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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Gegensatz des metaph. Geistes u. der modernen Naturwissenschaft.
kennen, daß die physikalischen und chemischen Gesetze nicht an der
Grenze des organischen Körpers wirksam zu sein aufhören. Hat
sich aber die Naturforschung das umfassende Problem gestellt, unter
Eliminirung der Lebenskraft aus dem mechanischen Naturzusammen-
hang die Prozesse des Lebens, seine organische Form, seine Bil-
dungsgesetze und seine Entwicklung, endlich die Art der Speziali-
sirung des Organischen in Typen abzuleiten, so ist dies Problem
heute noch ungelöst.

5. Aus der Natur dieses Verfahrens der Aufsuchung von
Bedingungen für die äußere Wirklichkeit ergiebt sich eine weitere
Folge. Man kann sich nicht versichern, ob nicht noch
weitere Bedingungen in den Thatsachen versteckt sind,
deren Kenntniß eine ganz andere Konstruktion erforderlich machen
würde. Ja wenn wir einen weiteren Kreis von Erfahrungen
besäßen, so würden vielleicht diese von uns konstruirten Ge-
dankendinge durch solche von einer weiter zurückliegenden, gleich-
sam mehr primären Beschaffenheit ersetzt werden. Hierauf leitet
sogar positiv der noch unerklärte Rest, welcher die Meta-
physiker
bestimmt hat, von dem Ganzen, von der Idee
auszugehen
. Denn betrachtet man die Elemente als Urdata,
so muß die Betrachtung in einen Abgrund von Bedenken stürzen,
daß diese Elemente auf einander wirken, gemeinsames Verhalten
zeigen und vermittelst desselben zum Aufbau zweckmäßig sich be-
wegender Organismen zusammenwirken. Die mechanische Natur-
erklärung kann die ursprüngliche Anordnung, aus welcher dieser
gedankenmäßige Zusammenhang hervorgeht, vorläufig nur als zu-
fällig ansehen. Der Zufall ist aber die Aufhebung der Denk-
nothwendigkeit, welche zu finden der Wille der Erkenntniß sich in
der Naturwissenschaft in Bewegung setzt.

6. Die Naturwissenschaft gelangt so nicht zu einem ein-
heitlichen Zusammenhang
der Bedingungen des Ge-
gebenen
, welchen aufzusuchen sie doch ausgegangen war. Denn
die Gesetze der Natur, unter denen alle Stoffelemente gemeinsam
stehen, können nicht dadurch erklärt werden, daß sie dem einzelnen
Stoffelement als sein Verhalten zugeschrieben werden. Die Ana-

Gegenſatz des metaph. Geiſtes u. der modernen Naturwiſſenſchaft.
kennen, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetze nicht an der
Grenze des organiſchen Körpers wirkſam zu ſein aufhören. Hat
ſich aber die Naturforſchung das umfaſſende Problem geſtellt, unter
Eliminirung der Lebenskraft aus dem mechaniſchen Naturzuſammen-
hang die Prozeſſe des Lebens, ſeine organiſche Form, ſeine Bil-
dungsgeſetze und ſeine Entwicklung, endlich die Art der Speziali-
ſirung des Organiſchen in Typen abzuleiten, ſo iſt dies Problem
heute noch ungelöſt.

