinen Aeltern plauderte , ſaß ich bei
dem Buche . Jch las und las wieder ; Begriffe
reihten ſich an Begriffe , und ich verſtand , ich fuͤhlte
was ich geleſen . Jch kann im eigentlichſten
Sinne ſagen , ich bin unter den Heroen der
Vorwelt herangewachſen . Sie waren meine
Vorbilder , dienten mir zum Maßſtab fuͤr
die Ereigniſſe der Gegenwart . Unter meinen
fruͤheſten Erinnerungen iſt mir eine Szene leb-
haft gegenmaͤrtig geblieben , welche dieſe meine
Heroenbilder erregten . Jch mochte vier Jahr
alt ſeyn , und mein geliebter , ach uͤber alles ge-
liebter Emil , ein Jahr , als Frankreich von den
ſremden Armeen hart bedraͤngt wurde . Victor
war an die Graͤnze geeilt , das Vaterland zu
vertheidigen , und mochte meinen Vater wohl
aufgefordert haben , ein Gleiches zu thun . We-
nigſtens war ein Brief angekommen , deſſen Jn-
halt auf meinen Vater einen wichtigen Eindruck
gemacht zu haben ſchien . Er war unruhig ,
theilte Befehle aus , traf mancherlei Anſtalten ,
und ſchien mit einem großen Vorhaben be-
ſchaͤftigt . Das ganze Haus war in einer aͤngſt-
lichen Bewegung , und niemand wollte und
konnte ſich um mich bekuͤmmern . Jch fluͤch-
tete , wie immer in aͤhnlichen Faͤllen , zu mei-
nem Buche . Zufaͤllig hatte ich eben das Ku-
pfer aufgeblaͤttert wo Leonidas den Paß von
Termopylaͤ vertheidigt , als mein Vater in den
Saal trat , und hinter mir ſtehen blieb . „ Sie
ſtarben fuͤr das Vaterland ! ‟ ſagte er nach einer
kleinen Pauſe , und legte die Hand auf meinen
Kopf : „ dreihundert Helden wehrten der großen
Perſermacht den Eintritt in das heilige Land
der Freiheit ! ‟ Jch hatte mich umgewendet ,
und ſchauete nach ihm auf . Zwei große ſchwere
Thraͤnen hingen in ſeinen Augen . „ Sie thaten
nur ihre Pflicht ! ‟ ſagte er , und fuhr mit der
Hand uͤber die Thraͤnen , laͤchelte mich an , und
wiederholte : „ ſie thaten was ſie mußten ! ‟ Da
kam meine Mutter herein , Emil auf dem Arme .
Sie war ſehr bleich , und hatte geweint . Schwei-
gend zog ſie den Gatten zum Sopha , ſetzte das
Kind auf ſeinen Schoß , und ſich neben ihn .
Sie umſchlang ihn , weinte heftig , und rief end-
lich im Ton der Verzweiflung : „ dieſen huͤlfloſen
Kleinen koͤnnteſt Du verlaſſen ? mich ? mich ? ‟
und ſank an ſeine Schulter . Mein Vater um-
faßte ſie mit Zaͤrtlichkeit , redete ihr zu , ſprach
viel von Pflicht und Nothwendigkeit . Der
Knabe laͤchelte unbefangen drein , und ſpielte
mit des Vaters Locken . Mich mochte die Grup-
pe , an das Bild von Hektors Abſchied erinnern ,
ich ſchlug es auf , und ſah ernſthaft , bald auf
Hektor , bald auf den Vater . Endlich richtete
ſich meine Mutter wieder auf , und blickte mich
an . Virginia ! rief ſie , umarme die Knie dei-
nes Vaters ! flehe ihn , daß er uns nicht verlaſſe !
„ Die Frau da , ‟ antwortete ich in meinem kin-
diſchen Sinn , und zeigte auf das Bild , „ die
Frau da weint nicht , daß der Vater ſeine Pflicht
thun muß . Sie haͤlt ihn nicht , Virginia darf
ihn auch nicht halten . ‟ Roͤmermaͤdchen ! rief
mein Vater , und riß mich in ſeinen Arm . Aber
ein verzweiflungsvoller Blick meiner Mutter fiel
auf mich , und in demſelben Augenblick ſank ſie leb-
los zu Boden . Jch ſtuͤrzte mich mit Geſchrei und
Thraͤnen uͤber ſie hin . Mein Vater hob ſie in
ſeine Arme , ſie wurde zu Bett gebracht , und
ein heftiges Fieber kuͤndigte ſich mit den bedenk-
lichſten Zeichen an . Jhre Krankheit dauerte
lange , und ſie wurde nur dadurch am Leben
erhalten , daß mein Vater ihr das feierliche Ver-
ſprechen ablegte , ſie niemals zu verlaſſen . Mei-
nem Vater mußte es ſchwer geworden ſeyn ,
ſein Pflichtgefuͤhl , im Kampf mit der Liebe , zum
Schweigen zu bringen . Manche ſeiner ſpaͤtern
unfreiwilligen Aeußerungen deuteten darauf . Doch
nahm er ſich ſehr in Acht , meine Mutter das
mindeſte davon merken zu laſſen . Ueber Ge-
fuͤhle dieſer Art war ich in der Folge ſeine ein-
zige Vertraute . Jn dem Herzen meiner Mut-
ter ſchien ſich , durch dieſen Vorfall , eine leiſe
Abneigung gegen mich feſt geſetzt zu haben . Jch
entſinne mich , daß man mich in den erſten Wo-
chen ihrer Krankheit ſorgfaͤltig abhielt , ſie zu
ſehen , und daß ich viel daruͤber geweint . Auch
waͤhrend ihrer Geneſung war ſie anfangs nicht
ſo guͤtig gegen mich , als ſonſt ; uͤberhaupt
lenkte ſich ihre Zaͤrtlichkeit mehr auf meinen
Bruder . Jch bemerkte dieß wohl , aber ohne
Neid ; denn ich ſelbſt liebte den holden Emil
uͤber Alles . Du haſt ihn wenig gekannt , den
freundlichen herzigen Knaben . Er war immer
heiter , immer voll Scherz und Froͤhlichkeit , und
dabei ſo bieder und treu . Wie haͤtte man ihn
nicht lieben ſollen ! Ueberdieß war er ja ein
Knabe , und ſchien mir ſchon deßhalb jedes Vor-
zugs werth , je hoͤher mir nach und nach die
Wirkſamkeit und Thatkraft des Mannes erſchien .
Jch weinte nur zuweilen im Stillen daruͤber , daß
ich ein Maͤdchen war , eins der unbedeutenden We-
ſen , von welchen die Geſchichte ſo wenig ſagt ,
waͤhrend die Thaten der Maͤnner jedes Blatt
fuͤllen . Nur als Opfer werden ſie genannt .
Jphigenia , Virginia , nur Opfer fuͤr große Zwek-
ke . So glaubte ich , leidende Gedult ſey die
nothwendige Eigenſchaft des Weibes ; aber
mein leidenſchaftliches Gemuͤth ſtand mit dieſer
Stimmung im ewigen Widerſpruch , und ſtoͤrte
die Harmonie in meinem Karakter . Mein Va-
ter wurde ſehr aufmerkſam auf mich , und fing
an , ſich mit Ernſt um meine Bildung zu be-
kuͤmmern . Von ihm lernte ich ſchon fruͤh eng-
liſch , ſpaͤterhin auch etwas deutſch . Jch las
unſere vorzuͤglichſten Dichter und auch die der
Auslaͤnder , in ihrer Sprache . Mein Gemuͤth
war fruͤh poetiſch geſtimmt , wozu wohl der
provenzaliſche Himmel vieles beitrug . Doch
waren es nicht die leichten Liebeslieder meiner
Landsleute , woran ich Geſchmack fand , mir ſtell-
te ſich alles zuerſt von der erhabenen Seite dar .
Eine Ode uͤber den Krieg , war meine erſte , ſehr
geheim gehaltene Arbeit ; ſo weit ich mich ihrer
erinnere , freilich ſehr fehlerhaft , doch durchaus
ohne Vorbild . Ueberhaupt war ich meiſt ſehr
ernſt und in mich gekehrt , woruͤber mich die
kleinen Maͤdchen , meine Geſpielen , oft neckten .
Jch ſchwaͤrmte wohl mit ihnen umher , und hatte
ſie alle von Herzen lieb , aber ich war doch nie
ſo ganz Kind als ſie . Es machte mir Freude
Blumen mit ihnen zu pfluͤcken und Kraͤnze zu
winden , lieber aber ſaß ich doch mit meinem
Vater Abends unter unſern Kaſtanienbaͤumen ,
und blickte nach dem zahlloſen Sternenheere des
dunkelblauen Himmels auf . Da war ich uner-
ſchoͤpflich an Fragen , und mein guter Vater
antwortete ſo gern . Er nannte mir die Stern-
bilder , machte mich aufmerkſam auf die Unzaͤhl-
barkeit der Sonnenſyſteme , auf die Unendlichkeit
des Raumes und der Zeit , und knuͤpfte daran
den Begriff von der uͤberſchwaͤnglichen Groͤße und
Erhabenheit des Schoͤpfers . Oft uͤberraſchte uns
noch die Mitternacht bei dieſen Geſpraͤchen , uͤber
welche meine Mutter laͤngſt eingeſchlafen war .
Sie liebte dieſe Unterhaltungen nicht ſehr , ſahe auch
meine fortſchreitende Ausbildung nicht allzugern .
Jhre Kindheit hatte ſie , nach der Sitte der
Zeit , in einem Kloſter verlebt . Weibliche Ar-
beiten , etwas leſen und ſchreiben , und haͤufige
Religionsuͤbungen waren dort alle zu erlangen-
den Kenntniſſe geweſen . Mit dieſen hatte ſie
ausgereicht , und nun in meinem Vater das
Gluͤck ihres Lebens gefunden ; daher bildete ſie
ſich ein , alles , was daruͤber , ſey uͤberfluͤſſig , wo
nicht gar vom Uebel . Mein Vater ließ ſich
nicht gern mit ihr in Eroͤrterungen uͤber dieſen
Punkt ein . Er liebte ſie von ganzem Herzen ,
und ſie verdiente es im hohen Grade . Sie
war ſchoͤn und voll Grazie , hatte das beſte
Herz von der Welt , liebte ihn uͤber Alles , war
unermuͤdet , fuͤr ſeine kleinen Beduͤrfniſſe be-
ſorgt , eine gute Mutter , eine gute Hausfrau ,
eine Wohlthaͤterinn der Duͤrftigen . Was haͤtte
das Herz eines Mannes noch mehr fordern
koͤnnen ? Auch fuͤhlte ſich das Herz meines
Vaters voͤllig befriedigt . Doch ſein philoſo-
phiſcher Geiſt empfand nach und nach im-
mer mehr das Beduͤrfniß eines Weſens , das
in ſeine Jdeen eingehen , mit dem er ſich
uͤber die Gegenſtaͤnde unterhalten koͤnnte , die
ihm die wichtigſten waren . Er hatte oft ver-
ſucht , ſie dafuͤr auszubilden , aber mit wenig
Erfolg .
Jn mir drang ſich ihm ein bildſamer Stoff ,
ganz von ſelbſt auf , und mit ſchoͤpferiſcher Liebe
legte er Hand an , ohne auf die Menge der
Bedenklichkeiten Ruͤckſicht zu nehmen , welche ihn
allenfalls davon haͤtten abmahnen koͤnnen . Emil ,
drei Jahre juͤnger als ich , wurde bald mein
treuer Spielgefaͤhrte ; wir waren ein Herz und
eine Seele . Mein Vater ſchien ſeine Zaͤrtlich-
keit ganz gleichmaͤßig zwiſchen uns zu theilen ,
ſo wie ſeine belehrende Sorgfalt . Es war
aber ſehr natuͤrlich , daß ich einen ſtarken Ver-
ſprung behielt , auch war der Knabe immer
mehr in der Sinnenwelt , als in der Jdeen-
welt zu Hauſe . Es gibt Augenblicke , wo ich
ihn deßhalt gluͤcklich preiſe . Aber ach , die
Richtung unſrer Seele liegt außer unſrer Macht ,
geſchieht ſchon , ehe wir uns dieſer bewußt wer-
den , und iſt faſt angebohren .
Wir trieben uns fleißig in der umliegenden
Gegend umher , und ſpielten manches verwegene
Spiel ; ich , im romantiſchen Sinne ritterlicher Vor-
zeit , er , nach wilder Knabenart . So ſchaukelten
wir uns oft in einem Fiſchernachen auf der wilden
Durance , und arbeiteten uns mit Stangen laͤngs
den Uferkruͤmmungen hin ; Emil , um ſeine
Kraͤfte zu meſſen , mit der Gewalt des Stro-
mes , oder um ein Entenneſt auf zu ſuchen , im
Schilfe ; ich , weil ich in Gedanken Kolumbus
begleitete , eine neue Welt zu entdecken , und in
einer unbekannten Bucht zu landen . Mein
Vater kaufte nach einigen Jahren die Laͤn-
dereien eines benachtbarten Kloſters , nachdem die-
ſes laͤngſt aufgehoben , und feil geboten war .
Der Großvater in Aix war geſtorben , und
ein Theil des Vermoͤgens meiner Mutter konnte
nicht vortheilhafter genutzt werden . Dieſe fuͤhlte
wohl anfangs einige Gewiſſensſcrupel daruͤber ,
doch wußte ſie der Weltgeiſtliche unſres Kirch-
ſprengels , ein konſtitutioneller Prieſter , aber ein
eben ſo rechtſchaffener , als aufgeklaͤrter Mann ,
zu beruhigen und zu heben .
Ueberdieß bildete ſich bei meiner Mutter
der Sinn fuͤr Erwerb und Beſitz mit den Jah-
ren immer mehr aus . Sie wurde eine aͤußerſt
emſige Wirthinn , und ging in die geringſten Klei-
nigkeiten ein . Mein Vater ließ ſie gewaͤhren ;
ſein Gluͤck ruhete nur auf das Ganze . Jhm war
nicht darum zu thun , was er perſoͤnlich gewann ,
ſondern wie viel allgemeiner Wohlſtand , durch
dieſe oder jene Anlage , verbreitet werden konnte .
Fuͤr dieſe ſeine hoͤheren Zwecke aber war er
raſtlos thaͤtig , und ſein vergroͤßerter Wirkungs-
kreis ließ ihm bald nur wenig Zeit zum Unter-
richt
richt fuͤr uns uͤbrig ; daher er ſich , wiewohl un-
gern , entſchloß , von ſeinem lieben Emil ſich zu
trennen . Er brachte ihn nach Aix zu einem
ſeiner aͤlteſten Schulfreunde , welcher dort Pro-
feſſor am Lyceum war . Meine Mutter war
mit dieſer Trennung ſehr uͤbel zufrieden ; es be-
ruhigte ſie nur wenig , daß ihr Liebling ſich in
den Haͤnden eines der rechtſchaffenſten , edelſten
Maͤnner ſeiner Zeit befand , und ſich in deſſen Fa-
milie bald ſo einheimiſch , als in unſerm Hauſe
fuͤhlte . Mir ſelbſt koſtete dieſer Abſchied un-
zaͤhlige Thraͤnen , doch richtete ich mich an dem
Gedanken auf , daß es zum Beſten meines
Bruders ſey , ja ich beneidete ihn um ſein
Loos . Er ſollte ja Griechiſch und Lateiniſch ler-
nen , und konnte einſt die Werke der Alten in
der Urſprache leſen , mein hoͤchſter Wunſch . Fuͤr
Emil war dieſe Ausſicht nicht ſo reizend . Er
hatte kein gutes Wortgedaͤchtniß , und das Er-
lernen fremder Sprachen wurde ihm ſehr ſchwer ;
dagegen rechnete er mit Leichtigkeit , und machte
Fortſchritte in der Mathematik .
Erſter Theil. [5]
Mit dieſem geliebten Bruder ſchien der Ge-
nius der Freude aus unſerem Hauſe gewichen .
Weine Mutter vergrub ſich , um ihrem Schmerze
zu entfliehen , nur tiefer in Geſchaͤfte . Sie fing
an ſehr mißfaͤllig zu bemerken , daß mir ein ,
ihr gleicher , Sinn fuͤr das kleine haͤusliche
Thun und Treiben fehle . Sie wollte mich
durch Verweiſe dazu antreiben , es mangelte ihr
aber Geduld , auch ward ſie , bei ihrer raſchen
Thaͤtigkeit , behindert , mich durch allmaͤhliche Ge-
woͤhnung dazu tuͤchtig zu machen . Es fehlte
mir nicht an gutem Willen , aber ich wußte es
durchaus nicht an zu ſtellen , und ein harter Vor-
wurf , bei einer kleinen Unbeholfenheit , ſcheuchte
mich auf laͤngere Zeit von den Geſchaͤften .
Jch fluͤchtete mich in einen einſamen Winkel ,
zu meinen Buͤchern . Sie ſchalt dann zwar
heftig auf das Leſen ; doch mochte ſie es mir
nicht ganz verbieten , weil mein Vater es in
Schutz nahm , und ihren unwilligen Aeußerun-
gen immer eine ruhige Freundlichkeit entgegen
ſetzte . „ Klaͤrchen , liebes Klaͤrchen , ‟ pflegte er
zu ſagen , ‟ wollteſt du denn , daß alle Baͤume
Deines Gartens nur einerlei Art waͤren ? Der
Apfelbaum iſt nuͤtzlich , aber auch die Granate
in ihrer Bluͤthe , die Zierde des Gartens .
Laß doch Virginien gewaͤhren ; willſt du gewalt-
ſam in ihre Eigenthuͤmlichkeit eingreifen , ſo zer-
ſtoͤrſt Du ihre innere Harmonie . ‟ Er ver-
ſuchte nun , ſeiner Seits , mich in Thaͤtigkeit
zu ſetzen , und mit weit beſſerem Erfolg . Er
hatte große Maulbeerpflanzungen angelegt , und
richtete einen Theil der Kloſtergebaͤude fuͤr den
Seidenbau ein . Alle Kinder der Landleute auf
ſeinen Beſitzungen , wurden aufgeboten zur
Wartung und Pflege der Seidenraupen . Die
Arbeit war leicht , und auch die Kleinſten konn-
ten Blaͤtter ſammeln und den Wuͤrmern vorle-
gen . Kraftloſe Greiſe und Muͤtterchen , welchen
der Feldbau zu ſchwer war , halfen dabei . Der
ſehr anſehnliche Ertrag , wurde gleichmaͤßig ver-
theilt , und erhoͤhete den Wohlſtand der ganzen Ge-
gend . Jch fuͤhrte , unter Anleitung des Vaters ,
die Oberaufſicht , und ganz zu ſeiner Zufrieden-
heit . Mit der Morgenſonne war ich auf , und
immer aufmerkſam auf den Gang der Ge-
ſchaͤfte , behende und geſchickt in allen Hand-
griffen . Beim Abhaſpeln der Seide war ich
*
die fertigſte und ſorgſamſte Arbeiterinn . Mit
gleichem Erfolge ſtellte er mich bei der Wein-
leſe an , wo ich dafuͤr ſorgte , daß die Beeren ,
behutſam und eigen , von der Traube gekaͤmmt
wurden , welches unſerem Wein , einen großen
Vorzug , vor allen Weinen der Provinz gab .
Bei allen ſolchen Geſchaͤften , welche nur Tage-
oder Wochenlang dauerten , und in großer Ge-
meinſchaft betrieben wurden , war ich uner-
muͤdet thaͤtig , und in hohem Grade ver-
gnuͤgt und froͤhlich . Wir ſangen Romanzen
und Rundgeſaͤnge , erzaͤhlten Maͤrchen und No-
vellen , immer brachte ich neue mit , und Jung
und Alt liebte mich herzlich . Aber wenn ich
wieder zuruͤck trat , in den alltaͤglichen Gang des
haͤuslichen Lebens , da fuͤhlte ich meine Thaͤtig-
keit ploͤtzlich gelaͤhmt . Die kleinen , immer wie-
derkommenden Sorgen des Haushalts vermochten
nicht , meine Seele zu fuͤllen , und mein Geiſt
kehrte heißhungrig in die Jdeenwelt zuruͤck .
Nicht die Geſchichte der vergangenen Zeiten
allein war es jetzt , was mich beſchaͤftigte , ich
nahm an den Begebenheiten unſerer Tage den
lebhafteſten Antheil . Von meiner fruͤheſten
Kindheit an , hatte ich mich gewoͤhnt , alles nach
den Muſtern der Alten zu beurtheilen , und ſo
mußten meine Anſichten ganz verſchieden ſeyn
von den Anſichten derer , welche von einem andern
Standpunkt auf die Dinge ſahen . Mein Vater
ſchien in demſelben Falle geweſen zu ſeyn . Als
des gutmuͤthigen Ludwig Haupt unter der Guil-
lotine fiel , ſah ich ihn tief betruͤbt . „ Es iſt trau-
rig , ‟ ſagte er , „ daß es bis dahin kommen mußte ! ‟
O haͤtte der edle Koͤnig ſich doch gleich anfangs
losmachen koͤnnen von den anerzogenen Be-
griffen , ſich mit Aufrichtigkeit der Sache des
Volks angeſchloſſen — es waͤre um vieles an-
ders und beſſer geworden . Aber es war faſt
in ſeiner Lage unmoͤglich , der Einfluß ſeiner
Umgebungen war zu maͤchtig , die Raͤnke der
Ausgewanderten , und ihrer Verbuͤndeten wa-
ren zu eingreifend , es konnte faſt nicht anders
enden . Er fiel als ein großes Opfer der Frei-
heit , ein reines ſchuldloſes Opfer ! Moͤge es
die unterirdiſchen Goͤtter verſoͤhnen ! Die
Nachwelt nennt ihn mit Recht einen Heiligen .
Die Schreckenszeit erfuͤllte meinen Va-
ter mit Grauſen . Sie war aber durch die
hohe Erbitterung der verbuͤndeten Maͤchte , faſt
unvermeidlich herbei gefuͤhrt worden . Die Jn-
tegritaͤt der jungen Republik ſchien faſt nicht
anders zu retten , als , wenn es ſeyn muͤßte ,
mit Aufopferung eines großen Theils , der ge-
genwaͤrtigen Generation . Die Umſtaͤnde trafen
ſchrecklich zuſammen , und die Menſchlichkeit
mußte der Vaterlandsliebe weichen . Daneben
kam ſo oft die Erhaltung der Einzelnen mit
der Erhaltung der Nation in Streit , und die-
ſer wird faſt niemahls ohne Blut geſchlichtet .
Meines Vaters ſanftes , menſchliches Herz
litt ſchmerzlich waͤhrend dieſer Zeit , und er
dankte dem Himmel fuͤr den Entſchluß , ſich
ſchon fruͤh in die laͤndliche Stille gefluͤchtet zu
haben ; doch tadelte er auch die haͤrteren Naturen
nicht , welche es verſuchten , das maſt- und ſteuer-
loſe Schiff des Vaterlandes durch die ſchaͤu-
mende Brandung zu fuͤhren . Er gedachte oft
der beiden Brutus , von welchen der eine ſeine
Soͤhne hinrichten ließ , weil ſie einer Verbindung
mit dem verbannten Tarquinius ſich ſchuldig ge-
macht , der andre den Dolch in den Buſen ſeines
Freundes , vielleicht ſeines Vaters , ſtieß , als die-
ſer die Republik vernichten zu wollen ſtrebte .
Das Schickſal der Girondiſten erregte ſeine
Theilnahme im hoͤchſten Grade . Meiſt waren
alle ſeine Freunde , edle Maͤnner , voll redlichen
Eifers fuͤr das Beſte des Vaterlandes , und voll
Einſicht , es fehlte ihnen aber die Feſtigkeit ihrer
Gegner , und ſie mußten unterliegen , in einem
Zeitpunkte , wo Frankreich der Kraftfuͤlle vorzuͤg-
lich bedurfte . Haͤtten ſie ſich dem Vaterlande ,
durch kluges Zuruͤckziehen bis zum Friedens-
ſchluß erhalten , ſie wuͤrden es begluͤckt haben .
Mich ergriff beſonders das Schickſal der Buͤr-
gerinn Roland . Oft habe ich in ſpaͤtern Jahren
geweint , wenn ich den ewig unvergeßlichen , ei-
ner Roͤmerinn wuͤrdigen Brief las , welchen ſie
aus dem Gefaͤngniſſe geſchrieben . Selbſt Char-
lotte Corday meine gefeierte Heldinn , uͤber-
traf dieſes große Weib an Karakterſtaͤrke nicht .
Als Robespierre geſtuͤrzt wurde , athmete
Frankreich freier . „ Die Menſchheit muß ſich ſei-
nes Todes freuen , ‟ ſagte mein Vater , „ ſie wird
ihm fluchen , er war ein Tyrann ; und doch glaubte
er , es zu ihrem Beſten zu ſeyn . Er war kein
Heuchler , nur ein tugendhafter Schwaͤrmer ,
doch ſeine Tugend war hart und rauh . ‟
Waren gleich , nach der Kataſtrophe vom 9ten
Thermidor , die Elemente bei weiten noch nicht
beruhigt , ſo hatten doch die fuͤrchterlichſten Aus-
bruͤche des Vulkans nachgelaſſen , und , vertrau-
ter mit ihnen geworden , achtete man der nach-
folgenden , immer ſchwaͤcheren Erſchuͤtterungen
wenig . Jedes Auge faſt wendete ſich dem Krie-
gesſchauplatze zu , wo der Ruhm uͤber den fran-
zoͤſiſchen Fahnen ſchwebte . Der alte kriegeriſche
Geiſt meines Volkes erwachte in neuer Staͤr-
ke , Galliens Ritterzeiten kehrten wieder . Auch
in unſrem friedlichen Thale wurde meiſten Theils
nur vom Kriege geredet . Unſere Knaben war-
fen Ball und Kreiſel bei Seite , und ſpielten
Kriegesſpiele , unſre Maͤdchen ſangen den Mar-
ſeiller Hymnus . Mein Vater las oͤfter , als
ſonſt , die Zeitungen in Geſellſchaft ſeines Freun-
des , unſers trefflichen Pfarrers , und ihre be-
geiſterten Geſpraͤche dauerten bis ſpaͤt in die
Nacht hinein ; ich wurde nicht muͤde , ihnen
zuzuhoͤren . Selbſt eine fleißige Zeitungsleſerinn
geworden , ſtand ich oft ſchon mit der Sonne
auf , um dem Poſtboten des naͤchſten Fleckens
entgegen zu gehn , die Blaͤtter ſchnell zu durchlau-
fen , und dem Vater ſchon beim Erwachen eine
frohe Siegesnachricht zurufen zu koͤnnen . Von
allen dieſen fruͤheren Begebenheiten machte der
Uebergang uͤber die Bochetta den ſtaͤrkſten Ein-
druck auf mich . Hannibal hatte , zur Verwun-
derung der Roͤmer , dieſe unwegſame Straße
betreten , kein Heerfuͤhrer nach ihm es ge-
wagt . Nun war Buonaparte der zweits kuͤhne
Sterbliche , welcher ſich hier Bahn brach . Die-
ſes einzige , damals ſo angeſtaunte Unternehmen ,
ſtellte mit einem Schlag den jugendlichen Helden
in Rieſengroͤße vor meine Phantaſie . Alle
Heroen der Vorwelt . bei deren Thaten mein
junges Herz gepocht , traten jetzt , in ein einziges
Bild verſchmolzen , ins Leben , in die Wirklichkeit
heraus . Meine Einbildungskraft ſchmuͤckte die-
ſes herrliche Bild mit allen Reizen maͤnnlicher
Schoͤnheit , und ſtellte es als Jdol auf den Altar
meines Herzens .
Du wirſt lachen , Adele , aber bedenke daß ich
in der Provence gebohren bin , wo man fruͤher
und heißer empfindet , als in deinem kalten Eng-
land , bedenke daß Geſaͤnge der Troubadours meine
Wiegenlieder waren , und daß ich in der Jdeen-
welt , unter Heroenbildern aufwuchs . Die Ver-
goͤtterung meines Helden ſchallte mir aus jedem
Munde entgegen ; mein Vater und der Pfarrer
waren von Bewunderung fuͤr ihn durchdrungen ,
und dieß ſteigerte meine Neigung bis zur Schwaͤr-
merei . Jch weiß , Adele , nach deiner leichten Sin-
nesart , ſpotteſt du uͤber dieſe abentheuerliche Liebe ,
aber ich erroͤthe nicht . Jch ergoͤtze mich noch in
dieſen Augenblick an den verblichenen Farben
jener Gefuͤhle und wuͤrde die ganze Wirklichkeit
meines jetzigen Lebens um die Traͤume meiner
Kindheit geben . Jch ſchaͤme mich ſelbſt nicht , dir
mein kindiſches Opfer zu erzaͤhlen , deſſen Grund
ich damals , ſo wie uͤberhaupt meine Neigung ,
tief verhehlte . Als mein Held nach Aegypten
ging , erbebte ich ; noch mehr , als unſre Flotte
geſchlagen , und ihm der Ruͤckweg abgeſchnitten
ſchien . Da ſchlich ich mich eines Abens in die
entlegene Waldkapelle , und kniete vor dem Altar
der heiligen Jungfrau nieder . Es daͤmmerte
ſchaurig um mich her , die epheuumrankten , bunt-
gemahlten Fenſterſcheiben , ließen nur ſpaͤrlich , das
Licht der untergehenden Sonne ein . Mitten
im Gebet ſchnitt ich meine langen , ſchoͤnen Lok-
ken ab , legte ſie auf den Altar , und ſprach
laut das Geluͤbde aus , mein Haar nicht eher
wieder wachſen zu laſſen , es nicht eher wieder
mit Blumen zu ſchmuͤcken , bis er zuruͤckgekehrt
ſey , den ich dem Schutz der Gebenedeiten und
allen Heiligen empfahl . Jndem ich mich auf-
richtete , brach ein Strahl der ſcheidenden Sonne
durch ein Fenſter hinter mir , und roͤthete das
Angeſicht der Jungfrau , welche mir zu laͤcheln
ſchien . Voll freudiger Hoffnung ging ich nach
Hauſe , wo mich Alle mit Erſtaunen empfingen .
