Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphysik angesehen werden.
1. Die äußere Wirklichkeit ist in der Totalität unseres Selbstbewußtseins nicht als bloßes Phänomen gegeben, sondern als Wirklichkeit, indem sie wirkt, dem Willen widersteht und dem Gefühl in Lust und Wehe da ist. In dem Willensanstoß und Willenswiderstand werden wir innerhalb unseres Vorstellungszu- sammenhangs eines Selbst inne, und gesondert von ihm eines Anderen. Aber dies Andere ist nur mit seinen prädikativen Be- stimmungen für unser Bewußtsein da, und die prädikativen Be- stimmungen erhellen nur Relationen zu unseren Sinnen und unserem Bewußtsein: das Subjekt oder die Subjekte selber sind nicht in unseren Sinneseindrücken. So wissen wir vielleicht, daß dies Subjekt da sei, doch sicher nicht, was es sei.
2. Für dieses Phänomen der äußeren Wirklichkeit sucht nun die mechanische Naturerklärung denknothwendige Be- dingungen. Und zwar ist die äußere Wirklichkeit jederzeit, weil sie uns als ein Wirkendes gegeben war, Gegenstand der Untersuchung in Bezug auf ihre Substanz und die ihr unterliegende Ursächlichkeit für den Menschen gewesen. Auch verbleibt das Denken durch das Urtheil als seine Funktion an die Unterscheidung von Substanz einerseits und Thun, Leiden, Eigenschaft, Kausalität, schließlich Gesetz andrerseits gebunden. Die Unterscheidung der zwei Klassen von Begriffen, welche das Urtheil trennt und ver- knüpft, kann nur mit dem Urtheilen, sonach dem Denken selber aufgehoben werden. Aber eben darum können für das Studium der Außenwelt die unter diesen Bedingungen entwickelten Begriffe nur Zeichen sein, welche, als Hilfsmittel des Zusammenhangs im Bewußtsein, zur Lösung der Aufgabe der Erkenntniß in das System der Wahrnehmungen eingesetzt werden. Denn das Er- kennen vermag nicht an die Stelle von Erlebniß eine von ihm unabhängige Realität zu setzen. Es vermag nur, das in Erleben und Erfahren Gegebene auf einen Zusammenhang von Bedingungen zurückzuführen, in welchem es begreiflich wird. Es kann die konstanten Beziehungen von Theilinhalten feststellen, welche in den mannichfachen Gestalten des Naturlebens wiederkehren. Verläßt man daher den Erfahrungsbezirk selber, so hat man es nur mit
Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.
1. Die äußere Wirklichkeit iſt in der Totalität unſeres Selbſtbewußtſeins nicht als bloßes Phänomen gegeben, ſondern als Wirklichkeit, indem ſie wirkt, dem Willen widerſteht und dem Gefühl in Luſt und Wehe da iſt. In dem Willensanſtoß und Willenswiderſtand werden wir innerhalb unſeres Vorſtellungszu- ſammenhangs eines Selbſt inne, und geſondert von ihm eines Anderen. Aber dies Andere iſt nur mit ſeinen prädikativen Be- ſtimmungen für unſer Bewußtſein da, und die prädikativen Be- ſtimmungen erhellen nur Relationen zu unſeren Sinnen und unſerem Bewußtſein: das Subjekt oder die Subjekte ſelber ſind nicht in unſeren Sinneseindrücken. So wiſſen wir vielleicht, daß dies Subjekt da ſei, doch ſicher nicht, was es ſei.
