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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphysik angesehen werden.
die Erkenntniß einer physischen Ursache 1). Solche Begriffe, wie
Kraft, Atom, Molekül sind für die meisten hervorragenden Natur-
forscher ein System von Hilfskonstruktionen, vermittelst deren
wir die Bedingungen für das Gegebene zu einem für die Vor-
stellung klaren und für das Leben benutzbaren Zusammenhang
entwickeln. Und dies entspricht dem Sachverhalt.

Ding und Ursache können nicht als Bestandtheile der Wahr-
nehmungen in den Sinnen aufgezeigt werden. Sie ergeben sich
auch nicht aus der formalen Anforderung eines denknothwendigen
Zusammenhangs zwischen den Wahrnehmungselementen, noch
weniger aus den bloßen Beziehungen derselben in Koexistenz und
Succession. Für den Naturforscher mangelt ihnen daher die Legi-
timität des Ursprungs. Sie bilden die inhaltlichen im Erlebniß
gegründeten Vorstellungen, durch welche Zusammenhang unter
unseren Empfindungen besteht, und zwar treten sie in einer vor
der bewußten Erinnerung liegenden Entwicklung auf.

Aus ihnen sahen wir im Verlauf dieses geschichtlichen Ueber-
blicks die abstrakten Begriffe von Substanz und Kausalität
hervorgehen. Nun bestimmt die Unterscheidung des Dings von
Wirken, Leiden und Zustand nebst den aus ihr rechtmäßig
vom Erkennen abgeleiteten Unterscheidungen, welche mit den Be-
griffen der Substanz und der Kausalität gegeben sind, die Form
des Urtheils. Also können wir diese Begriffe wol im Wort,
nicht im wirklichen Vorstellen eliminiren, und die Naturforschung
kann nur darauf gerichtet sein, vermittelst dieser Vorstellungen
und Begriffe, welche den einzigen uns möglichen, unserem Bewußt-
sein eigenen Zusammenhang in sich schließen, ein zureichendes und

1) Newton Principia def. VIII: Voces autem attractionis, impulsus
vel propensionis cujuscunque in centrum, indifferenter et pro se mutuo
promiscue usurpo; has vires non physice, sed mathematice tantum con-
siderando. Unde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me spe-
ciem vel modum actionis causamve aut rationem physicam alicubi de-
finire vel centris (quae sunt puncta mathematica) vires vere et physice
tribuere, si forte aut centra trahere, aut vires centrorum esse dixero
.
Dilthey, Einleitung. 30

Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.
die Erkenntniß einer phyſiſchen Urſache 1). Solche Begriffe, wie
Kraft, Atom, Molekül ſind für die meiſten hervorragenden Natur-
forſcher ein Syſtem von Hilfskonſtruktionen, vermittelſt deren
wir die Bedingungen für das Gegebene zu einem für die Vor-
ſtellung klaren und für das Leben benutzbaren Zuſammenhang
entwickeln. Und dies entſpricht dem Sachverhalt.

Ding und Urſache können nicht als Beſtandtheile der Wahr-
nehmungen in den Sinnen aufgezeigt werden. Sie ergeben ſich
auch nicht aus der formalen Anforderung eines denknothwendigen
Zuſammenhangs zwiſchen den Wahrnehmungselementen, noch
weniger aus den bloßen Beziehungen derſelben in Koexiſtenz und
Succeſſion. Für den Naturforſcher mangelt ihnen daher die Legi-
timität des Urſprungs. Sie bilden die inhaltlichen im Erlebniß
gegründeten Vorſtellungen, durch welche Zuſammenhang unter
unſeren Empfindungen beſteht, und zwar treten ſie in einer vor
der bewußten Erinnerung liegenden Entwicklung auf.