Hocherroͤthend geſtand ich , mein Haar auf dem Al-
tar der Jungfrau geopfert zu haben , und gab ſtok-
kend als Grund an , ein Mahl geleſen zu haben ,
daß die griechiſchen Maͤdchen , beim Austritt aus
der Kindheit eine Locke den Grazien zu opfern pfleg-
ten . Meine Mutter ſchalt ſehr heftig und konnte
ſich gar nicht zufrieden geben . Mein Vater ſchien
den Sinn meines Opfers zum Theil zu ahnden .
Er legte laͤcheld die Hand auf meinen Scheitel .
„ Kleine Schwaͤrmerin ‟ ſagte er , „ vielleicht dach-
teſt du auch an jene Weiber , welche ihr Haar zu
Bogenſehnen hergaben , als Opfer fuͤr das Va-
terland ! ‟ Ergluͤhend kuͤßte ich ſeine Hand . „ Be-
ruhige dich , ‟ fuhr er fort , „ die Geluͤbde der Un-
ſchuld ſind gewiß der Gottheit angenehm . ‟
Um gleich in der Reihefolge dieſer Neigung
zu bleiben , will ich hier erzaͤhlen , was ſich
erſt zwei Jahre ſpaͤter begab . Jch hatte mein
zwoͤlftes Jahr angetreten , unſer Emil war ſeit
einigen Wochen von uns geſchieden , um , wie
ich ſchon fruͤher geſagt , in Aix erzogen zu wer-
den . Vuonaparte war aus Aegypten zuruͤckge-
kehrt , er hatte das von Factionen zerriſſene
Vaterland gerettet , die Flamme des graͤulichen
Buͤrgerkrieges geloͤſcht , und mit kraͤftiger Hand
das Steuerruder des Staates gefaßt . Auf ihn
gruͤndeten alle Parteien ihre Hoffnungen . Die
Gemaͤßigten hofften feſte Ordnung und Geſetz-
lichkeit , und taͤuſchten ſich nicht ; die Republi-
kaner Freiheit — man ließ ihnen ſo viel davon
in Form und Weſen , als ſich nur mit der
Groͤße des Reichs , und dem Grade ſeiner mo-
raliſchen Bildung vertrug ; die Ausgewander-
ten Wiederherſtellung der alten Zeit , und der
Bourbons — ſie mußten ſich betriegen ; die Ariſto-
kraten , die Ehrgeizigen Glanz und Wuͤrde —
ſie haben davon mehr durchgeſetzt , als gut war .
Der erſte Konſul wurde von ganz Frankreich
vergoͤttert . Der kuͤhne Held ging wieder uͤber
den Simplon , auf unwegſamen Pfaden , ſein
treues , begeiſtertes Heer , trug das Geſchuͤtz
auf den Schultern hinuͤber . Der Sieg bei
Marengo wurde erfochten , und die Voͤlker
Jtaliens wurden frey . Jedes Gemuͤth wel-
ches ſich von dem klaſſiſchen Boden angezo-
gen fuͤhlte , war leidenſchaftlich bewegt ; man
hoffte die Nachkommen der Griechen und Roͤ-
mer wuͤrden aus ihrem langen Schlaf erwachen .
Wir hatten die fruͤhe Weinleſe begonnen ,
als der Sieger bei Marengo , von ſeinem Zuge
zuruͤck kehrte . Er hatte , aus Laune , vielleicht
auch um dieſen Landſtrich naͤher kennen zu ler-
nen , die gerade Straße verlaſſen , gedachte bei
Avignon uͤber die Rhone und durch Langue-
doc erſt nach Paris zu gehn . Ein Zufall fuͤhrte
ihn nach Chaumerive . Mein Vater beeilte ſich
dem erſten Conſul ſeinen Gluͤckwunſch zu brin-
gen . Er hatte dieſen , als Juͤngling , in den
erſten Monden der Revolution kennen gelernt ,
und Gelegenheit gehabt , ihm einen Dienſt zu er-
weiſen . Buonaparte erinnerte ſich deſſen ſogleich ,
als er meinen Vater erblickte , und zeigte ſich
demſelben aͤußerſt verbindlich und liebenswuͤrdig .
Er unterrichtete ſich uͤber ſeine ganze Lage und
naͤheren Verhaͤltniſſe , und pries ihn gluͤcklich in
ſeinem unbekannten , ruhigen Leben . „ Mir wird
es ſo gut nie werden ! ‟ — ſetzte er mit einem
tieferem Athemzuge hinzu , — „ ich bin an
Jxions Rad gebunden . ‟
Jndem kam ich von den Weinbergen daher .
Jch hatte die ſchoͤnſten Trauben und Pfirſichen ,
welche meine Mutter ſo ſehr liebte , in ein
Koͤrbchen geſammelt , und fuͤr dieſe mitgebracht .
Jm Vorbeigehn an einem Lorbergebuͤſch , hatte ich
einige der ſchoͤnſten Zweige gepfluͤckt , ſie ſpielend
zu einem vollen Kranze gewunden , und uͤber die
Fruͤchte gelegt . „ Virginia ! ‟ — rief mein Vater
mir entgegen — „ dein Lieblingswunſch iſt erhoͤrt .
Du ſiehſt hier den groͤßten Helden des Jahr-
hunderts vor dir . ‟ Wie vom Blitze geruͤhrt
blieb ich ſtehen . Er war es , Er ! der Gedanke
meiner einſamen Stunden , der Traum mei-
ner Naͤchte . Wie aͤhnlich meinem Bilde , und
wie unaͤhnlich zugleich ? Du haſt ſein Gemaͤhlde
von David geſehen , es gleicht ; nur freundlicher
war ſein Mund , ſein Laͤcheln bezaubernd . Eben
ſo liebenswuͤrdig hatte meine Phantaſie ihn ge-
mahlt , nur groͤßer die Verhaͤltniſſe . Aber was
ſie ihm nicht zu geben vermocht , war die Ho-
heit ſeines Auges , dieſer Herſcherblick , welcher
mich im Nu , ſo tief und klein vor ihn ſtellte ,
daß ich die Augen nicht zu erheben wagte . Jch ,
die gebohrene Republikanerinn , und ſtolz auf
Freiheit , Gleichheit und Menſchenwerth , kniete
vor ihm nieder , ohne zu wiſſen was ich that , und
legte das Koͤrbchen mit dem Kranze zu ſeinen
Fuͤßen . Er hob mich mit einiger Verlegenheit
auf , kuͤßte mich auf die Stirn , nahm den Korb ,
und dankte in abgeriſſenen Worten fuͤr die
feine Ueberraſchung . „ Virginia ſtellte in dem
Augenblicke das dankbare Vaterland dar , ‟
ſagte mein Vater . — Jch bin dem Vater-
lande viel groͤßere Dankbarkeit ſchuldig , erwie-
derte der Held , indem eine freundliche Neigung
gegen mich , den Worten Doppelſinn gab .
Wollte der Himmel , ſetzte er hinzu , und nahm
eine Traube , daß meine Lorbern , fuͤr daſſelbe
immer von ſo ſuͤßen Fruͤchten begleitet ſeyn
moͤchten ! Bald darauf reißte er ab , indem er
meine Gabe eigenhaͤndig zum Wagen trug , aus
welchem er mich noch mehrere Mahle , mit
Hand und Blick gruͤßte . Jch blieb in einer
ſehr veraͤnderten Stimmung zuruͤck . Meine
Phantaſie ſchwieg , aber ich fuͤhlte mich von
einer Ergebenheit durchdrungen , welche ich bei
meiner freien Erziehung , ſelbſt nicht fuͤr meinen
Vater empfunden . Dieſer war mit der Szene
nicht ſo ganz zufrieden . „ Die Ueberreichung des
Lorbers und der Fruͤchte war ganz huͤbſch , ‟
ſagte er , „ ich haͤtte ſie aber ſtehend dargebracht . ‟
— Jch konnte nicht anders , erwiederte ich , eine
hoͤhere Macht warf mich nieder , wie vor dem
Beherrſcher des Erdkreiſes .
Der Nachklang jenes Gefuͤhls hat immer-
fort in meiner Seele leiſe getoͤnt , als dieſer
kleine Vorfall in meinem Kreiſe laͤngſt vergeſſen
war , und ich ſelbſt ſeiner kaum mehr gedachte .
Ueberhaupt iſt vorherrſchende Eigenſchaft meines
Gemuͤths,
Gemuͤths , daß es ein Mahl empfangene Eindruͤcke
mit faſt ſtarrer Treue bewahrt . Jch kann durch-
aus nicht wechſeln mit Neigung und Abneigung ,
vielleicht mit daher , weil meine Neigung ſo
ganz frei von aller Selbſtſucht entſteht . Die Welt
liebt und haßt nur nach eigenem Vortheil ; ſie ver-
goͤttert , was ihr zu frommen ſcheint , verdammt ,
was ihr ſchaͤdlich zu werden droht ; und ſcheint ſie
auch ein Mahl fuͤr eine Jdee zu handeln , gewiß
liegen hinter dieſer Jdee , Wohlleben , Glanz und
Putz , als Grundurſachen derſelben tief verſteckt .
Ruhe , Wohlſtand und Ordnung wurde im-
mer mehr in Frankreich hergeſtellt und geſichert .
Das Volk fuͤhlte ſich geehrt und gluͤcklich ; es
wuͤnſchte ſich den Schutzgott ſeines Gluͤcks auf
immer zu erhalten , und kam den Wuͤnſchen Na-
poleons entgegen , welcher endlich den Kaiſertitel
annahm , und ſich mit allem Glanze des Thrones
umgab , wodurch er ſich vielleicht einen ſiche-
rern , Ehrfurcht gebietenden Standpunkt ge-
gen das Ausland und ſeine Raͤnke zu geben
glaubte . Gewiß hatte deſſelben raſtloſe Einwirkung
Erſter Theil. [6]
den groͤßten Antheil an dieſer Kataſtrophe . Die
Ausgewanderten und ihre Verbuͤndeten ſahen ſich
in ihren Erwartungen getaͤuſcht , und ſchnaubten
Rache . England fuͤrchtete fuͤr ſeine Alleinherr-
ſchaft uͤber die Meere , wenn Frankreich , unter
der Regierung eines kraͤftigen Geiſtes , die
Huͤlfsquellen benutzen lernte , welche die Natur
ihm verliehen ; und folglich wendete es ſeinen
ganzen Einfluß auf dem feſten Lande dazu
an , den gefaͤhrlichen Nebenbuhler nieder zu
druͤcken . Der Kontinent iſt nur zu willig
geweſen , in ſeine Abſichten einzugehen , und
wahrſcheinlich wird erſt nach einem halben Jahr-
hundert einleuchten , welche Fehlgriffe man gethan .
Mein Vater war uͤber dieſe neuen Ereig-
niſſe betroffen und verſtimmt . Er hatte ſich
fuͤr die Jdee eines erſten Konſuls den großen
Waſhington zum Muſter genommen . Der Pfar-
rer redete ihm auf vielfache Weiſe zu ; er machte
ihn aufmerkſam auf die große Verſchiedenheit
in der Lage der beiden Reiche . „ Dort bil-
dete ſich erſt ein Staat , ‟ ſprach er , „ hier war
einer zerſtoͤrt . Amerika war menſchenarm , die
Geiſteskultur dort noch nicht ſehr ausgebreitet ,
und die Sitten waren einfach . Welch ein
Unterſchied in Frankreich , wo Uebervoͤlkerung ,
Ueberbildung und Luxus die hoͤchſte Reibung
hervor bringen mußten . Amerika war durch Meere
geſichert , Frankreich rings von ſchelſuͤchtigen ,
ſchlagfertigen Nachbarn umgeben , es bedurfte
eines Heldenarmes , zu ſeiner Aufrechthal-
tung . Aber dieſer Fuͤhrer durfte nicht dem
Wechſel unterworfen bleiben , wenn die innere
Ruhe nicht gefaͤhrdet werden ſollte ; er mußte
mit Glanz umgeben werden , weil leider Eitel-
keit , die Schoßſuͤnde meines Volkes iſt . ‟
So weit der Pfarrer . Er ehrte vorzuͤglich
Napoleon , weil dieſer die Religion ſchuͤtzte und
aufrecht hielt ; auch meine Mutter nahm deß-
halb lebhaft ſeine Partei . Mein Vater ehrte
die Religion , und das hoͤchſte Weſen mit der
groͤßten Jnnigkeit ; er behauptete aber , jene be-
duͤrfe keines beſonderen Schutzes , der herſchende
Kultus ſey nur das Kleid , nicht das Weſen der
Religion . Jch ſchwieg zu allen dieſen Ver-
handlungen , aber meine Ueberzeugung war auf
Seiten des Pfarrers . Damahls hatte ich die
Geſchichte Caͤſars und ſeines Zeitalters flei-
*
ßiger als je ſtudiert . Jch konnte zwar dem
Brutus meine Achtung nicht verſagen , es leuchtete
mir aber ein , daß er von dem neidiſchen Kaſ-
ſius und ſeinen Mitverſchworenen irre geleitet
worden , und daß er uͤber ſeine gruͤbelnde Phi-
loſophie das Studium ſeines Volkes , und ſei-
ner Zeit verſaͤumt habe . Eines Caͤſars bedurfte
Rom ; es mordete ihn , und fiel in die Haͤnde
eines liſtigen Octavius .
So viel man aber auch ſtritt , ob Napoleon
haͤtte die Krone annehmen ſollen , ſo hoͤrte ich
doch nie einen Zweifel , gegen die Rechtmaͤßig-
keit des Beſitzes . Der Thron war durch den
Geſammtwillen des Volkes , ſchon ſeit faſt zehn
Jahren erledigt , und der jetzige Jnhaber hatte
ihn , nachdem er das Reich vom Untergange
gerettet , mit Zuſtimmung der Mehrzahl beſtie-
gen . Wenige Dynaſtien werden ihren Urſprung
aus einer beſſeren Quelle herleiten koͤnnen . Daß
der Thron noch Praͤtendenten hatte , konnte dem
Volke kein Hinderniß ſcheinen , da es die An-
ſpruͤche dieſer nicht anerkannte ; ja ſelbſt das
Ausland konnte nicht ohne Heuchelei dieſen
Grund , als Urſache ſeiner Abneigung , angeben ;
denn die Geſchichte erhaͤlt noch in ſehr friſchem
Andenken , daß die Moralitaͤt von Europa ſich
gar nicht beleidigt fand durch die harte Zu-
ruͤckweiſung und Zuruͤckſetzung der engliſchen Praͤ-
tendenten . Daß Napoleon aus keiner fuͤrſtlichen
Familie her ſtammte , konnte der Mehrzahl des
Volkes kein Aergerniß ſeyn . Der Freiheitsgeiſt
unterwirft ſich lieber dem Genie als der Geburt ;
nur Neid und Ehrgeitz fragten ganz in geheim :
warum nicht Jch ? Die Fuͤrſtenhoͤfe freilich
hatten , von ihrem Standpunkte , aus eine andre
Anſicht . Jhren Dienern und Anhaͤngern iſt
Moſes Schoͤpfungsgeſchichte bloß deßhalb eine
Fabel , weil , nach ſeiner Erzaͤhlung , nur ein Men-
ſchenpaar geſchaffen wurde . Gern moͤchten ſie
den Mythos der Schoͤpfung dahin ausbilden ,
daß Gott Fuͤrſten , Adel , Prieſter , Buͤrger und
Bauern , jedes als ein eigenes Geſchlecht , geſchaf-
fen , wie Woͤlfe , Fuͤchſe , Haſen und Schafe .
Mir hat immer ſo geſchienen , als habe dieſe An-
ſicht das Ungluͤck der Welt gemacht . Wirkun-
gen und Ruͤckwirkungen ſind einander ſo un-
aufhaltſam gefolgt und begegnet , daß die Mit-
welt ſchwerlich , ohne Partheilichkeit , daruͤber
ein Endurtheil ſprechen kann .
Meinem Vater ſchienen ſich nach und nach
dieſelben Bemerkungen auf zu draͤngen . Er
hatte den Frieden von Amiens benutzt , um
perſoͤnlich beim erſten Konſul Eure Ruͤckkehr
aus zu wirken , ein Beweis , wie ſehr er den
maͤchtigen Mann ehrte , keinen andern haͤtte er
darum gebeten . Jhr wurdet von der Liſte der
Ausgewanderten geſtrichen .
Deine gute Mutter benutzte die ertheilte
Erlaubniß , um ihrer geſchwaͤchten Geſundheit
willen , und um ihren geliebten Bruder wieder
zu ſehn , mit vieler Freude ; dein Vater gab
ſeine Einwilligung , wahrſcheinlich aus oͤkonomi-
ſchen und politiſchen Ruͤckſichten , und ſo kamſt
Du , meine geliebte Adele , mit Deiner Mut-
ter zu uns . Welch ein Feſt gab das in un-
ſerem Hauſe ! ein neues Leben ging fuͤr uns
Alle auf . Jch war damals vierzehn , Du noch
nicht viel uͤber acht Jahr alt , aber wie innig
ſchloſſen wir uns an einander ! Es war nicht
der Begriff der Blutsverwandtſchaft allein , was
mich ſo an Dich kettete , ob wir uns gleich
Beide laͤngſt im Stillen eine Schweſter ge-
wuͤnſcht , und dieſe nun in einander fanden .
Meine Eigenthuͤmlichkeit trug vieles zu un-
ſerem zaͤrtlichen Verhaͤltniſſe bei . Es war eine
Eigenheit an mir , daß die Geſellſchaft der
Maͤdchen meines Alters mir ſelten zuſagte ; viel
lieber hoͤrte ich den Geſpraͤchen ernſthafter
Maͤnner zu , oder ſpielte mit den kleineren
Maͤdchen , welche ſich durch dieſen Vorzug ſehr
geſchmeichelt fuͤhlten , und mit anbetender Liebe
an mir hingen . Alle Kinder in unſern Doͤr-
fern verſammelten ſich liebkoſend um mich her ,
wo ich mich blicken ließ , und ich wurde ihres
frohen Getuͤmmels niemals muͤde , nie muͤde ,
ihre kindiſchen Fragen zu beantworten . Mit
liebender Sorgfalt nahm ich mich ihrer an , be-
lehrte ſie , ſchmuͤckte ſie , und wußte ihnen hun-
derterlei kleine Freuden zu bereiten . Kurz , naͤchſt
der Jdeenwelt zog mich die Kinderwelt , am
meiſten an .
Nun erſchienſt Du , das ſchoͤnſte Kind , wel-
ches ich jemals geſehen . Dein blaues Auge ,
Deine goldenen Locken , und die zarte weiße
Geſichtsfarbe unterſchied Dich von allen unſern
provenzaliſchen Maͤdchen . Der kalte , engliſche
Ernſt hatte in Dir die franzoͤſiſche Lebhaftig-
keit zur ſanfteſten , einnehmendſten Heiterkeit
gemaͤßigt . Uns allen kamſt Du vor , wie ein
Engel auf einem Gemaͤhlde . Deiner Seits fan-
deſt Du wieder die hoͤchſte Freude an unſerm
ſuͤdlichen Leben , Dir war wie den Kindern ſeyn
mag , welche man lange gewickelt , und denen man
nun auf ein Mal ihre Bande loͤſt . Dir ſchienen ,
wie Deine Mutter ſich ausdruckte , Fluͤgel ge-
wachſen zu ſeyn . Haͤtteſt Du doch immer bei
uns bleiben koͤnnen ! Aber ſo waren es nur
drei kurze Jahre , welche wir vereint blieben ,
unzertrennlich dieſe ganze Zeit uͤber . Deine
Mutter ging nach Paris und knuͤpfte dort ,
nach dem Willen Deines Vaters , viele ihrer
alten Bekanntſchaften wieder an ; Du bliebſt
unterdeſſen in unſerm Hauſe , wo Du ganz
als zweite Tochter behandelt und geliebt wur-
deſt . Du haſt es kennen gelernt unſer gluͤckli-
ches Haus ; Dir brauche ich es nicht zu wie-
derholen , wie Liebe und Zufriedenheit darin
herrſchten . Du kennſt des Vaters freundlichen
Ernſt , ſeine belehrenden Geſpraͤche , ſeine launi-
gen Scherze , wenn er die oft zu geſchaͤftige
Mutter mit Gutmuͤthigkeit neckte . Du weißt ,
wie ſorgſam die treue Mutter war , wie ſie
Dich lieb gewann , und manche kleine Ver-
nachlaͤſſigung nachſahe , wenn ich ſie um Dei-
netwillen beging . Du haſt den herrlichen Emil
geſehen , wenn er waͤhrend der Ferien uns zu be-
ſuchen kam . Du weißt , mit welcher grenzenlo-
ſen Freude er empfangen wurde , nachdem er ſchon
Mondenlang vorher den Tag , faſt die Stunde
ſeiner Ankunft beſtimmt hatte . Du weißt , mit
welchem Jubel die Dienſtleute , Einwohner und
die Kinder des Dorfes herbei eilten , um den
Allgeliebten zuerſt zu begruͤßen . Wie war er
da unaufhoͤrlich bemuͤht , uns Vergnuͤgen zu be-
reiten , unſre Spiele und Taͤnze zu beleben ,
unſre Geſaͤnge mit ſeinem ruͤhrenden Floͤten-
ſpiel zu begleiten . Er war die Seele unſres
jugendlichen Kreiſes . Du wurdeſt bald das
Jdeal ſeines jungen Herzens , und Dein Bild
hat ihn bis zum letzten Schritte begleitet . O ,
daß das Herrliche und Schoͤne ſo ſchnell ver-
gaͤnglich iſt ! waͤhrend das Gemeine und Schlechte
alle Stuͤrme uͤberdauert . Treffliche Menſchen
ſind gleich zarten Blumen , ſie koͤnnen dem gluͤ-
henden Strahle des Mittags , und dem eiſigen
Hauche des Nordens nicht wiederſtehen . Das
Unkraut wuchert fort . Welch ein Unkraut muß
Deine Virginia ſeyn , daß ſie den Verluſt all
ihrer Lieben uͤberleben konnte ? Sie ſteht da
wie die einſame Diſtel auf Schottlands oͤder
Heide , welche der verlaſſene Saͤnger der Vor-
zeit ſo ruͤhrend in der Nacht ſeiner Schwer-
muth beſingt .
Jch kann uͤber jenen Zeitraum ſehr kurz
hinweg eilen , Du haſt damals alles gemein-
ſchaftlich mit mir erlebt , auch war es in Bezug
auf uns , nicht viel Merkwuͤrdiges . Unſre Tage
floſſen gleichfoͤrmig und froͤhlich dahin ; unſre
Herzen ſchlugen ruhig , ungeachtet Du anfingſt
in das jungfraͤuliche Alter hinuͤber zu gehn , wel-
ches ich ſchon angetreten hatte . Dank ſey
meinem Vater , deſſen Sorgfalt unſerm Geiſte
immer einen erhabenen Vorwurf zu geben wußte ,
ſo wie er unſeren Vergnuͤgungen die Kindlichkeit
zu erhalten verſtand . Deine Mutter kehrte
nach einiger Zeit zu uns zuruͤck , ſie hatte weder
Neigung noch Geſchick , fuͤr die Plane deines Va-
ters zu wirken . Sie war in Paris auf das beſte
empfangen , man gedachte allgemein ihrer Aus-
wanderung nicht , weil der Kaiſer , aus wohlwollen-
der Ruͤckſicht fuͤr meinen Vater es ſo zu wollen
ſchien . Die ehemalige Herzoginn von Rochefou-
cauld eine ihrer Jugendfreundinnen , ſtellte ſie der
neuen Kaiſerinn vor , und die guͤtige Joſephine
nahm ſie mit all der Liebenswuͤrdigkeit auf ,
welche in ihrem ſchoͤnen Gemuͤthe lag . Sie
war im Herzen tief geruͤhrt von der erfahrnen
zarten Behandlung , und aͤußerte dieß in ihren
Erzaͤhlungen ſo mannigfaltig . Gegen Deinen
Vater hat ſie dieß aber in ihren Briefen nicht
gewagt . Sie ſuchte ihn nach ihrer Art dadurch
zu beſaͤnftigen , daß ſie in ſeine Vorſtellungsart
einging , wohl wiſſend , wie ſehr es ihn aufbrin-
gen wuͤrde , daß ſie ſeine Zwecke meiſt verfehlt .
Seine Antwort , welche erſt ſpaͤt und , wegen
des wieder ausgebrochenen Krieges , auf Umwe-
gen , zu uns gelangte , athmete Zorn und Miß-
muth . Er befahl deiner Mutter , unverzuͤglich
mit Dir zuruͤck zu kehren . Gern haͤtte die ge-
horſame Gattinn Folge geleiſtet , aber alle Ver-
bindung mit England , war auf das ſtrengſte ge-
hemmt ; ſelbſt Briefe dahin zu befoͤrdern war
mit großer Schwierigkeit verknuͤpft . So ver-
zoͤgerte ſich , zu unſrer Freude , dieſe gefuͤrchtete
ſo oft angeſetzte und eben ſo oft vereitelte Ab-
reiſe bis zum Jahre 1806 , wo man endlich
wagte , den Ruͤckweg durch Deutſchland , uͤber
Hamburg anzutreten . Schmerzhafte Trennung
von allen Seiten ! Wir zerfloſſen in Thraͤ-
nen . Meine lebhafte Mutter ſchalt mitten in
ihren Thraͤnen , auf den Krieg , ſchmaͤhete den
Koͤnig von England , die Ausgewanderten , die
Revolution , ja ſelbſt den Kaiſer . Sie warf alles
durcheinander , und ſuchte bei jedem Leiden , im-
mer eine naͤchſte Urſache , an welcher ſie ſich ihres
heftigen Gefuͤhls entladen konnt . Mein Vater
und Deine Mutter hielten ſich lange ſprachlos
umarmt ; ſie fuͤhlten , es war die letzte Umar-
mung fuͤr dieſes Leben . Ungeachtet eine Ahn-
dung dieſer Art , in ihrer Lage , recht ſehr natuͤr-
lich war , ſo konnte doch damahls wohl niemand
glauben , auf welche unwahrſcheinliche Weiſe ſie
in Erfuͤllung gehen ſollte .
Eure Abreiſe ließ lange eine unausfuͤllbare
Luͤcke in unſerm haͤuslichen Daſeyn zuruͤck . Vor-
zuͤglich litt meine ſonſt ſo ſtarke Faſſung einen
gewaltigen Stoß . Dein Brief , welchen Du mir
von Hamburg aus ſchickteſt , war das erſte freu-
dige Ereigniß , welchem mein Herz entgegen
ſchlug ; und doch war dieſer Brief ſelbſt , ſo
traurig , daß er mir tauſend Thraͤnen entlockte .
Du fuͤhlteſt die Trennung ſo ſehr als ich ; Du
hatteſt Dich in dem froͤhlichen Frankreich ſchon
gaͤnzlich eingebuͤrgert ; England und Deine fruͤ-
heren Verbindungen waren Dir ſo fremd ge-
worden , ja es hatte ſich ſogar eine gewiſſe Abnei-
gung gegen jenes Jnſelland in Dir feſtgeſetzt , ſeit
Du in unſerm Hauſe taͤglich uͤber ſeinen unredli-
chen , engherzigen Kaufmannsgeiſt reden gehoͤrt .
Daneben ſchilderteſt Du mir mit den dunkelſten
Farben eines trauernden Gemuͤthes , die Szenen
des Elends , welche Dir auf deiner Reiſe , als
Folge des Krieges , bemerkbar geworden ; auch
hier litt meine Seele mit Dir . Wehe dem
Volke uͤber deſſen Fluren die blutige Erys hin-
ſchwebt ! Der Soldat kann der Halmen nicht
ſchonen , uͤber welche ſein raſtloſer Fuß hineilt .
Die Selbſterhaltung , dieſes erſte Geſetz in der
organiſchen Natur , zwingt ihn in den Natur-
zuſtand zuruͤck , wo die Guͤter gemein ſind , und
die Staͤrke zuerſt Beſitz ergreift . Hier kann
von keiner Moralitaͤt die Rede ſeyn . Die Ur-
ſache der Kriege kann allein vom Moraliſten be-
urtheilt werden ; gewoͤhnlich aber iſt ſie ſo ver-
wickelt , daß nicht leicht ein buͤndiges Urtheil ge-
ſprochen werden kann .
Vorzuͤglich iſt dieß mit Frankreichs Kriegen ,
ſeit dem Ausbruch der Revolution , der Fall .
