Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Mensch bleibt als ausschließliches Objekt der Geistesw. zurück.
Metaphysik eines Geisterreiches durch analytische Untersuchung ver-
drängt haben, in dem Menschen, dem Anfangs- und End-
punkte ihrer Analysis, den Eingang in eine neue Meta-
physik
? Oder ist eine Metaphysik der geistigen Thatsachen in
jeder Form unmöglich geworden?

Metaphysik als Wissenschaft, ja. Denn der Verlauf der
intellektuellen Entwicklung zeigte, daß die Begriffe Substanz und
Kausalität sich allmälig aus den lebendigen Erfahrungen unter den
Anforderungen einer Erkenntniß der Außenwelt entwickelt haben.
Daher können sie dem, der in der Welt der inneren Erfahrung
heimisch ist, nicht mehr über diese sagen, als was aus ihnen
selber geschöpft ist: was sie mehr sagen, ist eine Hilfskonstruktion
für die Erkenntniß der Außenwelt und darum auf das Psychische
nicht anwendbar. Auch kann der Satz der metaphysischen Psycho-
logie, welcher den selbständigen substantialen und unzerstörbaren
Bestand der Seele behauptet, weder bewiesen noch widerlegt werden,
vielmehr hat der Beweis aus der Einheit des Bewußtseins nur
eine negative Tragweite. Einheit des Bewußtseins liegt jedem
Vergleichungsurtheil zu Grunde, da wir in ihm verschiedene
Empfindungen, z. B. zwei Nüancen von Roth, zugleich und in der-
selben untheilbaren Einheit besitzen müssen: wie könnten wir des
Unterschiedes sonst inne werden? Nun kann aus der Konstruktion
der Welt, wie sie die mechanische Naturwissenschaft erschließt,
diese Thatsache der Bewußtseinseinheit nicht abgeleitet werden.
Dächte man sich selbst die Massentheilchen der Materie mit psy-
chischem Leben ausgestattet, so könnte für das Ganze eines zu-
sammengesetzten Körpers aus diesem Thatbestand ein einheitliches
Bewußtsein nicht hervorgehen. Sonach ergiebt sich, daß die mecha-
nische Naturwissenschaft die Einheit der Seele als ein ihr gegenüber
Selbständiges betrachten muß, aber es ist nicht ausgeschlossen,
daß ein hinter diesen für die Erscheinungswelt gebildeten Hilfsbe-
griffen bestehender Zusammenhang der Natur den Ursprung der Ein-
heit der Seele in sich enthalte: das sind ganz transscendente Fragen.

Aber das Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Er-
fahrung d. h. als moralisch-religiöse Wahrheit bleibt übrig. Die

Der Menſch bleibt als ausſchließliches Objekt der Geiſtesw. zurück.
Metaphyſik eines Geiſterreiches durch analytiſche Unterſuchung ver-
drängt haben, in dem Menſchen, dem Anfangs- und End-
punkte ihrer Analyſis, den Eingang in eine neue Meta-
phyſik
? Oder iſt eine Metaphyſik der geiſtigen Thatſachen in
jeder Form unmöglich geworden?

Metaphyſik als Wiſſenſchaft, ja. Denn der Verlauf der
intellektuellen Entwicklung zeigte, daß die Begriffe Subſtanz und
Kauſalität ſich allmälig aus den lebendigen Erfahrungen unter den
Anforderungen einer Erkenntniß der Außenwelt entwickelt haben.
Daher können ſie dem, der in der Welt der inneren Erfahrung
heimiſch iſt, nicht mehr über dieſe ſagen, als was aus ihnen
ſelber geſchöpft iſt: was ſie mehr ſagen, iſt eine Hilfskonſtruktion
für die Erkenntniß der Außenwelt und darum auf das Pſychiſche
nicht anwendbar. Auch kann der Satz der metaphyſiſchen Pſycho-
logie, welcher den ſelbſtändigen ſubſtantialen und unzerſtörbaren
Beſtand der Seele behauptet, weder bewieſen noch widerlegt werden,
vielmehr hat der Beweis aus der Einheit des Bewußtſeins nur
eine negative Tragweite. Einheit des Bewußtſeins liegt jedem
Vergleichungsurtheil zu Grunde, da wir in ihm verſchiedene
Empfindungen, z. B. zwei Nüancen von Roth, zugleich und in der-
ſelben untheilbaren Einheit beſitzen müſſen: wie könnten wir des
Unterſchiedes ſonſt inne werden? Nun kann aus der Konſtruktion
der Welt, wie ſie die mechaniſche Naturwiſſenſchaft erſchließt,
dieſe Thatſache der Bewußtſeinseinheit nicht abgeleitet werden.
Dächte man ſich ſelbſt die Maſſentheilchen der Materie mit pſy-
chiſchem Leben ausgeſtattet, ſo könnte für das Ganze eines zu-
ſammengeſetzten Körpers aus dieſem Thatbeſtand ein einheitliches
Bewußtſein nicht hervorgehen. Sonach ergiebt ſich, daß die mecha-
niſche Naturwiſſenſchaft die Einheit der Seele als ein ihr gegenüber
Selbſtändiges betrachten muß, aber es iſt nicht ausgeſchloſſen,
daß ein hinter dieſen für die Erſcheinungswelt gebildeten Hilfsbe-
griffen beſtehender Zuſammenhang der Natur den Urſprung der Ein-
heit der Seele in ſich enthalte: das ſind ganz transſcendente Fragen.

