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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphysik angesehen werden.
die Erklärung dieser Erscheinungen am meisten geeigneten Begriffs-
zusammenhang. Wogegen die Vorstellungen der idealistischen
Naturphilosophie zwar durch ihre Verwandtschaft mit dem geistigen
Leben höchst würdig erschienen, den Ausgangspunkt der Erklärung
der Natur zu bilden, aber indem sie eine den sichtbaren Objekten
heterogene Innerlichkeit hinter diesen dichteten, waren sie andrer-
seits unfähig, diese sichtbaren Objekte wirklich zu erklären, und
darum gänzlich unfruchtbar 1).

Dieselbe Folgerung ergiebt sich alsdann in Bezug auf den Er-
kenntnißwerth des Begriffes der Kraft und der ihm benachbarten
von Kausalität und Gesetz. Während der Begriff der Substanz
im Alterthum ausgebildet wurde, hat der Begriff der Kraft seine
gegenwärtige Gestaltung erst im Zusammenhang mit der neueren
Wissenschaft empfangen. Wiederum blicken wir rückwärts; den
Ursprung dieses Begriffs erfaßten wir noch im mythischen Vor-
stellen als Erlebniß. Die Natur dieses Erlebnisses wird später
Gegenstand der erkenntnißtheoretischen Untersuchung sein. Hier
sei nur herausgehoben: wie wir in unserem Erlebniß finden, kann
der Wille die Vorstellungen lenken, die Glieder in Bewegung
setzen, und diese Fähigkeit wohnt ihm bei, wenn er auch nicht
immer von ihr Gebrauch macht; ja im Falle äußerer Hemmung
kann sie zwar durch eine gleiche oder größere Kraft in Ruhestand
gehalten werden, wird jedoch als vorhanden gefühlt. So fassen
wir die Vorstellung einer Wirkensfähigkeit (oder eines Vermögens),
welche dem einzelnen Akt von Wirken voraufgeht; aus einer Art
von Reservoir wirkender Kraft entfließen die einzelnen Willensakte
und Handlungen. Die erste wissenschaftliche Entwicklung dieser
Vorstellung haben wir in der aristotelischen Begriffsreihe von
Dynamis, Energie und Entelechie vorgefunden. Jedoch war die
hervorbringende Kraft in dem System des Aristoteles noch nicht
von dem Grunde der zweckmäßigen Form ihrer Leistung gesondert,
und wir erkannten gerade hierin ein charakteristisches Merkmal
und eine Grenze der aristotelischen Wissenschaft. Erst diese Son-

1) Vgl. Fechner über die physikalische und philosophische Atomenlehre 2
Leipzig 1864.
30*

Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.
die Erklärung dieſer Erſcheinungen am meiſten geeigneten Begriffs-
zuſammenhang. Wogegen die Vorſtellungen der idealiſtiſchen
Naturphiloſophie zwar durch ihre Verwandtſchaft mit dem geiſtigen
Leben höchſt würdig erſchienen, den Ausgangspunkt der Erklärung
der Natur zu bilden, aber indem ſie eine den ſichtbaren Objekten
heterogene Innerlichkeit hinter dieſen dichteten, waren ſie andrer-
ſeits unfähig, dieſe ſichtbaren Objekte wirklich zu erklären, und
darum gänzlich unfruchtbar 1).

