Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die
Atome sind unter diesem Gesichtspunkte, wenn sie Entitäten zu
sein beanspruchen, nicht besser als die substantialen Formen: sie
sind Geschöpfe des wissenschaftlichen Verstandes.

3. Die Bedingungen, welche die mechanische Na-
turerklärung
sucht, erklären nur einen Theilinhalt der
äußeren Wirklichkeit. Diese intelligible Welt der Atome,
des Aethers, der Vibrationen ist nur eine absichtliche und höchst
kunstvolle Abstraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge-
gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konstruiren, welche
die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be-
stimmungen abzuleiten und sonach künftige Eindrücke vorauszu-
sagen gestatten. Das System der Bewegungen von Elementen,
in welchem diese Aufgabe gelöst wird, ist nur ein Ausschnitt der
Realität. Denn schon der Ansatz unveränderlicher qualitätsloser
Substanzen ist eine bloße Abstraktion, ein Kunstgriff der Wissen-
schaft. Er ist dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung
aus der Außenwelt in das Bewußtsein hinübergeschoben wird,
wodurch denn die Außenwelt von den lästigen Veränderungen
der sinnlichen Eigenschaften befreit wird. Das Medium von Klar-
heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung,
Gesetz, Element schweben, ist nur die Folge davon, daß die That-
bestände durch Abstraktion von Allem befreit sind, was der Maß-
bestimmung unzugänglich ist. Und daher ist dieser mechanische
Naturzusammenhang zunächst sicher ein nothwendiges und frucht-
bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältnissen
den Zusammenhang des gesammten Geschehens in der Natur aus-
drückt, aber was sie mehr sei als dies, darüber kann kein Natur-
forscher etwas aussagen, will er nicht den Boden der strengen
Wissenschaft verlassen.

4. Der Zusammenhang der Bedingungen, welchen
die mechanische Naturerklärung ausstellt, kann vorläufig noch
nicht
an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf-
gezeigt
werden. Der organische Körper bildet eine solche Grenze
der mechanischen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner-

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die
Atome ſind unter dieſem Geſichtspunkte, wenn ſie Entitäten zu
ſein beanſpruchen, nicht beſſer als die ſubſtantialen Formen: ſie
ſind Geſchöpfe des wiſſenſchaftlichen Verſtandes.

3. Die Bedingungen, welche die mechaniſche Na-
turerklärung
ſucht, erklären nur einen Theilinhalt der
äußeren Wirklichkeit. Dieſe intelligible Welt der Atome,
des Aethers, der Vibrationen iſt nur eine abſichtliche und höchſt
kunſtvolle Abſtraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge-
gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konſtruiren, welche
die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be-
ſtimmungen abzuleiten und ſonach künftige Eindrücke vorauszu-
ſagen geſtatten. Das Syſtem der Bewegungen von Elementen,
in welchem dieſe Aufgabe gelöſt wird, iſt nur ein Ausſchnitt der
Realität. Denn ſchon der Anſatz unveränderlicher qualitätsloſer
Subſtanzen iſt eine bloße Abſtraktion, ein Kunſtgriff der Wiſſen-
ſchaft. Er iſt dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung
aus der Außenwelt in das Bewußtſein hinübergeſchoben wird,
wodurch denn die Außenwelt von den läſtigen Veränderungen
der ſinnlichen Eigenſchaften befreit wird. Das Medium von Klar-
heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung,
Geſetz, Element ſchweben, iſt nur die Folge davon, daß die That-
beſtände durch Abſtraktion von Allem befreit ſind, was der Maß-
beſtimmung unzugänglich iſt. Und daher iſt dieſer mechaniſche
Naturzuſammenhang zunächſt ſicher ein nothwendiges und frucht-
bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältniſſen
den Zuſammenhang des geſammten Geſchehens in der Natur aus-
drückt, aber was ſie mehr ſei als dies, darüber kann kein Natur-
forſcher etwas ausſagen, will er nicht den Boden der ſtrengen
Wiſſenſchaft verlaſſen.

