in sich geschlossenes System der Bedingungen für die Erklärung der Natur zu konstruiren.
Wir ziehen wieder nur einen Schluß aus der historischen Uebersicht, wenn wir zunächst weiter behaupten: der Begriff der Substanz und der von ihm ausgehende konstruktive Begriff des Atoms sind aus den Anforderungen des Erkennens an das, was in der Veränderlichkeit des Dinges als ein zu Grunde liegendes Festes zu setzen sei, entstanden; sie sind geschichtliche Erzeugnisse des mit den Gegenständen ringenden logischen Geistes; sie sind also nicht Wesenheiten von einer höheren Dignität als das einzelne Ding, sondern Geschöpfe der Logik, welche das Ding denkbar machen sollen und deren Erkenntnißwerth unter der Bedingung des Erlebens und Anschauens steht, in denen das Ding gegeben ist. Dem Schema dieser Begriffe haben sich die großen Entdeckungen ein- geordnet, welche in den Grenzen unserer chemischen Erfahrungen die Unveränderlichkeit der Stoffe nach Masse und Eigenschaften mitten in dem Wechsel der chemischen Verbindungen und Tren- nungen erweisen. So entsteht die Möglichkeit, an welche alle fruchtbare Naturforschung gebunden ist, die in der Anschauung gegebenen Thatbestände und Beziehungen rückwärts dem zu Grunde zu legen, was der Anschauung entzogen ist, und solchergestalt eine einheitliche Naturansicht durchzuführen. Die klaren Vor- stellungen von Masse, Gewicht, Bewegung, Geschwindigkeit, Ab- stand, welche an den größeren sichtbaren Körpern gebildet sind und an dem Studium der Massen im Weltraum sich bewährt haben, werden auch da benutzt, wo die Sinne durch die Vor- stellungskraft ersetzt werden müssen. Daher ist auch der Versuch des deutschen Idealismus, diese Grundvorstellung von der Kon- stitution der Materie zu verdrängen, eine unfruchtbare Episode geblieben, während die Atomistik in ihrer Entwicklung stätig, wenn auch zuweilen durch sehr barocke Vorstellungen von den Massen- theilchen, voranschreitet. Diese barocken Vorstellungen wollen zwar unseren idealen Anforderungen an die ersten Gründe des Kosmos nicht entsprechen, sind aber den sichtbaren Erscheinungen gleichartig, und ermöglichen den nach der Lage der Wissenschaft zur Zeit für
Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
in ſich geſchloſſenes Syſtem der Bedingungen für die Erklärung der Natur zu konſtruiren.
Wir ziehen wieder nur einen Schluß aus der hiſtoriſchen Ueberſicht, wenn wir zunächſt weiter behaupten: der Begriff der Subſtanz und der von ihm ausgehende konſtruktive Begriff des Atoms ſind aus den Anforderungen des Erkennens an das, was in der Veränderlichkeit des Dinges als ein zu Grunde liegendes Feſtes zu ſetzen ſei, entſtanden; ſie ſind geſchichtliche Erzeugniſſe des mit den Gegenſtänden ringenden logiſchen Geiſtes; ſie ſind alſo nicht Weſenheiten von einer höheren Dignität als das einzelne Ding, ſondern Geſchöpfe der Logik, welche das Ding denkbar machen ſollen und deren Erkenntnißwerth unter der Bedingung des Erlebens und Anſchauens ſteht, in denen das Ding gegeben iſt. Dem Schema dieſer Begriffe haben ſich die großen Entdeckungen ein- geordnet, welche in den Grenzen unſerer chemiſchen Erfahrungen die Unveränderlichkeit der Stoffe nach Maſſe und Eigenſchaften mitten in dem Wechſel der chemiſchen Verbindungen und Tren- nungen erweiſen. So entſteht die Möglichkeit, an welche alle fruchtbare Naturforſchung gebunden iſt, die