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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
der Peripherie eines Menschen gelegen, und wir suchen zum Cen-
trum zu dringen. Ich nehme an, dieser Mensch sei Schleiermacher
und seine Dialektik liege vor mir. Welche Gedanken dieses Buch
auch im Einzelnen enthalte, ich finde in ihm den Satz von der
Gegenwart des Gottesgefühls in allen psychischen Akten, und
an diesem tiefsten Punkte berührt sich die Dialektik mit den Reden
über Religion. So gehe ich von Werk zu Werk, ich kann das
Centrum zwar nicht erkennen, auf welches alle diese peripherischen
Aeußerungen hinweisen, aber ich kann es verstehen. -- Nun finde
ich, daß Schleiermacher einer Gruppe angehört, in der Schelling,
Friedrich Schlegel, Novalis u. a. sich befinden. Eine solche
Gruppe verhält sich analog, wie eine Klasse von Organismen;
ändert sich in einer solchen Klasse ein Organ, so ändern sich auch
die korrespondirenden, steigert sich eines, so verkümmern andere.
Ich schreite von Gruppe zu Gruppe, zu immer weiteren Kreisen. --
Das Seelenleben hat sich in Kunst, Religion u. s. w. differenzirt,
und nun entsteht die Aufgabe, die psychologische Grundlage dieses
Vorgangs zu finden und dann sowol den Verlauf in der Seele
als den in der Gesellschaft aufzufassen, in welchem diese Differen-
zirung sich vollzieht. -- Weiter kann ich in einem Durchschnitt
durch die menschliche Geschichte die Gesellschaft einer bestimmten
Zeit allgemein oder bei einem einzelnen Volk studiren. Ich kann
solche Durchschnitte an einander halten und den Menschen aus
der Zeit des Perikles mit dem aus der Zeit Leo des Zehnten ver-
gleichen. Hier nähere ich mich dem tiefsten Problem, dem was
am Menschenwesen in der Geschichte veränderlich ist. -- Ueberall
jedoch, in all diesen Wendungen der Methode ist es immer der
Mensch, welcher das Objekt der Untersuchung bildet, bald als ein
Ganzes, bald in seinen Theilinhalten sowie in seinen Beziehungen.
Indem dieser Standpunkt durchgeführt werden wird, werden Gesell-
schaft und Geschichte zu der Behandlung gelangen, welche auf
diesem selbständigen Gebiet der mechanischen Erklärung innerhalb
des Studiums von Naturerscheinungen entspricht. Dann ist die
Metaphysik der Gesellschaft und Geschichte wirklich vergangen.

Finden nun vielleicht die Geisteswissenschaften, welche die

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
der Peripherie eines Menſchen gelegen, und wir ſuchen zum Cen-
trum zu dringen. Ich nehme an, dieſer Menſch ſei Schleiermacher
und ſeine Dialektik liege vor mir. Welche Gedanken dieſes Buch
auch im Einzelnen enthalte, ich finde in ihm den Satz von der
Gegenwart des Gottesgefühls in allen pſychiſchen Akten, und
an dieſem tiefſten Punkte berührt ſich die Dialektik mit den Reden
über Religion. So gehe ich von Werk zu Werk, ich kann das
Centrum zwar nicht erkennen, auf welches alle dieſe peripheriſchen
Aeußerungen hinweiſen, aber ich kann es verſtehen. — Nun finde
ich, daß Schleiermacher einer Gruppe angehört, in der Schelling,
Friedrich Schlegel, Novalis u. a. ſich befinden. Eine ſolche
Gruppe verhält ſich analog, wie eine Klaſſe von Organismen;
ändert ſich in einer ſolchen Klaſſe ein Organ, ſo ändern ſich auch
die korreſpondirenden, ſteigert ſich eines, ſo verkümmern andere.
Ich ſchreite von Gruppe zu Gruppe, zu immer weiteren Kreiſen. —
Das Seelenleben hat ſich in Kunſt, Religion u. ſ. w. differenzirt,
und nun entſteht die Aufgabe, die pſychologiſche Grundlage dieſes
Vorgangs zu finden und dann ſowol den Verlauf in der Seele
als den in der Geſellſchaft aufzufaſſen, in welchem dieſe Differen-
zirung ſich vollzieht. — Weiter kann ich in einem Durchſchnitt
durch die menſchliche Geſchichte die Geſellſchaft einer beſtimmten
Zeit allgemein oder bei einem einzelnen Volk ſtudiren. Ich kann
ſolche Durchſchnitte an einander halten und den Menſchen aus
der Zeit des Perikles mit dem aus der Zeit Leo des Zehnten ver-
gleichen. Hier nähere ich mich dem tiefſten Problem, dem was
am Menſchenweſen in der Geſchichte veränderlich iſt. — Ueberall
jedoch, in all dieſen Wendungen der Methode iſt es immer der
Menſch, welcher das Objekt der Unterſuchung bildet, bald als ein
Ganzes, bald in ſeinen Theilinhalten ſowie in ſeinen Beziehungen.
Indem dieſer Standpunkt durchgeführt werden wird, werden Geſell-
ſchaft und Geſchichte zu der Behandlung gelangen, welche auf
dieſem ſelbſtändigen Gebiet der mechaniſchen Erklärung innerhalb
des Studiums von Naturerſcheinungen entſpricht. Dann iſt die
Metaphyſik der Geſellſchaft und Geſchichte wirklich vergangen.