Aber das Meta-Phyſiſche unſeres Lebens als perſönliche Er-
fahrung d. h. als moraliſch-religiöſe Wahrheit bleibt übrig. Die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0512" n="489"/><fw place="top" type="header">Der Men&#x017F;ch bleibt als aus&#x017F;chließliches Objekt der Gei&#x017F;tesw. zurück.</fw><lb/>
Metaphy&#x017F;ik eines Gei&#x017F;terreiches durch analyti&#x017F;che Unter&#x017F;uchung ver-<lb/>
drängt haben, <hi rendition="#g">in dem Men&#x017F;chen</hi>, dem Anfangs- und End-<lb/>
punkte ihrer Analy&#x017F;is, den <hi rendition="#g">Eingang in eine neue Meta-<lb/>
phy&#x017F;ik</hi>? Oder i&#x017F;t eine Metaphy&#x017F;ik der gei&#x017F;tigen That&#x017F;achen in<lb/>
jeder Form unmöglich geworden?</p><lb/>
            <p>Metaphy&#x017F;ik als Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, ja. Denn der Verlauf der<lb/>
intellektuellen Entwicklung zeigte, daß die Begriffe Sub&#x017F;tanz und<lb/>
Kau&#x017F;alität &#x017F;ich allmälig aus den lebendigen Erfahrungen unter den<lb/>
Anforderungen einer Erkenntniß der Außenwelt entwickelt haben.<lb/>
Daher können &#x017F;ie dem, der in der Welt der inneren Erfahrung<lb/>
heimi&#x017F;ch i&#x017F;t, nicht mehr über die&#x017F;e &#x017F;agen, als was aus ihnen<lb/>
&#x017F;elber ge&#x017F;chöpft i&#x017F;t: was &#x017F;ie mehr &#x017F;agen, i&#x017F;t eine Hilfskon&#x017F;truktion<lb/>
für die Erkenntniß der Außenwelt und darum auf das P&#x017F;ychi&#x017F;che<lb/>
nicht anwendbar. Auch kann der Satz der metaphy&#x017F;i&#x017F;chen P&#x017F;ycho-<lb/>
logie, welcher den &#x017F;elb&#x017F;tändigen &#x017F;ub&#x017F;tantialen und unzer&#x017F;törbaren<lb/>
Be&#x017F;tand der Seele behauptet, weder bewie&#x017F;en noch widerlegt werden,<lb/>
vielmehr hat der Beweis aus der Einheit des Bewußt&#x017F;eins nur<lb/>
eine negative Tragweite. Einheit des Bewußt&#x017F;eins liegt jedem<lb/>
Vergleichungsurtheil zu Grunde, da wir in ihm ver&#x017F;chiedene<lb/>
Empfindungen, z. B. zwei Nüancen von Roth, zugleich und in der-<lb/>
&#x017F;elben untheilbaren Einheit be&#x017F;itzen mü&#x017F;&#x017F;en: wie könnten wir des<lb/>
Unter&#x017F;chiedes &#x017F;on&#x017F;t inne werden? Nun kann aus der Kon&#x017F;truktion<lb/>
der Welt, wie &#x017F;ie die mechani&#x017F;che Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft er&#x017F;chließt,<lb/>
die&#x017F;e That&#x017F;ache der Bewußt&#x017F;einseinheit nicht abgeleitet werden.<lb/>
Dächte man &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t die Ma&#x017F;&#x017F;entheilchen der Materie mit p&#x017F;y-<lb/>
chi&#x017F;chem Leben ausge&#x017F;tattet, &#x017F;o könnte für das Ganze eines zu-<lb/>
&#x017F;ammenge&#x017F;etzten Körpers aus die&#x017F;em Thatbe&#x017F;tand ein einheitliches<lb/>
Bewußt&#x017F;ein nicht hervorgehen. Sonach ergiebt &#x017F;ich, daß die mecha-<lb/>
ni&#x017F;che Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft die Einheit der Seele als ein ihr gegenüber<lb/>