Frankreich hatte nichts feindſeliges gegen ſeine
Nachbarn im Sinn , es brach nur das Joch ,
deſſen Laſt ihm , je laͤnger , deſto unertraͤglicher
wurde . Es war bisher von der Willkuͤhr Ein-
zelner gedruͤckt worden , mithin ſehr natuͤrlich ,
daß wenn dieſer Druck aufhoͤren ſollte , die
Willkuͤhr dieſer Einzelnen vernichtet werden
mußte . Da ſchrien nun die Einzelnen Feuer ,
und die Nachbarn ergriffen die Gelegenheit mit
Begierde , in das verſchloſſene Haus einzudrin-
gen , unter dem Vorwande , zu loͤſchen . Aber mit
welchem Rechte ? Die Bewohner verbrannten
nur einen Theil ihrer , durch Krankheit verpeſte-
ten Kleidungſtuͤcke und Geraͤthe , und wuͤrden ſchon
allein Herr des Feuers geworden ſeyn , haͤtten
die unberufenen Helfer nicht die Thuͤren ge-
ſprengt , und ſo , durch die Zugluft , die Flamme
zum wuͤthenden Ausbruch angefacht . Haͤtten
ſie doch draußen zur Sicherung ihrer eige-
nen Gebaͤude , ihre Loͤſch-Anſtalten nach Be-
lieben in Thaͤtigkeit geſetzt , niemand wuͤrde es
ihnen verargt haben . Aber die Verletzung des
Hausrechts empoͤrte die Bewohner , ſie warfen
die Eindringenden auf die Straße hinaus , und
verfolgten ſie bis in ihre eigenen Haͤuſer , Wieder-
vergeltung zu uͤben . Nun war der Daͤmon des
Krieges losgelaſſen , und keine menſchliche Macht
vermochte ihn wieder zu feſſeln . Er kehrt nicht
ſo gehorſam zuruͤck , als der zahme Falke , der
auf den Ruf des Traͤgers ablaͤßt von ſeiner
Beize , und ſich ſtill wieder mit ſeiner Nebel-
kappe bedecken laͤßt . Darum ſollten die Fuͤrſten
zittern , wenn ſie ein Krieges-Manifeſt un-
terſchretben . — Die Rachgier der Angreifer
wuchs mit jedem Verluſt , und ihre Friedens-
ſchluͤſſe , von der Erſchoͤpfung herbeigefuͤhrt , wur-
den bey der Unterzeichnung in geheim von ihnen
nur als Waffenſtillſtaͤnde betrachtet . England
wußte die Empfindlichkeit der alten Dynaſtien
immer in Athem zu erhalten , es ſparte weder
Geld , noch Vorſpiegelungen , ſie immer zu neuen
Anſtrengungen zu reizen , und zog allein Nut-
zen aus der allgemeinen Verblendung . Zu ſpaͤt
wird das Feſtland beklagen , was es , dieſem
Handels-Deſpoten gegenuͤber , verſehen . Verge-
bens hat die Republik , vergebens ſpaͤterhin
oft der Kaiſer die Hand zum Frieden gebo-
ten ; man verweigerte ihn , oder ſchloß ihn
mit falſchem Herzen . Frankreich mußte immer
fuͤr ſeine Selbſterhaltung , fuͤr ſeine Freiheit
fechten ; um nicht Geſetze anzunehmen , mußte
es ſich in die Lage ſetzen , ſelbſt Geſetze zu ge-
ben ; ſeine Eroberungen waren mehr Noth-
wehr als Ehrgeitz . Die Fuͤrſten hatten den
Streit begonnen , die Fuͤrſten ſetzten ihn fort ,
aber die Voͤlker empfanden am haͤrteſten ſeine
blutige Geißel . Die Maſſe gleicht dem Kinde ,
welches den Tiſch ſchlaͤgt , woran es ſich ſtieß ,
und ſo war es ein leichtes Spiel , Frankreich
als
als die Urſache aller Uebel zu verſchreien , welche
die Zeit mit ſich fuͤhrte .
Von dieſem Abſchnitte meines Lebens an , ge-
woͤhnte ich mich , faſt eben ſo viel zu ſchreiben , als
ich bisher geleſen . Jch war gewohnt Dir alle klei-
nen , mich betreffenden Ereigniſſe zu erzaͤhlen , ſo-
gar alles , was ich bei dieſer und jener Veranlaſ-
ſung gedacht und empfunden hatte . Dieſe liebe Ge-
wohnheit ſetzte ich ſchriftlich fort , und man haͤtte
ein eigenes Packetboth fuͤr meine Korreſpondenz
einrichten koͤnnen . Da es aber uͤberall keins gab ,
ſo mußte von Zeit zu Zeit ein großer Theil mei-
ner , in Hoffnung geſchriebnen Briefe den Flam-
men geopfert werden . Jch war dann jedes Mahl
ſehr traurig , aber niemahls unwillig . Das Kon-
tinentalſyſtem leuchtete mir zu ſehr ein , als daß
ich mich nicht gern jeder , daraus entſpringenden ,
Unannehmlichkeit unterzogen haͤtte , ſo empfindlich
ſie meinem Herzen auch war . Mein Vater nannte
dieſe Maßregeln weiſe und wohlthaͤtig in ihren
ſpaͤteren Folgen , ſowohl fuͤr Frankreich , als fuͤr
das uͤbrige feſte Land , wenn man ſie allgemein
mit gutem Willen ergreife . Meine wirthſchaft-
Erſter Theil. [7]
liche Mutter war ſehr dagegen , weil der Preis
der Kolonialwaaren dadurch in die Hoͤhe ging ;
ſie wurde aber von dem Triumvirate uͤber-
ſtimmt , welches aus meinem Vater , dem guten
Pfarrer und mir beſtand . Wir waren zu jeder
Entſagung bereit , und unerſchoͤpflich in Erfin-
dung von Surrogaten . Jch fing an , alle dien-
lich ſcheinenden Blumen und aromatiſchen Blaͤt-
ter , bei ihrem zarten Hervortreiben , ſorgſam zu
trocknen , und es gelang mir , durch vieles Ver-
ſuchen und Zuſammenſetzen , eine Miſchung zu
treffen , welche dem chineſiſchen Thee ſehr nahe kam .
Mein Vater pflanzte Farbekraͤuter , und legte
eine Fabrik von Zucker aus Runkelruͤben an ; Mir
machte es große Freude , bei dieſer Anlage , durch
Aufſicht , mit zu wirken . Der Pfarrer legte ſich
fleißig auf Bienenzucht , und erfand eine Vor-
richtung , dem Geſpinſte des Flachſes eine groͤ-
ßere Vollkommenheit zu geben . So ſahen wir
ruhig auf die Jſolirung des Kontinents , und
den Verluſt der ehemaligen Kolonien . Wir be-
kaͤmpften den Erbfeind mit unblutigen Waffen .
Lehre und Beiſpiel pflanzten ſich immer weiter
fort ; Nationalinduſtrie ward uͤberall belebt ,
brachte Nationalwohlſtand hervor , und der Sieg
war entſchieden , haͤtte der allgemeine Feind nicht
unter den andern Voͤlkern verblendete Helfer
gefunden . Auf mich hatte dieſer kleine Krieg
einen eben ſo vortheilhaften Einfluß als auf
Frankreich , er weckte mich zur Thaͤtigkeit . Bis
dahin war ich nur unterbrochen koͤrperlich be-
ſchaͤftigt geweſen , von jetzt an war ich raſtlos
aufmerkſam , daß Alles auf das beſte geſchah , daß
man haushaͤlteriſch wirthſchaftete , das Fehlende
ergaͤnzte , das Vorhandene vervollkommnete . Jch
wendete die Lehre , welche die Nation erhielt ,
auch auf mich als Einzelweſen an , daß man
nur dadurch ſich unabhaͤngig erhaͤlt , wenn man
alle ſeine Beduͤrfniſſe ſelbſt befriedigen lernt . Alle
die mechaniſchen Fertigkeiten , welche Du juͤngſt
mit einigem Erſtaunen an mir wahr genommen ,
haben jener Richtung meiner Anſicht ihren Urſprung
zu danken . Da ſich ſo wenig Gelegenheit abſe-
hen ließ , einen ordentlichen Briefwechſel mit Dir
an zu fangen , ſo belebte ich wenigſtens die ſchrift-
lichen Unterhaltungen mit meinem Bruder , welche ,
groͤßten Theils , Dich zum Gegenſtande hatten .
Er bewahrte Dein Bild in treuem Herzen , und
*
naͤhrte zugleich die angenehme Hoffnung Dich auf
irgend eine Weiſe bald wieder zu ſehen . Naͤchſt
dieſem reichhaltigen Stoffe , unterhielt er mich ,
fleißig von einem Freunde , welcher um vier Jahre
aͤlter war als er . Mucius war der Sohn ſei-
nes vaͤterlichen Lehrers . Beim Eintritt in das
Haus deſſelben fuͤhlten ſich beide ſchon ſehr zu
einander hin gezogen , doch war damahls der Un-
terſchied der Jahre , bei der fruͤher fortgeſchritte-
nen wiſſenſchaftlichen Bildung des Freundes noch
ſehr bemerklich ; aber Emils ſchoͤnes Gemuͤth
und ſeine ſchnell reifende Vernunft glichen den
Abſtand nach und nach voͤllig aus . Von ſeinem
Freunde hatte mein Bruder mir unaufhoͤrlich zu
erzaͤhlen , und es wurde mir bald Gewohnheit ,
am Schluſſe meiner Briefe ihm einen Gruß an
ſeinen Pilades aufzutragen . Mucius erwiederte
dieſe Aufmerkſamkeit , durch einige ſehr artige
Verſe , welche er unter einen Brief meines Bru-
ders ſchrieb . Jch antwortete durch ein kleines
Gegengedicht , ebenfalls in einem Briefe an
Emil , und ſo entſpann ſich ein mittelbarer Brief-
wechſel , welcher mich , durch ſeine romantiſche
Natur , unendlich reizte . Die Artigkeit ging in
Gefuͤhl uͤber , und ein dunkles Sehnen bemaͤch-
tigte ſich unſrer Herzen . —
Schon als Du noch bei uns wareſt , freuteſt Du
Dich der Gewohnheit meines Vaters , beim An-
fange jedes Fruͤhlings eine kleine Reiſe mit uns
zu machen ; nach Deiner Abreiſe wurden dieſe
Ausfluͤge in jedem Jahre wiederholt und erwei-
tert . Wir hatten Marſeille und Hieres , dann
Genf und ſeine ſchoͤnen Umgebungen beſucht .
Die Geſundheit meiner Mutter hatte eben ſo
viel Antheil an dieſen Reiſen , als das Vergnuͤ-
gen . Sie hatte beſonders im Winter des Jah-
res 1808 ſehr an Nervenzufaͤllen gelitten , weß-
halb wir uns fruͤher als gewoͤhnlich auf den
Weg machten , um nach dem Rathe der Aerzte ,
nach Montpellier zu gehen . Wir nahmen un-
ſeren Weg uͤber Beaucaire und durchſchnitten
dann die Bergkette gerade auf Bellegarde , wo
mein Vater ein Geſchaͤft abzuthun hatte . Es
war in den erſten Tagen des Februars , die
Nordſeite der Berge war noch hin und wieder
mit Schnee bedeckt , aber in den Thaͤlern ſproßte
ſchon das uͤppigſte Gruͤn , Veilchen und wilde
Hyazinthen bluͤhten an den ſonnigen Abhaͤngen ,
die majeſtaͤtiſchen dunklen Tannen trieben ſchon
ihre goldgruͤnen Sproſſen , Finken und Graſe-
muͤcken jubelten durch die neubelaubten Gebuͤ-
ſche . Schon waren wir nahe am Ziel unſeres
naͤchſten Ruhepunktes , man konnte ſchon von
einer hoͤheren Stelle des Weges , die Thurm-
ſpitze von Bellegarde erblicken , als beim Hin-
abfahren in einen Hohlweg , der Wagen um-
warf . Wir kamen zwar faſt ohne alle Beſchaͤdi-
gung davon , aber der Wagen hatte eine deſto
ſtaͤrkere erhalten , ſo daß es ſchlechterdings un-
moͤglich war , ſich ſeiner ferner zu bedienen .
Wir mußten uns alſo entſchließen , bis zum
naͤchſten Dorfe zu Fuße zu gehen , wobei der
Vater und ich , meine vor Schreck halbtodte
Mutter fuͤhrten . Jm Wirthshauſe war gar
kein Aufenthalt moͤglich , aber der Foͤrſter , wel-
cher am Ende des Fleckens wohnte , nahm uns
mit herzlicher Gaſtfreiheit auf . Er bot ſo-
gleich eine Menge Bauern auf , unſre Sachen
vom Wege zu holen , und unſeren Wagen bis
zur Schmiede zu ſchleppen . „ Jch wuͤrde ihnen
zur Fortſetzung ihrer Reiſe mein eigenes Fuhr-
werk anbieten ‟ ſagte er „ wenn ich ſolches nicht
meinem Neffen entgegen geſendet haͤtte , welcher
mich heut zu beſuchen kommt . Sie werden
ſich daher ein Nachtlager bei mir gefallen laſ-
ſen muͤſſen . ‟ Mein Vater nahm das in Hin-
ſicht meiner Mutter dankbar an . Er ſelbſt
aber entſchloß ſich , ein Poſtpferd zu beſteigen ,
und ſo , mit dem Poſtillion , noch heute nach
Bellegarde zu reiten , von wo er uns am an-
dern Morgen , mit einem Wagen , abzuholen
verſprach . Jch wurde mit meiner Mutter auf
ein Oberzimmer gefuͤhrt . Sie fuͤhlte ſich ſo an-
gegriffen , daß ſie ſich ſogleich zu Bette legen
mußte , und da ich nach einiger Zeit Neigung
zum Schlaf bei ihr gewahr wurde , ſo ging ich ,
wie ſie zu wuͤnſchen ſchien , wieder hinunter
ins Wohnzimmer . Die Daͤmmerung war in :
deſſen hereingebrochen , ohne daß ich es bei dem
Geſchwaͤtz der aͤlteſten Tochter des Foͤrſters ,
ſonderlich bemerkt haͤtte . Sie machte mich zwar
darauf aufmerkſam , doch ſetzte ſie hinzu , der
Vater liebt dieſes trauliche Feierſtuͤndchen , und
ſieht nicht gern , wenn wir fruͤh Licht an-
zuͤnden . Ein Wagengeraͤuſch im Hofe machte
uns aufmerkſam . Da kommt der Vetter ! rief
das Maͤdchen , und huͤpfte aus der Thuͤr . Sie
kehrte bald mit dem Foͤrſter und einem Frem-
den zuruͤck , deſſen Geſtalt ich nur ſehr ſchwach
in der Daͤmmerung unterſcheiden konnte . Der
Foͤrſter machte ihn mit meiner Anweſenheit im
Zimmer bekannt , und erzaͤhlte die Geſchichte unſe-
res Mißgeſchicks , woruͤber mir der Fremde ſein
Bedauern in herzlichen Worten und mit einer
ſehr ſchoͤnen Stimme bezeugte . Das Geſpraͤch
fiel dann auf allgemeinere Gegenſtaͤnde . Wiſ-
ſen Sie wohl , lieber Oheim , ſagte ploͤtzlich der
Fremde , daß ſie mich vielleicht zum letzten Mahle
ſehen ? Wie das ? fragte dieſer . Jch gehe in
einigen Wochen , vielleicht Tagen , zur Armee
ab , und wuͤnſchte nur , ihnen Lebewohl zu ſa-
gen . Du Soldat ? rief der Oheim , das haͤtte
ich nimmer gedacht . Alſo hat dich das fatale
Loos doch getroffen , nachdem es Dir ſchon
zwei Mahl voruͤber gegangen ? Jch habe ſeine
Entſcheidung nicht wieder abgewartet , ſagte der
Fremde , ich habe mich freiwillig dazu beſtimmt .
Freiwillig ? rief der Foͤrſter mit Erſtaunen . Un-
moͤglich kannſt du , nach deiner Lebensweiſe , Nei-
gung zum Soldatenſtande fuͤhlen . — Wenn auch
nicht dieſe , ſo doch Neigung , das Vaterland zu
vertheidigen . — Du mochteſt ja niemahls meinen
Fuͤchſen den Krieg erklaͤren , und wenn ich dich ,
beim Treibjagen , aufmerkſam auf deinem Poſten
glaubte , fand ich dich mit dem Virgil in der Hand
nachlaͤſſig am Baume gelagert , die Buͤchſe ne-
ben Dir . — Oder mit Tirtaͤus Kriegsliedern ,
Oheim . „ Wollt Jhr ewig ſchlafen , den Schlaf
„des Feigen ? weckt Euch nimmer der Nachbarn
„Hahn , nimmer der Schwaͤcheren Muth ? ‟ —
Aber woher denn ſo auf ein Mahl dieſe Aen-
derung ? Du wirſt doch nicht nach Spanien
wollen , um von auflauernden Buſchkleppern ge-
mordet , oder von Weibern vergiftet zu werden ?
— Nein Oheim . Jch ahnde den Volkswillen , ſo
unklug er auch ſeyn mag . Aber die Kriegsflam-
me droht ſchon wieder , von Seiten Oeſtreichs ;
England blaͤſt mit vollen Backen in den immer
glimmenden Zunder , man glaubt uns dieß Mahl
in einen Hinterhalt fallen zu laſſen . Napoleon
iſt in Spanien , hinter ſeinem Ruͤcken will man
Frankreich angreifen , welches er ſonſt mit dem
flammenden Schwerte , wie der Engel den Ein-
gang des Paradieſes , bewacht ; aber nur zu
bald werden ſie das gefuͤrchtete Antlitz des Raͤ-
chers ſehen . Unterdeſſen muß Frankreichs ganze
Heldenjugend ſich erheben , daß der Fuͤhrer ein
ſchlagfertiges Heer finde . —
Der Fremde ſprach dieſe Worte mit einem
ſolchen Nachdruck , daß ein freudiger Schauer
durch meine Nerven bebte . Des Maͤdchens
Hand zitterte in der meinigen . Ach ! rief ſie
mit ſchluchzender Stimme , ihr boͤſen Maͤnner
redet vom Kriege , wie von einem Vogelſchießen ,
ihr denkt nur an den Ruhm , ohne an die
Thraͤnen zu denken . Was nuͤtzt uns Armen
des Kaiſers Macht und Ruhm ; noch ein Mahl
ſo lieb wollte ich ihn haben , wenn er fried-
fertiger waͤre , und nicht ſo eroberungſuͤchtig .
Liebe Marie , ſagte der Fremde mit einiger
Heftigkeit , du redeſt wie ein Weib , und ver-
ſtehſt es nicht . Napoleons Ruhm , iſt Frank-
reichs groͤßte Staͤrke , ſeine Macht iſt des Vater-
landes Sicherheit . Man moͤchte gern dieß freie
Land wieder in die Feſſeln des verfloſſenen
Jahrhunderts ſchmieden , welche wir nur von
Hoͤrenſagen kennen , da ſie faſt mit unſrer Ge-
burt zerbrochen wurden .
Jch habe ſie wohl gekannt , redete der Foͤr-
ſter dazwiſchen , und um ſie ab zu wehren , wollte
ich ſelbſt noch meinen alten Kopf den feindli-
chen Reihen gegenuͤber ſtellen . Um wie viel
mehr wir Juͤnglinge ! fuhr der Fremde fort :
welche Elende waͤren wir , wenn wir nicht unſer
Herzblut hingeben wollten fuͤr unſer Vaterland und
ſeine Verfaſſung , unter deren Schatten wir er-
wuchſen , fuͤr den Kaiſer , der die Wunden der
Revolution heilte , den Buͤrgerkrieg endete , und
den Ruhm der Nation auf den hoͤchſten Gipfel
erhob . Jeder Buͤrger fuͤhlt ſich Theilnehmer
dieſes Ruhms ; ſollte es nicht auch ein weib-
liches Herz ?
Dieſe Apoſtrophe an mein Geſchlecht ,
reizte mich zum Mitgeſpraͤch , ich druckte mei-
nen Freiheitsſinn und meine gluͤhende Vater-
landsliebe in lebhaften Worten aus . Der
Fremde ſchien mich mit Bewunderung zu hoͤ-
ren , es waren ſeine eigenen Begriffe , welche
er aus einem fremden Munde vernahm . Mir
ging es eben ſo , ich glaubte mein eigenes Jch
zu hoͤren . Jeder von uns ſetzte haͤufig , im
Feuer des Geſpraͤchs , den angefangenen Pe-
rioden des andern fort , genau mit denſelben
Worten , welche dieſer eben laut werden laſſen wollte .
Es war etwas uͤbernatuͤrliches in dieſer Ueber-
einſtimmung . Die beiden andern ſchwiegen voll
Erſtaunen ſtill , wir beide redeten allein , und ver-
gaßen auch , daß es außer uns noch Weſen gab .
Da wir uns nicht ſehen konnten , ſo waren
es nur die Geiſter , welche ſich erkannten , und
eine , wie uns ſchien , ſchon fruͤher geknuͤpfte
Freundſchaft fortſetzten . Jch fuͤhlte mich auf
eine unbegreifliche , und mir bis dahin voͤllig
unbekannte , Weiſe zu dem Fremden hin ge-
zogen . Daß er in demſelben Falle ſey , be-
wies die immer zunehmende ruͤhrende Weich-
heit ſeiner Stimme . Jch war aufgeſtanden ,
und hatte mich , unbewußt , dem großen Tiſche
genaͤhert , welcher , mit einer gewirkten Decke
behangen , in der Mitte des Zimmers ſtand , der
Fremde hatte , von ſeiner Seite , daſſelbe ge-
than . So mochten wir vielleicht eine Stunde
gegenuͤber geſtanden haben ; fuͤr uns gab es
keine Zeit . Tiſch und Dunkelheit trennten uns ,
wir aber fuͤhlten uns vereint , und unſre , in ein-
ander verſchlungenen Seelen durchflogen , gemein-
ſchaftlich , den endloſen Raum der Schoͤpfung ,
jede Anſicht aus demſelben Punkte , in demſel-
ben Lichte betrachtend . Finſter , ſtockfinſter war
es geworden , fuͤr uns war es ſonnenhell . Da
trat endlich die Foͤrſterinn mit Licht herein ,
und ſtellte es auf den Tiſch . Wir ſtarrten uns
ſprachlos eine Secundelang an , dann hoben wir
in demſelben Augenblicke die Arme , und — Mu-
cius ! Virginia ! toͤnte im Nu von beider Lippen .
Er war es , der Niegeſehene ; ich , die von ihm
Ungekannte . Die Foͤrſterfamilie ſtaunte uns an ,
wir mußten endlich das Raͤthſel loͤſen , und er-
zaͤhlen . Da war nun des Wunderns kein Auf-
hoͤren . Wunderbar ſind die Wege des Herrn !
ſagte die Foͤrſterinn ; ja es iſt Gottes Schickung
liſpelte mit einem leiſen Seufzer Marie ; der
alte Foͤrſter ſchuͤttelte uns treuherzig die Haͤnde .
Jhr habt mich ordentlich geruͤhrt , mit euerm
Geſpraͤche , Kinderchen , ſagte er , mir wars als
ſey ich in der Kirche . Nun Mutter trag auf ,
vom Beſten was das Haus vermag , ich weiß
doch Du haſt dem Mucius ſeine Leibeſſen berei-
tet , ich will auch den Koller nicht ſchonen .
Haͤtte ich doch nicht gedacht daß wir ein ſo viel-
faches Feſt feiern ſollten , Willkommen- und Ab-
ſchieds- , Freuden- und Trauerfeſt zugleich , und
wer weiß was noch fuͤr ein Feſt ! nun , nun , der
Herr lenke alles nach ſeinem Willen , dann iſt es
auch zu unſerm Beſten . Er luͤftete das lederne
Kaͤppchen ein wenig , zuͤndete dann den Wachs-
ſtock an , nahm den Kellerſchluͤſſel und eilte hin-
aus . Mutter und Tochter beſchickten emſig den
Tiſch . Mucius ſetzte ſich neben mich , uns fiel
beiden kein Wort ein uͤber das ſeltſame Zuſam-
mentreffen , wir waren alte Bekannte . Wir
ſprachen viel von Emil ; in dieſem theuern
Gegenſtande trafen unſre Seelen am innigſten
zuſammen . Wir wiederholten hundert Mahl , wie
ſehr wir ihn liebten , und hoͤrten es von einan-
der mit eben ſolchem Entzuͤcken , als gaͤlte dieſe
Verſicherung uns . Bei Tiſche erhielt ich mei-
nen Platz zwiſchen Oheim und Neffen , neben
Mucius ſaß Marie . Die arme Marie war
die einzige , welche nicht ſo heiter ſchien , als ſie
bei meiner Ankunft war , doch wurde ſie es um
etwas mehr , nachdem der Vater oͤfters auf einen
gluͤcklichen Feldzug angeſtoßen , und ſie darauf
ihrem Nachtbar Mucius hatte Beſcheid thun
muͤſſen . Auch auf meine gluͤckliche Reiſe wurde
getrunken . Ob Sie die Reiſe nach Montpellier
fortſetzen werden , iſt ſehr die Frage , ſagte ploͤtz-
lich Mucius : ihr Herr Vater mag das mor-
gen entſcheiden . Wir ſahen ihn alle verwun-
dert an , und baten um Erklaͤrung . Heute nicht ,
ſagte er ablehnend , laßt uns die Zukunft ſtill
bedecken , und des heutigen Abends rein genie-
ßen . Damit ſtimmte er einen froͤhlichen Rund-
geſang an , und der Abend wurde bis ſpaͤt in
die Nacht verlaͤngert und heiter beſchloſſen .
Jch begab mich in einem geiſtigen Rauſche ,
woran der Wein keinen Antheil hatte , zu Bette ,
und ſchlummerte erſt in der Morgendaͤmmerung
zu ſeligen Traͤumen ein . —
Mein Vater war fruͤh angekommen , ich
fand ihn ſchon am Bette meiner Mutter als
ich mein Kaͤmmerchen verließ ; er war ernſt ,
und meine Mutter in einiger Unruhe . Jch
umarmte beide , und eilte hinunter , um ihr
Geſpraͤch nicht zu ſtoͤren , mehr noch , warum
ſollte ich es leugnen ? um Mucius einen guten
Morgen zu wuͤnſchen . Jch traf ihn im Wohn-
zimmer , und ſein Auge ſtrahlte mir entgegen .
Der Vater iſt ſo ernſt , ſagte ich nach einigen
freundlichen Reden , hat er ſie ſchon geſehen ?
Ja wohl , erwiederte er , meine Nachricht hat
ihn ernſt geſtimmt . Welche Nachricht ? rief ich .
Sie wird es nicht erſchrecken , ſagte er , indem
er liebkoſend meine Hand nahm , Emil begleitet
mich ins Feld . O , meine Mutter ! rief ich voll
Schrecken . Fuͤr dieſe habe ich gezittert , ſagte
er , doch ſie wird ſich in das Unvermeidliche fin-
den . Emil iſt ſechzehn Jahre , das Loos kann ihn
in kurzen treffen ; warum alſo nicht ein Opfer
freiwillig bringen , welches fruͤher oder ſpaͤter doch
unabaͤnderlich gebracht werden muß ! jetzt geht
er an der Hand der Freundſchaft , wer weiß ob
es ihm ſpaͤterhin ſo gut wird ; auch iſt er unwi-
derruflich entſchloſſen , und war im Begriff , gleich
nach meiner Abreiſe , ſelbſt nach Chaumerive zu
gehen , um ſeinen Entſchluß kund zu thun . Wir
muͤſſen zuruͤck ! rief ich haſtig . Allerdings , ſagte
er : ihr Herr Vater bereitet die Mutter dazu
vor . Ach meine arme , arme Mutter ! klagte ich ,
wie wird ſie es uͤberleben ! Sie bleiben ihr ,
ſagte
ſagte Mucius , und trocknete mir ſanft die Augen .
Er iſt ihr Liebling , fuhr ich fort , und verdient
es zu ſeyn . Beide verdienen es ! Beide ! rief
Mucius , indem er meine Hand mit Heftigkeit
an ſeine Lippen druͤckte . Gluͤcklicher Emil ! ſetzte
er hinzu , und eine Thraͤne glaͤnzte in ſeinen
dunkelbraunen Augen : gluͤcklicher Emil , Engel
weinen um dich ! ich Ungluͤcklicher habe keine
Schweſter ! Jch will auch die ihrige ſeyn , ſagte
ich , und meine Thraͤnen floſſen ſtaͤrker . Vir-
ginia ! rief er im Ausruf des Entzuͤckens , und
ſchlang den Arm mich , ich ſank im Uebermaß
des Gefuͤhls an ſeine Bruſt . Unſre Lippen be-
gegneten ſich unwillkuͤhrlich ; wir hielten uns
lange in ſprachloſer Seligkeit umarmt . O , das
Leben iſt ſchoͤn ! rief endlich Mucius : es will
mich halten mit all ſeinem Zauber ; gerade da ich
es aufs Spiel ſetzen will , entfaltet es mir ſeine
ſchoͤnſten Bluͤthen . Aber nicht dem Feigen wuͤrde
dieſes holde Auge laͤcheln , nein , ich muß kaͤm-
pfen um ſo ſchoͤnen Preis ! Wird Virginia den
Sieger lieben ? fragte er mit Schmeicheltoͤnen .
Ewig ! entgegnete ich . Mein ? Dein riefen wir
Erſter Theil. [8]
beide aus einem Munde , und eine zweite Um-
armung beſiegelte den Bund fuͤr die Ewigkeit .
O , ſeliges Gefuͤhl , wenn zwei Seelen , welche
der Schoͤpfer aus einem Lichtfuncken gebildet , ſich
finden und ſich verbinden auf ewig ! Die Gegen-
wart und ihre kleinen Verhaͤltniſſe verſchwinden
dem trunkenen Auge , es ſieht nur aufwaͤrts zum
Quell des Lichts . Auch meine Thraͤnen waren ploͤtz-
lich verſiegt , und mein Herz jauchzte in geheim
mitten unter den Aeußerungen der allgemeinen
Beſorgniß . Die Thraͤnen meiner Mutter tha-
ten mir wehe , ich machte mir Vorwuͤrfe daß
ich ſo gluͤcklich war , aber ich konnte es nicht
aͤndern , ich war gluͤcklich .
Es wurde beſchloſſen , daß wir ſogleich die
Ruͤckreiſe nach Chaumerive antreten wollten ,
um den geliebten Emil ſo bald als moͤglich an
unſer Herz zu ſchließen ; Mucius war ſogleich
entſchloſſen , uns zu begleiten . Der Oheim ſchuͤt-
telte ihm zum Abſchiede kraͤftig die Hand : du
biſt ein braver Junge , ſagte er , thu’ deine
Pflicht , und Gott ſey mit dir , Mucius ! Mit
dem Schilde , Oheim , oder auf dem Schilde !
entgegnete dieſer langſam , mit Nachdruck . Mu-
cius Scaͤvola ! rief mein Vater und ſchloß ihn
mit feuchten Augen an ſeine Bruſt . Marie
weinte heftig als er ſie zum Abſchied kuͤßte ,
dann umarmte ſie mich , ſahe mich einen Au-
genblick nachdenkend an , ein halbes Laͤcheln
ſchwebte auf ihrem leidenden Geſichte , ſie ſchuͤt-
telte leiſe den Kopf , als wollte ſie ſagen : keine
wird ihn haben ! Sie trocknete muthig ihre
Thraͤnen , und ſchmiegte ſich ſanft reſignirt an
ihren Vater .
Unſre Ruͤckreiſe war nicht erfreulich . Meine
Mutter war meiſtens leidend und in ſich gekehrt ,
ſo viel Muͤhe ſich auch die Maͤnner gaben ſie
zu beruhigen ; mein leuchtendes Auge ſchien ihr
wundes Gefuͤhl oftmahls zu verletzen . Auf der
andern Seite aber war es mir eine hohe Freude ,
zu bemerken , wie mein Vater mit jeder Mi-
nute mehr Gefallen an meinem Geliebten fand .
