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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
Ich erläutere diesen wichtigen Punkt an einem hervorragenden
Beispiel. Die Ableitung der Sprache, der Sitten, des Rechts aus
verstandesmäßiger Erfindung hat lange auch die positiven Wissen-
schaften dieser Systeme beherrscht; diese psychologische Theorie
wurde abgelöst durch die großartige Anschauung eines unbewußt
in der Weise des künstlerischen Genius schaffenden Volksgeistes,
eines organischen Wachsthums seiner Hauptlebensäußerungen. Diese
Theorie, getragen durch die metaphysische Formel eines unbewußt
schaffenden Weltgeistes, verkannte aber, mit derselben psychologischen
Einseitigkeit als jene ältere, den Unterschied zwischen den Schöpfungen,
welche auf einem gesteigerten Vermögen der Anschauung beruhen,
und denen, welche die harte Arbeit des Verstandes und die Be-
rechnung hervorbringt. Jene wirkt unbewußt in der gesetzmäßigen
Entfaltung ihrer Bilder, wie man dies schon an den von Johannes
Müller zuerst aufgedeckten elementaren Processen studiren kann:
von psychologischen Untersuchungen in dieser Richtung wird das
Verständniß der Gestaltungen im System der Kunst mitbedingt 1).
Verstand, der in Begriffen, Formeln und Institutionen arbeitet, ist
anderer Art. So hat Ihering den Nachweis unternommen, daß
die Begriffe und Formeln des älteren römischen Rechts das Er-
gebniß bewußter, verstandesmäßig geschulter juristischer Kunst sind,
harter Arbeit juristischen Denkens, welcher Vorgang freilich nicht
in seiner ursprünglichen flüssigen Gestalt erhalten ist, sondern "ob-
jektivirt und comprimirt auf kleinstem Raume, d. h. in Gestalt
von Rechtsbegriffen". Die juristische Methode als die des zer-
legenden Verstandes, gegenüber ihrem Material, den realen Lebens-
verhältnissen, wird von Ihering zuerst an der Struktur des älteren
römischen Processes und des Rechtsgeschäftes aufgezeigt, alsdann
an der Struktur der materiellen Rechtsbegriffe dieser älteren

1) Joh. Müller zuerst in seiner Schrift über die phantastischen Gesichts-
erscheinungen. Coblenz. 1826. Ich habe einen Versuch gemacht, die Ein-
bildungskraft des Dichters durch eine Verknüpfung der historischen mit den
psychologischen und psychophysischen Thatsachen aufzuklären: über die Ein-
bildungskraft der Dichter, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissen-
schaft. Bd. X, 1878. S. 42--104.

Erſtes einleitendes Buch.
Ich erläutere dieſen wichtigen Punkt an einem hervorragenden
Beiſpiel. Die Ableitung der Sprache, der Sitten, des Rechts aus
verſtandesmäßiger Erfindung hat lange auch die poſitiven Wiſſen-
ſchaften dieſer Syſteme beherrſcht; dieſe pſychologiſche Theorie
wurde abgelöſt durch die großartige Anſchauung eines unbewußt
in der Weiſe des künſtleriſchen Genius ſchaffenden Volksgeiſtes,
eines organiſchen Wachsthums ſeiner Hauptlebensäußerungen. Dieſe
Theorie, getragen durch die metaphyſiſche Formel eines unbewußt
ſchaffenden Weltgeiſtes, verkannte aber, mit derſelben pſychologiſchen
Einſeitigkeit als jene ältere, den Unterſchied zwiſchen den Schöpfungen,
welche auf einem geſteigerten Vermögen der Anſchauung beruhen,
und denen, welche die harte Arbeit des Verſtandes und die Be-
rechnung hervorbringt. Jene wirkt unbewußt in der geſetzmäßigen
Entfaltung ihrer Bilder, wie man dies ſchon an den von Johannes
Müller zuerſt aufgedeckten elementaren Proceſſen ſtudiren kann:
von pſychologiſchen Unterſuchungen in dieſer Richtung wird das
Verſtändniß der Geſtaltungen im Syſtem der Kunſt mitbedingt 1).
Verſtand, der in Begriffen, Formeln und Inſtitutionen arbeitet, iſt
anderer Art. So hat Ihering den Nachweis unternommen, daß
die Begriffe und Formeln des älteren römiſchen Rechts das Er-
gebniß bewußter, verſtandesmäßig geſchulter juriſtiſcher Kunſt ſind,
harter Arbeit juriſtiſchen Denkens, welcher Vorgang freilich nicht
in ſeiner urſprünglichen flüſſigen Geſtalt erhalten iſt, ſondern „ob-
jektivirt und comprimirt auf kleinſtem Raume, d. h. in Geſtalt
von Rechtsbegriffen“. Die juriſtiſche Methode als die des zer-
legenden Verſtandes, gegenüber ihrem Material, den realen Lebens-
verhältniſſen, wird von Ihering zuerſt an der Struktur des älteren
römiſchen Proceſſes und des Rechtsgeſchäftes aufgezeigt, alsdann
an der Struktur der materiellen Rechtsbegriffe dieſer älteren

