römischen Jurisprudenz. Faßt man dieses Problem für das System des Rechts allgemein und vergleichend, so kann die Mit- wirkung der Psychologie nicht entbehrt werden, und Ihering selber hat, indem er von seinem Geist des römischen Rechts zu dem Werke über den Zweck im Recht vorandrang und den Nachweis unternahm, daß "der Zweck die Grundlage des ganzen Rechts- systems sei", sich entschließen müssen, "auf seinem Gebiet Philo- sophie zu treiben" d. h. eine psychologische Grundlegung zu suchen.
Diese einzelnen Systeme und ihr Zusammenhang im Leben der Gesellschaft können nur in dem Zusammenhang der Unter- suchungen selber, an deren Eingang wir uns befinden, aufgefunden werden. Inzwischen stehen dieselben vor der Betrachtung wie anschauliche mächtige objektive Thatsachen. Der menschliche Geist hat sie zu solchen gestaltet, bevor er sie wissenschaftlich be- trachtet hat. Es giebt ein Stadium in der Entwicklung dieser Systeme, in welchem das theoretische Nachdenken von dem prak- tischen Wirken und Bilden noch ungeschieden ist. So war der- selbe Verstand, welcher sich später der bloß theoretischen Begrün- dung und Erklärung des Rechts, des wirthschaftlichen Lebens zuwandte, zunächst mit der Gestaltung dieser Systeme beschäftigt. Einige unter diesen mächtigen Realitäten (als solche erscheinen sie wenigstens der wissenschaftlichen Einbildungskraft), wie die Religion und das Recht, haben sich zu sehr umfangreichen Systemen von Wissenschaften ausgebildet.
So viel ich sehe, scheint nur die Betrachtung der Gebiete des Rechts und der Sittlichkeit Schwierigkeiten darbieten zu können, wenn man die hier dargelegte Auffassung von Grundsystemen der Gesellschaft auf den Bestand der positiven Wissenschaften des Geistes anwendet. -- Diese Schwierigkeiten sind in Bezug auf das Recht ganz andere als in Bezug auf die Sittlichkeit und sie sind in dem Vorhergehenden aufzulösen versucht worden. Die Wissen- schaften des Rechts können dem Entwickelten zufolge von denen der äußeren Organisation der Gesellschaft nur in einer unvoll- kommenen Weise getrennt werden; denn in dem Recht ist der Charakter eines Systems der Kultur von dem eines Bestandtheils
Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur.
römiſchen Jurisprudenz. Faßt man dieſes Problem für das Syſtem des Rechts allgemein und vergleichend, ſo kann die Mit- wirkung der Pſychologie nicht entbehrt werden, und Ihering ſelber hat, indem er von ſeinem Geiſt des römiſchen Rechts zu dem Werke über den Zweck im Recht vorandrang und den Nachweis unternahm, daß „der Zweck die Grundlage des ganzen Rechts- ſyſtems ſei“, ſich entſchließen müſſen, „auf ſeinem Gebiet Philo- ſophie zu treiben“ d. h. eine pſychologiſche Grundlegung zu ſuchen.
Dieſe einzelnen Syſteme und ihr Zuſammenhang im Leben der Geſellſchaft können nur in dem Zuſammenhang der Unter- ſuchungen ſelber, an deren Eingang wir uns befinden, aufgefunden werden. Inzwiſchen ſtehen dieſelben vor der Betrachtung wie anſchauliche mächtige objektive Thatſachen. Der menſchliche Geiſt hat ſie zu ſolchen geſtaltet, bevor er ſie wiſſenſchaftlich be- trachtet hat. Es giebt ein Stadium in der Entwicklung dieſer Syſteme, in welchem das theoretiſche Nachdenken von dem prak- tiſchen Wirken und Bilden noch ungeſchieden iſt. So war der- ſelbe Verſtand, welcher ſich ſpäter der bloß theoretiſchen Begrün- dung und Erklärung des Rechts, des wirthſchaftlichen Lebens zuwandte, zunächſt mit der Geſtaltung dieſer Syſteme beſchäftigt. Einige unter dieſen mächtigen Realitäten (als ſolche erſcheinen ſie wenigſtens der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft), wie die Religion und das Recht, haben ſich zu ſehr umfangreichen Syſtemen von Wiſſenſchaften ausgebildet.