2. Für dieſes Phänomen der äußeren Wirklichkeit ſucht nun die mechaniſche Naturerklärung denknothwendige Be- dingungen. Und zwar iſt die äußere Wirklichkeit jederzeit, weil ſie uns als ein Wirkendes gegeben war, Gegenſtand der Unterſuchung in Bezug auf ihre Subſtanz und die ihr unterliegende Urſächlichkeit für den Menſchen geweſen. Auch verbleibt das Denken durch das Urtheil als ſeine Funktion an die Unterſcheidung von Subſtanz einerſeits und Thun, Leiden, Eigenſchaft, Kauſalität, ſchließlich Geſetz andrerſeits gebunden. Die Unterſcheidung der zwei Klaſſen von Begriffen, welche das Urtheil trennt und ver- knüpft, kann nur mit dem Urtheilen, ſonach dem Denken ſelber aufgehoben werden. Aber eben darum können für das Studium der Außenwelt die unter dieſen Bedingungen entwickelten Begriffe nur Zeichen ſein, welche, als Hilfsmittel des Zuſammenhangs im Bewußtſein, zur Löſung der Aufgabe der Erkenntniß in das Syſtem der Wahrnehmungen eingeſetzt werden. Denn das Er- kennen vermag nicht an die Stelle von Erlebniß eine von ihm unabhängige Realität zu ſetzen. Es vermag nur, das in Erleben und Erfahren Gegebene auf einen Zuſammenhang von Bedingungen zurückzuführen, in welchem es begreiflich wird. Es kann die konſtanten Beziehungen von Theilinhalten feſtſtellen, welche in den mannichfachen Geſtalten des Naturlebens wiederkehren. Verläßt man daher den Erfahrungsbezirk ſelber, ſo hat man es nur mit
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Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.
1. Die äußere Wirklichkeit iſt in der Totalität unſeres
Selbſtbewußtſeins nicht als bloßes Phänomen gegeben, ſondern
als Wirklichkeit, indem ſie wirkt, dem Willen widerſteht und dem
Gefühl in Luſt und Wehe da iſt. In dem Willensanſtoß und
Willenswiderſtand werden wir innerhalb unſeres Vorſtellungszu-
ſammenhangs eines Selbſt inne, und geſondert von ihm eines
Anderen. Aber dies Andere iſt nur mit ſeinen prädikativen Be-
ſtimmungen für unſer Bewußtſein da, und die prädikativen Be-
ſtimmungen erhellen nur Relationen zu unſeren Sinnen und
unſerem Bewußtſein: das Subjekt oder die Subjekte ſelber ſind
nicht in unſeren Sinneseindrücken. So wiſſen wir vielleicht, daß
dies Subjekt da ſei, doch ſicher nicht, was es ſei.
2. Für dieſes Phänomen der äußeren Wirklichkeit ſucht nun
die mechaniſche Naturerklärung denknothwendige Be-
dingungen. Und zwar iſt die äußere Wirklichkeit jederzeit,
weil ſie uns als ein Wirkendes gegeben war, Gegenſtand der
Unterſuchung in Bezug auf ihre Subſtanz und die ihr unterliegende
Urſächlichkeit für den Menſchen geweſen. Auch verbleibt das Denken
durch das Urtheil als ſeine Funktion an die Unterſcheidung von
Subſtanz einerſeits und Thun, Leiden, Eigenſchaft, Kauſalität,
ſchließlich Geſetz andrerſeits gebunden. Die Unterſcheidung der
zwei Klaſſen von Begriffen, welche das Urtheil trennt und ver-
knüpft, kann nur mit dem Urtheilen, ſonach dem Denken ſelber
aufgehoben werden. Aber eben darum können für das Studium
der Außenwelt die unter dieſen Bedingungen entwickelten Begriffe
nur Zeichen ſein, welche, als Hilfsmittel des Zuſammenhangs
im Bewußtſein, zur Löſung der Aufgabe der Erkenntniß in das
Syſtem der Wahrnehmungen eingeſetzt werden. Denn das Er-
kennen vermag nicht an die Stelle von Erlebniß eine von ihm
unabhängige Realität zu ſetzen. Es vermag nur, das in Erleben
und Erfahren Gegebene auf einen Zuſammenhang von Bedingungen
zurückzuführen, in welchem es begreiflich wird. Es kann die
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den mannichfachen Geſtalten des Naturlebens wiederkehren. Verläßt
man daher den Erfahrungsbezirk ſelber, ſo hat man es nur mit
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/492>, abgerufen am 05.12.2024.
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