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[488/0511] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. der Peripherie eines Menſchen gelegen, und wir ſuchen zum Cen- trum zu dringen. Ich nehme an, dieſer Menſch ſei Schleiermacher und ſeine Dialektik liege vor mir. Welche Gedanken dieſes Buch auch im Einzelnen enthalte, ich finde in ihm den Satz von der Gegenwart des Gottesgefühls in allen pſychiſchen Akten, und an dieſem tiefſten Punkte berührt ſich die Dialektik mit den Reden über Religion. So gehe ich von Werk zu Werk, ich kann das Centrum zwar nicht erkennen, auf welches alle dieſe peripheriſchen Aeußerungen hinweiſen, aber ich kann es verſtehen. — Nun finde ich, daß Schleiermacher einer Gruppe angehört, in der Schelling, Friedrich Schlegel, Novalis u. a. ſich befinden. Eine ſolche Gruppe verhält ſich analog, wie eine Klaſſe von Organismen; ändert ſich in einer ſolchen Klaſſe ein Organ, ſo ändern ſich auch die korreſpondirenden, ſteigert ſich eines, ſo verkümmern andere. Ich ſchreite von Gruppe zu Gruppe, zu immer weiteren Kreiſen. — Das Seelenleben hat ſich in Kunſt, Religion u. ſ. w. differenzirt, und nun entſteht die Aufgabe, die pſychologiſche Grundlage dieſes Vorgangs zu finden und dann ſowol den Verlauf in der Seele als den in der Geſellſchaft aufzufaſſen, in welchem dieſe Differen- zirung ſich vollzieht. — Weiter kann ich in einem Durchſchnitt durch die menſchliche Geſchichte die Geſellſchaft einer beſtimmten Zeit allgemein oder bei einem einzelnen Volk ſtudiren. Ich kann ſolche Durchſchnitte an einander halten und den Menſchen aus der Zeit des Perikles mit dem aus der Zeit Leo des Zehnten ver- gleichen. Hier nähere ich mich dem tiefſten Problem, dem was am Menſchenweſen in der Geſchichte veränderlich iſt. — Ueberall jedoch, in all dieſen Wendungen der Methode iſt es immer der Menſch, welcher das Objekt der Unterſuchung bildet, bald als ein Ganzes, bald in ſeinen Theilinhalten ſowie in ſeinen Beziehungen. Indem dieſer Standpunkt durchgeführt werden wird, werden Geſell- ſchaft und Geſchichte zu der Behandlung gelangen, welche auf dieſem ſelbſtändigen Gebiet der mechaniſchen Erklärung innerhalb des Studiums von Naturerſcheinungen entſpricht. Dann iſt die Metaphyſik der Geſellſchaft und Geſchichte wirklich vergangen. Finden nun vielleicht die Geiſteswiſſenſchaften, welche die

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/511>, abgerufen am 22.11.2024.