Dieſelbe Folgerung ergiebt ſich alsdann in Bezug auf den Er-
kenntnißwerth des Begriffes der Kraft und der ihm benachbarten
von Kauſalität und Geſetz. Während der Begriff der Subſtanz
im Alterthum ausgebildet wurde, hat der Begriff der Kraft ſeine
gegenwärtige Geſtaltung erſt im Zuſammenhang mit der neueren
Wiſſenſchaft empfangen. Wiederum blicken wir rückwärts; den
Urſprung dieſes Begriffs erfaßten wir noch im mythiſchen Vor-
ſtellen als Erlebniß. Die Natur dieſes Erlebniſſes wird ſpäter
Gegenſtand der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung ſein. Hier
ſei nur herausgehoben: wie wir in unſerem Erlebniß finden, kann
der Wille die Vorſtellungen lenken, die Glieder in Bewegung
ſetzen, und dieſe Fähigkeit wohnt ihm bei, wenn er auch nicht
immer von ihr Gebrauch macht; ja im Falle äußerer Hemmung
kann ſie zwar durch eine gleiche oder größere Kraft in Ruheſtand
gehalten werden, wird jedoch als vorhanden gefühlt. So faſſen
wir die Vorſtellung einer Wirkensfähigkeit (oder eines Vermögens),
welche dem einzelnen Akt von Wirken voraufgeht; aus einer Art
von Reſervoir wirkender Kraft entfließen die einzelnen Willensakte
und Handlungen. Die erſte wiſſenſchaftliche Entwicklung dieſer
Vorſtellung haben wir in der ariſtoteliſchen Begriffsreihe von
Dynamis, Energie und Entelechie vorgefunden. Jedoch war die
hervorbringende Kraft in dem Syſtem des Ariſtoteles noch nicht
von dem Grunde der zweckmäßigen Form ihrer Leiſtung geſondert,
und wir erkannten gerade hierin ein charakteriſtiſches Merkmal
und eine Grenze der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft. Erſt dieſe Son-

1) Vgl. Fechner über die phyſikaliſche und philoſophiſche Atomenlehre 2
Leipzig 1864.
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[467/0490] Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden. die Erklärung dieſer Erſcheinungen am meiſten geeigneten Begriffs- zuſammenhang. Wogegen die Vorſtellungen der idealiſtiſchen Naturphiloſophie zwar durch ihre Verwandtſchaft mit dem geiſtigen Leben höchſt würdig erſchienen, den Ausgangspunkt der Erklärung der Natur zu bilden, aber indem ſie eine den ſichtbaren Objekten heterogene Innerlichkeit hinter dieſen dichteten, waren ſie andrer- ſeits unfähig, dieſe ſichtbaren Objekte wirklich zu erklären, und darum gänzlich unfruchtbar 1). Dieſelbe Folgerung ergiebt ſich alsdann in Bezug auf den Er- kenntnißwerth des Begriffes der Kraft und der ihm benachbarten von Kauſalität und Geſetz. Während der Begriff der Subſtanz im Alterthum ausgebildet wurde, hat der Begriff der Kraft ſeine gegenwärtige Geſtaltung erſt im Zuſammenhang mit der neueren Wiſſenſchaft empfangen. Wiederum blicken wir rückwärts; den Urſprung dieſes Begriffs erfaßten wir noch im mythiſchen Vor- ſtellen als Erlebniß. Die Natur dieſes Erlebniſſes wird ſpäter Gegenſtand der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung ſein. Hier ſei nur herausgehoben: wie wir in unſerem Erlebniß finden, kann der Wille die Vorſtellungen lenken, die Glieder in Bewegung ſetzen, und dieſe Fähigkeit wohnt ihm bei, wenn er auch nicht immer von ihr Gebrauch macht; ja im Falle äußerer Hemmung kann ſie zwar durch eine gleiche oder größere Kraft in Ruheſtand gehalten werden, wird jedoch als vorhanden gefühlt. So faſſen wir die Vorſtellung einer Wirkensfähigkeit (oder eines Vermögens), welche dem einzelnen Akt von Wirken voraufgeht; aus einer Art von Reſervoir wirkender Kraft entfließen die einzelnen Willensakte und Handlungen. Die erſte wiſſenſchaftliche Entwicklung dieſer Vorſtellung haben wir in der ariſtoteliſchen Begriffsreihe von Dynamis, Energie und Entelechie vorgefunden. Jedoch war die hervorbringende Kraft in dem Syſtem des Ariſtoteles noch nicht von dem Grunde der zweckmäßigen Form ihrer Leiſtung geſondert, und wir erkannten gerade hierin ein charakteriſtiſches Merkmal und eine Grenze der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft. Erſt dieſe Son- 1) Vgl. Fechner über die phyſikaliſche und philoſophiſche Atomenlehre 2 Leipzig 1864. 30*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/490>, abgerufen am 05.12.2024.