in der Anſchauung gegebenen Thatbeſtände und Beziehungen rückwärts dem zu Grunde zu legen, was der Anſchauung entzogen iſt, und ſolchergeſtalt eine einheitliche Naturanſicht durchzuführen. Die klaren Vor- ſtellungen von Maſſe, Gewicht, Bewegung, Geſchwindigkeit, Ab- ſtand, welche an den größeren ſichtbaren Körpern gebildet ſind und an dem Studium der Maſſen im Weltraum ſich bewährt haben, werden auch da benutzt, wo die Sinne durch die Vor- ſtellungskraft erſetzt werden müſſen. Daher iſt auch der Verſuch des deutſchen Idealismus, dieſe Grundvorſtellung von der Kon- ſtitution der Materie zu verdrängen, eine unfruchtbare Epiſode geblieben, während die Atomiſtik in ihrer Entwicklung ſtätig, wenn auch zuweilen durch ſehr barocke Vorſtellungen von den Maſſen- theilchen, voranſchreitet. Dieſe barocken Vorſtellungen wollen zwar unſeren idealen Anforderungen an die erſten Gründe des Kosmos nicht entſprechen, ſind aber den ſichtbaren Erſcheinungen gleichartig, und ermöglichen den nach der Lage der Wiſſenſchaft zur Zeit für
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Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
in ſich geſchloſſenes Syſtem der Bedingungen für die Erklärung der
Natur zu konſtruiren.
Wir ziehen wieder nur einen Schluß aus der hiſtoriſchen
Ueberſicht, wenn wir zunächſt weiter behaupten: der Begriff der
Subſtanz und der von ihm ausgehende konſtruktive Begriff des
Atoms ſind aus den Anforderungen des Erkennens an das, was
in der Veränderlichkeit des Dinges als ein zu Grunde liegendes
Feſtes zu ſetzen ſei, entſtanden; ſie ſind geſchichtliche Erzeugniſſe des
mit den Gegenſtänden ringenden logiſchen Geiſtes; ſie ſind alſo
nicht Weſenheiten von einer höheren Dignität als das einzelne
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ſollen und deren Erkenntnißwerth unter der Bedingung des Erlebens
und Anſchauens ſteht, in denen das Ding gegeben iſt. Dem
Schema dieſer Begriffe haben ſich die großen Entdeckungen ein-
geordnet, welche in den Grenzen unſerer chemiſchen Erfahrungen
die Unveränderlichkeit der Stoffe nach Maſſe und Eigenſchaften
mitten in dem Wechſel der chemiſchen Verbindungen und Tren-
nungen erweiſen. So entſteht die Möglichkeit, an welche alle
fruchtbare Naturforſchung gebunden iſt, die in der Anſchauung
gegebenen Thatbeſtände und Beziehungen rückwärts dem zu Grunde
zu legen, was der Anſchauung entzogen iſt, und ſolchergeſtalt
eine einheitliche Naturanſicht durchzuführen. Die klaren Vor-
ſtellungen von Maſſe, Gewicht, Bewegung, Geſchwindigkeit, Ab-
ſtand, welche an den größeren ſichtbaren Körpern gebildet ſind
und an dem Studium der Maſſen im Weltraum ſich bewährt
haben, werden auch da benutzt, wo die Sinne durch die Vor-
ſtellungskraft erſetzt werden müſſen. Daher iſt auch der Verſuch
des deutſchen Idealismus, dieſe Grundvorſtellung von der Kon-
ſtitution der Materie zu verdrängen, eine unfruchtbare Epiſode
geblieben, während die Atomiſtik in ihrer Entwicklung ſtätig, wenn
auch zuweilen durch ſehr barocke Vorſtellungen von den Maſſen-
theilchen, voranſchreitet. Dieſe barocken Vorſtellungen wollen zwar
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nicht entſprechen, ſind aber den ſichtbaren Erſcheinungen gleichartig,
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/489>, abgerufen am 17.05.2024.
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