So viel ich ſehe, ſcheint nur die Betrachtung der Gebiete des Rechts und der Sittlichkeit Schwierigkeiten darbieten zu können, wenn man die hier dargelegte Auffaſſung von Grundſyſtemen der Geſellſchaft auf den Beſtand der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes anwendet. — Dieſe Schwierigkeiten ſind in Bezug auf das Recht ganz andere als in Bezug auf die Sittlichkeit und ſie ſind in dem Vorhergehenden aufzulöſen verſucht worden. Die Wiſſen- ſchaften des Rechts können dem Entwickelten zufolge von denen der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nur in einer unvoll- kommenen Weiſe getrennt werden; denn in dem Recht iſt der Charakter eines Syſtems der Kultur von dem eines Beſtandtheils
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Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur.
römiſchen Jurisprudenz. Faßt man dieſes Problem für das
Syſtem des Rechts allgemein und vergleichend, ſo kann die Mit-
wirkung der Pſychologie nicht entbehrt werden, und Ihering ſelber
hat, indem er von ſeinem Geiſt des römiſchen Rechts zu dem
Werke über den Zweck im Recht vorandrang und den Nachweis
unternahm, daß „der Zweck die Grundlage des ganzen Rechts-
ſyſtems ſei“, ſich entſchließen müſſen, „auf ſeinem Gebiet Philo-
ſophie zu treiben“ d. h. eine pſychologiſche Grundlegung zu ſuchen.
Dieſe einzelnen Syſteme und ihr Zuſammenhang im Leben
der Geſellſchaft können nur in dem Zuſammenhang der Unter-
ſuchungen ſelber, an deren Eingang wir uns befinden, aufgefunden
werden. Inzwiſchen ſtehen dieſelben vor der Betrachtung wie
anſchauliche mächtige objektive Thatſachen. Der menſchliche Geiſt
hat ſie zu ſolchen geſtaltet, bevor er ſie wiſſenſchaftlich be-
trachtet hat. Es giebt ein Stadium in der Entwicklung dieſer
Syſteme, in welchem das theoretiſche Nachdenken von dem prak-
tiſchen Wirken und Bilden noch ungeſchieden iſt. So war der-
ſelbe Verſtand, welcher ſich ſpäter der bloß theoretiſchen Begrün-
dung und Erklärung des Rechts, des wirthſchaftlichen Lebens
zuwandte, zunächſt mit der Geſtaltung dieſer Syſteme beſchäftigt.
Einige unter dieſen mächtigen Realitäten (als ſolche erſcheinen ſie
wenigſtens der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft), wie die Religion
und das Recht, haben ſich zu ſehr umfangreichen Syſtemen von
Wiſſenſchaften ausgebildet.
So viel ich ſehe, ſcheint nur die Betrachtung der Gebiete
des Rechts und der Sittlichkeit Schwierigkeiten darbieten zu können,
wenn man die hier dargelegte Auffaſſung von Grundſyſtemen
der Geſellſchaft auf den Beſtand der poſitiven Wiſſenſchaften des
Geiſtes anwendet. — Dieſe Schwierigkeiten ſind in Bezug auf das
Recht ganz andere als in Bezug auf die Sittlichkeit und ſie ſind
in dem Vorhergehenden aufzulöſen verſucht worden. Die Wiſſen-
ſchaften des Rechts können dem Entwickelten zufolge von denen
der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nur in einer unvoll-
kommenen Weiſe getrennt werden; denn in dem Recht iſt der
Charakter eines Syſtems der Kultur von dem eines Beſtandtheils
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/98>, abgerufen am 16.07.2024.
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