Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
lysis ist zu den beiden Endpunkten, dem Atom und dem Gesetz,
gelangt, und wie das Atom im naturwissenschaftlichen Denken
als Einzelgröße benutzt wird, liegt in ihm nichts, was mit dem
System von Gleichförmigkeiten in der Natur in einen Erkennt-
nißzusammenhang gebracht werden könnte. Daß ein Massentheil-
chen im System der Relationen dasselbe Verhalten als ein anderes
zeigt, ist aus seinem Charakter als Einzelgröße nicht erklärlich, ja
erscheint von ihm aus als schwer faßbar. Und wie zwischen
unveränderlichen Einzelgrößen ein Kausalzusammenhang stattsinden
soll, ist nun gar vollständig unvorstellbar. Unser Verstand muß
die Welt wie eine Maschine auseinandernehmen, um zu erkennen;
er zerlegt sie in Atome; daß aber die Welt ein Ganzes ist, kann
er aus diesen Atomen nicht ableiten. Wir ziehen wiederum eine
Folgerung aus der geschichtlichen Darlegung. Dieser letzte Befund
der Analysis der Natur in der modernen Naturwissenschaft ist
demjenigen analog, zu welchem wir die Metaphysik der Natur bei
den Griechen gelangen sahen: den substantialen Formen und der
Materie. Das Naturgesetz korrespondirt der substantialen
Form
, das Massentheilchen der Materie. Und zwar stellt
sich in diesen isolirten Befunden schließlich nur der Unterschied
von Eigenschaften dar, welche für die Einheit des Bewußt-
seins in Gleichförmigkeiten sich aufschließen, und dem, was ihnen
als einzelne Positivität zu Grunde liegt, kurz die Natur des
Urtheils, sonach des Denkens.

So ist selbst für die isolirte Naturbetrachtung der Monismus
nur ein Arrangement, in welchem die Beziehung von Eigen-
schaften und Verhalten auf das, was sich verhält, nothwendig ist,
da sie aus der Natur des Bewußtseinsphänomens Wirklichkeit
richtig geschöpft wird, aber die Herstellung dieser Beziehung bindet
nur an einander, was innerlich nicht zusammengehört: die einzelne
Atomgröße und den gedankenmäßigen, gleichförmigen Zusammen-
hang, der für unser Bewußtsein stets auf eine Einheit zurückweist.
Ueberschreitet jedoch der naturwissenschaftliche Monismus die
Grenzen der Außenwelt und zieht auch das Geistige in den Be-
reich seiner Erklärung, alsdann hebt die Naturforschung ihre eigene

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
lyſis iſt zu den beiden Endpunkten, dem Atom und dem Geſetz,
gelangt, und wie das Atom im naturwiſſenſchaftlichen Denken
als Einzelgröße benutzt wird, liegt in ihm nichts, was mit dem
Syſtem von Gleichförmigkeiten in der Natur in einen Erkennt-
nißzuſammenhang gebracht werden könnte. Daß ein Maſſentheil-
chen im Syſtem der Relationen daſſelbe Verhalten als ein anderes
zeigt, iſt aus ſeinem Charakter als Einzelgröße nicht erklärlich, ja
erſcheint von ihm aus als ſchwer faßbar. Und wie zwiſchen
unveränderlichen Einzelgrößen ein Kauſalzuſammenhang ſtattſinden
ſoll, iſt nun gar vollſtändig unvorſtellbar. Unſer Verſtand muß
die Welt wie eine Maſchine auseinandernehmen, um zu erkennen;
er zerlegt ſie in Atome; daß aber die Welt ein Ganzes iſt, kann
er aus dieſen Atomen nicht ableiten. Wir ziehen wiederum eine
Folgerung aus der geſchichtlichen Darlegung. Dieſer letzte Befund
der Analyſis der Natur in der modernen Naturwiſſenſchaft iſt
demjenigen analog, zu welchem wir die Metaphyſik der Natur bei
den Griechen gelangen ſahen: den ſubſtantialen Formen und der
Materie. Das Naturgeſetz korreſpondirt der ſubſtantialen
Form
, das Maſſentheilchen der Materie. Und zwar ſtellt
ſich in dieſen iſolirten Befunden ſchließlich nur der Unterſchied
von Eigenſchaften dar, welche für die Einheit des Bewußt-
ſeins in Gleichförmigkeiten ſich aufſchließen, und dem, was ihnen
als einzelne Poſitivität zu Grunde liegt, kurz die Natur des
Urtheils, ſonach des Denkens.