4. Der Zuſammenhang der Bedingungen, welchen
die mechaniſche Naturerklärung auſſtellt, kann vorläufig noch
nicht
an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf-
gezeigt
werden. Der organiſche Körper bildet eine ſolche Grenze
der mechaniſchen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0493" n="470"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Vierter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die<lb/>
Atome &#x017F;ind unter die&#x017F;em Ge&#x017F;ichtspunkte, wenn &#x017F;ie Entitäten zu<lb/>
&#x017F;ein bean&#x017F;pruchen, nicht be&#x017F;&#x017F;er als die &#x017F;ub&#x017F;tantialen Formen: &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ind Ge&#x017F;chöpfe des wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Ver&#x017F;tandes.</p><lb/>
            <p>3. Die <hi rendition="#g">Bedingungen</hi>, welche die <hi rendition="#g">mechani&#x017F;che Na-<lb/>
turerklärung</hi> &#x017F;ucht, erklären nur einen <hi rendition="#g">Theilinhalt</hi> der<lb/><hi rendition="#g">äußeren Wirklichkeit</hi>. Die&#x017F;e intelligible Welt der Atome,<lb/>
des Aethers, der Vibrationen i&#x017F;t nur eine ab&#x017F;ichtliche und höch&#x017F;t<lb/>
kun&#x017F;tvolle Ab&#x017F;traktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge-<lb/>
gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu kon&#x017F;truiren, welche<lb/>
die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be-<lb/>
&#x017F;timmungen abzuleiten und &#x017F;onach künftige Eindrücke vorauszu-<lb/>
&#x017F;agen ge&#x017F;tatten. Das Sy&#x017F;tem der Bewegungen von Elementen,<lb/>
in welchem die&#x017F;e Aufgabe gelö&#x017F;t wird, i&#x017F;t nur ein Aus&#x017F;chnitt der<lb/>
Realität. Denn &#x017F;chon der An&#x017F;atz unveränderlicher qualitätslo&#x017F;er<lb/>
Sub&#x017F;tanzen i&#x017F;t eine bloße Ab&#x017F;traktion, ein Kun&#x017F;tgriff der Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft. Er i&#x017F;t dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung<lb/>
aus der Außenwelt in das Bewußt&#x017F;ein hinüberge&#x017F;choben wird,<lb/>
wodurch denn die Außenwelt von den lä&#x017F;tigen Veränderungen<lb/>
der &#x017F;innlichen Eigen&#x017F;chaften befreit wird. Das Medium von Klar-<lb/>
heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung,<lb/>
Ge&#x017F;etz, Element &#x017F;chweben, i&#x017F;t nur die Folge davon, daß die That-<lb/>
be&#x017F;tände durch Ab&#x017F;traktion von Allem befreit &#x017F;ind, was der Maß-<lb/>
be&#x017F;timmung unzugänglich i&#x017F;t. Und daher i&#x017F;t die&#x017F;er mechani&#x017F;che<lb/>
Naturzu&#x017F;ammenhang zunäch&#x017F;t &#x017F;icher ein nothwendiges und frucht-<lb/>
bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
den Zu&#x017F;ammenhang des ge&#x017F;ammten Ge&#x017F;chehens in der Natur aus-<lb/>
drückt, aber was &#x017F;ie mehr &#x017F;ei als dies, darüber kann kein Natur-<lb/>
for&#x017F;cher etwas aus&#x017F;agen, will er nicht den Boden der &#x017F;trengen<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft verla&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>4. Der <hi rendition="#g">Zu&#x017F;ammenhang</hi> der <hi rendition="#g">Bedingungen</hi>, welchen<lb/>
die mechani&#x017F;che Naturerklärung au&#x017F;&#x017F;tellt, kann vorläufig <hi rendition="#g">noch<lb/>
nicht</hi> an <hi rendition="#g">allen</hi> Punkten der <hi rendition="#g">äußeren Wirklichkeit auf-<lb/>
gezeigt</hi> werden. Der organi&#x017F;che Körper bildet eine &#x017F;olche Grenze<lb/>
der mechani&#x017F;chen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[470/0493] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die Atome ſind unter dieſem Geſichtspunkte, wenn ſie Entitäten zu ſein beanſpruchen, nicht beſſer als die ſubſtantialen Formen: ſie ſind Geſchöpfe des wiſſenſchaftlichen Verſtandes. 3. Die Bedingungen, welche die mechaniſche Na- turerklärung ſucht, erklären nur einen Theilinhalt der äußeren Wirklichkeit. Dieſe intelligible Welt der Atome, des Aethers, der Vibrationen iſt nur eine abſichtliche und höchſt kunſtvolle Abſtraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge- gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konſtruiren, welche die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be- ſtimmungen abzuleiten und ſonach künftige Eindrücke vorauszu- ſagen geſtatten. Das Syſtem der Bewegungen von Elementen, in welchem dieſe Aufgabe gelöſt wird, iſt nur ein Ausſchnitt der Realität. Denn ſchon der Anſatz unveränderlicher qualitätsloſer Subſtanzen iſt eine bloße Abſtraktion, ein Kunſtgriff der Wiſſen- ſchaft. Er iſt dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung aus der Außenwelt in das Bewußtſein hinübergeſchoben wird, wodurch denn die Außenwelt von den läſtigen Veränderungen der ſinnlichen Eigenſchaften befreit wird. Das Medium von Klar- heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung, Geſetz, Element ſchweben, iſt nur die Folge davon, daß die That- beſtände durch Abſtraktion von Allem befreit ſind, was der Maß- beſtimmung unzugänglich iſt. Und daher iſt dieſer mechaniſche Naturzuſammenhang zunächſt ſicher ein nothwendiges und frucht- bares Symbol, das in Quantitäts- und Bewegungsverhältniſſen den Zuſammenhang des geſammten Geſchehens in der Natur aus- drückt, aber was ſie mehr ſei als dies, darüber kann kein Natur- forſcher etwas ausſagen, will er nicht den Boden der ſtrengen Wiſſenſchaft verlaſſen. 4. Der Zuſammenhang der Bedingungen, welchen die mechaniſche Naturerklärung auſſtellt, kann vorläufig noch nicht an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf- gezeigt werden. Der organiſche Körper bildet eine ſolche Grenze der mechaniſchen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/493
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/493>, abgerufen am 05.12.2024.