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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Auflösung des Schlusses aus den Thatsachen der Astronomie.
Gesetze erlangen konnten. "Dies vollkommene Gefüge der Sonne,
der Planeten und Kometen hat nur aus dem Rathschluß und der
Herrschaft eines einsichtigen und mächtigen Wesens hervorgehen
können 1)." Seine geistige Substanz ist Trägerin der Wechsel-
wirkung der Theile im Weltall. So dauerte eine Zeit hindurch,
wenn auch abgeschwächt, die Macht des astronomischen Theils des
kosmologischen Beweises für das Dasein Gottes fort. Eine Anzahl
von bedeutenden Köpfen, welche sonst einen leidenschaftlichen
Kampf gegen den Kirchenglauben führten, fand sich auch von
diesem so abgeschwächten Argument überzeugt. Indem aber die
mechanische Theorie von Kant und Laplace dazu angewendet
wurde, die Entstehung des Planetensystems zu erklären, trat in der
neuen Hypothese der Mechanismus an die Stelle der Gottheit.

Die metaphysische Beweisführung, welche uns durch
die ganze Geschichte der Metaphysik begleitet hat, ist als solche von
jetzt an zerstört. Zudem ist die Unterscheidung einer höheren un-
veränderlichen Welt von der des Wechsels unter dem Monde nun-
mehr durch die Entdeckungen über die Veränderungen auf den
Gestirnen sowie durch die Mechanik und Physik des Himmels
aufgehoben. Was zurückbleibt ist die metaphysische Stim-
mung
, ist jenes metaphysische Grundgefühl des Menschen, welches
diesen durch die lange Zeit seiner Geschichte begleitet hat, von
der Zeit ab, da die Hirtenvölker des Ostens zu den Sternen
aufblickten, da die Priester auf den Sternwarten der Tempel des
Orients den Dienst der Gestirne und ihre Betrachtung verbanden.
Dieses metaphysische Grundgefühl ist in dem menschlichen Bewußt-
sein mit dem psychologischen Ursprunge des Gottesglaubens über-
all verwoben; es beruht auf der Unermeßlichkeit des Raumes,
welcher ein Symbol der Unendlichkeit ist, auf dem reinen Lichte der
Gestirne, das auf eine höhere Welt zu deuten scheint, vor Allem
aber auf der gedankenmäßigen Ordnung, welche auch die einfache
Bahn, die ein Gestirn am Himmel beschreibt, zu unserer geo-

1) Aus der berühmten allgemeinen Anmerkung zu dem dritten Buche
von Newton's mathematischen Prinzipien.

Auflöſung des Schluſſes aus den Thatſachen der Aſtronomie.
Geſetze erlangen konnten. „Dies vollkommene Gefüge der Sonne,
der Planeten und Kometen hat nur aus dem Rathſchluß und der
Herrſchaft eines einſichtigen und mächtigen Weſens hervorgehen
können 1).“ Seine geiſtige Subſtanz iſt Trägerin der Wechſel-
wirkung der Theile im Weltall. So dauerte eine Zeit hindurch,
wenn auch abgeſchwächt, die Macht des aſtronomiſchen Theils des
kosmologiſchen Beweiſes für das Daſein Gottes fort. Eine Anzahl
von bedeutenden Köpfen, welche ſonſt einen leidenſchaftlichen
Kampf gegen den Kirchenglauben führten, fand ſich auch von
dieſem ſo abgeſchwächten Argument überzeugt. Indem aber die
mechaniſche Theorie von Kant und Laplace dazu angewendet
wurde, die Entſtehung des Planetenſyſtems zu erklären, trat in der
neuen Hypotheſe der Mechanismus an die Stelle der Gottheit.