Er erzaͤhlte ihm ſeinen amerikaniſchen Feldzug ,
und verjuͤngte ſich mitten unter den Bildern
ſeiner Jugend . „ Dein Bruder fiel ! ‟ ſeufzte
meine Mutter . Fuͤr ſeine Ueberzeugung , fuͤr
*
eine gute Sache , und von allen ſeinen Kamera-
den beweint ! rief mein Vater , kann das laͤngſte
Leben einen ſo ſchoͤnen Tod aufwiegen ? Auch
ein Leben voll Liebe nicht ? fragte meine Mut-
ter , und druͤckte zaͤrtlich ſeine Hand . Das
Leben iſt ſchoͤn , erwiederte er , und umarmte ſie ,
aber der Heldentod des Juͤnglings iſt es nicht
minder . Wohl iſt er zu beneiden , ſagte Mucius ,
wenn ein ſchoͤnes Auge um ihn weint ; er lebt
dann in dieſen koͤſtlichen Thraͤnen ein ſeliges
Leben ! Eine dunckle Wolke flog bei dieſen Wor-
ten durch meine Seele , aber muthig ſcheuchte
ich ſie hinweg . Gluͤckliches Geſchlecht , ſagte
ich , das handelnd eingreifen kann in die gro-
ßen Weltbegebenheiten ! Preiſe das deine gluͤck-
lich , antwortete mein Vater , dem ein kleinerer
Kreis bezeichnet wurde ; es hat keine ſchmerz-
liche Wahl , kann nicht ſchwanken zwiſchen den
Pflichten fuͤr ſein Haus , und fuͤr ſein Land .
Jch erkenne es mein Vater , ſagte ich , ſeine
Hand kuͤſſend . Jch verſtand recht gut , was an
ſeinem Geiſte voruͤber ging .
Wir trafen in Chaumerive faſt zugleich mit
dem theuern Emil ein . Meine Mutter ſchloß
ihn leidenſchaftlich in ihre Arme , und ſchien
noch einige Hoffnung zu hegen , ihn zuruͤck zu
halten ; doch uͤberzeugte ſie ſeine ruhige Hal-
tung , und meines Vaters beſtimmte Erklaͤ-
rung , ſehr bald , daß ſie ſich dem Unvermeid-
lichen ergeben muͤſſe . Sie that es mit der be-
ſten Faſſung von der Welt , augenſcheinlich in
der Abſicht , das Herz ihres Lieblings nicht
ſchwer zu machen . O Allmacht der muͤtterlichen
Liebe , welche Wunder bringſt du hervor ! Meine
arme Mutter , ſonſt ſo heftig in den Aeußerun-
gen ihres Schmerzes , gewann es uͤber ſich , ihrem
Sohn immer ein heiteres Geſicht zu zeigen ,
waͤhrend ihr Herz aus tauſend Wunden blutete .
Sie war raſtlos mit ſeinen kleinen Beduͤrfniſſen
beſchaͤftigt , und ſprach ſogar ſcherzend von ſei-
ner baldigen ſiegreichen Ruͤckkehr . Nur in der
Stille des Morgens , hoͤrte ich oft ihr Schluch-
zen , im anſtoßenden Kabinett , und bemerkte , wenn
ſie in das Wohnzimmer trat , auf ihrer blaſſern
Wange , Spuren friſch vergoſſener Thraͤnen , wel-
che ſie jedoch ſorgfaͤltig zu tilgen ſuchte , wenn die
Fruͤhſtuͤcksſtunde heran nahte . Mit zaͤrtlicher
Achtſamkeit forſchte der Sohn oft auf ihrem
lieben Geſichte , und bat dann mit ſeiner ſchmei-
chelnden Stimme : „ ſey nicht traurig liebe Mut-
ter ! ‟ Sie laͤchelte jedes Mahl , und leugnete
es zu ſeyn . So floſſen uns noch vierzehn
ſchmerzlich-ſuͤße Tage dahin . Emil bemerkte
bald das zaͤrtliche Verhaͤltniß zwiſchen ſeinem
Freunde und mir , welches wir auch gar nicht
zu verhehlen ſtrebten . Er zog uns beide in
ſeine Arme . Jch halte des Lebens groͤßte
Schaͤtze an meiner Bruſt ! ſagte er . Alle ?
fragte ich ſchalkhaft . Lebend , und im Bilde !
erwiederte er . Jch fuͤhlte , daß er , zugleich mit
mir , Dein Bild an ſich druͤckte , welches , meinem
Buſen entfallen , an meiner rechten Seite hing .
Jm Uebermaß meiner Liebe fuͤr den theuren
Bruder , und im Gefuͤhl meines eigenen Gluͤcks ,
nahm ich die Kette mit Deinem Bilde von mei-
nem Halſe , und ſchlang ſie um den ſeinigen .
Es ſey deine Aegide , ſagte ich , und ſchuͤtze
dein liebes Herz ! Er war außer ſich vor Ent-
zuͤcken und Dankbarkeit . Ein muthiges Herz
wird dagegen ſchlagen , ſagte er , bis es zu klo-
pfen aufhoͤrt . O nichts vom Stillſtehen dieſes
Herzens ! bat ich , von dem Gedanken erſchuͤt-
tert . Nun , nun , ſagte er laͤchelnd , mir fluͤſtert
dieß oft eine leiſe Ahndung zu , doch gehe ich
darum nicht weniger muthig dem Feinde ent-
gegen . Sage einſt Adelen , ſetzte er ernſt hinzu ,
ich haͤtte ſie geliebt , bis zum letzten Hauch
geliebt . Seine Stimme verſagte ihm auf einen
Augenblick , aber ploͤtzlich richtete er ſich mit ru-
hig freundlichem Geſichte aus meiner Umar-
mung auf . Er ſchien mir , als ich zu ihm auf-
ſah , mit einem Mahle um ein betraͤchtliches
groͤßer . Voll aufgeregter Aengſtlichkeit warf ich
mich in Mucius Arme : fluͤſtert dir die Ahn-
dungsſtimme auch ? fragte ich zitternd . Nur
Freudiges verkuͤndigt ſie mir , ſagte er , und um-
ſchlang mich . Sey ruhig , meine Virginia , das
Gluͤck iſt dem Muthigen hold ! wir werden uns
Alle , und freudig , wiederſehn . Der Ausſpruch
des Geliebten iſt ja wie die Stimme von Do-
dona , auch in meine Bruſt rief ſie die Hoff-
nung zuruͤck .
So brach der Abſchiedsmorgen heran . Zum
letzten Mahle begruͤßte die Sonne bei ihrem
Aufgang , eine zaͤrtlich vereinte , gluͤckliche Fami-
lie . Mein Vater war weich und freundlich ,
meine Mutter blaſſer als je , aber anſcheinend
ruhig und gefaßt . Emil betrieb lebhaft die Zu-
ruͤſtungen zur Abreiſe , und laͤchelte jedem von
uns zu , um uns ſeine Bewegung zu verbergen .
Mucius , nur mit ſeiner Liebe beſchaͤftigt , wendete
die aufmerkſamſte Sorgfalt an , meinen Muth
aufrecht zu halten . Ach ich bedurfte des Bei-
ſtandes nur zu ſehr ! Jn Gefahr , die beiden
geliebteſten Gegenſtaͤnde meiner Zaͤrtlichkeit auf
immer zu verlieren , verließ mich mein ſonſtiger
Heldenſinn und das liebende Maͤdchen kaͤmpfte
fruchtlos mit ſeinen Thraͤnen . Mein Vater ſah
den Kampf in meiner Seele , und guͤtig , wie
er immer war , wollte er mir einen ſtuͤtzenden
Troſt geben . Zaͤrtlich ergriff er Emils und
Mucius Haͤnde , und rief mit bewegter Stim-
me : Meine beiden Soͤhne ! O ich bin ein
reicher Vater ! ich weihe an einem Tage zwei
Soͤhne dem Vaterlande . Seyd einer des an-
deren Schutzengel , bleibt einander treu mit
huͤlfreicher Liebe , bleibt euch treu im Leben
und im Tode ! Das Band der Freundſchaft
knuͤpfte ſchon laͤngſt eure Herzen , ich fuͤge in
dieſer feierlichen Stunde noch ein , wo moͤglich ,
ſchoͤneres , hinzu , das bruͤderliche . Sobald ihr
zuruͤckkehrt , werde Mucius Virginiens Gatte .
Wir waren Alle uͤberraſcht von dieſen Worten ,
und jeder aͤußerte ſeine Bewegung auf verſchie-
dene Weiſe . Mucius warf ſich mit ſtuͤrmiſcher
Freude in meines Vaters Arme , ich ſank ſchluch-
zend zu ſeinen Fuͤßen , Emil umfaßte ſeinen
Freund , meine Mutter ſah ſtaunend vom So-
pha auf die Gruppe , und ſtreckte die Hand
nach uns aus . Sie hatte , einzig mit der Reiſe
ihres Sohnes beſchaͤftigt , weniger auf unſer
Verhaͤltniß geachtet , und es war ihr daher
ziemlich fremd geblieben ; doch hatte auch ſie
Mucius liebgewonnen , um ſeiner ſelbſt willen ,
und als Emils Freund . Als wir daher beide
vor ihr niederknieten und um ihren Segen ba-
ten , ſegnete ſie uns mit der freudigſten Ruͤh-
rung . Emil kuͤßte ſie dafuͤr , kindlich ſchmei-
chelnd . Da nahm ſie ſeine Hand , legte ſie in
die ſeines Freundes und ſagte : ich gab ihnen
die theure Tochter , und ihren Haͤnden vertraue
ich den geliebten Sohn , ſchuͤtzen Sie ihren
Bruder . Mit meinem Blute ! rief Mucius ,
und preßte Emil in ſeine Arme . Seyn Sie
ohne Sorgen , verehrte Mutter , ich bringe ihn
geſund zuruͤck ; an ſeiner Hand , oder niemahls
wieder kehre ich heim . Dieſe unerwarteten Sce-
nen hatten uns Allen einen heroiſchen Schwung
gegeben , welcher uns leichter uͤber die ge-
fuͤrchtete Abſchiedsſtunde hinweg trug . Die
Pferde ſtanden ſchon lange bereit , der Poſtil-
lion hatte ſchon mehrere Mahl ins Horn ge-
ſtoßen , da ergriff Mucius raſch die Hand ſei-
nes Freundes . Wir muͤſſen ſcheiden ! ſagte er
muthig : lebt wohl Vater und Mutter ! lebe wohl
Virginia ! wir kehren bald zuruͤck . Er kuͤßte
uns der Reihe nach , mit Eile , und ließ Emilen
kaum die Zeit , ein gleiches zu thun . Der
arme gute Emil ! Blaͤſſe uͤberzog ſein Geſicht ,
doch ſchwebte noch das gewohnte Laͤcheln dar-
auf , wir druͤckten ihn an uns , er ſagte uns Lebe-
wohl . Mit feſten Schritten folgte er dann
ſeinem Freunde , welcher ihn raſch mit ſich fort-
riß . Jn wenigen Minuten waren ſie unſeren
Blicken entſchwunden , die beiden hohen Juͤng-
lingsgeſtalten . Ach , auf immer !
Meine Mutter ſah ihnen unverwandt nach ,
und als der Wagen unſern Blicken nicht mehr
ſichtbar war , ſank ſie ohnmaͤchtig nieder . Die
Sorge um ſie , und ihre Pflege , zogen meinen
Vater und mich von unſern eigenen Empfin-
dungen ab . Wir thaten alles um ſie zu zer-
ſtreuen und auf zu heitern , aber mit geringem
Erfolg . Mein Vater beſtand eifrig darauf , die
unterbrochene Reiſe wieder anzutreten , die Mut-
ter war aber dazu nicht zu bewegen . Wenn
Emil wiederkehrt , werde ich von ſelbſt geneſen ,
ſagte ſie , kommt er nicht zuruͤck , nun dann —
— ſie brach ab , nach einer Pauſe ſetzte ſie hin-
zu : ich wuͤrde ja an jedem andern Orte ſeine
Briefe ſpaͤter erhalten . — Dieſe Briefe waren
von jetzt an die einzige Nahrung , welche die
ſchwache Flamme ihres Lebens erhielt ; unſre
Liebkoſungen nahm ſie freundlich auf , und er-
wiederte ſie auch , aber ihre Thraͤnen floſſen
ſelbſt in den Armen ihres geliebten Gatten .
Als die Schlacht von Eßlingen bekannt
wurde , ſtieg die Angſt meiner Mutter auf das
hoͤchſte . Sie ſahe jede Nacht ihren Sohn ,
verwundet oder tod , in ihren Traͤumen . Um-
ſonſt wendete mein Vater alle Vernunftgruͤnde
an ; doch wenn das Herz heftig leidet , dann wird
es von den Troͤſtungen des Verſtandes , nur belei-
digt . Jch bin keine Roͤmerinn ! ſagte ſie mit
Heftigkeit . Und haſt kein Vaterland ? fragte
mein Vater . Moͤge es doch zertruͤmmern , rief
ſie , wenn ich nur meinen theuern Sohn und
euch behalte ! Klara , liebe Klara , ſagte mein
Vater , ſanft verweiſend , der Schmerz tobt aus
dir , du wirſt dich wieder finden . Die Pflicht
uͤber Alles ! Kein Gut der Erde troͤſtet uns ,
wenn dieſe verletzt wird .
Jch , meines Theils , ſuchte gar nicht ſie zu
troͤſten , ich weinte mit ihr . Mein armes Herz
ſchwankte zwiſchen Hoffnung und Furcht , ich
haͤtte ſelbſt des Troſtes bedurft ; aber das
Schauſpiel des unbegraͤnzten muͤtterlichen Schmer-
zes gab mir feſte Haltung . Jch gelobte mir ,
im Stillen , den etwanigen Schlaͤgen des Schick-
ſals mit mehr Faſſung zu begegnen . Endlich ,
nach mancher vergeblichen Bemuͤhung um Nach-
richt , langte ein Brief von den beiden Gelieb-
ten an , und gab meiner Mutter das Leben
wieder ; auch mir und dem Vater ſank ein ſchwerer
Stein vom Herzen , und unſer Muth erhielt
ſich auch waͤhrend der folgenden Zeit . Die
Freunde waren an jenem heißeu Tage im hef-
tigſten Feuer geweſen , und ihre Kameraden
rechts und links gefallen , ſie jedoch unverſehrt
geblieben . Dieß ſchien uns ein beſonderer
Schutz des Himmels zu ſeyn , und wir ſahen
ſie als ein paar Geweihete an , denen keine
Kugel nahen duͤrfe . Die Mutter war nicht
ganz ſo muthig , aber ſie hoffte auf ſchnellen
Frieden , und betete inbruͤnſtig zu Gott .
Die Schlacht von Wagram erfuhren wir
durch einen Brief von Mucius . Er hatte dem
ſchnellfuͤßigen Geruͤchte doch zuvor zu kommen ge-
wußt . Mit Begeiſterung lobte er den Muth und
die ſchnelle Geiſtesgegenwart Emils , welcher ſogar
Gelegenheit gehabt , vom Kaiſer bemerkt , und ge-
lobt zu werden . Leider aber , hieß es am Schluß
ſeines Berichts , iſt der geliebte Bruder gegen den
Ausgang der Schlacht , am Fuße verwundet worden ,
doch iſt durchaus keine Gefahr , und wir gedenken
bald wieder bei unſeren Lieben einzutreffen . Emil
ſelbſt fuͤgte einige Zeilen hinzu , worin er uns
bat , ganz ohne Sorgen zu ſeyn . Wir bedauerten
den Geliebten , doch waren wir nicht allzu be-
ſorgt . Eine leichte Fußwunde , meinte mein
Vater , dabei ſey keine Gefahr , und meine Mut-
ter dankte Gott , aus tief aufathmender Bruſt ,
daß er es ſo gnaͤdig gefuͤgt . Auf jeden Fall
war nun ihr Liebling geborgen . Selbſt wenn ,
gegen alle Wahrſcheinlichkeit , noch ein Mahl
geſchlagen wurde , er war in Sicherheit . Sie
fing an , ſich ſichtlich zu erholen , nahm wieder
an den Geſchaͤften den thaͤtigſten Antheil , und
erheiterte uns Alle durch ihre muntern Einfaͤlle
und ihre frohe Laune . Schon ſeit Jahren
hatte ſie nicht mehr die Laute beruͤhrt , aber
jetzt ergriff ſie oft die meinige , und ſang uns
mit ihrer ſchoͤnen Stimme die artigſten Lieder .
Mein Vater fuͤhlte ſich in die erſten Tage ſei-
ner Liebe zuruͤck verſetzt , und war wieder ſelig
und lebendig , wie damahls . Der gute Pfarrer ,
und unſre wenigen Hausfreunde freuten ſich
mit uns . Jch ſelbſt ſchwamm in einem Meere
von Wonne , beſonders da bald darauf ein
zweiter Brief eintraf , welcher ſchon auf dem
Ruͤckmarſch geſchrieben war . Mucius meldete
uns , daß er eine zufaͤllige Unterredung mit dem
Kaiſer gehabt habe , in welcher er ihm uͤber ſich
und ſeinen verwundeten Freund , in der Kuͤrze ,
Auskunft gegeben . Der Kaiſer habe ſich meines
Vaters erinnert , und ihm eigenhaͤndig fuͤr
Emil das Kreutz der Ehrenlegion und den Ab-
ſchied als Kapitaͤn zugeſtellt . Was ſie junger
Mann betrifft , hatte er hinzugefuͤgt , ſie koͤn-
nen jetzt gehen wohin das Herz ſie ruft , ich bin
ihrer gewiß ; wenn ich und das Vaterland ih-
rer beduͤrfen , ſo kehren ſie zum zweiten Mahle
freiwillig unter meine Fahnen zuruͤck .
Goldne Worte ! welchen froͤhlichen Rauſch
verbreiteten ſie uͤber unſer ganzes Haus ! Emil
ſchrieb auch , ſeine Wunde war noch nicht heil ,
aber er achtete ihrer nicht , ſein liebendes Herz
und die Sehnſucht ſeines Freundes , trieben ihn
zur Heimath . Sein ſchoͤnes Herz ſprach ſich
ſo liebevoll in jeder Zeile aus , er freute ſich
kindlich uͤber die empfangenen Ehrenzeichen ,
aber mehr um ſeiner Aeltern , als um ſeinetwil-
len , wohl auch um Deinetwillen , denn er fuͤgte
triumphirend hinzu : die Aegide , Virginia , hat
mein Herz treulich beſchuͤtzt . Guter , herrlicher
Bruder ! ſo brav , ſo liebend , ſo treu ! nur En-
gel koͤnnen dir gleichen ! Engel , jetzt deine Ge-
ſellſchafter , deine troͤſtenden Gefaͤhrten !
Meine Mutter war nun geſchaͤftig wie Mar-
tha , und froͤhlich wie die Tochter Jephta , am
Tage der Ruͤckkehr . Sie ſchmuͤckte und ordnete
das ganze Haus zu dem frohen Empfange .
Daneben beſchaͤftigte ſie ſich mit meiner Aus-
ſtattung , und ſcherzte freundlich mit mir uͤber
meinen Brautſtand und die nahe Verbindung .
Jch beruͤhrte kaum die Erde , ich ſchwebte in
den Gefilden der Seligen , und doch hatte ich
nie die irdiſchen Geſchaͤfte puͤnktlicher und ſorg-
ſamer verrichtet . So werden alle Faͤhigkeiten
der Seele und ihres Organs , des Koͤrpers ,
durch die Liebe und die Freude erhoͤhet , ja ver-
doppelt !
Die Zeit der Weinreife ruͤckte heran . Jch
war ſchon in den Bergen , und ordnete die ver-
ſchiedenen Vorbereitungen zur Leſe an . Die
Sonne ging hinter einer entfernteren Bergſpitze
nieder,
nieder , und krauſe roͤthliche Woͤlkchen gaben
ihr das Geleite . An einem gruͤnen Abhange
gelagert , blickte ich froͤhlich auf die magiſchen
Beleuchtungen , welche einzelne Sonnenſtrahlen
noch rechts und links uͤber die ſchoͤne Landſchaft
warfen . Jch hatte eben einen Grashalmenkranz
geknuͤpft auf Mucius Wiederkehr in den naͤch-
ſten Tagen , er war ſehr erwuͤnſcht und bejahend
ausgefallen . Jn der Froͤhlichkeit meines Herzens
pfluͤckte ich neben mir die Blumen welche ich
erreichen konnte , und reihete ſie , halb leiſe
eine von Petrarcas zaͤrtlichen Stanzen ſingend ,
zum Kranz , auf welchen Thraͤnen der Wonne
tropfend nieder fielen . Da gewahrte ich , als
ich das Auge wieder uͤber die Landſchaft erhob ,
in der Entfernung , einen Landmann , welcher ,
einen Bothenſtab in der Hand , eilig den Weg
zum Berge daher ſchritt . Sein Anblick er-
griff mich ploͤtzlich mit einem ahndenden Ge-
fuͤhl , mein Herz klopfte voll bangen Schrek-
kens , je naͤher er mir kam , es war als wenn
ein grauſes Schickſal auf mich zu ſchritt . Ach ,
nur zu grauſend , zu entſetzlich war , was mir
nahte ! Der Bothe reichte mir einen Brief ,
Erſter Theil. [9]
er war von Mucius Hand , von Mucius lieber
Hand , und dennoch wagte ich nicht , ihn zu oͤffnen ;
auf ſo ungewoͤhnlichem Wege , und ich wagte
nicht zu fragen , ich war mir ſelber unbegreiflich .
Endlich faßte ich , in gewaltſamer Anſtrengung ,
den Muth , das Siegel mit zitternder Hand
zu loͤſen . Schon die erſten Zeilen dieſes Un-
gluͤckbriefes , ſchmetterten mich zu Boden . Noch
in dieſem Augenblicke , nach fuͤnf Jahren , ver-
ſagt mir die Feder faſt den Dienſt , kaum kann
ich mich entſchließen , Dir das fuͤrchterliche Wort
zu wiederholen , welches mich damals , gleich ei-
nem Blitzſtrahle aus heiterer Luft vernichtete .
Emil tod ! mehr ſah ich nicht . Eine tiefe Ohn-
macht warf mich auf die Blumen nieder . Ein
lauter Ruf des erſchrockenen Bothen , hatte mei-
nen Vater herbeigezogen , welcher ſich in der
Naͤhe befand . Er hatte den mir entfallenen
Brief aufgehoben , und erfuhr ſo , unvorbereitet
wie ich , die ſchreckliche Nachricht .
Ungluͤcklicher Vater was mußt du bei die-
ſer fuͤrchterlichen Bothſchaft empfunden haben !
Dein einziger Sohn ! dein Stolz ! Jn der
Bluͤthe zerſchmettert die Hoffnung deines Al-
ters ! Die Natur hatte ſich mitleidig meiner er-
barmt , und durch einen todtenaͤhnlichen Schlum-
mer , meinem Leiden auf einige Minuten Still-
ſtand geboten . Die einzige Ohnmacht meines
Lebens . Sie mochte lange gedauert haben , denn
es fing ſchon an zu daͤmmern , als ich in den Ar-
men meines Vaters erwachte . Er war ſehr
blaß , doch mit Beſonnenheit um mich beſchaͤf-
tigt . Emil ! rief ich , als das Bewußtſeyn mir
klar zuruͤckkehrte , Emil ! mein Emil ! und ein
Strom von Thraͤnen ſtuͤrzte aus meinen ſtarren
Augen . Mein Vater verbarg ſein Angeſicht , doch
fuͤhlte ich an dem Zittern ſeines Armes , wie be-
wegt er innerlich ſeyn mußte . Aber nur einige Mi-
nuten lang , dann ſahe er wieder mit Faſſung auf
mich nieder . Virginia , ſagte er mit liebkoſen-
der Stimme , Virginia , mein ſtarkes Maͤdchen ,
erhole dich . Thraͤnen gebuͤhren dem lieben ,
dem edlen Sohn und Bruder , aber wir haben
noch lange Zeit ihn zu beweinen , jetzt rufen
nahe Sorgen unſre ganze Thatkraft auf . O ,
meine Mutter ! rief ich ſchmerzlich . Fuͤr ſie
*
fuͤrchte ich am meiſten , ſagte er . Darum faſſe
dich , mein Kind . Auch muͤſſen wir ja Mucius
ſehen . Mucius ? fragte ich , wo iſt er ? Haſt
du nicht ſeinen Brief geleſen ? erwiederte er .
Nichts als die ſchrecklichen Worte ! Mache
dich mit ſeinem ganzen Jnhalt bekannt , und
komme langſam nach , ich gehe voran , und be-
reite Alles vor . Gott ſtaͤrke uns !
Nach dieſen Worten ging er langſam den
Huͤgel hinunter , und uͤberließ mich meiner ei-
genen Kraft . Laut brachen meine Thraͤnen ,
meine Klagen aus , doch kehrte mir bald einige
Beſonnenheit zuruͤck . Ploͤtzlich fiel mir , wie
durch Eingebung , eine Stelle aus Nathan den
Weiſen in den Sinn . Jch hatte mehreres
aus dieſem Leſſingiſchen Meiſterwerke , zur Ue-
bung der deutſchen Sprache , uͤberſetzt , jetzt ſagte
ich mir dieſe Stelle halblaut unwillkuͤhrlich vor .
Und doch iſt Gott !
Doch war auch Gottes Rathſchluß das ! Wohlan !
Komm ! uͤbe , was du laͤngſt begriffen haſt ;
Was ſicherlich zu uͤben ſchwerer nicht ,
Als zu begreifen iſt , wenn du nur willſt .
Schluchzend , doch mit Begeiſterung , ſtreckte ich
meine Arme hoch zum Himmel , und rief : „ Jch
will ! willſt Du nur , daß ich wolle ! ‟ Still
und gen Himmel blickend , ſetzte ich dieſen Ge-
danken einige Augenblicke fort , und fuͤhlte mich
wunderbar geſtaͤrkt und erhoben . Der Odem
des Ewigen ſchien mich zu umwehen . Da ſtieg
der Mond in voller Pracht hinter dem Thau-
gewoͤlk empor , und verbreitete ſanfte Tageshelle
um mich her . Mein Blick fiel auf den Brief ,
welcher entfaltet mir zur Seite lag , und durch
deſſen Blaͤtter der Abendwind fluͤſterte . Jch
nahm , und las mit leidlicher Faſſung , was die
Verzweiflung geſchrieben . — Die zu fruͤh ange-
tretene Reiſe in dieſer heißen Jahreszeit , hatte
Emils anſcheinend leichte Wunde ſehr ver-
ſchlimmert . Er blieb in Frankfurt am Wund-
ſieber erkrankt . Bald geſellte ſich ein boͤsarti-
ges Nervenfieber hinzu . Vergebens wendete
Mucius die treueſte Sorgfalt an , vergebens rief
er die thaͤtigſte Huͤlfe herbei , die Aerzte gaben we-
nig Hoffnung , ſie erklaͤrten , der noch nicht voll-
endete ſtarke Wachsthum des Kranken , habe ,
verbunden mit den Muͤhſelkeiten des Feldzugs ,
die Natur zu ſehr erſchoͤpft , ſie verſage die Un-
terſtuͤtzung . So ſchlummerte der holde Juͤng-
ling ſanft und bewußtlos , zu einem ſchoͤneren
Leben , hinuͤber , beklagt und geliebt , ſelbſt von
denen , welche ihn nur in ſeiner Krankheit kann-
ten . Die Toͤchter des Wirthes weinten um
den ſchoͤnen Todten , und gelobten , Roſen um
ſeinen ſtillen Huͤgel zu pflanzen . Mucius hatte ,
die Erlaubniß ſeines Feldherrn benutzend , den
Dienſt ſchon verlaſſen , um ſeinen Freund zu
uns zu geleiten , wo ihm die Myrthen der Liebe
winkten . Jetzt fiel ihm der Gedanke zentner-
ſchwer auf das Herz , ohne den Geliebten , den
Pflege- und Schutzbefohlenen , vor der verzwei-
felnden Mutter zu erſcheinen . Es ſchien ihm
unmoͤglich unſern vereinten Jammer zu tragen .
Angſt und Verzweiflung trieben ihn , bei einem
Regimente wieder Dienſte zu nehmen , welches
durch Frankfurt nach Spanien marſchirte . Er
wollte den Tod ſuchen . Jetzt ſchrieb er mir
aus einer Entfernung von wenigen Meilen , er
fuͤhle ſich nicht ſtark genug mich noch ein Mahl
zu ſehen , auch erlaubten es ſeine Dienſtverhaͤlt-
niſſe nicht . Er ſagte mir ewiges Lebewohl , und
fuͤgte nur ganz von ungefaͤhr hinzu , der Marſch
gehe uͤber Bellegarde , und er hoffe ſeinen
Oheim noch ein Mahl zu umarmen .
Jm Nu verſtand ich jetzt was der Vater
gemeint . Wir muͤſſen hin ! rief ich und ſprang
auf , wir muͤſſen hin ! und dahin flog ich , mit
des Windes Eile unſrer Wohnung zu . Jm
Hofe wurde ein Reiſewagen bereitet . Jch ſtuͤrzte
haſtig ins Zimmer . Wir muͤſſen hin ! ja wir
muͤſſen hin ! Freilich , ſagte mein Vater , indem er
mir ein Zeichen gab , und den Finger an die
Lippen druͤckte . Jch ſchwieg , und ſuchte mich
zu ſammeln . Meine Mutter ſtand uns abge-
wandt einige Kleidungſtuͤcke zuſammen legend ,
ſie wandte ſich um , da ſie meine Gegenwart
bemerkte , ſie war ſehr bleich , und ihre Glieder
zitterten . Weißt Du das Ungluͤck ſchon ? fragte
ſie . Jch ſchwieg und bedeckte das Geſicht mit
beiden Haͤnden . Wir muͤſſen hin ! fuhr ſie fort ,
vielleicht iſt noch Rettung moͤglich . Jch merkte
mit innerem Beben , daß ſie das ſchrecklichſte
noch nicht wußte . Sie trieb mich , etwas Waͤ-
ſche zu packen , ich gehorchte zum Scheine . Nach
einer halben Stunde ſaßen wir alle drei im
Wagen , und fuhren der furchtbaren Entwicke-
lung entgegen . Meine Mutter ſprach unauf-
hoͤrlich von der traurigen Lage ihres Sohnes ,
gefaͤhrlich krank , ſo fern von den Seinen , ohne
zarte weibliche Pflege , voll Sehnſucht nach
uns . Jch ſchluchzte und ſchwieg . Dann kam
ſie auf den Gedanken , man habe ſie gleich an-
fangs uͤber ſeine Wunde getaͤuſcht , es ſey viel
gefaͤhrlicher geweſen , er ſey graͤßlich verſtuͤmmelt .
