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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
metrischen Raumanschauung in eine geheimnißvolle aber lebendig
empfundene Beziehung setzt. Dies Alles ist in Einer Stimmung
verbunden, die Seele findet sich erweitert, ein gedankenmäßiger
göttlicher Zusammenhang breitet sich rings um sie in das Un-
ermeßliche aus. Dies Gefühl ist nicht fähig, in irgend eine De-
monstration aufgelöst zu werden. Die Metaphysik verstummt.
Aber von den Sternen her klingt, wenn die Stille der Nacht
kommt, auch zu uns noch jene Harmonie der Sphären, von welcher
die Pythagoreer sagten, daß nur das Geräusch der Welt sie
übertäube; eine unauflösliche metaphysische Stimmung, welche jeder
Beweisführung zu Grunde lag und sie alle überleben wird.

Wenn nun solchergestalt die moderne Naturwissenschaft die
ganze bisher dargestellte Metaphysik der substantialen Formen und
der psychischen Wesenheiten aufgelöst hat bis in den innersten Kern,
den die einheitliche geistige Weltursache ausmacht, so entsteht die
Frage: in was hat sie dieselbe aufgelöst?

Was setzte nun die Zerlegung der zusammgesetzten Formen der
Natur an die Stelle dieser formae substantiales, welche einst der
Gegenstand einer deskriptiven Auffassung und Zurückführung auf
geistähnliche Wesenheiten gewesen waren? Man hat wol gesagt:
eine neue Metaphysik. Und in der That so weit ein Standpunkt
reicht, wie ihn neuerdings Fechner als die Nachtansicht geschildert
hat, ein Standpunkt, für welchen Atome und Gravitation meta-
physische Entitäten sind, wie sie vorher die substantialen Formen
waren, ist natürlich nur eine alte mit einer neuen Metaphysik ver-
tauscht worden, und man kann nicht einmal sagen: eine schlechtere
mit einer besseren. Der Materialismus war eine solche neue
Metaphysik, und eben darum ist der gegenwärtige naturwissen-
schaftliche Monismus sein Sohn und Erbe, weil auch ihm Atome,
Moleküle, Gravitation Entitäten sind, Wirklichkeiten, so gut als
irgend ein Objekt, das gesehen und betastet werden kann. Aber
das Verhältniß der wahrhaft positiven Forscher zu den Begriffen,
durch welche sie die Natur erkennen, ist ein anderes, als das der
metaphysischen Monisten. Newton selber sah in der anziehenden
Kraft nur einen Hilfsbegriff für die Formel des Gesetzes, nicht

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
metriſchen Raumanſchauung in eine geheimnißvolle aber lebendig
empfundene Beziehung ſetzt. Dies Alles iſt in Einer Stimmung
verbunden, die Seele findet ſich erweitert, ein gedankenmäßiger
göttlicher Zuſammenhang breitet ſich rings um ſie in das Un-
ermeßliche aus. Dies Gefühl iſt nicht fähig, in irgend eine De-
monſtration aufgelöſt zu werden. Die Metaphyſik verſtummt.
Aber von den Sternen her klingt, wenn die Stille der Nacht
kommt, auch zu uns noch jene Harmonie der Sphären, von welcher
die Pythagoreer ſagten, daß nur das Geräuſch der Welt ſie
übertäube; eine unauflösliche metaphyſiſche Stimmung, welche jeder
Beweisführung zu Grunde lag und ſie alle überleben wird.

Wenn nun ſolchergeſtalt die moderne Naturwiſſenſchaft die
ganze bisher dargeſtellte Metaphyſik der ſubſtantialen Formen und
der pſychiſchen Weſenheiten aufgelöſt hat bis in den innerſten Kern,
den die einheitliche geiſtige Welturſache ausmacht, ſo entſteht die
Frage: in was hat ſie dieſelbe aufgelöſt?