1) Joh. Müller zuerſt in ſeiner Schrift über die phantaſtiſchen Geſichts-
erſcheinungen. Coblenz. 1826. Ich habe einen Verſuch gemacht, die Ein-
bildungskraft des Dichters durch eine Verknüpfung der hiſtoriſchen mit den
pſychologiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen aufzuklären: über die Ein-
bildungskraft der Dichter, Zeitſchrift für Völkerpſychologie und Sprachwiſſen-
ſchaft. Bd. X, 1878. S. 42—104.
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[74/0097] Erſtes einleitendes Buch. Ich erläutere dieſen wichtigen Punkt an einem hervorragenden Beiſpiel. Die Ableitung der Sprache, der Sitten, des Rechts aus verſtandesmäßiger Erfindung hat lange auch die poſitiven Wiſſen- ſchaften dieſer Syſteme beherrſcht; dieſe pſychologiſche Theorie wurde abgelöſt durch die großartige Anſchauung eines unbewußt in der Weiſe des künſtleriſchen Genius ſchaffenden Volksgeiſtes, eines organiſchen Wachsthums ſeiner Hauptlebensäußerungen. Dieſe Theorie, getragen durch die metaphyſiſche Formel eines unbewußt ſchaffenden Weltgeiſtes, verkannte aber, mit derſelben pſychologiſchen Einſeitigkeit als jene ältere, den Unterſchied zwiſchen den Schöpfungen, welche auf einem geſteigerten Vermögen der Anſchauung beruhen, und denen, welche die harte Arbeit des Verſtandes und die Be- rechnung hervorbringt. Jene wirkt unbewußt in der geſetzmäßigen Entfaltung ihrer Bilder, wie man dies ſchon an den von Johannes Müller zuerſt aufgedeckten elementaren Proceſſen ſtudiren kann: von pſychologiſchen Unterſuchungen in dieſer Richtung wird das Verſtändniß der Geſtaltungen im Syſtem der Kunſt mitbedingt 1). Verſtand, der in Begriffen, Formeln und Inſtitutionen arbeitet, iſt anderer Art. So hat Ihering den Nachweis unternommen, daß die Begriffe und Formeln des älteren römiſchen Rechts das Er- gebniß bewußter, verſtandesmäßig geſchulter juriſtiſcher Kunſt ſind, harter Arbeit juriſtiſchen Denkens, welcher Vorgang freilich nicht in ſeiner urſprünglichen flüſſigen Geſtalt erhalten iſt, ſondern „ob- jektivirt und comprimirt auf kleinſtem Raume, d. h. in Geſtalt von Rechtsbegriffen“. Die juriſtiſche Methode als die des zer- legenden Verſtandes, gegenüber ihrem Material, den realen Lebens- verhältniſſen, wird von Ihering zuerſt an der Struktur des älteren römiſchen Proceſſes und des Rechtsgeſchäftes aufgezeigt, alsdann an der Struktur der materiellen Rechtsbegriffe dieſer älteren 1) Joh. Müller zuerſt in ſeiner Schrift über die phantaſtiſchen Geſichts- erſcheinungen. Coblenz. 1826. Ich habe einen Verſuch gemacht, die Ein- bildungskraft des Dichters durch eine Verknüpfung der hiſtoriſchen mit den pſychologiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen aufzuklären: über die Ein- bildungskraft der Dichter, Zeitſchrift für Völkerpſychologie und Sprachwiſſen- ſchaft. Bd. X, 1878. S. 42—104.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/97>, abgerufen am 24.11.2024.