So iſt ſelbſt für die iſolirte Naturbetrachtung der Monismus
nur ein Arrangement, in welchem die Beziehung von Eigen-
ſchaften und Verhalten auf das, was ſich verhält, nothwendig iſt,
da ſie aus der Natur des Bewußtſeinsphänomens Wirklichkeit
richtig geſchöpft wird, aber die Herſtellung dieſer Beziehung bindet
nur an einander, was innerlich nicht zuſammengehört: die einzelne
Atomgröße und den gedankenmäßigen, gleichförmigen Zuſammen-
hang, der für unſer Bewußtſein ſtets auf eine Einheit zurückweiſt.
Ueberſchreitet jedoch der naturwiſſenſchaftliche Monismus die
Grenzen der Außenwelt und zieht auch das Geiſtige in den Be-
reich ſeiner Erklärung, alsdann hebt die Naturforſchung ihre eigene

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0495" n="472"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Vierter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
ly&#x017F;is i&#x017F;t zu den beiden Endpunkten, dem Atom und dem Ge&#x017F;etz,<lb/>
gelangt, und wie das Atom im naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Denken<lb/>
als Einzelgröße benutzt wird, liegt in ihm nichts, was mit dem<lb/>
Sy&#x017F;tem von Gleichförmigkeiten in der Natur in einen Erkennt-<lb/>
nißzu&#x017F;ammenhang gebracht werden könnte. Daß ein Ma&#x017F;&#x017F;entheil-<lb/>
chen im Sy&#x017F;tem der Relationen da&#x017F;&#x017F;elbe Verhalten als ein anderes<lb/>
zeigt, i&#x017F;t aus &#x017F;einem Charakter als Einzelgröße nicht erklärlich, ja<lb/>
er&#x017F;cheint von ihm aus als &#x017F;chwer faßbar. Und wie zwi&#x017F;chen<lb/>
unveränderlichen Einzelgrößen ein Kau&#x017F;alzu&#x017F;ammenhang &#x017F;tatt&#x017F;inden<lb/>
&#x017F;oll, i&#x017F;t nun gar voll&#x017F;tändig unvor&#x017F;tellbar. Un&#x017F;er Ver&#x017F;tand muß<lb/>
die Welt wie eine Ma&#x017F;chine auseinandernehmen, um zu erkennen;<lb/>
er zerlegt &#x017F;ie in Atome; daß aber die Welt ein Ganzes i&#x017F;t, kann<lb/>
er aus die&#x017F;en Atomen nicht ableiten. Wir ziehen wiederum eine<lb/>
Folgerung aus der ge&#x017F;chichtlichen Darlegung. Die&#x017F;er letzte Befund<lb/>
der Analy&#x017F;is der Natur in der modernen Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t<lb/>
demjenigen analog, zu welchem wir die Metaphy&#x017F;ik der Natur bei<lb/>
den Griechen gelangen &#x017F;ahen: den &#x017F;ub&#x017F;tantialen Formen und der<lb/>
Materie. Das <hi rendition="#g">Naturge&#x017F;etz</hi> korre&#x017F;pondirt der <hi rendition="#g">&#x017F;ub&#x017F;tantialen<lb/>
Form</hi>, das <hi rendition="#g">Ma&#x017F;&#x017F;entheilchen</hi> der <hi rendition="#g">Materie</hi>. Und zwar &#x017F;tellt<lb/>
&#x017F;ich in die&#x017F;en i&#x017F;olirten Befunden &#x017F;chließlich nur der Unter&#x017F;chied<lb/>
von <hi rendition="#g">Eigen&#x017F;chaften</hi> dar, welche für die Einheit des Bewußt-<lb/>
&#x017F;eins in Gleichförmigkeiten &#x017F;ich auf&#x017F;chließen, und dem, was ihnen<lb/>
als einzelne <hi rendition="#g">Po&#x017F;itivität</hi> zu Grunde liegt, kurz die Natur des<lb/>
Urtheils, &#x017F;onach des Denkens.</p><lb/>
            <p>So i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t für die i&#x017F;olirte Naturbetrachtung der <hi rendition="#g">Monismus</hi><lb/>
nur ein <hi rendition="#g">Arrangement</hi>, in welchem die Beziehung von Eigen-<lb/>