Jhre Einbildungskraft erhitzte ſich , und ſchuf
ſchreckliche Bilder ſeines Zuſtandes . Mein Va-
ter wiederſprach nicht , und wies ſie nur ſanft
auf den Willen des Ewigen hin , ohne welchen
kein Haar von unſerm Haupte falle . Es wollte
keine Wirkung thun auf ihren ſonſt ſo religoͤſen
Sinn , ſie haderte mit Gott und den Menſchen .
Ein Kruͤppel auf Lebenszeit ! rief ſie heftig , un-
nuͤtz der Welt , ſich ſelber eine Laſt ! Freilich ſagte
mein Vater , einem Zuſtande wie du ihn ſchilderſt ,
waͤre der Tod vor zu ziehn , wuͤrde es in die Wahl
des Menſchen geſtellt . Er mahlte das Bild der
Moͤglichkeit noch weiter aus . Nein , lieber tod !
ſchrie meine Mutter , lieber tod ! Herr des Him-
mels hoͤre mich ! kann ich ihn nicht mehr gluͤck-
lich ſehn , ſo nimm ihn mir ! ich will ihn lieber
miſſen , als daß er leide . Klara ! theure geliebte
Klara , bat mein Vater , gedenke dieſes Aus-
ſpruchs , gedenke deines Geluͤbdes . Das Schick-
ſal koͤnnte dich maͤchtig ergreifen . Jch buͤckte
mich auf ihre Knie nieder , und uͤberſtroͤmte
ſie mit meinen Thraͤnen . Sie verſank in
tiefes Schweigen , wir ſchwiegen alle . So
fuhren wir den uͤbrigen Theil der Nacht hin-
durch , bis die Morgenroͤthe hervorbrach . Die
erſten Strahlen des Lichts regten meine Mutter
wieder zu einigem klaren Bewußtſeyn auf . Sie
betrachtete bald die Gegenſtaͤnde am Wege mit
Aufmerkſamkeit , bald forſchte ſie auf unſern
Geſichtern . Mir wollte das Herz zerſpringen ,
und der Vater mußte ſich faſt immer ſeitwaͤrts
wenden , um den ſchrecklichen Kampf ſeines Jn-
nern zu verbergen . Ploͤtzlich fuhr ſie mit dem
Kopf zum Schlage hinaus und ſah ruͤckwaͤrts .
Die Sonne ſandte eben ihre erſten Purpurſtrah-
len herauf . Sie fuhr erſchrocken zuruͤck . Wir
fahren der Sonne nicht entgegen , ſagte ſie faſt
vernichtet , gegen Abend kann Frankfnrt nicht
liegen . Wohin fuͤhrt ihr mich ? fragte ſie ſtaͤr-
ker , und faßte krampfhaft die Hand meines
Vaters . Die Stimme verſagte ihm den Dienſt .
Wohin fuͤhrt ihr mich ? Virginia , bei deiner
Seligkeit ! wohin ? Nach Monthameau ſtammelte
ich leiſe . Sie warf irre Blicke wechſelnd auf
uns . Dort kann er nicht ſeyn , ſtieß ſie endlich
hervor , er iſt tod . Du ſagſt es , brachte muͤh-
ſam mein Vater hervor , indem er erſchoͤpft zu-
ruͤck ſank , und das Geſicht mit ſeinem Tuche
verhuͤllte . Auch mich laß eine Huͤlle uͤber dieſe
ſchreckliche Scene werfen . Den hoͤchſten Schmerz
vermag keine Feder zu beſchreiben , wie ihn kein
Pinſel zu mahlen wagen ſollte . O Adele , wie
leicht traͤgt ſich eigenes Leiden , gegen das zerrei-
ßende Mitgefuͤhl bei dem Schmerze geliebter
Perſonen ! der Jammer meines eigenen friſch-
blutenden Herzens wurde in jenen Stunden
kaum von mir empfunden .
Anfangs wollte die Mutter als ſie wieder
zu einiger Beſinnung kam , durchaus umkehren ,
ſie wollte Mucius nicht ſehn . Willſt du den
treuen Pfleger deines Sohnes nicht an dein
Herz ſchließen ? fragte mein Vater ſanft verwei-
ſend , willſt du den treuen Juͤngling nicht hoͤ-
ren , der dir die letzten Gruͤße ſeines Bruders
bringt ? willſt du nicht hoͤren , wie er ſtarb ?
Dieſe Vorſtellungen wirkten , und wir kamen
gegen Abend in Monthameau an .
Bleicher Schrecken mahlte ſich auf allen
Geſichtern als man uns erblickte . Mucius gluͤhete
einen Augenblick auf in Freude , als er , beim
Eintritt in das Zimmer , mich erblickte . Aber
nur einen Augenblick . Blaͤſſe des Todes ſcheuchte
den roͤthlichen Schimmer hinweg , er ſtuͤrzte au-
ßer ſich zu den Fuͤßen meiner Mutter , und rief
in Toͤnen der Verzweiflung : ich bringe ihn nicht
zuruͤck ! Halb bewußtlos ſank die Mutter auf
ſeine Schulter hinab . Alles ſchluchzte , und es
verging eine geraume Zeit , ehe ein Wort die
Grabesſtille unterbrach . Nach und nach loͤſte
ſich dann freilich , der ſtarre Schmerz in laute
Klagen auf . Es wurde gefragt und erzaͤhlt ,
und die Mitternacht ruͤckte heran bei traurigen
Geſpraͤchen . Die Natur forderte endlich ihre
Rechte , und Schlaf ſank auf die muͤde gewein-
ten Augen herab . Die Morgenſonne weckte uns
zu neuem Jammer . Mir insbeſondre ſtand der
herbe Schmerz der Trennung von Mucius be-
vor . Du haſt noch nie geliebt , meine Adele ,
Du haſt alſo keine Vorſtellung von dem Schmerz ,
dem Geliebten ein ewiges Lebewohl zu ſagen .
Ach ! und wir fuͤhlten klar und lebendig , es
ſey das letzte Mahl fuͤr dieſe Welt daß unſre
Herzen an einander ſchlugen , unſer Ohr die ſuͤ-
ßen Toͤne der geliebten Lippen vernahm . Aber
das Schickſal , das unerbittliche , hatte kein Er-
barmen mit unſerm Jammer . Es mußte ge-
ſchieden ſeyn . Muctus mußte dem Regimente
nacheilen , der Ehre die Liebe weichen ; er warf
ſich halb ſinnlos auf das Pferd , und war in
einem Augenblick fuͤr immer verſchwunden , der
leuchtende Stern auf meiner Lebensbahn fuͤr
immer erloſchen ! Marie ſchloß mich laut wei-
nend in ihre Arme . Ungluͤckliche Marie ! un-
gluͤcklichere Virginia ! rief ſie mit tiefem Jammer .
Wir haben ihn beide verloren ! ſagte ich und
druͤckte ſie an meine Bruſt . Mein Vater er-
griff zaͤrtlich meine Hand . Fuͤr Virginia fuͤrchte
ich nicht , ſagte er mit Vertrauen , ihr maͤnnli-
cher Geiſt wird das unvermeidliche tragen ler-
nen . Dieſe einfachen Worte von dem verehrten
Munde , erhoben meine ſinkende Kraft , ich ver-
ſchloß meinen Gram tief im Buſen , und ver-
mochte es , mich huͤlfreich und theilnehmend mit
meiner ungluͤcklichen Umgebung zu beſchaͤftigen .
Viel lernt der Menſch im Leiden , es iſt das ei-
gentliche Seelenbad . Groß iſt die Kraft des
Menſchen , wenn er nur den Willen hat ſie auf
zu rufen . Nicht den Schlaͤgen des Schickſals
erliegt der Muth , er wird nur von der eignen
Schwaͤche gelaͤhmt . Unſre Ruͤckreiſe war jam-
mervoll , ſo viel Beruhigung uns auch die wei-
nende Familie des guten Foͤrſters nachgewuͤnſcht .
Noch troſtloſer war unſre Ankunft in Chaume-
rive , in den herzlichen Thraͤnen jedes Einwoh-
ners ſpiegelte ſich aufs neue , unſer unerſetzlicher
Verluſt . Meine Mutter kleidete das ganze Haus
in Trauer , und ließ jeden Morgen eine Seelen-
meſſe fuͤr den theuren Todten leſen . Ach , die
Ruhe ihrer eignen Seele ſtellte keine Meſſe her !
Mein Vater ließ ſie gewaͤhren , ſo wie er die ihr
anerzogenen Begriffe nie beſtritt . Er hatte den
Grundſatz , uͤberſinnliche Dinge muͤſſe Jeder nach
ſeiner Einſicht abmachen . Seine eigne Ueber-
zeugung hatte ſich immer frei von Menſchenſatzun-
gen erhalten . Jch wuͤnſchte , ſagte er mit leiſem
Kopfſchuͤtteln , der Glaube der Kirche und ihr vor-
geſchriebenes Zeremonial koͤnnten dieſes liebe ge-
brochene Herz heilen ! Er traf gar keine Anſtalten
fuͤr ſeinen Gram , aber er gab ſich emſiger ſei-
nen Geſchaͤften hin , und ſuchte , mehr als je ,
den Wohlſtand und die geiſtige Ausbildung der
Gemeinde zu befoͤrdern , und allmaͤhlig kehrte
eine ſanfte Heiterkeit in ſein Gemuͤth zuruͤck .
Nur wenn ſein Auge auf meine Mutter traf ,
truͤbte ſich ſein Blick . Jch ſuchte ſeinem Bei-
ſpiele zu folgen , auch zwang mich die Lage der
Umſtaͤnde , den tiefen ſtillen Gram zu zuͤgeln .
Meine Mutter wurde immer ſchwaͤcher , ſie
nahm an keinem irdiſchen Geſchaͤfte mehr Theil ,
und lebte nur noch ihren Andachtsuͤbungen .
Vergebens ſuchten wir ſie auf alle Weiſe zu
erheitern , ſie war nicht wieder fuͤr das Leben
zu gewinnen . Mir lagen nun die Geſchaͤfte
des Haushalts ob , und unbeſchraͤnkt in dieſem
Kreiſe , lernte ich mich bald darein finden . So
ſchwand mir der Winter truͤbe , aber nicht all-
zulangſam voruͤber . Mucius hatte mehrmahls
geſchrieben ; er war mit ſeiner Lage nicht zu-
frieden . Er achtete die Kraft der Spanier
und haßte die Triebfedern , wodurch dieſe ge-
ſpannt wurde . Dieß brachte ihn mit ſich ſelbſt
in Streit . Sehnlich wuͤnſchte er der engliſchen
Macht entgegen gefuͤhrt zu werden , welcher er ,
mit ungetheiltem Sinn , feindlich begegnen wuͤrde .
Uebrigens erhob ſich ſein jugendliches Herz all-
maͤhlig wieder zur Hoffnung . Er wuͤnſchte ,
und rechnete darauf mich wieder zu ſehen .
Der neue Fruͤhling war hoffnungs- und ſe-
gensreich in Frankreich eingezogen . Eine hohe
Nationalfreude belebte Jedermann , bis zu den
Huͤtten herab begruͤßte man einander mit fro-
hem Jubel . Ganz Frankreich jauchzte der jun-
gen ſchoͤnen Kaiſerbraut entgegen , dieſem ſanf-
ten Friedensengel , der kuͤnftigen Mutter eines
ſtarken Geſchlechts .
Auch in unſerm kleinen Kreiſe wurde faſt
von nichts , als von dieſer frohen Begebenheit
geſprochen . Mein Vater nahm daran all den
Antheil , den er immer an dem Wohl ſeines
Landes , und dem Ruhm unſers gekroͤnten Hel-
den zu nehmen pflegte . Meine Mutter aber
ſchien dieſe Froͤhlichkeit nur zu ſchmerzen . Zu
ſpaͤt , ſeufzte ſie , mußte ich ein ſo theures Opfer
bringen , damit der Friede einzoͤge ! O , Mutter !
rief ich im Auflodern meiner alten Begeiſte-
rung , Emil ſtarb , weil ſeine Tage gezaͤhlt wa-
ren . Waͤre es aber moͤglich , daß die Gottheit
ein Menſchenopfer annaͤhme fuͤr Frankreichs
Frieden , Freiheit und Gluͤck , ſo wollte ich ja ,
mit tauſend Freuden , noch heute mein Blut tro-
pfenweiſe dafuͤr vergießen ! Mein Vater druͤckte
mir ſchweigend die Hand , meine Mutter ſahe
mich mit ſtarren Blicken an , ſchuͤttelte dann
langſam den Kopf , faßte nach ihrem Roſen-
kranz , und verſank wieder in ſtillen Gram .
Die Tage der allgemeinen Freude , wurden
uns Tage der Trauer . Mitten unter den Ver-
maͤhlungsfeierlichkeiten ſtarb meine arme gute
Mutter in meinen Armen . Mein Vater kaͤmpfte
maͤnnlich mit ſeinem herben Schmerz . Er kuͤßte
den kalten Mund der Geliebten mit zaͤrtlicher
Wehmuth . Ruhe ſanft holde Klara ! ſagte er ,
die Erdenleiden druͤcken jetzt dein armes Herz
nicht
nicht mehr , ſtiller Friede ruht auf deiner rei-
nen Stirn , ich will nicht klagen , da du gluͤck-
lich biſt , ich will mich deines Friedens freuen .
Auch ich empfand , wie er , ich weinte um ihren
Verluſt , aber ich freute mich ihrer Ruhe , und
ſchmuͤckte ihren Sarg mit den bunteſten Kin-
dern des Fruͤhlings . Ach ! oft noch , wenn ich
ihren Huͤgel mit Roſen umkraͤnzt , habe ich ſie
gluͤcklich geprieſen , daß der Tod ſie ſo fruͤh ge-
gegen die Stuͤrme der Zeit in ſeine dunkle
Wohnung gerettet . Jhrer Seele fehlte die
ideale Richtung und der muthige Wille , wo-
mit man allein ſo ungeheure Schickſale zu be-
ſtehen vermag .
Einſamer und ſtiller lebten wir nun fort , aber
ruhig und heiter . Wir freueten uns des allge-
meinen Wohls und ſtrebten nach Kraͤften es
zu foͤrdern . Mucius Briefe blieben im Herbſte
des Jahres 1810 ploͤtzlich aus , und auch die
genaueſten Erkundigungen konnten uns keine
Nachricht verſchaffen . Lange ſchon war ich auf
ſeinen Verluſt vorbereitet , doch ſchmerzte er
mich darum nicht weniger tief . Meine Seele
wehrte ſich lange , daran zu glauben , bis meh-
Erſter Theil. [10]
rere zuruͤckkommende Soldaten ſeines Regiments
uns verſicherten , ſie haͤtten ihn , bei der Einnahme
von Victoria auf der Bruͤcke vordringen und , den
Adler in der Hand , die Freiwilligen des Corps auf-
munternd hinuͤber fuͤhren ſehen . Auf der Mitte
aber ſey er uͤber das niedrige Gelaͤnder herabge-
draͤngt und unfehlbar von dem reißenden Strome
verſchlungen worden , da man ihn nicht wieder geſe-
hen habe . Nun war es entſchieden , mir blieb nichts
zu hoffen , nichts zu fuͤrchten uͤbrig , ſo glaubte
ich wenigſtens , und richtete mich an dieſem
traurigen Troſte gewaltſam auf . Jetzt bin ich
nichts als deine Tochter ! rief ich , und warf mich
um meines Vaters Hals . Wir bleiben uns ,
ſagte er , und druͤckte mich zaͤrtlich an die Bruſt ,
Auch er trauerte ſchmerzlich uͤber den Verluſt
des wackern Juͤnglings , er hatte ihn als Sohn
geliebt . Wir redeten oft von den lieben Ver-
lorenen , und labten uns an der Erinnerung
ihres irdiſchen Daſeyns . Das iſt das Loos
des Schoͤnen auf der Erde , ſagte mein Vater ,
daß es ſchnell verbluͤht ! —
So verlebten wir unſere Wintertage . Jch
ſpielte die Harfe fleißiger als je , und ſang
manches neue Lied , das fuͤr unſere Lage paßte
und meinen Vater erfreuete . Dieſer ſuchte ſeine
Studien wieder hervor , ſetzte mit mir den Un-
terricht in den neueren Sprachen eifrig fort , oder
uͤberſetzte fuͤr mich die trefflichſten Stellen der
Klaſſiker . Das Studium der Geſchichte , be-
ſonders der aͤltern , fuͤllte regelmaͤßig unſere
Abendſtunden , wobei es nicht an Vergleichun-
gen fehlte , welche mancher neuerlich aufgeſtellten
Meinung nicht ſehr guͤnſtig waren . Jch be-
ſchaͤftigte mich daneben aufs emſigſte mit kuͤnſt-
licher Stickerei und Weberei , wobei mich mein
Vater laͤchelnd mit Penelope verglich .
Als die Hirtenfloͤten wieder durch die Thaͤ-
ler toͤnten , huͤpfte auch ich wieder kindlich froh
uͤber die blumigen Matten . Das leichte Blut
meiner Heimath verleugnet ſich nicht lange in
dem jugendlichen Herzen , es wirft die ſchwarze ,
truͤbe Miſchung hinaus , und huͤpft froͤhlich
durch die Adern ; ſo auch bei mir . Wenn ich
zum Sternenhimmel aufſah , und weinend an
meinen Mucius dachte , ſo entzuͤckte mich doch
bald das Floͤten der Nachtigallen , und der
*
tauſendſtimmige Chor der Abendvoͤgl umher . Die
Balſamduͤfte der Bluͤthengebuͤſche zogen lindernd
in meine Bruſt , und der ſchmeichelnde Abend-
wind trocknete mein feuchtes Auge . Wenn ich
Blumen pfluͤckte , das Grab der Mutter und
Emils theures Bildniß zu kraͤnzen , ſo erfreute
mich ihr Farbenſchmelz , und ich wand mir ſchon
wieder , ſpielend , diejenigen in das Haar , deren
Anblick den Vater erfreute . Seinem Arbeits-
tiſche ließ ich ſie nimmer fehlen , und bei jeder
Mahlzeit ſchmuͤckte ich ſorgſam die Tafel da-
mit . Den Taͤnzen unſerer Doͤrferinnen entzog
ich mich nicht mehr , die Beſuche meiner nach-
barlichen Geſpielinnen erwiederte ich willig , und
ſtimmte heiter in die jugendliche Froͤhlichkeit
ein . Mein Vater freute ſich meiner Heiterkeit .
Der Muth , womit ich den Gram bekaͤmpfte ,
und dem feindſeligen Leben eine freundliche
Seite abgewann , lag ſo ganz in ſeiner eigenen
Seele . Kein Wunder , ich war ja ſein Zoͤg-
ling . Wie leicht war es mir damahls , mich
aufrecht zu halten , an eine ſo ſtarke Stuͤtze
gelehnt ! Wie wenig ahndete ich damahls , daß
das Schickſal mich ſo bald an meine eigene
Kraft verweiſen wuͤrde ! Die feſte Geſundheit ,
und die noch jugendliche Kraft meines Vaters ga-
ben mir kindliche Sicherheit , und Ruhe , Zufrie-
denheit und Wohlſeyn herrſchten in dem ganzen
mir bekannten Lebenskreiſe . Haͤtte ich es den-
ken koͤnnen , daß dieß mein letzter froher Fruͤh-
ling , wenigſtens der letzte , auf meines Frank-
reichs lieben Fluren , in den bluͤhenden Thaͤlern mei-
ner ſchoͤnen Provence ſeyn wuͤrde ? denken konnte
ich es nicht , aber meine Seele ſchien ein dunkles
Vorgefuͤhl zu hegen . Denn liebender , als je , hing
ich mich an jeden mir irgend werthen Gegen-
ſtand , als koͤnnte er mir uͤber Nacht entriſſen
werden . Mit durſtigen Zuͤgen trank’ ich jede
Naturſchoͤnheit , jede Fruͤhlingsluſt , wie der hei-
tere Sterbende noch begierig den Duft der Bluͤ-
then und die Strahlen des Lichts empfaͤngt .
Selbſt da blieb ich noch lebensfroh , als ſchon
mein Vater bisweilen beſorgt den Kopf ſchuͤt-
telte . Jch hoͤrte wohl von einem neuen Krie-
geszuge gegen Norden , aber ich hatte ja dabei
nichts zu verlieren . Jch war unter Kriegern
aufgewachſen , wie Frankreichs ganze Jugend ; uns
konnte das Wort Krieg nicht in dem Grade erſchrek-
ken , als es wohl Voͤlker erſchreckt , welche lange
der Ruhe des Friedens genoſſen . Frankreich war
im Jnnren gluͤcklich , und blickte , vertrauend und
ſicher , auf ſeinen kuͤhnen Helden . Das Heer liebte
den Kampf , und die jungen Konſcribirten er-
gaͤnzten , es im Gefuͤhl der National-Ehre , mei-
ſtens mit viel gutem Willen . Fand ſich mitunter
eine Ausnahme , ſo nannte meiſten Theils die
oͤffentliche Meinung ſeinen Namen hoͤchſt mißbilli-
gend . Frankreichs Sicherheit in ſeiner Macht !
das war ſeit faſt zwanzig Jahren das Loſungswort .
Die Nachwelt wird richten , wenn ein Jrrthum
dabei obgewaltet , ſie wird ſcheiden , was die Um-
ſtaͤnden , was Willkuͤhr herbeigefuͤhrt , was Ehr-
geiz , was Nothwehr . Aber nur erſt an ferne
Jahrhunderten kann der Unterdruͤckte appelli-
ren , die Gegenwart hat die Glaͤſer zu ſtark ge-
faͤrbt . — Mir ſchien fuͤr den Augenblick das
Unternehmen gigantiſch und fabelhaft , ein neuer
Alexanderzug nach Jndien . Aber auf wel-
chem Wege ? mir ſchauderte wenn ich mir ihn
mahlte ! tief hinein nach Norden , durch Rußlands
Schneegefilde , durch ſeine menſchenleeren ewig
wuͤſten Steppen . Wie dankte ich Gott , daß
nicht Mueius , nicht Emil dieſen abentheuerli-
chen Zug begleiten durften , welchen ich mir ſo
gefahrvoll und ſchrecklich dachte . Nichts deſto
weniger wurde meine fruchtbare Einbildungs-
kraft dieß Mahl noch von der Wirklichkeit uͤber-
troffen ; ein ſeltner Fall . Doch troͤſtete ich
mich wieder damit , daß ganz Deutſchland mit uns
im Bunde war . Dieſe Nachbarn des eiſigen
Nordens , waren ja mit ſeinen Beſchwerlichkei-
ten vertraut , wußten ihnen zu begegnen , und
konnten unſern Kriegern ſehr huͤlfreich ſeyn .
Sommer und Herbſt des Jahres 1812 ver-
ſtrichen uns abwechſelnd unter Beſchaͤftigungen
und Vergnuͤgen . Man trank in dem lieblichen
Weine der vorigen Leſe die Geſundheit der
Heerfuͤhrer und manches einzelnen Kriegers ,
man hoffte zuverſichtlich , ſie bald und ſiegreich
wieder zu ſehn , nur mein Vater ſchien leiſe
Zweifel zu hegen . Er hatte in einem Briefe an
Victor , welcher jetzt einen hohen Rang beklei-
dete , ſeine Beſorgniſſe ausgeſprochen . Ba ! ant-
wortete dieſer , es iſt ja nicht unſer Lehrwerk ! —
Die Sehne wird zu lang gedehnt , ſagte mein
Vater , der Stuͤtzpunkt iſt zu fern , ſie reißt .
Denken ſie an die Roͤmerzuͤge nach dem entfern-
ten Albion , troͤſtete unſer Abendgenoſſe , der
freundliche Pfarrer . Und rechnen ſie Pohlen ,
welches ſich voll Freiheitshoffnung und Rachgefuͤhl
erhebt , fuͤr Nichts ? es iſt als ein zweiter Stuͤtz-
punkt anzuſehn . Zu ſchwach ! ſagte mein Vater .
O , mein Vater ! rief ich : in einem Volke dem
dieß geboten wurde , muß jeder Einzelne ein
Held werden . Mein armes Polen ! nicht erobert ,
nein mitten im Frieden durch einige Federſtriche
maͤchtiger Nachtbarn , zertheilt , zerriſſen , dann
das ſtraͤubende Volk gleich einem Rebellenhaufen
behandelt . Und gleichwohl beruft man ſich auf
Moralitaͤt und Gerechtigkeit , wenn das Eiſen
nicht maͤchtig genug iſt .
Der Winter trat auch bei uns fruͤher und
unfreundlicher ein , als gewoͤhnlich . Jedes rauhe
Luͤftchen preßte mir einen leiſen Seufzer aus .
Wie kalt mag es im Norden ſeyn ? dachte ich .
O , dieſer unſelige Winter ! Wie viel Thraͤnen
hat er Frankreichs Muͤttern und Braͤuten ge-
koſtet ! Vernichtet das ſchoͤnſte Heer von Europa !
Die Nachricht traf wie ein Donnerſchlag das
ganze Reich . Jch erſtarrte vor Schrecken und
Graus . Selig ſind die Todten ! rief ich mit
aufgehobnen Armen : ſie haben dieſe Tage nicht
geſehen . Wohl ſind ſie ſelig zu preiſen ! ſagte
mein Vater , und Thraͤnen benetzten ſein maͤnn-
liches Auge . Frankreichs Heldenbluͤthe gefallen ,
ſein kriegeriſcher Ruhm befleckt ! o Tage des
Jammers ! Aber nichts nuͤtzen weibiſche Thraͤ-
nen , — fuhr er fort , ſich die Augen trocknend —
es muß gehandelt werden , daß wir uns wieder
aufrichten von dem tiefen Fall . Jn den Ta-
gen der Gefahr muß jeder ſich um ſo feſter an
den Fuͤhrer ſchließen ; nur vereinter , muthiger
Wille und aufopfernder Sinn koͤnnen retten , wo
Kluͤgeln und Abſondern ins Verderben fuͤhren .
Sein maͤnnlicher Sinn , wurde bald der allge-
meine , wenigſtens dem Anſcheine nach . Der
ungluͤckliche Kaiſer fand ein treues Volk wieder ,
welches ſeinen eigenen Schmerz vergaß , um den
verehrten Herrſcher zu troͤſten . Er hatte nichts
verloren .
Ein neues Heer zog bald dem nahenden
Feinde entgegen und , in geſpannter Erwartung ,
wendeten ſich alle Blicke gen Oſten . Deutſch-
land fiel ab von dem Bunde mit uns , dieſe
Vormauer gegen den andringenden Koloß des
Nordens war nicht mehr . Tief ſchmerzte
dieſer Abfall mein Volk . Mancher ſchmaͤhte die
tapfern Deutſchen , doch ich theilte dieſe Anſicht
nicht . Die Deutſchen hatten Recht , ſobald ſie
bloß den Druck des Augenblicks in Betracht
zogen ; und wie konnten ſie anders ? Die
Laſt des Krieges hatte Jahrelang jeden Ein-
zelnen gedruͤckt , ſein Urſprung war vergeſſen
und von der Menge unbeachtet , der Sinn fuͤr
Freiheit und Menſchenrecht allgemeiner und
lebhafter geworden . Sie fuͤhlten ſich gefeſſelt ,
klagten Frankreich deßhalb an , erhoben ſich in
ihrer Kraft , wie einſt gegen das Joch der Roͤ-
mer , und ſiegten wie damahls . Gebe Gott ,
daß ihre blutige Saat ihnen goldene Fruͤchte
trage ! der Volkswille iſt mir etwas Ehrenwer-
thes und deßhalb achte ich die daraus ent-
ſprungenen Großthaten der Deutſchen , wie
tief auch die Wunden ſind , welche ſie mir
und meinem Frankreich ſchlugen . Moͤge das
Gefuͤhl ihrer Kraft nie wieder in ihnen ent-
ſchlummern , ſo gelingt ihnen vielleicht einſt , was
Frankreich vergebens gewollt .
Mein Vater ſahe dem immer naͤher ſich heran-
waͤlzenden Ungewitter des Krieges mit ernſten
Blicken entgegen . Er traf Vorkehrungen welche
ich oft nicht ganz begriff , beſchraͤnkte unſere
Ausgaben , und ſuchte die Einnahme auf jede
Weiſe zu erhoͤhen , ſelbſt durch Verkaͤufe , welche
nicht voͤllig den Werth der Dinge erreichten .
Die Zeit wird boͤſe , ſagte er , man kann der
baaren Huͤlfsquellen nicht zuviel haben . Dabei
war er der puͤnktlichſte Zahler jeder oͤffentli-
chen Abgabe , der freigebigſte , bei jedem freiwil-
ligen Beitrage . Alle Verguͤnſtigungen , welche er
ſchon laͤngſt den Einwohnern auf unſern Beſit-
zungen zugeſtanden , ſuchte er gerichtlich auf Kin-
der und Kindeskinder hinaus ſicher zu ſtellen , und
bewies darin eine Aengſtlichkeit , welche mich in
Verwunderung ſetzte . Ueberhanpt handelte und
redete er oft in dem Sinne eines Sterbenden
der ſeine Rechnung mit der Welt und dem Him-
mel abſchließt , obſchon er bluͤhend und in Lebens-
fuͤlle vor mir ſtand . Wenn ich ihn dann aͤngſtlich
umarmte und ihm fragend ins Auge ſahe , blickte
er mich heiter an . Meine Virginia , ſagte er , wird
begreifen was noth thut , wenn es noth thut ;
und wird tragen was Pflicht und Ehre gebieten .
O , mein Vater rief ich , nach ſo großen Verluſt ,
was kann ich noch verlieren ? Verliere nur dich
ſelbſt nicht , ſo haſt du nichts verloren ! ſagte
er ernſt . Und ewig hallt dieß Wort in meiner
Seele wieder .