5. Aus der Natur dieſes Verfahrens der Aufſuchung von
Bedingungen für die äußere Wirklichkeit ergiebt ſich eine weitere
Folge. Man kann ſich nicht verſichern, ob nicht noch
weitere Bedingungen in den Thatſachen verſteckt ſind,
deren Kenntniß eine ganz andere Konſtruktion erforderlich machen
würde. Ja wenn wir einen weiteren Kreis von Erfahrungen
beſäßen, ſo würden vielleicht dieſe von uns konſtruirten Ge-
dankendinge durch ſolche von einer weiter zurückliegenden, gleich-
ſam mehr primären Beſchaffenheit erſetzt werden. Hierauf leitet
ſogar poſitiv der noch unerklärte Reſt, welcher die Meta-
phyſiker
beſtimmt hat, von dem Ganzen, von der Idee
auszugehen
. Denn betrachtet man die Elemente als Urdata,
ſo muß die Betrachtung in einen Abgrund von Bedenken ſtürzen,
daß dieſe Elemente auf einander wirken, gemeinſames Verhalten
zeigen und vermittelſt deſſelben zum Aufbau zweckmäßig ſich be-
wegender Organismen zuſammenwirken. Die mechaniſche Natur-
erklärung kann die urſprüngliche Anordnung, aus welcher dieſer
gedankenmäßige Zuſammenhang hervorgeht, vorläufig nur als zu-
fällig anſehen. Der Zufall iſt aber die Aufhebung der Denk-
nothwendigkeit, welche zu finden der Wille der Erkenntniß ſich in
der Naturwiſſenſchaft in Bewegung ſetzt.

6. Die Naturwiſſenſchaft gelangt ſo nicht zu einem ein-
heitlichen Zuſammenhang
der Bedingungen des Ge-
gebenen
, welchen aufzuſuchen ſie doch ausgegangen war. Denn
die Geſetze der Natur, unter denen alle Stoffelemente gemeinſam
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[471/0494] Gegenſatz des metaph. Geiſtes u. der modernen Naturwiſſenſchaft. kennen, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetze nicht an der Grenze des organiſchen Körpers wirkſam zu ſein aufhören. Hat ſich aber die Naturforſchung das umfaſſende Problem geſtellt, unter Eliminirung der Lebenskraft aus dem mechaniſchen Naturzuſammen- hang die Prozeſſe des Lebens, ſeine organiſche Form, ſeine Bil- dungsgeſetze und ſeine Entwicklung, endlich die Art der Speziali- ſirung des Organiſchen in Typen abzuleiten, ſo iſt dies Problem heute noch ungelöſt. 5. Aus der Natur dieſes Verfahrens der Aufſuchung von Bedingungen für die äußere Wirklichkeit ergiebt ſich eine weitere Folge. Man kann ſich nicht verſichern, ob nicht noch weitere Bedingungen in den Thatſachen verſteckt ſind, deren Kenntniß eine ganz andere Konſtruktion erforderlich machen würde. Ja wenn wir einen weiteren Kreis von Erfahrungen beſäßen, ſo würden vielleicht dieſe von uns konſtruirten Ge- dankendinge durch ſolche von einer weiter zurückliegenden, gleich- ſam mehr primären Beſchaffenheit erſetzt werden. Hierauf leitet ſogar poſitiv der noch unerklärte Reſt, welcher die Meta- phyſiker beſtimmt hat, von dem Ganzen, von der Idee auszugehen. Denn betrachtet man die Elemente als Urdata, ſo muß die Betrachtung in einen Abgrund von Bedenken ſtürzen, daß dieſe Elemente auf einander wirken, gemeinſames Verhalten zeigen und vermittelſt deſſelben zum Aufbau zweckmäßig ſich be- wegender Organismen zuſammenwirken. Die mechaniſche Natur- erklärung kann die urſprüngliche Anordnung, aus welcher dieſer gedankenmäßige Zuſammenhang hervorgeht, vorläufig nur als zu- fällig anſehen. Der Zufall iſt aber die Aufhebung der Denk- nothwendigkeit, welche zu finden der Wille der Erkenntniß ſich in der Naturwiſſenſchaft in Bewegung ſetzt. 6. Die Naturwiſſenſchaft gelangt ſo nicht zu einem ein- heitlichen Zuſammenhang der Bedingungen des Ge- gebenen, welchen aufzuſuchen ſie doch ausgegangen war. Denn die Geſetze der Natur, unter denen alle Stoffelemente gemeinſam ſtehen, können nicht dadurch erklärt werden, daß ſie dem einzelnen Stoffelement als ſein Verhalten zugeſchrieben werden. Die Ana-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/494>, abgerufen am 18.05.2024.