Die metaphyſiſche Beweisführung, welche uns durch
die ganze Geſchichte der Metaphyſik begleitet hat, iſt als ſolche von
jetzt an zerſtört. Zudem iſt die Unterſcheidung einer höheren un-
veränderlichen Welt von der des Wechſels unter dem Monde nun-
mehr durch die Entdeckungen über die Veränderungen auf den
Geſtirnen ſowie durch die Mechanik und Phyſik des Himmels
aufgehoben. Was zurückbleibt iſt die metaphyſiſche Stim-
mung
, iſt jenes metaphyſiſche Grundgefühl des Menſchen, welches
dieſen durch die lange Zeit ſeiner Geſchichte begleitet hat, von
der Zeit ab, da die Hirtenvölker des Oſtens zu den Sternen
aufblickten, da die Prieſter auf den Sternwarten der Tempel des
Orients den Dienſt der Geſtirne und ihre Betrachtung verbanden.
Dieſes metaphyſiſche Grundgefühl iſt in dem menſchlichen Bewußt-
ſein mit dem pſychologiſchen Urſprunge des Gottesglaubens über-
all verwoben; es beruht auf der Unermeßlichkeit des Raumes,
welcher ein Symbol der Unendlichkeit iſt, auf dem reinen Lichte der
Geſtirne, das auf eine höhere Welt zu deuten ſcheint, vor Allem
aber auf der gedankenmäßigen Ordnung, welche auch die einfache
Bahn, die ein Geſtirn am Himmel beſchreibt, zu unſerer geo-

1) Aus der berühmten allgemeinen Anmerkung zu dem dritten Buche
von Newton’s mathematiſchen Prinzipien.
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[463/0486] Auflöſung des Schluſſes aus den Thatſachen der Aſtronomie. Geſetze erlangen konnten. „Dies vollkommene Gefüge der Sonne, der Planeten und Kometen hat nur aus dem Rathſchluß und der Herrſchaft eines einſichtigen und mächtigen Weſens hervorgehen können 1).“ Seine geiſtige Subſtanz iſt Trägerin der Wechſel- wirkung der Theile im Weltall. So dauerte eine Zeit hindurch, wenn auch abgeſchwächt, die Macht des aſtronomiſchen Theils des kosmologiſchen Beweiſes für das Daſein Gottes fort. Eine Anzahl von bedeutenden Köpfen, welche ſonſt einen leidenſchaftlichen Kampf gegen den Kirchenglauben führten, fand ſich auch von dieſem ſo abgeſchwächten Argument überzeugt. Indem aber die mechaniſche Theorie von Kant und Laplace dazu angewendet wurde, die Entſtehung des Planetenſyſtems zu erklären, trat in der neuen Hypotheſe der Mechanismus an die Stelle der Gottheit. Die metaphyſiſche Beweisführung, welche uns durch die ganze Geſchichte der Metaphyſik begleitet hat, iſt als ſolche von jetzt an zerſtört. Zudem iſt die Unterſcheidung einer höheren un- veränderlichen Welt von der des Wechſels unter dem Monde nun- mehr durch die Entdeckungen über die Veränderungen auf den Geſtirnen ſowie durch die Mechanik und Phyſik des Himmels aufgehoben. Was zurückbleibt iſt die metaphyſiſche Stim- mung, iſt jenes metaphyſiſche Grundgefühl des Menſchen, welches dieſen durch die lange Zeit ſeiner Geſchichte begleitet hat, von der Zeit ab, da die Hirtenvölker des Oſtens zu den Sternen aufblickten, da die Prieſter auf den Sternwarten der Tempel des Orients den Dienſt der Geſtirne und ihre Betrachtung verbanden. Dieſes metaphyſiſche Grundgefühl iſt in dem menſchlichen Bewußt- ſein mit dem pſychologiſchen Urſprunge des Gottesglaubens über- all verwoben; es beruht auf der Unermeßlichkeit des Raumes, welcher ein Symbol der Unendlichkeit iſt, auf dem reinen Lichte der Geſtirne, das auf eine höhere Welt zu deuten ſcheint, vor Allem aber auf der gedankenmäßigen Ordnung, welche auch die einfache Bahn, die ein Geſtirn am Himmel beſchreibt, zu unſerer geo- 1) Aus der berühmten allgemeinen Anmerkung zu dem dritten Buche von Newton’s mathematiſchen Prinzipien.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/486>, abgerufen am 17.05.2024.