&#x017F;chaften und Verhalten auf das, <hi rendition="#g">was</hi> &#x017F;ich verhält, nothwendig i&#x017F;t,<lb/>
da &#x017F;ie aus der Natur des Bewußt&#x017F;einsphänomens Wirklichkeit<lb/>
richtig ge&#x017F;chöpft wird, aber die Her&#x017F;tellung die&#x017F;er Beziehung bindet<lb/>
nur an einander, was innerlich nicht zu&#x017F;ammengehört: die einzelne<lb/>
Atomgröße und den gedankenmäßigen, gleichförmigen Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang, der für un&#x017F;er Bewußt&#x017F;ein &#x017F;tets auf eine Einheit zurückwei&#x017F;t.<lb/>
Ueber&#x017F;chreitet jedoch der naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Monismus die<lb/>
Grenzen der Außenwelt und zieht auch das Gei&#x017F;tige in den Be-<lb/>
reich &#x017F;einer Erklärung, alsdann hebt die Naturfor&#x017F;chung ihre eigene<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[472/0495] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. lyſis iſt zu den beiden Endpunkten, dem Atom und dem Geſetz, gelangt, und wie das Atom im naturwiſſenſchaftlichen Denken als Einzelgröße benutzt wird, liegt in ihm nichts, was mit dem Syſtem von Gleichförmigkeiten in der Natur in einen Erkennt- nißzuſammenhang gebracht werden könnte. Daß ein Maſſentheil- chen im Syſtem der Relationen daſſelbe Verhalten als ein anderes zeigt, iſt aus ſeinem Charakter als Einzelgröße nicht erklärlich, ja erſcheint von ihm aus als ſchwer faßbar. Und wie zwiſchen unveränderlichen Einzelgrößen ein Kauſalzuſammenhang ſtattſinden ſoll, iſt nun gar vollſtändig unvorſtellbar. Unſer Verſtand muß die Welt wie eine Maſchine auseinandernehmen, um zu erkennen; er zerlegt ſie in Atome; daß aber die Welt ein Ganzes iſt, kann er aus dieſen Atomen nicht ableiten. Wir ziehen wiederum eine Folgerung aus der geſchichtlichen Darlegung. Dieſer letzte Befund der Analyſis der Natur in der modernen Naturwiſſenſchaft iſt demjenigen analog, zu welchem wir die Metaphyſik der Natur bei den Griechen gelangen ſahen: den ſubſtantialen Formen und der Materie. Das Naturgeſetz korreſpondirt der ſubſtantialen Form, das Maſſentheilchen der Materie. Und zwar ſtellt ſich in dieſen iſolirten Befunden ſchließlich nur der Unterſchied von Eigenſchaften dar, welche für die Einheit des Bewußt- ſeins in Gleichförmigkeiten ſich aufſchließen, und dem, was ihnen als einzelne Poſitivität zu Grunde liegt, kurz die Natur des Urtheils, ſonach des Denkens. So iſt ſelbſt für die iſolirte Naturbetrachtung der Monismus nur ein Arrangement, in welchem die Beziehung von Eigen- ſchaften und Verhalten auf das, was ſich verhält, nothwendig iſt, da ſie aus der Natur des Bewußtſeinsphänomens Wirklichkeit richtig geſchöpft wird, aber die Herſtellung dieſer Beziehung bindet nur an einander, was innerlich nicht zuſammengehört: die einzelne Atomgröße und den gedankenmäßigen, gleichförmigen Zuſammen- hang, der für unſer Bewußtſein ſtets auf eine Einheit zurückweiſt. Ueberſchreitet jedoch der naturwiſſenſchaftliche Monismus die Grenzen der Außenwelt und zieht auch das Geiſtige in den Be- reich ſeiner Erklärung, alsdann hebt die Naturforſchung ihre eigene

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/495
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/495>, abgerufen am 17.05.2024.