Es war ein rauher Novembertag , der Sturm
heulte durch den Saͤulengang des Gebaͤudes ,
und jagte die Blaͤtter der hohen Ulmen an
unſern Fenſtern voruͤber ; wir hatten uns zum
freundlich leuchtenden Kamine gefluͤchtet , als
der Pfarrer fruͤher und eiliger , als gewoͤhnlich , in
das Zimmer trat . Wiſſen Sie ? fragte er aͤngſt-
lich . Was ? fragten wir . Das Geruͤcht iſt boͤſe ,
ſagte er ſtockend , die Feinde haben den Rhein-
uͤbergang gewagt , und keinen Widerſtand ge-
funden . Wir ſchwiegen in ſtarrer Beſtuͤrzung .
So erfuͤllt ſie ſich denn , brach endlich mein Va-
ter aus , jene dunkle Ahndung , welche ich bis-
her wie ein formloſes Nachtgeſpenſt auf mich
zuſchreiten ſahe , welche ich weder mir ſelbſt klar
zu machen , noch andern mit zu theilen wagte !
Jetzt iſt es entſchieden , und jeder Franzoſe
muß einſehen , daß ihm nur Eins zu thun
uͤbrig bleibt : jede Fauſt muß ſich bewaffnen ,
den Thron zu ſchuͤtzen und den eigenen Heerd .
Er ſchwieg und blickte erwartungsvoll auf uns .
Mir ſtockte die Sprache . Und du , Virginia ?
fragte er nach einer Pauſe , du aͤußerſt nichts ?
Auch du , mein Vater ? fragte ich zitternd . Bin
ich nicht des Vaterlandes Sohn ? ſagte er . Sein
edelſter ! rief ich , und mein Muth kehrte wie-
der . Ja , mein Vater , ich ſehe was du mußt ,
und keine weibiſche Thraͤne ſoll dich hindern .
Sorge nicht um deine Tochter , ſie wird zu
ſterben wiſſen . Auch zu leben , hoffe ich , ſagte
er , und zog mich an ſeine Bruſt . Dem Un-
gluͤcke durch den Tod entlaufen , iſt eine feige
Flucht , ſie entehrt , und nur die Schande darf
man nicht uͤberleben . Verſprich mir , muthig
fort zu wirken , dich an die eigene Kraft zu hal-
ten , auch wenn die letzte Stuͤtze bricht , und dir
ſelber treu zu bleiben in dieſen Zeiten des Ver-
raths . Jch ſchwoͤre , mein Vater ! rief ich ſchluch-
zend : ich ſchwoͤre deiner werth zu bleiben durch
alle Zeiten ! — Jhr frommer Sinn wird ſie
ſtaͤrken , mein Fraͤulein , ſagte der wackre Pfar-
rer . Virginia traͤgt das Goͤttliche im Buſen
das uͤber alle Form erhaben iſt , erwiederte mein
Vater . Geruͤhrt und begeiſtert hob ich die Haͤnde
gen Himmel , und rief : „ Jch will ! willſt du nur ,
daß ich wolle . ‟
Nun trieb mein Vater eifrig zu ſeiner Be-
waffnung . Ein Theil unſrer Dienerſchaft und
viele der Einwohner folgten ſeinem Beiſpiel .
Man hoffte anfangs eine allgemeine Land-
wehr eingerichtet zu ſehn , ſie kam aber , we-
nigſtens in unſern ſuͤdlichen Provinzen , nicht
zu Stande . So muͤſſen wir denn das Heer ver-
ſtaͤrken , ſagte mein Vater , und machte ſich zur
Abreiſe bereit . Laß mich mit dir gehen Vater !
flehte ich . Weiber gehoͤren nicht in den Kampf ,
ſagte er , ihre Theilnahme an kriegeriſchen Auf-
tritten iſt eine Unnatur , welche ſich nur entſchul-
digen laͤßt , wenn ſie unfreiwillig dazu gezwun-
gen werden . Auch erbebt mein Jnneres vor
Blut nnd Mord , erwiederte ich ; aber laß mich
dir wenigſtens nahe ſeyn , daß ich oft von dir
hoͤre , du biſt ja mein Alles auf der Welt .
Nun wohl , entgegnete er , wir reiſen zuſammen ,
zuvoͤrderſt nach Paris . Dieß iſt der Punkt wo-
hin die Feinde ſtreben , das Herz des Staats ,
von dort muß auch die Vertheidigung aus-
gehn . Der alte ehrliche Antoine und deine treue
Mannon ſollen uns begleiten . — Jch traf
meine Anſtalten , und der Vater verſah mich reich-
lich mit Gelde fuͤr eine lange Abweſenheit . Am
Abend vor unſerer Abreiſe befahl er mir , die
Leute zeitig zur Ruhe zu ſchicken , und wenn
alles ſchliefe auf ſein Zimmer zu kommen ; ich
gehorchte . Als ich bei ihm eintrat , hatte er ein
Kaͤſtchen offen auf dem Tiſche ſtehen . Siehe
Virginia , ſagte er , hier iſt was ich laͤngſt fuͤr
Zeiten der Noth geſpart , unſre einfache Lebens-
weiſe machte mir es moͤglich . Hier ſind fuͤnf-
tauſend Napoleond’or , und eine gleiche Summe
in amerikaniſchen Staatspapieren . Sollte ich
das Ende dieſes Kampfes fuͤr unſre Unabhaͤn-
gigkeit nicht erleben , und das Vaterland ſich in
Geldverlegenheit befinden , dann hilf du , ſtatt mei-
ner ; gib dem Kaiſer , was des Kaiſers iſt , unter
der von ihm hergeſtellten und geſchuͤtzten Ordnung
wurde es erworben . Geht alles , was ich nim-
mer denken mag , geht alles in Truͤmmer , nun
ſo rette dich ſelbſt . Er ſchloß das Kaͤſtchen ,
lud es , ſchwer tragend , auf ſeine Schulter , reichte
mir eine Blendlaterne und Werkzeug , und wir
gingen ſchweigend den Weg zur Kapelle . Hier
nahmen wir das Marienbild herunter , oͤffneten
eine unbemerkbare Hoͤlung des Gemaͤuers , ſcho-
ben das Kaͤſtchen hinein , ſchloſſen ſie eben ſo
unbemerkbar wieder , und hingen das Bild an
ſeine Stelle . Werde ich dieſe heilige Staͤtte
wieder ſehen ? fragte leiſe mein Herz . Jch ſank
kniend auf die Stufen des Altars , und betete :
Du Ewiger gib mir Kraft ! Darum flehe auch
ich , Du Unerforſchlicher ! rief mein Vater , und
kniete neben mich . Der Anblick erſchuͤtterte mich
tief , ich hatte nie ihn ſo bewegt geſehn . O , fuhr
er in ſeiner betenden Betrachtung fort , Deine
Wege ſind dunkel ; die Frage Warum ? draͤngt
ſich auf jede Lippe , und jeder beantwortet ſie
nach ſeiner Einſicht , und wie es ihm ſelbſt
frommt . Jch weiß , daß alle Einſicht nur menſch-
liche , und irren das allgemeine Loos der Sterb-
lichen iſt ; doch bleibt das beſte Wiſſen , und
der
der reinſte Wille immer die einzig ſichre Richt-
ſchnur ; auch ich folge ihr , der Ausgang ſteht
bei dir . Segne mein Vaterland ! doch muß
es jetzt untergehen zum Wohl kuͤnftiger Geſchlech-
ter , zum Wohl der ganzen Menſchheit , ſo gib
uns zur Entſagung Kraft , und laß uns edel fallen .
Er erhob ſich muthig , und zog auch mich
in ſeine Arme empor . Wir gingen geſtaͤrkt und
mit neuen Vertrauen in unſre Wohnung zuruͤck ,
um uns durch Ruhe zu kraͤftigen fuͤr den ſchmerz-
lichen Abſchied .
Weinend umringten uns am Morgen die Be-
wohner der umliegenden Gegend . Es war eine
einzige große Familie welche von ihrem Vater
Abſchied nahm . Segenswuͤnſche erfuͤllten die
Luft ; die junge Mannſchaft welche freiwillig
Dienſte nehmen wollte , ſtand ebenfalls bereit ,
ſie hatte ſich beritten gemacht und wollte uns be-
gleiten , doch nur unter meines Vaters Anfuͤh-
rung fechten . Die Greiſe gaben den Juͤnglingen
kraͤftige Ermahnungen mit , und ſelbſt die Muͤt-
ter zitterten nicht fuͤr das Leben ihrer Soͤhne , ſon-
dern empfahlen ihnen nur Sorgfalt fuͤr die Erhal-
tung ihres guten Herrn . Beſchuͤtzet unſern Va-
Erſter Theil. [11]
ter , beſchirmt ihn mit Gefahr , mit Aufopferung , eu-
res Lebens ! riefen ſie uns noch lange nach . Mein
Vater war tief geruͤhrt , und meine Thraͤnen
floſſen reichlich . — Der Weg nach Paris war
mit Truppen bedeckt , welche aus allen Richtun-
gen zu den Armeen eilten . Mein Vater war
lange unſchluͤſſig , welcher er ſich anſchließen ſollte ;
indeſſen ſetzten wir unſern Weg fort , weil er
mich erſt in die Hauptſtadt , als den ſicherſten
Aufenthalt , geleiten wollte . Wir langten an ei-
nem heitern Tage vor derſelben an . Zu jeder an-
deren Zeit wuͤrde mich der Anblick ſo vieler Pracht
und des wogenden Getuͤmmels mit Entzuͤcken
erfuͤllt haben , jetzt aber war meine Seele zwi-
ſchen ſchreckender Gegenwart und banger Ahn-
dung getheilt . Doch gewann Paris , in geſchicht-
licher Hinſicht , bald ein Jntereſſe fuͤr mich , welches
mich in etwas von meiner eignen Gegenwart
abzog . Alle Erzaͤhlungen aus den Tagen mei-
ner Kindheit vergegenwaͤrtigten ſich mir . Hier
war der Schauplatz jenes großen Trauerſpiels
welches ehemals mit ſeinen Graͤuelſcenen , mit
ſeinen Großthaten , mich wechſelnd mit Schau-
der und mit Freudenthraͤnen erfuͤllte . Wie oft
hatte ich mich hierher gewuͤnſcht ! Jetzt war
ich da , und maͤrchenhaft ſchien mir die rauhe
Wirklichkeit . Hier hatte die furchtbare Baſtille
geſtanden ; dort war aber auch wieder die ſchreck-
liche Guillottine permanent thaͤtig geweſen . Die-
ſen alterthuͤmlichen Dom hatte man damahls zum
Tempel der Vernunft geweiht ; dort erhob ſich
im großen reinen Styl das majeſtaͤtiſche Pantheon .
Welche Gegenſtaͤnde den Geiſt zu beſchaͤftigen !
Mich wunderte aber nichts ſo ſehr , als daß die
Pariſer zwiſchen dieſen Denkmaͤhlern ſo leicht-
ſinnig umher laufen konnten , haſchend nach
Tand und leeren Zerſtreuungen , nach dem Ge-
nuß des Augenblicks . Mein Erſtaunen wuchs ,
als ich ſie , in dieſen ernſten Tagen der Bedraͤng-
niß , ſcherzen und witzeln hoͤrte . Es that mir
wehe , mein Herz blutete .
Perſoͤnliche Bekanntſchaft veranlaßte meinen
Vater , ſich mit ſeinen Untergebenen dem Corps
des Marſchalls Marmont an zu ſchließen , mehr
noch die Sage , daß der Marſchall beauftragt ſey ,
Paris zu decken . Mich hatte er zu der rechtſchaffe-
*
Familie gebracht , bei welcher meine Mutter wohnte ,
als ſie mich gebahr . Die Wirthinn war ſeitdem
verwitwet , und lebte mit ihren beiden Toͤchtern ,
meines Alters , ſtill und eingezogen . Sie erkannte
meinen Vater nach einigen Erlaͤuterungen , und
konnte ſich nicht genug freuen , das kleine Maͤd-
chen wieder zu ſehen , welches ſie bei deſſen Ge-
burt zuerſt auf ihrem Schoße gewiegt . Sie
ſind an einem merkwuͤrdigen Tage gebohren lie-
bes Kind , ſagte ſie ; noch immer hoͤre ich den
Donner des Geſchuͤtzes , und das Vivatrufen
im Augenblick ihrer Geburt . Wahrlich , ſo wird
keine Prinzeſſinn begruͤßt ! Wir andern Weiber
ſchreckten immer zuſammen bei dem Laͤrmen ;
und als nun Jhr Vater ins Zimmer ſtuͤrzte ,
und frei war — ach , du mein Gott ! wir weinten
alle wie die Kinder . Aber wir liebten auch die
ſchoͤne blaſſe , ungluͤckliche Frau von ganzem Her-
zen . Nun , wo iſt ſie denn , die gute Mutter ?
Uns traten Thraͤnen in die Augen bei dieſer
zuverſichtlichen Frage . Die darauf folgenden
Erzaͤhlungen daͤmpften die Frende der ehrlichen
Frau gar ſehr , und unſre vernarbten Wunden
brannten von neuen . Mein Vater empfahl mich
der wuͤrdigen Matrone zur muͤtterlichen Aufſicht .
Sorgen ſie nicht , ſagte ſie , ſie ſoll meine dritte
Tochter ſeyn , und mein Augapfel . Verlaſſen
ſie ſich auf mich , und wehren ſie uns nur tapfer
den Feind ab . Unſer armer Kaiſer , Gott ſegne
ihn ! kann ſich faſt nicht mehr all der Gegner
erwehren . Ja , das iſt keine Kunſt ; viele Hunde
ſind des Loͤwen Tod , ſagt das Spruͤchwort . So
ſchwatzte ſie immer fort , waͤhrend ſie uns in
mein Zimmer fuͤhrte ; es war daſſelbe in wel-
chem meine Mutter mich gebahr . Mit un-
nennbaren Empfindungen warf ich mich auf
das Bett , wo ehemahls meine arme Mutter ſo
viele Thraͤnen geweint . Wohl dir , rief ich aus , daß
du jetzt dem Erdenſchmerz entnommen biſt ! Was
wuͤrde dein Herz erleiden , haͤtteſt du auch
dieß noch erlebt !
Meine gute Wirthinn und ihre freundlichen
Toͤchter thaten alles moͤgliche , mich nach der
Abreiſe meines Vaters zu erheitern . Mannon
ſchloß ſich mit ihrer gewohnten Liebe an mich ;
der ehrliche Antoine ging taͤglich auf die Feld-
poſt , ſich nach Briefen fuͤr mich zu erkundigen ,
welche ich auch recht oft erhielt . Der Vater hatte
mehreren gluͤcklichen Gefechten beigewohnt , und
ſprach mir viel Muth ein . Die Nachrichten
von der großen Armee lauteten guͤnſtig : der
Kaiſer ſah ſich wieder ſtark genug , gegen den
Rhein vorzuruͤcken ; man hoffte daß die Feinde
ihm folgen wuͤrden und muͤßten , und daß ſo ,
das Kriegstheater uͤber unſere Graͤnzen hinaus ver-
legt werden wuͤrde . Eitle menſchliche Hoffnung ,
truͤgliche Berechnungen des endlichen Verſtandes !
im Buche des Schickſals ſtand es anders ge-
ſchrieben , als in den Operationsplanen eines er-
fahrenen Kriegsraths . Der Feind ruͤckte , un-
bekuͤmmert um ſeinen gefaͤhrdeten Ruͤckzug , mit
ſeiner ganzen Macht auf Paris , und der Mar-
ſchall Marmont mußte auf Vertheidigung den-
ken ; er beſetzte die feſte Stellung von Mont-
martre . Mein Vater kam bei dieſer Gelegen-
heit noch ein Mahl in die Stadt , mich mit ſei-
ner Gegenwart zu erfreuen . Jn ſeiner Geſell-
ſchaft befand ſich ein junger Pohle , von den
Lanziers , jetzt Adjoint des Marſchalls , ein
junger ſchoͤner Mann voll Feuer und Muth ,
dem Kaiſer von ganzen Herzen ergeben . Die
natuͤrliche Leutſeligkeit und Zuvorkommenheit
meines Vaters , machte ihn vorzuͤglich fuͤr Fremde
ſehr anziehend , welchen er auch ſeiner Seits im-
mer eine beſondre Aufmerkſamkeit widmete , ein
Zug in ſeinem Karakter welcher mir immer
ſehr ſchaͤtzbar geweſen iſt . Er liebte gewiß ſein
Vaterland und ſeine Mitbuͤrger mit gluͤhen-
der Seele , wovon ſein ganzes Leben und ſein
Tod unwiderſprechliche Beweiſe gegeben haben .
Er war ſtolz , ein Franzoſe zu ſeyn , doch war er
nicht eitel es zu ſeyn , er erkannte den Werth eines
jedes fremden Volkes , und konnte dieſe vor-
nehme Abſonderung durchaus nicht leiden , welche
viele fuͤr Vaterlandsliebe ausgeben . Wir ſind
ja alle Kinder eines Vaters , pflegte er zu ſagen ,
und noch immer zeigt dieſer guͤtige Vater , durch
ſeinen gleichvertheilten Segen , daß wir ihm , im
Ganzen , alle gleich wohlgefaͤllig ſind . Wir
ſchlagen uns wie unartige Kinder um das Spiel-
geraͤth , ich hoffe aber , wir werden einſt vernuͤnf-
tig genug werden , um uns alle mit Bruderliebe
zu umfaſſen . Freilich , ſo lange die Flegeljahre
noch dauern , muß jeder die Partei deßjenigen
nehmen , mit welchem er eine gemeinſchaftliche
Mutter hat , oder , welcher der ſchwaͤchere iſt , oder ,
welcher ihm am meiſten Recht zu haben ſcheint ;
er muß aber nie vergeſſen , daß er mit den
Gegnern einen gemeinſchaftlichen Vater hat , und
iſt die Fehde voruͤber , ſo eifre jeglicher dem an-
dern nach im Guten , und lege nicht durch
Maulen , oder kindiſches Prahlen , neuen Grund
zum Streit . Ja haͤtte ich nur ein einziges
Stuͤckchen Brot zu geben , ich wuͤrde es dem
hungernden Fremden , vor allen , reichen ; denn der
einheimiſche Bruder faͤnde eher eine zweite Huͤlfs-
quelle , als der , welchem des Hauſes Gelegen-
heit ganz unbekannt iſt . So dachte und fuͤhlte
mein edler Vater , wenige werden ihm gleichen .
O , koͤnnte ich ſein ſchoͤnes Bild mahlen in der
Stunde des Abſchiedes ! wie er da ſtand mit
dem feſten ruhigen Heldenblick . Freundlich trock-
nete er mir die Augen , und ſtrich mir die Locken
von der Stirn . Arme Virginia , ſagte er , du
biſt ſchlimmer daran , als wir ; wir handeln , du
mußt das Schickſal leidend erwarten . Du haſt
den meiſten Muth vonnoͤthen . Schaue jeder
Gefahr ſtandhaft und beſonnen entgegen , und
ſie wird kleiner werden . Jch laſſe dich in einer
Lage zuruͤck , wo ich fuͤr jedes andern Weib zit-
tern wuͤrde , fuͤr dich zittre ich nicht , du wirſt
dir ſelbſt treu und Herr deines Schickſals blei-
ben . Ja , mein Freund , ſagte er , ſich gegen den
Pohlen wendend , in dieſer Maͤdchenſeele liegt
mehr Roͤmerſinn und maͤnnliche Staͤrke , als in
mancher unſrer Waffengefaͤrthen . Der Fremde
verbeugte ſich gegen mich , mehr ehrfurchtsvoll
als hoͤflich ; mein Erroͤthen zu verbergen , em-
pfahl ich ihm meinen Vater . Sie machen mich
ſtolz mein Fraͤulein ! ſagte der Juͤngling , und
druͤckte meine Hand an ſeine heißen Lippen :
nicht des Kaiſers Ehre allein wird mich in die-
ſen heißen Tagen begeiſtern , Virginia ſey mein
Feldgeſchrei ! vergoͤnnen ſie ihrem Ritter , ihre
Farbe zu tragen . Jch erſtaunte bei dem Ernſt ,
womit er dieſe Worte ausſprach . Laͤchelnd ſtreifte
ich das blaue Band aus meinen Haaren , und
reichte es ihm ; er kuͤßte es mit Begeiſterung ,
und ſchlang es um ſeinen Hals . Dieſes kleine
romantiſche Spiel hatte einige heitere Licht-
ſtrahlen uͤber die duͤſtre Abſchiedsſcene gewor-
fen , und wehrte das Vorgefuͤhl ab , welches
ſonſt mein Herz zerſprengt haben wuͤrde . Jch
trennte mich von beiden , faſt in der Stimmung ,
mit welcher , in den Liedern unſrer Troubadours ,
ehemahls die Damen ihre Ritter zur Schlacht
ziehen ſahen . Mein beſonnener Vater unterhielt
freundlich dieſen Scherz ; Doch als er mich
zum letzten Mahl umarmte , fuͤhlte ich ein leiſes
Zittern in ſeinen Armen , welches mich ploͤtzlich
wie ein ungeheurer , ſtechender Schmerz durch-
bebte . Aber ſogleich gefaßt , ſetzte er den wohl-
thaͤtigen Scherz fort , indem er laͤchelnd ſagte ,
So lebt wohl mein Fraͤulein und gedenkt unſrer
in eurem Gebet . Damit ſchwang er ſich aufs
Pferd , und verſchwand ſchnell meinen Blicken .
Der junge Pohle kuͤßte den Zipfel des blauen
Bandes , neigte ſich , und folgte ihm mit Blitzes-
ſchnelle .
Da war ich nun wieder allein , unter lieben
freundlichen Menſchen zwar , aber doch allein .
Damahls war mir dieß peinlicher als jetzt . Von
meiner Kindheit an war mir wenigſtens der
Vater geblieben , mit welchem ich meine Gedan-
ken austauſchen konnte , welcher ſie verſtand , bil-
ligte oder befriedigend berichtigte . Das ſollte von
nun an nicht mehr ſeyn . Der kleine Kreis
welcher mich umgab , vermochte nur untergeord-
nete Anſichten zu faſſen , man berechnete ob
die Lebensmittel theurer werden wuͤrden ; dar-
uͤber hinaus , ſehnte ich mich auch nicht , denn
das leichtſinnige Rennen und Fahren , das Draͤn-
gen zu Theatern und andern Schauſpielen , be-
leidigte mich fuͤr den Augenblick in tiefſter Seele .
Eben ſo empoͤrend war es mir , wie die vor-
nehme und reiche Welt , ſchaarenweiſe davon
eilte und , die Sache ihres Landes feig verloren
gebend , nur darauf dachte , ſich und ihre Schaͤtze
in Sicherheit zu bringen . Die Zeichen der
Zeit ſind boͤſe , dachte ich mit Kummer .
Meine haͤufigſten , liebſten Spaziergaͤnge wa-
ren die Boulewards aux Italiens ; hier war ich
dem Montmartre naͤher , ja ich wagte mich zur
weilen , von Antoine und meinen Geſellſchafterin-
nen begleitet , bis an die Barrieren . Nach weni-
gen Tagen vernahm ich Kanonendonner , erſt fern
dann naͤher ; bald erfuͤllten kriegeriſchen Sce-
nen die Vorſtadt Montmartre waͤhrend die ei-
gentliche Stadt ziemlich ruhig war . Dieſer
Kontraſt war mir auffallend , wenn wir gingen
und kamen . Hier eine geputzte Welt welche
nach den Tullierien , nach den Champs-ellisées
luſtwandelte ; dort Truppen-Abtheilungen aller
Art , Proviantwagen , Geſchuͤtz , bewaffnete Buͤr-
ger , kommend und gehend , Marketender zu
Fuß und zu Pferde , alles eilend , laͤrmend , und
zwiſchen all dieſem Geraͤuſch Artillerieſalven ,
von deren Gewalt die Erde zu beben ſchien .
Mir war dieſe Scene ſo neu , und ich wurde
ſo ſonderbar davon ergriffen daß ich faſt meine
perſoͤnliche Lage daruͤber vergaß . Die Toͤchter
meiner Wirthinn beſchworen mich , bei allen Hei-
ligen , mit ihnen nach Hauſe zu gehen , ſie wa-
ren voll Furcht und Schrecken , ich aber , wie
gefeſſelt an dieſen Schauplatz , haͤtte ihn gern
noch weiter hinaus verlegt . Ja , wenn ich nach-
gab , um die Forderungen der erſchoͤpften Natur
zu befriedigen , ſo fand ich in der ſicheren Woh-
nung durchaus keine Ruhe , es zog mich unwi-
derſtehlich zuruͤck nach jener Gegend . Dachte
ich einen Augenblick nach , ſo war ich mir
ſelbſt unerklaͤrlich . Krieg und Schlachten hatten
ſonſt nur einen geſchichtlichen Reiz fuͤr mich ,
niemals konnte ich die ausfuͤhrliche Erzaͤhlung ei-
nes Augenzeugen , ohne inneres Leiden , anhoͤren ;
die Beſchreibung einer Wunde verurſachte mir
den heftigſten Schmerz an dem eigenen unver-
letzten Gliede , und niemals hatte ich mich entſchlie-
ßen koͤnnen , auch nur eine Taube oder ein Huhn
ſchlachten zu ſehen . Und jetzt , dem Blutvergießen ſo
nahe , oft blutenden Verwundeten begegnend , und
ich lebte noch ? Zu erklaͤren mag es nicht ſeyn , doch
fuͤhre ich es an wie es ſich in der That verhielt . Die
Beſorgniß um den Vater regte ſich oft lebhaft
in meinem Herzen , aber der Eindruck welchen das
Ganze auf mich machte , die Groͤße des Augenblicks
ließ ſie nie uͤberwiegend werden . So ging und
kam ich , in geſpannter Erwartung , theilte den ein-
zelnen Verwundeten meine Tuͤcher und mein Geld
mit , und hegte noch immer die Hoffnung eines ſieg-
reichen Ausganges , als ſchon das Geruͤcht ſich
verbreitete , man habe Koſacken bis dicht an die
Barrieren ſtreifen ſehen .
Nun war kein Verweilen mehr . Man riß
mich mit Gewalt fort nach unſrer Wohnung .
Jetzt erſt , da ich daheim war , in den eingeſchoſ-
ſenen Zimmern , ergriff mich die quaͤlendſte Un-
ruhe . Eine ploͤtzliche Stille folgte auf den
Donner des Geſchuͤtzes ; die Straßen wurden
minder geraͤuſchvoll , und oͤder ; jeder fragte mit
banger Neugier den Nachbar um Nachrichten ,
dieſe waren widerſprechend , und unſicher . Da
ließ ſich ploͤtzlich Pferdegalopp die Straße hin-
auf vernehmen , ahndungsvoll ſtuͤrzte ich an das
Fenſter . Es war der junge Pohle , welcher , mit
Staub bedeckt , vom Pferde ſprang . Ein furcht-
bares Vorgefuͤhl warf mich regungslos auf einen
Seſſel , ſein Anblick ſagte mir das ſchrecklichſte ,
noch ehe er die Lippen oͤffnete . Verzweiflung
rang in ſeinen Zuͤgen , und Blaͤſſe war an die
Stelle ſeiner Jugendroͤthe getreten . Er ſank
zu meinen Fuͤßen . Verloren ! hauchte er muͤh-
ſam hervor . Mein Vater ? rief ich faſt erſtik-
kend . Er zog ein Portefeuille mit dem Bild-
niſſe meiner Mutter aus ſeinem Buſen . Das
letzte Andenken des Edlen , und ſein Lebewohl !
ſagte er kaum vernehmbar . Jch war vernichtet ,
ich hatte keine Thraͤnen . Ach , fuhr er fort , ihr
Vater ſtarb beneidenswerth ! die Schlacht , ſie
war noch nicht entſchieden , und die Hoffnung
noch auf unſrer Seite . Mit ſeinem Leben
hoffte er den Ruhm und die Freiheit ſeines
Vaterlandes erkaͤmpft zu haben . Es iſt vorbei !
Jch druͤckte heftig das blutbefleckte Andenken
an meinen Mund , und ſank vor Schmerz zu-
ſammen . Die Frauen eilten mir zur Huͤlfe .
Auf ihre Fragen erfuhren wir , ach nur zu fruͤh !
die fernern Begebenheiten . Man hatte ſchimpf-
lich kapitulirt . Frankreichs Ehre und die Kaiſer-
krone wankten ; ſo viel vernahm ich . Mein Fraͤu-
lein rief der junge Pohle und druͤckte meine kalte
Hand an ſeine Bruſt , ich war ſehr kuͤhn , und
hegte eine große Hoffnung ! Ein Tranm er war
zu ſchoͤn ! ich bin herabgeſtuͤrzt aus allen meinen
Himmeln . Verlaſſen muß ich die kaum Gefun-
dene , zu ihm ruft mich die Pflicht , er bleibt
mein Herr , ihn waͤhlte ich mir zum Stern ! der
Tod nur trennt mein Schickſal von dem ſeinen .
Jch ermannte mich auf einen Augenblick ,
das Feuer des Juͤnglings regte meine Lebens-
kraft ein wenig auf . Gehen ſie , ſagte ich , gehen
ſie , wohin Pflicht und Ehre ſie rufen , meine
Achtung begleitet ſie . Jch neigte mich zu ihm
nieder , er druͤckte mich leidenſchaftlich an ſeine
Bruſt . Jch gehe um ihrer werth zu bleiben ,
rief er , leb wohl fuͤr dieſe Welt ! — — ich ſah
ihn nie wieder . Matt , und in dumpfer Fuͤhl-
loſigkeit , fiel ich in die Arme meiner weinenden
Mannon zuruͤck .
Jch uͤbergehe die zerreißenden Empfindungen
der naͤchſten Stunden ; ſie waren ſchrecklich .
