erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die Atome sind unter diesem Gesichtspunkte, wenn sie Entitäten zu sein beanspruchen, nicht besser als die substantialen Formen: sie sind Geschöpfe des wissenschaftlichen Verstandes.
3. Die Bedingungen, welche die mechanische Na- turerklärung sucht, erklären nur einen Theilinhalt der äußeren Wirklichkeit. Diese intelligible Welt der Atome, des Aethers, der Vibrationen ist nur eine absichtliche und höchst kunstvolle Abstraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge- gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konstruiren, welche die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be- stimmungen abzuleiten und sonach künftige Eindrücke vorauszu- sagen gestatten. Das System der Bewegungen von Elementen, in welchem diese Aufgabe gelöst wird, ist nur ein Ausschnitt der Realität. Denn schon der Ansatz unveränderlicher qualitätsloser Substanzen ist eine bloße Abstraktion, ein Kunstgriff der Wissen- schaft. Er ist dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung aus der Außenwelt in das Bewußtsein hinübergeschoben wird, wodurch denn die Außenwelt von den lästigen Veränderungen der sinnlichen Eigenschaften befreit wird. Das Medium von Klar- heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung, Gesetz, Element schweben, ist nur die Folge davon, daß die That- bestände durch Abstraktion von Allem befreit sind, was der Maß- bestimmung unzugänglich ist. Und daher ist dieser mechanische Naturzusammenhang zunächst sicher ein nothwendiges und frucht- bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältnissen den Zusammenhang des gesammten Geschehens in der Natur aus- drückt, aber was sie mehr sei als dies, darüber kann kein Natur- forscher etwas aussagen, will er nicht den Boden der strengen Wissenschaft verlassen.
4. Der Zusammenhang der Bedingungen, welchen die mechanische Naturerklärung ausstellt, kann vorläufig noch nicht an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf- gezeigt werden. Der organische Körper bildet eine solche Grenze der mechanischen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner-
Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die Atome ſind unter dieſem Geſichtspunkte, wenn ſie Entitäten zu ſein beanſpruchen, nicht beſſer als die ſubſtantialen Formen: ſie ſind Geſchöpfe des wiſſenſchaftlichen Verſtandes.
3. Die Bedingungen, welche die mechaniſche Na- turerklärung ſucht, erklären nur einen Theilinhalt der äußeren Wirklichkeit. Dieſe intelligible Welt der Atome, des Aethers, der Vibrationen iſt nur eine abſichtliche und höchſt kunſtvolle Abſtraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge- gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konſtruiren, welche die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be- ſtimmungen abzuleiten und ſonach künftige Eindrücke vorauszu- ſagen geſtatten. Das Syſtem der Bewegungen von Elementen, in welchem dieſe Aufgabe gelöſt wird, iſt nur ein Ausſchnitt der Realität. Denn ſchon der Anſatz unveränderlicher qualitätsloſer Subſtanzen iſt eine bloße Abſtraktion, ein Kunſtgriff der Wiſſen- ſchaft. Er iſt dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung aus der Außenwelt in das Bewußtſein hinübergeſchoben wird, wodurch denn die Außenwelt von den läſtigen Veränderungen der ſinnlichen Eigenſchaften befreit wird. Das Medium von Klar- heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung, Geſetz, Element ſchweben, iſt nur die Folge davon, daß die That- beſtände durch Abſtraktion von Allem befreit ſind, was der Maß- beſtimmung unzugänglich iſt. Und daher iſt dieſer mechaniſche Naturzuſammenhang zunächſt ſicher ein nothwendiges und frucht- bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältniſſen den Zuſammenhang des geſammten Geſchehens in der Natur aus- drückt, aber was ſie mehr ſei als dies, darüber kann kein Natur- forſcher etwas ausſagen, will er nicht den Boden der ſtrengen Wiſſenſchaft verlaſſen.
4. Der Zuſammenhang der Bedingungen, welchen die mechaniſche Naturerklärung auſſtellt, kann vorläufig noch nicht an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf- gezeigt werden. Der organiſche Körper bildet eine ſolche Grenze der mechaniſchen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner-
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Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die
Atome ſind unter dieſem Geſichtspunkte, wenn ſie Entitäten zu
ſein beanſpruchen, nicht beſſer als die ſubſtantialen Formen: ſie
ſind Geſchöpfe des wiſſenſchaftlichen Verſtandes.
3. Die Bedingungen, welche die mechaniſche Na-
turerklärung ſucht, erklären nur einen Theilinhalt der
äußeren Wirklichkeit. Dieſe intelligible Welt der Atome,
des Aethers, der Vibrationen iſt nur eine abſichtliche und höchſt
kunſtvolle Abſtraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge-
gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konſtruiren, welche
die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be-
ſtimmungen abzuleiten und ſonach künftige Eindrücke vorauszu-
ſagen geſtatten. Das Syſtem der Bewegungen von Elementen,
in welchem dieſe Aufgabe gelöſt wird, iſt nur ein Ausſchnitt der
Realität. Denn ſchon der Anſatz unveränderlicher qualitätsloſer
Subſtanzen iſt eine bloße Abſtraktion, ein Kunſtgriff der Wiſſen-
ſchaft. Er iſt dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung
aus der Außenwelt in das Bewußtſein hinübergeſchoben wird,
wodurch denn die Außenwelt von den läſtigen Veränderungen
der ſinnlichen Eigenſchaften befreit wird. Das Medium von Klar-
heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung,
Geſetz, Element ſchweben, iſt nur die Folge davon, daß die That-
beſtände durch Abſtraktion von Allem befreit ſind, was der Maß-
beſtimmung unzugänglich iſt. Und daher iſt dieſer mechaniſche
Naturzuſammenhang zunächſt ſicher ein nothwendiges und frucht-
bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältniſſen
den Zuſammenhang des geſammten Geſchehens in der Natur aus-
drückt, aber was ſie mehr ſei als dies, darüber kann kein Natur-
forſcher etwas ausſagen, will er nicht den Boden der ſtrengen
Wiſſenſchaft verlaſſen.
4. Der Zuſammenhang der Bedingungen, welchen
die mechaniſche Naturerklärung auſſtellt, kann vorläufig noch
nicht an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf-
gezeigt werden. Der organiſche Körper bildet eine ſolche Grenze
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/493>, abgerufen am 05.12.2024.
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