Aus ihnen ſahen wir im Verlauf dieſes geſchichtlichen Ueber-
blicks die abſtrakten Begriffe von Subſtanz und Kauſalität
hervorgehen. Nun beſtimmt die Unterſcheidung des Dings von
Wirken, Leiden und Zuſtand nebſt den aus ihr rechtmäßig
vom Erkennen abgeleiteten Unterſcheidungen, welche mit den Be-
griffen der Subſtanz und der Kauſalität gegeben ſind, die Form
des Urtheils. Alſo können wir dieſe Begriffe wol im Wort,
nicht im wirklichen Vorſtellen eliminiren, und die Naturforſchung
kann nur darauf gerichtet ſein, vermittelſt dieſer Vorſtellungen
und Begriffe, welche den einzigen uns möglichen, unſerem Bewußt-
ſein eigenen Zuſammenhang in ſich ſchließen, ein zureichendes und

1) Newton Principia def. VIII: Voces autem attractionis, impulsus
vel propensionis cujuscunque in centrum, indifferenter et pro se mutuo
promiscue usurpo; has vires non physice, sed mathematice tantum con-
siderando. Unde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me spe-
ciem vel modum actionis causamve aut rationem physicam alicubi de-
finire vel centris (quae sunt puncta mathematica) vires vere et physice
tribuere, si forte aut centra trahere, aut vires centrorum esse dixero
.
Dilthey, Einleitung. 30
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[465/0488] Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden. die Erkenntniß einer phyſiſchen Urſache 1). Solche Begriffe, wie Kraft, Atom, Molekül ſind für die meiſten hervorragenden Natur- forſcher ein Syſtem von Hilfskonſtruktionen, vermittelſt deren wir die Bedingungen für das Gegebene zu einem für die Vor- ſtellung klaren und für das Leben benutzbaren Zuſammenhang entwickeln. Und dies entſpricht dem Sachverhalt. Ding und Urſache können nicht als Beſtandtheile der Wahr- nehmungen in den Sinnen aufgezeigt werden. Sie ergeben ſich auch nicht aus der formalen Anforderung eines denknothwendigen Zuſammenhangs zwiſchen den Wahrnehmungselementen, noch weniger aus den bloßen Beziehungen derſelben in Koexiſtenz und Succeſſion. Für den Naturforſcher mangelt ihnen daher die Legi- timität des Urſprungs. Sie bilden die inhaltlichen im Erlebniß gegründeten Vorſtellungen, durch welche Zuſammenhang unter unſeren Empfindungen beſteht, und zwar treten ſie in einer vor der bewußten Erinnerung liegenden Entwicklung auf. Aus ihnen ſahen wir im Verlauf dieſes geſchichtlichen Ueber- blicks die abſtrakten Begriffe von Subſtanz und Kauſalität hervorgehen. Nun beſtimmt die Unterſcheidung des Dings von Wirken, Leiden und Zuſtand nebſt den aus ihr rechtmäßig vom Erkennen abgeleiteten Unterſcheidungen, welche mit den Be- griffen der Subſtanz und der Kauſalität gegeben ſind, die Form des Urtheils. Alſo können wir dieſe Begriffe wol im Wort, nicht im wirklichen Vorſtellen eliminiren, und die Naturforſchung kann nur darauf gerichtet ſein, vermittelſt dieſer Vorſtellungen und Begriffe, welche den einzigen uns möglichen, unſerem Bewußt- ſein eigenen Zuſammenhang in ſich ſchließen, ein zureichendes und 1) Newton Principia def. VIII: Voces autem attractionis, impulsus vel propensionis cujuscunque in centrum, indifferenter et pro se mutuo promiscue usurpo; has vires non physice, sed mathematice tantum con- siderando. Unde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me spe- ciem vel modum actionis causamve aut rationem physicam alicubi de- finire vel centris (quae sunt puncta mathematica) vires vere et physice tribuere, si forte aut centra trahere, aut vires centrorum esse dixero. Dilthey, Einleitung. 30

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/488>, abgerufen am 05.12.2024.