Keine lindernde Thraͤne wollte meinen brennen-
den Schmerz kuͤhlen , mein Gehirn brachte
nur verworrene graͤßliche Bilder hervor . Da
erbarmte ſich die Natur , die guͤtige , meiner , und
rettete meine Sinne durch eine betaͤubende Krank-
heit . Lange habe ich in Fieberhitze gelegen , dem
Anſcheine nach , ein Raub des Todes , und nur
allmaͤhlig und ſchwach ordnete ſich mein Bewußt-
ſeyn wieder . Jn dem Zuſtande eines Kindes ,
welches die Groͤße ſeines Verluſtes noch nicht ganz
begreift , lernte ich den meinigen faſſen und er-
tragen . Er , der meines Lebens Sonne gewe-
ſen , war nicht mehr ! mir grauete in der fin-
ſteren Nacht , in welcher ich allein gelaſſen war .
Aber wie Kinder plaudern , wenn ſie ſich fuͤrch-
ten , ſo redete ich leiſe mit ihm , der mir immer
gegen-
gegenwaͤrtig ſchien . Jch hoͤrte viel reden von
den Vorfaͤllen des Tages ; mein Antheil daran
verſtaͤrkte ſich nur langſam , doch waren meine
Beobachtungen genau , und meine Anſichten un-
veraͤndert . Man aͤußerte ſich uͤberall mit der Be-
hutſamkeit , an welche man ſich ſeit der Schrek-
kenszeit gewoͤhnt hatte , doch merkte ich leicht
an den ſeichten Troſtgruͤnden , womit man einan-
der das Unabaͤnderliche in ein vortheilhaftes
Licht zu ſtellen ſuchte , wie ſehr man des Troſtes
beduͤrfe . Jch vermied jede Aeußerung uͤber das ,
was mich , naͤchſt meinem perſoͤnlichen Verluſte ,
ſo ſchmerzlich bewegte , theils aus koͤrperlicher
Schwaͤche , theils weil ich es fuͤr zwecklos hielt ,
da eine ohnmaͤchtige Weiberſtimme zu erheben ,
wo Millionen Maͤnnerſtimmen ſchweigen muß-
ten ; aber mit dem Geiſte meines Vaters ſetzte
ich in Gedanken dieſe Geſpraͤche fort . Die
Sache des Volkes iſt verloren , ſagte ich , und
die Sache der Fuͤrſten ſiegt , nach zwanzigjaͤh-
rigem Blutvergießen . Daß der große Mann
des Jahrhunderts verlaͤſtert wird , iſt natuͤrlich
und liegt ſchon in ſeiner Groͤße . Flecken und
Maͤhler erſcheinen an einer Rieſenfigur groͤßer ,
Erſter Theil. [12]
und Pigmeen finden den Guliwer abſcheulich .
Sein groͤßtes Verbrechen aber ſcheint mir immer
zu ſeyn , daß er , im Volke gebohren , ſich den
Weg zum Throne gebahnt , und das Volk ihn da-
rauf beſtaͤtigt hat . Waͤre er ein gebohrener Fuͤrſt ,
man wuͤrde ihn in der Geſchichte uͤber alle Hel-
den der Vorzeit erheben , und ihm ſeine Erobe-
rungen nicht als Verbrechen anrechnen . Daß
Regierungen durch ſolche Beſitzergreifungen nicht
befleckt werden , beweiſen ja noch in den neue-
ſten Zeiten die Eroberungen Rußlands gegen
Suͤden und Oſten , die Handlungsweiſe der
Englaͤnder in Oſtindien und die Theilung von
Pohlen . Der Beſiegte traͤgt ſein Schickſal mit
Groͤße und eben dieß verbuͤrgt mir die Staͤrke
ſeines Geiſtes ; ein eitler Ehrgeiziger wuͤrde dar-
unter erliegen , doch er , in ſeinem ſtolzen Selbſt-
gefuͤhl , wuͤrde ſich noch in Feſſeln erhaben duͤn-
ken und frei !
Mehrere Wochen noch , blieb ich , durch einen
Zuſtand von Schwaͤche , im Bette feſtgehalten ,
und auch dann noch konnte ich nur auf einzelne
Stunden im Wohnzimmer , auf einem Sopha ,
dem kleinen Familienkreiſe unſres Hauſes bei-
wohnen . Jn demſelben hatte ſich , waͤhrend mei-
ner Krankheit , eine große Veraͤnderung zugetra-
gen . Ein junger deutſcher freiwilliger Jaͤ-
ger war bei uns einquartiert , und in kurzen
einheimiſch geworden . Seine Bekanntſchaft that
mir wohl und wehe , ſein Stand , ſeine Ju-
gend und ſeine liebenswuͤrdige Sanftheit und
Beſcheidenheit erinnerten mich nur zu lebhaft
an meinen lieben Emil . So wuͤrde er jetzt ſeyn !
dachte ich , und tauſend ſchmerzliche Betrach-
tungen draͤngten ſich meinem leidenden Gemuͤ-
the auf . Thraͤnen fuͤllten meine Augen , wenn
ich den ſchoͤnen Juͤngling anſahe , und doch
ſahe ich ihn ſo gern in ſeiner edlen Haltung .
Seine ihn beſuchenden Kameraden , waren nicht
alle ihm gleich , manche kindiſch eitel , unbil-
lig , anmaßend , und großpraleriſch ; er zeich-
nete ſich durch Geiſtesbildung , Beſcheidenheit
und Billigkeit des Urtheils aus . Daß er eben
ſo tapfer ſey , davon gaben ihm ein rother
Streif uͤber der Stirn , und ein noch etwas ſtei-
fer Fuß das Zeugniß ; er hatte bei Luͤtzen ta-
pfer gekaͤmpft , und zwei Wunden davon getra-
gen . Bald merkte ich , daß zwiſchen dem ſchoͤ-
*
nen Freiwilligen und Henrietten , der zweiten
Tochter des Hauſees , ſich eine innige Nei-
gung entſponnen hatte . Die Aelteſte , Nancy ,
war mit einem , im Civil-Dienſt angeſtellten Lands-
manne verſprochen , und ſahe die wachſende Zunei-
gung ihrer Schweſter mit mißbilligenden Augen
an . Es kam daruͤber bald , in meiner Gegen-
wart , zu Familien-Streitigkeiten . Mein Gott
ein Ketzer ! ſeufzte die gute fromme Mutter .
Jſt er nicht ein edler Menſch , liebes Muͤtter-
chen ? ſagte ich beſaͤnftigend , iſt er nicht ſo brav
als menſchlich im Reden und Handeln ? ſpricht
er nicht von ſeinen Aeltern und Geſchwiſtern mit
der zarteſten Ehrfurcht und Liebe , und von Gott ,
in zufaͤlligen Aeußerungen , mit Vertrauen und
Dankbarkeit ? Alles ſchoͤn mein Kind , alles ſchoͤn ,
erwiederte die gute Alte , es iſt ein lieber , guter
Menſch , auch nicht unbemittelt , wie man hoͤrt ,
aber er hat doch nicht den rechten Glauben .
Daruͤber kann nur Gott entſcheiden , antwortete
ich , die Formen ſind Menſchenwerk . Es koſtete
mir viele Muͤhe , das Gewiſſen der frommen Frau
zu beruhigen , doch kam ich damit noch leich-
ter zu Stande , als das leidenſchaftliche Vorur-
theil der heftigen Nancy zu beſiegen . Ein Frem-
der ! rief ſie mit Erbitterung , ein Feind ! Jſt
er uns fremd ? iſt er uns feindſelig gute Nancy ?
fragte ich . Mein Himmel wie kannſt du ſo
reden ? ſagte ſie heftig . Kannſt Du denn wiſ-
ſen ob nicht gerade ſein Gewehr auf die Bruſt
deines Vaters gezielt ? Und haͤtte dieß wirklich
der Zufall gefuͤgt , erwiederte ich , mit einiger An-
ſtrengung , ſo wuͤrde ich ihn darum nicht weni-
ger ſchaͤtzen . Das Schickſal ſtellte ſie einander
gegenuͤber ; ſie thaten beide ihre Pflicht , ver-
fochten beide ihre Meinung und die Sache ih-
res Fuͤrſten , es war nichts perſoͤnliches in dieſem
Streit ; und ſetzen ſchon die Gebraͤuche des Zwei-
kampfs feſt , daß ſich nach Beendigung deſſelben
Sieger und Beſiegte umarmen , ſo ſollte dieß noch
eher nach beendigten Voͤlkerfehden geſchehen . Die
Deutſchen hatten Recht , ſie fuͤhlten ſich gefeſſelt ,
ſprengten die Ketten , erhoben ſich in ihrer Kraft ,
bewaffneten ſich , und beſiegten unſre bewaffnete
Macht . Kannſt du ihnen das verargen ? wir haͤtten
daſſelbe gethan , ja wir haben , aus Freiheitsdrang
und aͤngſtlicher Beſorgniß fuͤr unſre Aufrecht-
haltung , noch ganz andre Dinge gethan . Nein ,
ich werde die Deutſchen immer bewundern und
lieben ! Jch ſage noch mehr : waͤre unſre maͤnnliche
Jugend Deutſchlands Heldenjugend gleich gewe-
ſen , es ſtaͤnde beſſer um uns . Und nun zumahl
dieſer edle Juͤngling , unſer Gaſtfreund , und
wir , unkriegeriſche Weiber .
So verfocht ich taͤglich mit Eifer die Sache
der Liebenden . Der Fremde mochte manches
davon , durch Henrietten , erfahren haben , er
bezeugte die zarteſte Theilnahme fuͤr das liebe
kranke Fraͤulein , wie er mich nannte . Spaͤter
hin hatte ich die Freude zu hoͤren , daß Hen-
riette ihn in ſeine Heimath begleiten wuͤrde ,
und es gewaͤhrte mir einen großen Troſt , zu
glauben , daß ich einigen Autheil an dem er-
wuͤnſchten Ausgang ihres Schickſals gehabt .
Bei den allen wurde mir der Aufenthalt
in Paris unertraͤglich . Das Geraͤuſch betaͤubte ,
und die Karakterloſigkeit der Einwohner aͤrgerte
mich . Jch ſehnte mich nach der Stille von
Chaumerive zuruͤck , mir dem taͤuſchenden Troſt-
gefuͤhl , als wuͤrde ich dort meine alte Welt wie-
derfinden ; meine Schwaͤche verhinderte mich aber
immer noch , Anſtalten dazu zu treffen . Auch
meine Mannon ſehnte ſich im Stillen zu den
harmloſen Taͤnzen unſres Doͤrfchens zuruͤck . An-
toine , der ehrliche Antoine , welcher ſchon ſo lange
im Dienſte unſers Hauſes geweſen , und mich noch
auf den Armen getragen hatte , betruͤbte ſich herz-
lich uͤber den Verluſt ſeines guten Herrn , und uͤber
meinen Schmerz . Er war es , welcher ploͤtzlich
meinem Schickſale eine unvorhergeſehene Wen-
dung gab . Ohne ihn waͤre ich in einigen Ta-
gen abgereiſt , waͤre vielleicht noch lange vergeſ-
ſen geblieben , und in einer andern Lage , anders
berathen , wuͤrde ich vielleicht einen anderen
Plan befolgt haben , als ihn mir die Umſtaͤnde
jetzt aufgedrungen . Du weißt , liebe Adele , wie
der ehrliche Alte , in den Tuillerien herumſchlen-
dernd , Dich und Deine Mutter erblickte , die
Schweſter ſeines theuern Herrn . Er war außer
ſich vor Freude . Durch ihn erfuhrt ihr meine
Anweſenheit , und wenig Minuten darauf hielt
euer Wagen vor unſrer Thuͤr . Jch in euren
Armen , welches Entzuͤcken fuͤr mein verwaiſtes
Herz ! Auch uͤberließ ich mich demſelben anfangs
mit Trunkenheit , bis ſich Wehmuth unſrer ge-
meinſchaftlich bemaͤchtigte . Nachdem wir lange
mit einander geweint und geklagt hatten , kuͤndigte
mir Deine Mutter an , daß ſie mich am folgenden
Morgen abholen wuͤrde , und daß ich in ihrem
Hotel wohnen ſollte . Jch verſprach bereit zu
ſeyn , ob ich gleich eine dunckle Abneigung dagegen
in mir ſpuͤrte . Meine guten Hausgenoſſen hoͤr-
ten mit Betruͤbniß von dieſer Veraͤndrung . Der
Glanz eurer Erſcheinung , und der Titel Graͤfinn ,
unter welchem Deine Mutter von mir zu ihnen
ſprach , hatte die armen Leute ganz ſchuͤchtern
gemacht . Es koſtete mir viele Muͤhe ſie zu uͤberzeu-
gen daß ich die alte Virginia ſey , und bleiben
wolle . Sie weinten alle recht herzlich , als ich
am andern Tage mit Deiner Mutter davon fuhr .
Jm Hotel angelangt , fuͤhrte mich deine Mut-
ter in ihr Kabinett , und nachdem ſie mich zaͤrtlich
umarmt , und mir ihre muͤtterliche Liebe zugeſichert
hatte , machte ſie mir bekannt , daß ſie mich
ihrem Gemahl , dem Herzoge , vorſtellen werde ,
mit welchem ſie ſchon meinetwegen geſprochen ,
und ihn zu meinem Vortheil geſtimmt habe . Jch
kann es Dir unmoͤglich beſchreiben , welchen wi-
drigen Eindruck dieſe fremde , vornehme Wendung
auf mich machte . Wie wurde mir aber erſt , als ſie
fortfuhr : Der Herzog weiß bloß im allgemeinen ,
daß dein Vater tod iſt , ich muß dich aber bitten ,
es ihm und Jedermann zu verhehlen , daß er , mit
den Waffen in der Hand , die Sache unſers Koͤ-
nigs bekaͤmpfend , geſtorben . Es koͤnnte uns nach-
theilig ſeyn in der Gunſt des Hofes , und wuͤrde dem
Herzog aͤußerſt mißfallen . Jch erſtarrte . O mein
Vater ! brach ich endlich ſchluchzend aus , kann
man von deiner Tochter verlangen , deine Vater-
landsliebe und deine heldenmuͤthige Aufopferung
zu verlaͤugnen ? Sey vernuͤnftig , Virginia , ſagte
Deine Mutter : die Dinge haben ſich ſehr veraͤn-
dert , du wirſt dich darein finden lernen , und
die eingeſogenen Vorurtheile ablegen . Mein
guter Bruder war , durch Umſtaͤnde , in eine
ſchlechte Sache verflochten worden , friede ſey
mit ſeiner Seele ! Gern will ich im Stillen
mit dir uͤber ſeinen Verluſt weinen ; aber ich
unterſage dir , mit muͤtterlichem Anſehn , mich
nicht oͤffentlich in Verlegenheit zu ſetzen . Jch
werde ſchweigen , wenn man mich nicht ausdruͤck-
lich fragt , ſagte ich entruͤſtet , und die mit Ruͤh-
rung begonnene Unterredung endete ziemlich lau .
Sobald gemeldet wurde , daß der Herzog ſicht-
bar ſey , wurde ich , von deiner Mutter begleitet ,
zu ihm in den Saal gefuͤhrt . Er empfing mich
recht artig , ſtellte ſich mir als das Haupt der
Familie , durch das Teſtament des Großoheims
vor , und verſicherte mich ſeines vaͤterlichen Schut-
zes . Er umging jede fruͤhere Beziehung , und
ſagte mir vieles ſchmeichelhafte uͤber ſein Ver-
gnuͤgen , mich in die große Welt einzufuͤhren ,
wo ich gewiß mit Erfolg auftreten wuͤrde .
Dann , fuͤgte er , ſich gegen deine Mutter wendend ,
mit Bedeutung , hinzu : Sie werden Sorge
tragen , daß unſre Nichte mit all dem Glanze
auftritt , welcher ihren Annehmlichkeiten und
unſerm Range gebuͤhrt . Jch liebe die trauri-
gen Farben nicht , fuhr er , mit einem Blick auf
mich , fort , ſie rauben den ſchoͤnen Wangen alles
Feuer . — Dann entließ er uns , mit einer hoͤf-
lichen Wendung . Ganz betaͤubt von dieſen be-
fremdenden Scenen kam ich auf mein Zimmer ,
wo Du mir in die Arme flogſt . Du warſt
die Alte , meine herzige Adele . Deine Liebko-
ſungen , deine heiteren Scherze beruhigten mein
empoͤrtes Gemuͤth . Dein Bruder Louis ließ
ſich melden , um die Bekanntſchaft ſeiner ſchoͤnen
Couſine ſo ſchnell als moͤglich zu machen . Du
warſt Zeuge , wie ſein Benehmen und ſeine Ma-
nieren mir auffielen , und lachteſt mehrmahls
laut auf , uͤber meine verlegene Befremdung .
Ja , man wirft im Auslande unſern Landsleuten
Frivolitaͤt und Leichtſinn vor , und wohl leider
nicht mit Unrecht , wie ich ſeit meinem Aufent-
halt in Paris mit Unwillen wahrgenommen habe ;
hier aber uͤberbot ein Auslaͤnder alle Muſter
welche ich bisher in dieſer Art geſehen . Wie
froh war ich , als ihn ſeine Vergnuͤgungen von
uns riſſen , ganz gegen ſeine Neigung , wie er
tauſend Mahl ſchwur . Jetzt fing ich an auf zu
athmen , und mich ein wenig in dieſer neuen
fremden Welt zu finden . Tauſend Stimmen
in meinem Jnnern riefen , daß ſie nimmer , nim-
mer die meinige werden koͤnne ; doch war ich
entſchloſſen , ſie naͤher ins Auge zu faſſen , und
reiflich zu erwaͤgen , was mir zu thun von-
noͤthen ſey . Wir verlebten nun unſre Tage
ganz angenehm , unter uns , indem wir uns durch
Muſik und Leſen aufheiterten . Deine Mutter war
meiſtens ſo guͤtig und libreich , wie in jenen
ſchoͤnen Tagen in meiner Provence . Mein Herz
neigte ſich wieder kindlich zu ihr ; als Du aber
in Deiner ſchauluſtigen Art , vorſchlugſt , einen na-
hen Spaziergang zu beſuchen , oder ins Theater
zu fahren , und ſie ſich weigerte , weil ich in Trauer
ſey , welches ich anfangs dankbar fuͤr zarte Scho-
nung hielt , jedoch ſie mir bald darauf mit einer
kleinen Verlegenheit , den Vorſchlag machte , ob ich
mich nicht wenigſtens weiß kleiden wolle , indem
die Tracht Aufſehn errege und ich ihr durch
deren Ablegung einen Gefallen erzeigen wuͤrde ,
da konnte ich mich nicht enthalten in groͤßter Lei-
denſchaft mit Hamlet auszurufen : O Himmel , ein
vernunftloſes Thier wuͤrde laͤnger getrauert ha-
ben ! Deine Mutter ſchwieg beſchaͤmt . Das Ver-
trauen war wieder vernichtet , obſchon es mir
am andern Tage vor Augen lag , daß ſie , gegen
ihr Gefuͤhl , nur nach der Vorſchrift deines Va-
ters , handle .
Der Herzog , vergib mir Adele daß es mir
nicht moͤglich iſt , Deinen Vater anders zu nen-
nen , er war mir fremd , kuͤndigte ſich mir als
ſolcher an , und wurde in eurer Familie ſelbſt , faſt
nicht anders genannt ; der Herzog welcher meh-
rere Tage auswaͤrts geſpeiſt hatte , erſchien naͤm-
lich bei der Mittagstafel . Bald bemerkte ich , daß
er oͤfters finſtere mißfaͤllige Blicke auf mich warf .
Nach aufgehobener Tafel naͤherte er ſich mir , und
noͤthigte mich in ein Fenſter zu treten . Warum
noch immer in dieſer Farbe , gegen welche ich
mich ſchon anfangs mißbilligend erklaͤrt habe ?
fragte er , mit gebietender Stimme . Die Zeit der
Trauer iſt noch nicht voruͤber , ſtotterte ich . Trauer
paßt nicht fuͤr dieſe Zeit ! ſagte er herriſch , waͤre
auch der Todte erſt geſtern begraben ; Trauer-
zeichen ſind zweideutig , und ſie ſollen , wenigſtens
in meinem Hauſe , nicht geſehen werden . Zudem
ſollen ſie am Montage der Prinzeſſinn — vorge-
ſtellt werden , bereiten ſie ſich gehoͤrig dazu vor .
Jch wollte etwas erwiedern , er ließ mich aber
nicht zu Worte kommen . Jch meine es gut
mit ihnen , Graͤſinn Nichte , fuhr er etwas mil-
der fort , aber ſie muͤſſen ſich zu fuͤgen wiſſen .
Er entfernte ſich aus dem Zimmer . Jch wankte
nach dem meinigen ; Deine Mutter folgte mir ,
und umarmte mich , mit einiger Ruͤhrung . Jch
haͤtte es dir gern erſpart , ſagte ſie , aber du
wollteſt meine Winke nicht verſtehen . Jch brach
in Thraͤnen aus . Beruhige dich , liebe Virginia ,
ſagte ſie , wir Weiber ſind ja ein Mahl zum ge-
horchen gebohren , gib dieſen kleinen Eigenſinn auf .
Eigenſinn ! o Himmel und Erde ! — Du kamſt
dazu und liebkoſeteſt mich mit Deiner gutmuͤthi-
gen Art , redeteſt mir ſo freundlich zu , daß ich am
Ende eure Friedensvorſchlaͤge annahm , mich ,
wenn ich außerhalb meines Zimmers erſchiene ,
bunt zu kleiden , und mich oͤffentlich und in Geſell-
ſchaft mit heiterem Geſichte zu zeigen . O , welch
ein Opfer brachte ich der bittenden Freundſchaft ,
und mit welcher Sehnſucht eilte ich in meine
Einſamkeit zuruͤck , um meine ſchwarzen Gewaͤn-
der anzulegen , und mich von ganzer Seele be-
truͤben zu koͤnnen ! Welch ein Wechſel fuͤr mich !
ich , die nie den Schein des Zwanges gefuͤhlt hatte ,
frei aufgewachſen war , wie das Reh des Wal-
des , nun umgarnt mit tauſend Netzen und noch
keinen Ausgang gewahrend !
Fuͤr den Augenblick gab ich der Nothwen-
digkeit nach , und ließ mich einfuͤhren in dieſe
fremde Welt . Jhr alle waret nun voll Beſorg-
niß fuͤr mein erſtes Auftreten , und eifrig be-
muͤht , mir Muth ein zu ſprechen . Jch mußte in-
nerlich laͤcheln , denn er fehlte mir nicht . Wohl
fuͤhlte ich Widerſtreben , aber keine Aengſtlich-
keit . Was euch imponirte ließ mich im Gleich-
gewicht . Auch ſchien man allgemein uͤberraſcht
von meiner ruhigen Beſonnenheit . Jch war
in den ſpiegelglatten Saͤlen des Hofes , unter
hoffaͤhige Leute , mit meinem ſicheren Gange ,
eine fremde Erſcheinung . Aber wie faſt immer
das Fremde Gluͤck macht , ſo wurde auch ich nicht
unguͤnſtig aufgenommen , ja es haͤtte vielleicht
nur bei mir geſtanden , zu einer gewiſſen Be-
ruͤhmtheit zu gelangen , wenigſtens unterhielt
mich Dein Bruder unaufhoͤrlich von dem glaͤn-
zenden Eindruck , welchen ich gemacht ; mir wurde
aber mein Gluͤck mit jedem Tage unertraͤglicher .
Es war mir gleich unmoͤglich die Maske der Un-
terwuͤrfigkeit vor zu nehmen , oder in Schmaͤhungen
gegen die verfloſſenen Zeiten einzuſtimmen . Die
ewig witzelnde , ſchaale Unterhaltung , welche , in
derſelben Viertelſtunde , vom Ball zur Politik ,
und von der neueſten Mode zur neueſten Mord-
that uͤberſpringt , war mir in tiefſter Seele zu-
wider .
Es war bei meinem wahrhaftigen Charak-
ter wohl nicht moͤglich , die Eindruͤcke ganz zu ver-
bergen welche ich in der Geſellſchaft empfing .
Einige unſrer Tiſchgenoſſen , um ſich , meiner Kaͤlte
wegen , an mir zu raͤchen , machten ſich das boshafte
Vergnuͤgen , mich oft in Verlegenheit zu ſetzen ,
indem ſie meine Meinung uͤber dieſe und jene
der neueſten Begebenheiten zu hoͤren wuͤnſchten .
Jch ſuchte mich zwar immer geſchickt heraus zu
wickeln , um weder meine eigene Meinung zu ver-
laͤugnen , noch der fremden wehe zu thun , aber
meine Maͤßigung machte die Angreifer nur kuͤh-
ner . Selbſt Dein Bruder geſellte ſich nicht ſel-
ten zu ihnen . Der Herzog warf , bei ſolchen
Vorfaͤllen , wuͤthende Blicke auf mich , und Deine
Mutter hielt mir in geheim lange Strafreden ,
welche mir wehe thaten , ohne mich zu uͤberzeu-
gen . Sie ging immer deutlicher mit dem Plane
gegen mich heraus , welchen ich ſchon ſeit eini-
ger Zeit geahndet hatte , mich an Louis zu ver-
maͤhlen.
maͤhlen . Du gehoͤrſt zu unſrer Familie , ſagte
ſie , und mußt deine Geſinnungen ganz nach den
unſrigen zu aͤndern ſuchen . Jch fuͤhlte mich
empoͤrt von dieſen anmaßenden Zumuthungen ,
und meine Erwiederungen mochten keine große
Unterwuͤrfigkeit ausdrucken . Man fing an , mich
immer haͤufiger zu ſchmaͤhen und zu kraͤnken ,
Dein Bruder nahm ein zuverſichtliches , herri-
ſches Betragen an . Er nannte mich oft ſeine
ſchoͤne Zukuͤnftige , und behandelte meine Pro-
teſtationen als Scherz . Dann hielt er uns ,
mit altkluger Miene , lange Vorleſungen uͤber die
Pflichten unſers Geſchlechts als Gattinnen , wel-
che mit meinen Begriffen ſehr wenig uͤbereinſtimm-
ten . Du lachteſt ihn geradezu aus , brachteſt ihn
aus der Faſſung , und mich zum laͤcheln ; mir war
aber das Ganze nichts weniger als laͤcherlich .
Jn den Stunden der Einſamkeit fing ich
ernſtlich an , darauf zu denken , mich dieſer
druͤckenden Lage zu entziehen . Nach Chau-
merive zuruͤck zu kehren , und dort , wenn
auch nicht gluͤcklich , doch ruhig zu leben ,
fand ich ſehr einfach . Jch waffnete mich mit
meinem ganzen Muth , um dieſen Entſchluß
Erſter Theil. [13]
dem Herzoge bekannt zu machen , nachdem Deine
Mutter ihn ſchon , als einen kindiſchen Einfall , auf-
genommen , und mir gerathen hatte , nicht weiter
daran zu denken . Jch ließ mich foͤrmlich beim
Herzoge melden . Ruhig trug ich ihm den Wunſch
vor , in den naͤchſten Tagen nach meiner Hei-
math abzureiſen . Er ſchwieg einen Augenblick
betroffen , dann antwortete er an ſich haltend :
„ ich denke , Graͤfinn , Sie haben kein andres , als
mein Haus . ‟ Jch werde es mit den dankbar-
ſten Empfindungen verlaſſen , erwiederte ich , aber
der Aufenthalt meiner Kindheit fordert mich
unwiderſtehlich zuruͤck . „ Es iſt Zeit dieſen ro-
mantiſchen Hang abzulegen ‟ — antwortete er —
„ich werde Sorge tragen daß ihr Jntereſſe dort
aufs beſte wahrgenommen werde ; ich werde ei-
nen ſicheren Geſchaͤftsmann dahin ſenden welcher
alles regulirt , und was ſie ſich etwa noch von
dort her wuͤnſchen , haben ſie nur die Guͤte zu
beſtimmen . ‟ Jch ſahe ihn waͤhrend einer kleinen
Pauſe mit großen Augen an , dann ſagte ich
beſcheiden , aber nachdruͤcklich : Chaumerive und
ſeine nachbarlichen Beſitzungen waren meines
Vaters rechtmaͤßiges Eigenthum , und ich bin
muͤndig . „ Die Toͤchter großer Familien ſind dieß
niemahls , ‟ erwiederte er , „ und ich bitte nicht zu
vergeſſen , daß ich die Ehre habe , das Haupt
der unſrigen zu ſeyn . ‟ Jhnen meine Achtung
zu bezeugen , Herr Herzog , legte ich Jhnen mei-
nen Entſchluß vor , ſagte ich mit vieler Ruhe .
„ Den ſie auch ohne meine Zuſtimmung ausfuͤhren
zu koͤnnen glauben ? ‟ — rief er zornig — „ aber ich
ſage ihnen , ſie werden es nicht wagen , meine
trotzige Republikanerinn ! mein Arm reicht weit ,
und dem Koͤnige muß daran liegen , daß der
Glanz ſeiner Getreuen , durch reiche Erbinnen ,
erhoͤhet werde , ich habe deßhalb ſchon Einleitun-
gen getroffen . Jhre Hand iſt meinem Sohne
beſtimmt , dieſes Buͤndniß ſtellt alle Parteien
zufrieden , und ihre Meinung iſt darin von kei-
nem Gewicht ; Toͤchter hoher Abkunft werden
immer nach den Geſetzen der Convenienz ver-
maͤhlt . ‟ O Gott ! ich bin nicht von hoher Abkunft ,
rief ich aus . „ Man wird einen Schleier uͤber die
Vergangenheit werfen ; ‟ erwiederte er — „ ſie wer-
den vom Hofe nur als die Enkelinn des Herzogs
von Montorin angeſehen werden , ſuchen ſie ſich
dieſer Gnade wuͤrdig zu machen , und vor allen
*
ſcheuen ſie meinen Zorn . ‟ Damit entließ er mich .
Jch kam ganz verſtoͤhrt in mein Zimmer zuruͤck ,
wo ein heftiger Thraͤnenſtrom meine gepreßte Bruſt
erleichterte . Deine Mutter erſchien bald darauf .