Was ſetzte nun die Zerlegung der zuſammgeſetzten Formen der
Natur an die Stelle dieſer formae substantiales, welche einſt der
Gegenſtand einer deſkriptiven Auffaſſung und Zurückführung auf
geiſtähnliche Weſenheiten geweſen waren? Man hat wol geſagt:
eine neue Metaphyſik. Und in der That ſo weit ein Standpunkt
reicht, wie ihn neuerdings Fechner als die Nachtanſicht geſchildert
hat, ein Standpunkt, für welchen Atome und Gravitation meta-
phyſiſche Entitäten ſind, wie ſie vorher die ſubſtantialen Formen
waren, iſt natürlich nur eine alte mit einer neuen Metaphyſik ver-
tauſcht worden, und man kann nicht einmal ſagen: eine ſchlechtere
mit einer beſſeren. Der Materialismus war eine ſolche neue
Metaphyſik, und eben darum iſt der gegenwärtige naturwiſſen-
ſchaftliche Monismus ſein Sohn und Erbe, weil auch ihm Atome,
Moleküle, Gravitation Entitäten ſind, Wirklichkeiten, ſo gut als
irgend ein Objekt, das geſehen und betaſtet werden kann. Aber
das Verhältniß der wahrhaft poſitiven Forſcher zu den Begriffen,
durch welche ſie die Natur erkennen, iſt ein anderes, als das der
metaphyſiſchen Moniſten. Newton ſelber ſah in der anziehenden
Kraft nur einen Hilfsbegriff für die Formel des Geſetzes, nicht

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[464/0487] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. metriſchen Raumanſchauung in eine geheimnißvolle aber lebendig empfundene Beziehung ſetzt. Dies Alles iſt in Einer Stimmung verbunden, die Seele findet ſich erweitert, ein gedankenmäßiger göttlicher Zuſammenhang breitet ſich rings um ſie in das Un- ermeßliche aus. Dies Gefühl iſt nicht fähig, in irgend eine De- monſtration aufgelöſt zu werden. Die Metaphyſik verſtummt. Aber von den Sternen her klingt, wenn die Stille der Nacht kommt, auch zu uns noch jene Harmonie der Sphären, von welcher die Pythagoreer ſagten, daß nur das Geräuſch der Welt ſie übertäube; eine unauflösliche metaphyſiſche Stimmung, welche jeder Beweisführung zu Grunde lag und ſie alle überleben wird. Wenn nun ſolchergeſtalt die moderne Naturwiſſenſchaft die ganze bisher dargeſtellte Metaphyſik der ſubſtantialen Formen und der pſychiſchen Weſenheiten aufgelöſt hat bis in den innerſten Kern, den die einheitliche geiſtige Welturſache ausmacht, ſo entſteht die Frage: in was hat ſie dieſelbe aufgelöſt? Was ſetzte nun die Zerlegung der zuſammgeſetzten Formen der Natur an die Stelle dieſer formae substantiales, welche einſt der Gegenſtand einer deſkriptiven Auffaſſung und Zurückführung auf geiſtähnliche Weſenheiten geweſen waren? Man hat wol geſagt: eine neue Metaphyſik. Und in der That ſo weit ein Standpunkt reicht, wie ihn neuerdings Fechner als die Nachtanſicht geſchildert hat, ein Standpunkt, für welchen Atome und Gravitation meta- phyſiſche Entitäten ſind, wie ſie vorher die ſubſtantialen Formen waren, iſt natürlich nur eine alte mit einer neuen Metaphyſik ver- tauſcht worden, und man kann nicht einmal ſagen: eine ſchlechtere mit einer beſſeren. Der Materialismus war eine ſolche neue Metaphyſik, und eben darum iſt der gegenwärtige naturwiſſen- ſchaftliche Monismus ſein Sohn und Erbe, weil auch ihm Atome, Moleküle, Gravitation Entitäten ſind, Wirklichkeiten, ſo gut als irgend ein Objekt, das geſehen und betaſtet werden kann. Aber das Verhältniß der wahrhaft poſitiven Forſcher zu den Begriffen, durch welche ſie die Natur erkennen, iſt ein anderes, als das der metaphyſiſchen Moniſten. Newton ſelber ſah in der anziehenden Kraft nur einen Hilfsbegriff für die Formel des Geſetzes, nicht

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/487>, abgerufen am 05.12.2024.