Selb&#x017F;tändiges betrachten muß, aber es i&#x017F;t nicht ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
daß ein hinter die&#x017F;en für die Er&#x017F;cheinungswelt gebildeten Hilfsbe-<lb/>
griffen be&#x017F;tehender Zu&#x017F;ammenhang der Natur den Ur&#x017F;prung der Ein-<lb/>
heit der Seele in &#x017F;ich enthalte: das &#x017F;ind ganz trans&#x017F;cendente Fragen.</p><lb/>
            <p>Aber das Meta-Phy&#x017F;i&#x017F;che un&#x017F;eres <hi rendition="#g">Lebens</hi> als per&#x017F;önliche Er-<lb/>
fahrung d. h. als morali&#x017F;ch-religiö&#x017F;e Wahrheit bleibt übrig. Die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[489/0512] Der Menſch bleibt als ausſchließliches Objekt der Geiſtesw. zurück. Metaphyſik eines Geiſterreiches durch analytiſche Unterſuchung ver- drängt haben, in dem Menſchen, dem Anfangs- und End- punkte ihrer Analyſis, den Eingang in eine neue Meta- phyſik? Oder iſt eine Metaphyſik der geiſtigen Thatſachen in jeder Form unmöglich geworden? Metaphyſik als Wiſſenſchaft, ja. Denn der Verlauf der intellektuellen Entwicklung zeigte, daß die Begriffe Subſtanz und Kauſalität ſich allmälig aus den lebendigen Erfahrungen unter den Anforderungen einer Erkenntniß der Außenwelt entwickelt haben. Daher können ſie dem, der in der Welt der inneren Erfahrung heimiſch iſt, nicht mehr über dieſe ſagen, als was aus ihnen ſelber geſchöpft iſt: was ſie mehr ſagen, iſt eine Hilfskonſtruktion für die Erkenntniß der Außenwelt und darum auf das Pſychiſche nicht anwendbar. Auch kann der Satz der metaphyſiſchen Pſycho- logie, welcher den ſelbſtändigen ſubſtantialen und unzerſtörbaren Beſtand der Seele behauptet, weder bewieſen noch widerlegt werden, vielmehr hat der Beweis aus der Einheit des Bewußtſeins nur eine negative Tragweite. Einheit des Bewußtſeins liegt jedem Vergleichungsurtheil zu Grunde, da wir in ihm verſchiedene Empfindungen, z. B. zwei Nüancen von Roth, zugleich und in der- ſelben untheilbaren Einheit beſitzen müſſen: wie könnten wir des Unterſchiedes ſonſt inne werden? Nun kann aus der Konſtruktion der Welt, wie ſie die mechaniſche Naturwiſſenſchaft erſchließt, dieſe Thatſache der Bewußtſeinseinheit nicht abgeleitet werden. Dächte man ſich ſelbſt die Maſſentheilchen der Materie mit pſy- chiſchem Leben ausgeſtattet, ſo könnte für das Ganze eines zu- ſammengeſetzten Körpers aus dieſem Thatbeſtand ein einheitliches Bewußtſein nicht hervorgehen. Sonach ergiebt ſich, daß die mecha- niſche Naturwiſſenſchaft die Einheit der Seele als ein ihr gegenüber Selbſtändiges betrachten muß, aber es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein hinter dieſen für die Erſcheinungswelt gebildeten Hilfsbe- griffen beſtehender Zuſammenhang der Natur den Urſprung der Ein- heit der Seele in ſich enthalte: das ſind ganz transſcendente Fragen. Aber das Meta-Phyſiſche unſeres Lebens als perſönliche Er- fahrung d. h. als moraliſch-religiöſe Wahrheit bleibt übrig. Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/512
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/512>, abgerufen am 02.05.2024.