Ungluͤckliche , ſagte ſie , warum mußteſt du dir eine
ſo unangenehme Scene zuziehn , und um welcher
kindiſchen Grille willen ! Haͤtteſt du einen Augen-
blick nachgedacht , ſo wuͤrdeſt du ſelber eingeſehen ha-
ben , wie unſchicklich es ſey , allein nach Chaumerive
zu reiſen . Nach deiner Vermaͤhlung wird Louis
gewiß die Gefaͤlligkeit haben , dich auf einige
Wochen dahin zu fuͤhren . Sie ſetzen da einen
Fall liebe Tante , ſagte ich , welcher meiner Seele
ſehr fremd iſt . Fremd ? rief ſie , und warum ?
wenn ich bitten darf . Louis liebt dich , das wuß-
teſt du laͤngſt , und worauf koͤnnte ſich bei dir eine
Abneigung gegen ihn gruͤnden ? er iſt jung und
liebenswuͤrdig , er ſichert dir einen hohen Rang
in der Geſellſchaft ; uͤberdieß aber iſt dieſe Heirath
in der Familie ein Mahl beſchloſſen , und ich hoffe ,
daß du wenigſtens ſo viel Erziehung haben
wirſt , um zu wiſſen , daß du deiner Familie Gehor-
ſam ſchuldig biſt . Meine Aeltern welche ihn zu
fordern ein Recht hatten , haben ihn nie an mir
vermißt , antwortete ich gefaßt : aber gewiß wuͤr-
den dieſe theuren Aeltern niemahls uͤber meine
Hand verfuͤgt haben , ohne mein Herz zu Rathe
zu ziehen . Ja , ja , ſagte ſie , mein Bruder dachte
freilich etwas buͤrgerlich ; in unſerm Stande kann
aber davon die Rede nicht ſeyn . Jch will doch
nicht hoffen , daß dein Herz ſchon eingenommen iſt ?
etwa fuͤr einen kleinen Emporkoͤmmling von ehe-
mahls ? ich rathe dir , ihn in der Stille daraus
zu verbannen , es koͤnnte ihm leicht ein ſchlim-
mes Spiel machen . Jch ſchwieg , denn ob ich
gleich die verſteckte Drohung nicht zu fuͤrchten
hatte , ſo war mir Mucius Name , und meine
Liebe zu heilig , um ſie hier auszuſprechen .
Deine Mutter glaubte in meinem fortdauernden
Stillſchweigen und in meiner ruhiger werden-
den Miene ein guͤnſtiges Zeichen zu ſehn ; ſie
glaubte mich zum Nachgeben geſtimmt , und
verließ mich mit vieler Zufriedenheit , indem
ſie mich wiederholt umarmte , und mich ihre
gute Tochter ihre vernuͤnftige Virginia nannte —
ſie irrte ſehr . Jn meiner Seele arbeitete ſich
der Vorſatz empor , dieſe Feſſeln , um jeden Preis ,
zu brechen , und dieſer muthige Gedanke gab
mir Feſtigkeit und Ruhe .
Sobald ich allein war , fing ich an , uͤber Mit-
tel nachzudenken , durch welche ich zum Ziele ge-
langen koͤnnte , und ich befand mich in einem
ziemlichen Labyrinthe .
So ſehr ich auch von der Rechtmaͤßigkeit
meiner Forderung , und von meinem Anſpruch
auf Unabhaͤngigkeit uͤberzeugt war , ſo wußte ich
doch nicht , wie weit die Gewalt der Willkuͤhr
gehen koͤnnte . Jch hatte in meiner Kindheit
zu viel von Machtſpruͤchen , und Gewaltſtreichen
dieſer Art gehoͤrt und geleſen , als daß ſich mir
nicht die Moͤglichkeit haͤtte aufdringen ſollen ,
man werde zu einer Zeit , wo man eifrig dar-
nach zu ſtreben ſchien , das Alte ganz wieder her
zu ſtellen , ohne Bedenken , dazu wieder ſeine Zu-
flucht nehmen . Auf weſſen Schutz konnte ich hof-
fen ? meine Gegner waren von der ſiegenden , meine
Freunde von der unterdruͤckten Partei . Wen
ſollte ich mit dem gefahrvollen Amte meiner
Vertheidigung belaſten ? Verſperrte ich mir nicht
nicht , bei einem offenbaren Auflehnen , im un-
gluͤcklichen Falle , jeden Weg der Rettung ? Bald
begriff ich , mein einziges Heil liege nur in der
Flucht , und nur meinem eignen Muthe duͤrfe
ich mich vertrauen . Sobald ich hieruͤber mit
mir einig war , fuͤhlte ich mich beruhigt , und
erſchien wieder unter euch , mit meiner gewohn-
ten Heiterkeit , wodurch ihr alle auch uͤber mein
Vorhaben getaͤuſcht worden ſeyd . Jm ſtillen
fuhr ich jedoch zu beobachten fort , und bald
wurde mir klar , daß ich faſt wie eine Ge-
fangne gehuͤthet werde . Man hatte mir eine
zweite Kammerfrau gegeben , und meine Man-
non ziemlich uͤberfluͤſſig zu machen geſucht . An-
toine wurde mit Penſion , entlaſſen um nach ſei-
ner Heimath zuruͤck zu kehren , und kam um
mir zum Abſchiede die Hand zu kuͤſſen , Deine
Mutter war dabei zugegen . Aber vorbereitet
darauf , druͤckte ich ihm , indem ich ihm einige
Goldſtuͤcke zum Andenken ſchenkte , unvermerkt
einen kleinen Zettel in die Hand , worin ich ihm
befahl , bis auf weitere Nachricht , auf dem naͤch-
ſten Dorfe zu verweilen . Mit Behuthſam-
keit fand ich nun Gelegenheit , Mannon mein
mein Vorhaben zu entdecken . Die Schlauheit
des Maͤdchens glich ihrer Treue ; ſie war ſchnell
orientirt , und ſpielte ihre Rolle vortrefflich , denn
auch ſie ſehnte ſich eben ſo nach den Blumenufern
der Durance zuruͤck , als ich mich nach Freiheit .
Reichlich durch mich mit Geld verſohen , fing ſie
ihr Spiel damit an , daß ſie ſich ſehr ſchau-
und tanzluſtig ſtellte , und mit einigen Bedienten
der Nachbarſchaft die oͤffentlichen Oerter beſuchte ,
woruͤber ſie einige Mahl ſich meine Mißbilligung
und ernſtliche Verweiſe deiner Mutter zuzog .
So bald ſie ſich in dieſes Licht geſtellt hatte , nuͤtzte
ſie die angenommene Meinnng uͤber ihre Gaͤnge ,
um Antoine aufzuſuchen , und alles mit ihm zu
verabreden . Sie kam oft ſpaͤt nach Hauſe , wo-
bei ſie ſich immer von einem jungen Menſchen be-
gleiten ließ , und dann dem aufſchließenden Schwei-
zer ſchmeichelte , damit er ihr ſpaͤtes Ausbleiben ver-
ſchweigen ſolle . Jhn zu beſchwichtigen , brachte ſie
ihm mehrere Abende nach einander ein Flaͤſchchen
Madera mit , welches ihr , wie ſie ſagte , ihr Liebha-
ber verehrt habe , der die Aufſicht uͤber ſeines Herrn
Weinkeller fuͤhre ; der Wein ſey ihr zu hitzig meinte
ſie , der Schweizer fand ihn dagegen ſehr nach
ſeinen Geſchmack . Nachdem ſie ihn ſo einige Tage
ſicher gemacht hatte , miſchte ſie eines Abends
einen leichten Schlaftrunk unter den Wein , deſ-
ſen Wirkung ſchnell aber nur von kurzer Dauer
ſeyn ſollte , und erquickte beim Nachhauſekom-
men den wartenden . Jch war durch einige
Winke benachrichtiget und lag wachend in mei-
nem Bette . Schnell ſtand ich auf , warf nur
eine Unterkleidung uͤber , huͤllte mich in ein gro-
ßes Tuch , und ſo ſchlichen wir behuthſam die
Treppe hinab . Der Schweizer lag gluͤcklich im
tiefſten Schlaf , Mannon nahm den Schluͤſſel , oͤff-
nete , und wir erreichten gluͤcklich die Gaſſe . An der
naͤchſten Ecke erwartete uns Antoine mit einem
Wagen . Mannon hatte fuͤr Kleider , Antoine
fuͤr einen Paß , auf ſich und zwei Toͤchter lau-
tend , geſorgt . So kamen wir ohne Hinderniß
aus den Barrieren , und ich athmete tief auf ,
als die Steinmaſſe hinter mir lag , welche fuͤr
mich ein Gefaͤngniß geweſen war . Vergib mir ,
theure Adele , es that mir wohl wehe , Dich ver-
laſſen zu muͤſſen , aber das Gefuͤhl der Freiheit
uͤberwog jede andre Empfindung . Selbſt mei-
nen großen Verluſt und das Ungluͤck meines
Vaterlandes fuͤhlte ich in dieſen Augenblicken nur
ſchwach .
Wir eilten ſchnell vorwaͤrts , und goͤnnten
uns kaum die nothwendigſte Raſt . Doch glaubte
ich , ſelbſt bei dieſem Voruͤberfluge , zu bemerken ,
daß die Stirnen uͤberall tiefer gefurcht waren ,
als in Paris . Dieß that mir einiger Maßen wohl ;
denn haͤtte ich laͤnger in der Hauptſtadt gelebt ,
ich glaube ich haͤtte mein Volk haſſen gelernt .
Jch hatte mich ſehr davon entwoͤhnt , mich uͤber
etwas zu aͤußern , und beobachtete dieß auch
waͤhrend der Reiſe . Doch hoͤrte ich auch ei-
nen Poſtmeiſter waͤhrend des Pſerdewechſelns ,
ganz ohne Veranlaſſung ſagen : Hier kam er
durch als er von Frejus kam , um das Reich
zu retten ; damahls ahndete ich nicht , daß ich
ihm noch ein Mahl Pferde geben wuͤrde , um aus
ſeinem geretteten Reiche in die Verbannung zu
gehen . Die tiefbewegte Stimme des Mannes
erſchuͤtterte mich . Er ſtand an der Schwelle des
Greiſenalters ; weinend und ſchweigend reichte
ich ihm die Hand . O , mein Fraͤulein , ſagte er , in-
dem er ſie zwiſchen den ſeinigen druͤckte , ich habe
im Kampfe fuͤr das Vaterland drei Soͤhne ver-
loren , wackre Jungen , aber ich troͤſtete mich ,
denn Frankreich war groß und gluͤcklich . Soll all
das Blut , welches der Freiheit geopfert wurde ,
vergebens gefloſſen ſeyn ? Jch verbarg ſchluch-
zend das Geſicht , und zeigte mit der Hand gen
Himmel . Wohl , mein Fraͤulein , ſagte er , Gottes
Wege ſind nicht unſre Wege , und dem Sterb-
lichen geziemt Entſagung .
Hoch ſchlug mein Herz als ich den Ventoux
in weiter Ferne erblickte , noch hoͤher , als die
weißen Gemaͤuer von Chaumerive ſichtbar
wurden . Der Wagen fuhr mir zu langſam ,
ich verließ ihn , und flog mit Windeseile auf dem
Fußpfade dahin . Mir war als muͤßte ich all
die lieben Verlorenen wieder finden . Ach , ich
fand ſie nicht ! Aber ein treues Voͤlkchen fand
ich wieder , das mich mit ausſchweifender Freude
umarmte , fragte und hoͤrte , und dann theilneh-
mend mit mir weinte um meinen Vater und um
mein Vaterland . Erquickende Thraͤnen , welche
mein verarmtes Herz wieder an die Menſchheit
banden ! O haͤtte ich hier bleiben koͤnnen , ge-
trennt von der uͤbrigen Welt , und vergeſſen !
Aber dieß durfte ich nicht hoffen ; ſelbſt der Pfar-
rer , deſſen Rath ich einholte , fuͤrchtete fuͤr die
Sicherheit meines Aufenthalts , und ſah wenig-
ſtens viel Unruhe und Verdruß voraus . So
mußte ich denn mit ſchwerem Herzen mich los-
reißen von der Wiege meiner Kindheit . Wei-
nend beſuchte ich noch ein Mahl jedes Plaͤtzchen
der Erinnerung , kraͤnzte zum letzten Mahle das
Grab meiner Mutter , mit Sommerblumen , und
verſchloß mich dann in mein Zimmer , um mei-
nen Muth in der Einſamkeit zu ſtaͤrken . Mein
altes Bilderbuch fiel mir in die Angen , ich nahm
es mechaniſch heraus , und ſchlug es auf . Bald
traf ich auf Seenen , wie Athens und Roms
Helden ruhig in die Verbannung gingen , wie
das ganze Volk der Meſſenier , von dem ſtolzen
Sparta beſiegt , ſeine geliebte Heimath verließ ,
um an Siciliens Kuͤſte , und unter dem gluͤck-
lichen Himmel meiner Provonce , ſeine Freiheit
und ſeine Sitten zu retten . Klein und unbedeu-
tend erſchien mir mein eigenes Schickſal gegen
dieſe Beiſpiele ; ich war wieder die Alte , be-
ſonnen und ruhig . Jch packte das Wenige zu-
ſammen , was ich mit mir zu nehmen gedachte ,
und ließ eines Abends den Pfarrer bitten , mir
zu helfen , um meine Angelegenheiten zu ordnen .
Sobald es finſter geworden war , ging ich , in ſeiner
und Antoines Begleitung , zur Kapelle , wo mein
Vater , im ahndungsvollen Gefuͤhl der Zukunft
jenes Vermaͤchtniß nieder gelegt hatte . Wir zogen
das Kaͤſtchen aus ſeiner ſichern Verborgenheit ,
und der ehrliche Antoine trug es in mein Zim-
mer . Darauf kniete ich auf den Stufen des
Altars nieder , ſchmerzliche Erinnerungen dran-
gen auf mich ein , und meine Standhaftigkeit
wollte mich verlaſſen ; doch der ehrwuͤrdige Pfar-
rer ſtaͤrkte mich , durch die Hinweiſung auf eine
ewige Vorſicht , und ertheilte mir ſeinen Seegen .
Er fuͤhrte mich in mein Zimmer zuruͤck , und ,
waͤhrend Antoine Pferde beſorgte , und den Wa-
gen packte , beauftragte ich ihn mit allen den An-
denken , welche ich fuͤr meine Getreuen zuruͤck
ließ , dann trennten wir uns weinend von ein-
ander . Er war ſeit meiner Kindheit ein treuer
Freund meines Hauſes geweſen ; mir war , als
ob ich in ihm einen zweiten Vater verloͤre .
Aber ihn hielt die Pflicht ſeines Amtes zuruͤck ,
mich trieb die Pflicht der Selbſterhaltung hin-
weg , wenigſtens der Erhaltung meines beſſeren
Selbſt . — Jn finſtrer Nacht reiſte ich ab ; es
waͤre mir zu ſchwer geworden , mich von der wei-
nenden Menge zu trennen , ja unertraͤglich faſt ,
die geliebten Gegenden ſo allmaͤhlig entſchwin-
den zu ſehen .
Jch reiſte ganz allein mit Antoine , welcher
mich bis Marſeille geleiten ſollte . Gern waͤre
er mir auch weiter gefolgt , aber ich mochte ihn
nicht von ſeinen Kindern trennen , ſo wie ich denn
auch meine gute Mannon unmoͤglich ihren Aeltern
entziehen konnte , und ihr deßhalb das weitere
meines Vorhabens verſchwieg . Jch ließ ihr eine
gute Ausſteuer zuruͤck , welche ſie jedoch bei ihrer
Anhaͤnglichkeit , nur wenig getroͤſtet haben wird .
Bei meiner Ankunft in Marſeille erkundigte
ich mich ſogleich im Hafen , und fand ein ſegel-
fertiges amerikaniſches Schiff , welches nur auf den
erſten guͤnſtigen Wind wartete , um die Anker zu
lichten . Der Kapitaͤn , aus Philadelphia , hatte eine
von den einnehmenden Phiſiognomien , welche
ſogleich Vertrauen erwecken . Jch trug ihm mei-
nen Wunſch vor , und er war ſogleich bereit-
willig , mir einen bequemen Platz in der Kajuͤte ein-
zuraͤumen , ja er war ſo lebhaft beſorgt fuͤr mich ,
daß er in mich drang , ſein Schiff ſofort zu be-
ſteigen , um jede Nachfrage zu vereiteln . Jch ließ
alſo meine Sachen an Bord bringen , und trennte
mich von meinem treuen Antoine , welchem ich ein
ſorgenfreies Alter zugeſichert hatte , mit der ſchmerz-
lichſten Ruͤhrung , und mit der Bitte auf einem
weiten Umwege in unſre Heimath zuruͤck zu
kehren .
Nun war ich allein , zum erſten Mahle ganz
allein , in fremder Umgebung . Kein Gegenſtand ,
kein Geſicht erinnerte mich an eine bekannte Ver-
gangenheit . Der Eindruck war neu , und erfuͤllte
mich mit inniger Wehmuth . Alles , was ich verlaſ-
ſen hatte , was mir war entriſſen worden , verlor
ich erſt in dieſen Augenblicken . Jch bedurfte eines
Weſens , in deſſen treue Bruſt ich meine Klagen
ausſtroͤmen konnte . Du warſt mir dieſe ge-
liebte treue Seele . Gewiß wirſt Du dieſe Blaͤt-
ter , wenn ſie zu Dir gelangen , nicht ohne das
regeſte Mitgefuͤhl leſen . Sie enthalten meine
Rechtfertigung wenn ich deren bei Dir bedarf .
Auch bei deiner Mutter werden ſie mich ent-
ſchuldigen , wie ich zu hoffen wage . Ungern
nehme ihren Zorn mit in die neue Welt hinuͤber ,
ſie wird mir ewig die geliebte Schweſter mei-
nes theuern Vaters bleiben . Bringe ihr mein
zaͤrtlichſtes Lebewohl und ſage ihr , Virginia ſey
nur ungluͤcklich , nicht undankbar . — Was den
Herzog betrifft , fuͤr den bin ich tod , und die
Erbſchaft meiner Beſitzungen , wird ihn hoffent-
lich uͤber mein fruͤhes Ende troͤſten . Louis hat
mich gewiß ſchon laͤngſt vergeſſen . Seine Nei-
gung war wohl nur ein Kind der Konvenienz ;
er erreicht jetzt ſeinen Wunſch , ohne die laͤſtige
Zugabe , welche ihm doch vielleicht oft fuͤhlbar
geworden waͤre , und kann durch eine neue ,
glaͤnzende Verbindung , ſeinen eigenen Glanz noch
um vieles erhoͤhen .
Euch gehoͤrt nun Chaumerive . Ach , Adele , ſey
Du der Schutzgeiſt meiner verlaſſenen Freunde !
Du biſt ja auch unter ihnen gluͤcklich geweſen .
Deiner guten Mutter empfehle ich ſie gleichfalls , es
waren ja die Kinder , die Freunde ihres wahr-
haft edlen Bruders , deſſen Nahme noch von den
Enkeln,
Enkeln , mit Liebe genannt werden wird . O , meine
Adele , wenn du in den ſchoͤnen Sommermonden
durch dieſe lieblichen Thaͤler wandelſt , ſo gedenke
meiner ! Sprich mit meinen Getreuen oft von
mir , und bringe ihnen meinen Gruß . Wenn
du in der Geißblattlaube ruheſt und die tanzende
Durance betrachteſt , und es liſpelt ein leiſes Luͤft-
chen durch die Bluͤthen , ſo denke , es iſt die
Stimme deiner Virginia . Jhr Geiſt wird dich
immer umſchweben ; ja aus den Gefilden der
Seligen , wuͤrde er noch zu dieſen lieben Gegen-
den zuruͤck kehren .
Dieſen langen Brief Dir zu ſchreiben , mein
Leben noch ein Mahl an mir voruͤber gehen
zu laſſen war mir Beduͤrfniß . Aber nur
in ſeinen Hauptmomenten habe ich es Dir
dargeſtellt , nur die Grundzuͤge angegeben . Jch
habe vermieden , manche Gegenſtaͤnde und Er-
eigniſſe zu beruͤhrern , weil ſie mit fremden
Perſonen in Beziehung ſtanden . Jn einer Zeit ,
wie die unſrige , muß man ſehr behuthſam ſeyn ,
um niemand der Verfolgung auszuſetzen . Nun
aber habe ich abgeſchloſſen mit dem alten Leben ,
Erſter Theil. [14]
ein neues Daſeyn beginnt fuͤr mich ; und wie
der Sterbende , all den irdiſchen Tand hinter
ſich laͤßt , ſo laſſe ich Europas verworrene An-
gelegenheiten hinter mir . Jch hoffe kuͤnftig nur
darauf zuruͤck zu ſchauen , wie ein abgeſchiedener
Geiſt auf die Welthaͤndel , welche ihn nicht
mehr beruͤhren .
Ueber meine Reiſe will ich Dir nun noch einiges
mittheilen . — Von dem Schauſpiel , welches das
Meer gewaͤhrt , brauche ich Dir nichts zu ſagen ,
Du haſt von Hamburg aus einen kleinen Be-
griff davon , obſchon das Weltmeer viel ergrei-
fender , als die Nordſee iſt . Auch die Fahrt auf
demſelben ſoll angenehmer ſeyn , wie Seefahrer
verſichern ; die Wellen brechen ſich nicht ſo
kurz , und das Schwanken des Fahrzeuges iſt
weniger beſchwerlich . Dieſem Umſtande muß ich
es wohl mit zuſchreiben , daß ich gar nichts ,
von der Seekrankheit empfunden habe , welche
Du mir ſo fuͤrchterlich geſchildert haſt . Auch trat
ich ihr mit ſtarkem Willen entgegen , brachte
meine ganze Zeit , in den erſten Tagen , auf dem
Verdeck zu , nahm zweckmaͤßige Nahrungsmittel ,
und vermied , die von dem Uebel ergriffenen Paſſa-
giere zu ſehn . So blieb ich geſund , und erhielt mir
den Muth deſſen ich nur zu ſehr bedurfte . Nach
und nach , befreundete ich mich mit der Equipage ,
und Jedermann fing an , ſich fuͤr das verlaſſene
Maͤdchen zu intereſſiren . Der Kapitaͤn beſon-
ders , beweiſt mir die herzlichſte Freundſchaft ,
die nahe an Zaͤrtlichkeit graͤnzt . Er heißt Elli-
ſon ; ſein Vater , ein Kaufmann dieſes Nah-
mens , iſt Chef eines anſehnlichen Handlungshau-
ſes , in Philadelphia . Elliſon hat mir das Verſpre-
chen abgewonnen , bei ſeinen Aeltern zu wohnen ;
dorthin , an dieß bekannte Haus , kannſt Du
Deine Briefe ſchicken , wenn Du es moͤglich
machſt , mir zu ſchreiben . Elliſon iſt groß und
ſchoͤn gebauet , ſein blaues Auge blitzt von
Feuer , ſeine Mutterſprache iſt die engliſche ,
doch ſpricht er auch fertig franzoͤſiſch ; in beiden
Sprachen druckt er ſich kurz , und kraͤftig aus ,
und iſt ſehr unterhaltend , und belehrend , ohne
eben geſpraͤchig zu ſeyn . Seine Geſellſchaft hilft
mir vorzuͤglich die Laͤnge der Seereiſe verkuͤrzen
So oft ich meine Kammer verlaſſe , wo ich
auf das zierlichſte eingerichtet bin , und taͤg-
lich einige Stunden mit ſchreiben zubringe , hat
ſeine Aufmerkſamkeit , mir ein kleines Feſt berei-
tet . Ein ſchmackhaftes Mahl , ein Spiel , ein
Fiſchfang , ein Matroſentanz und mehr derglei-
chen wechſeln mit einander ab . Auch kleine
Konzerte geben wir , wobei Deine Freundinn
mit ihrem Harfenſpiel und ihrer Stimme , viel
unverdiente Ehre einerntet . Unſre Reiſegeſell-
ſchaft beſteht aus zwei Kaufleuten aus New-
York , einem jungen Mahler aus der Schweiz ,
und zwei Florentinerinnen , Mutter und Toch-
ter , welche dem Manne und Vater nachreiſen ,
der ſich in der Havannah etablirt hat , alles
freiſinnige , wenigſtens tolerante Menſchen .
Waͤhrend der ganzen Reiſe , gab es nicht eine ein-
zige politiſche Streitigkeit ; unſrere Tage floſ-
ſen ſchnell und angenehm dahin . Auf St. He-
lena nahmen wir Erfriſchungen ein . Ein origi-
neller Felſen mitten in der großen Waſſerwuͤſte .
Jch erging mich in ſeinen uͤppigen Thaͤlern , und
traͤumte mir die Moͤglichkeit , mit einer kleinen aus-
erwaͤhlten Geſellſchaft von Freunden , abgeſchieden
von der ganzen Welt , hier gluͤcklich zu leben .
Es moͤchte wohl thunlich ſeyn , die ſchon ſchwierige
Landung , auf immer unmoͤglich zu machen .
Unweit dieſer Jnſel hatten wir das erha-
bene Schauſpiel eines Seeſturms , fuͤr mich
hoͤchſt wichtig und erwuͤnſcht . Jch ſehe Dich
den Kopf ſchuͤtteln , meine zarte , furchtſame Adele ,
aber mir iſt nun ein Mahl dieſe Freude an gro-
ßen wilden Naturbegebenheiten , angebohren .
Schon als kleines Kind freute ich mich wenn
die Durance aus ihren Ufern brach , und bey je-
dem Gewitter nahm mich mein Vater mit hin-
aus , waͤhrend die Mutter ſich aͤngſtlich verbarg .
Er machte mich aufmerkſam auf die Schoͤnheit ,
wie auf den Segen dieſer Erſcheinung , und
zeigte mir die Zufaͤlligkeit und ſeltene Gefahr des
Blitzes , wie er uͤberhaupt , mich es als laͤcher-
lich anſehen lehrte , immer die Gefahren des Le-
bens zu bedenken und zu vermeiden . So ſaß
ich als Kind , ruhig unter meinem Platanus ,
wenn der Donner uͤber mir krachte . Es ſtehen
ja hunderte dieſer Baͤume rings um dieſen ,
dachte ich , warum ſollte der Strahl gerade ihn
treffen ? und thut er es , ſo war es mir be-
ſtimmt , und er koͤnnte mich eben ſo leicht im
Bette toͤdten . — Jetzt freute ich mich der hoch
thuͤrmenden Waſſerberge , des heulenden Or-
kanes , der Behendigkeit unſerer Matroſen , des
verdoppelten Lebens um mich her , und ich legte
mich am Abend , ſo ruhig in meine Hangmatte
nieder als ſonſt zu Bett . War ich nicht in der Hand
Gottes , wie immer und uͤberall ? Was zitterſt
Du Adele ? biſt Du denn ſicherer auf dem feſten
Lande ? O nein . Jhr alle ſteht auf einem
gluthſchwangern Vulkane , traue ſeiner Stille
nicht , er kann ſich in jedem Augenblicke oͤff-
nen , und euch alle in ſein Flammenmeer hinunter
ſchlingen . Jſt ein Schiffbruch fuͤrchterlicher ?
Verſchlaͤnge mich der Ocean , ſo waͤre mei-
ner gezaͤhlten Tage letzter abgelaufen . Wuͤrfe
mich eine freundliche Welle an das Ufer , ſo
waͤre mir ja der Guͤter hoͤchſtes , das Leben , und
mein friſcher Muth gerettet ; denn glaube nicht ,
daß ich um die verſunkenen Schaͤtze trauern
wuͤrde . Der Jnhalt meines Kaͤſtchens iſt nicht
die Baſis meiner Sicherheit , mein eigner Jn-
halt iſt es . Vier Sprachen , Muſik und andre
Fruͤchte einer ſorgfaͤltigen Bildung , ſichern mir
ein bequemes Fortkommen in der vornehmen
Welt , in der buͤrgerlichen , manche Geſchicklich-
keit , welche außer Europa noch neu ſeyn duͤrfte ,
als die italieniſche Strohflechterei , die Perlwe-
berei , u. ſ. w. Und fuͤr die laͤndliche Verhaͤlt-
niſſe habe ich in den letzten Jahren ſo viel
Kenntniſſe , und Fertigkeiten erworben , um uͤber-
all , wo nicht belehrend , doch nuͤtzlich zu ſeyn .
Mehr als dieß , ſichert mich meine Anſicht von
dem Leben und ſeinen Verhaͤltniſſen . Fuͤr mich
gibt es keinen Standesunterſchied , und ich kann
auf jedem Platze zufrieden leben , wo ich nur im
Jnneren ich ſelber bleiben darf .
Da ſind wir nun bis nahe an das Ziel unſrer
Reiſe gelangt . Die Kuͤſte der neuen Welt , liegt
ſchon in blauer Ferne vor uns . Ein duͤnner Ne-
belſchleier iſt daruͤber gebreitet , es iſt der Schleier
meiner Zukunft . Mit hochklopfendem Herzen
blicke ich dahin , was birgt er mir ? Zu fuͤrch-
ten habe ich nichts , denn ich ſtehe allein . Wer
nichts zu verlieren hat , kann nur gewinnen in
dem ewigen Wechſelſpiele des Lebens .
Aber was iſt zu gewinnen , wenn man
nichts zu wuͤnſchen weiß ? Elliſon ſteht neben
mir auf dem Verdeck , und betrachtet mich mit
gluͤhenden Blicken , doch mein Auge wechſelt
ruhig , zwiſchen dem Anblick der blauen Berge ,
und der raſchen Stroͤmung des Delaware , an deſ-
ſen Muͤndung wir Anker geworfen haben . Ein
Theil unſrer Reiſegeſellſchaft wird uns hier verlaſ-
ſen , wir aber ſteuern laͤngs den Kuͤſten hin , um in
die Bay zu gelangen , welche hinauf nach Phi-
ladelphia fuͤhrt . Von dort her ſchreibe ich Dir
wieder . Fuͤr jetzt lebe wohl . Jetzt will ich ,
ohne Unterbrechung und Stoͤrung , die neuen
Eindruͤcke in mir aufnehmen , welche mich um-
ringen und erwarten . Pſyche landet an Ache-
ron ; wird ſie die Lethe finden ? Gewiß ! Und
Alles will ſie hineintauchen in die dunklen Wel-
len , nur nicht die Bilder ihrer Lieben , und
nicht Dein Bild , meine traute Adele . Bewahre
Du das meinige , und verſuche , mir zu ſchrei-
ben , Lebe wohl ! Lebe gluͤcklich ! Lebt Alle wohl !
Und Du mein Frankreich ſey gluͤcklich ! Tau-
ſend , tauſend Lebewohl von deiner
Virginia .
Ende des erſten Theils .