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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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eliminiren bemüht war. Auch hier war es wiederum die Zer-
legung der vordem als ein lebendiges, von Einem Psychischen
aus entwickeltes Ganzes betrachteten forma naturae, was die alte
Metaphysik stürzte. -- So drang das analytische Verfahren,
nicht die bloße Zerlegung in Gedanken, sondern die thatsäch-
lich eingreifende
, den ersten Naturursachen entgegen und löste
psychische Wesenheiten sowie substantiale Formen auf.

Hatte die monotheistische Lehre den Mittelpunkt der bis-
herigen Metaphysik gebildet und besaß sie innerhalb der strengen
Wissenschaft ihren Hauptstützpunkt an dem Schluß aus den
Thatsachen der Astronomie
, so wurde nun auch die Strin-
genz dieses Schlusses zersetzt.

Noch Kepler war durch seine Entdeckungen nur dahin ge-
führt worden, die göttliche Kraft, welche die Bewegungen der Pla-
neten hervorbringt, in die Sonne als den Mittelpunkt aller ihrer
Bahnen zu verlegen und so bereits eine Centralkraft in der Sonne
anzunehmen. "Wir müssen eins von beiden voraussetzen: entweder,
daß die bewegenden Geister, je weiter sie von der Sonne entfernt
sind, um so schwächer werden, oder daß es Einen bewegenden
Geist in dem Mittelpunkte aller dieser Bahnen, nämlich in der
Sonne, gebe, der jeden Himmelskörper in eine um so schnellere
Bewegung versetzt, je näher ihm dieser ist, bei den entfernteren
aber wegen der Erstreckung und Herabminderung der Kraft gleich-
sam ermattet 1)."

Alsdann fiel auch noch für Newton nur Ein Erklärungs-
grund der Form der Planetenbewegungen in den Bereich der
Materie; er bedurfte neben ihm der Annahme, daß der Planet
durch einen Stoß in eine gewisse Richtung mit einer gewissen Ge-
schwindigkeit geworfen sei. So war der erste Beweger, wenn
auch zu einem untergeordneten Geschäft, immer noch erforderlich.
Ja mehr, Newton erklärt, daß Planeten und Kometen zwar
nach den Gesetzen der Schwere in ihren Bahnen verharren, aber
die ursprüngliche und regelmäßige Lage derselben nicht durch diese

1) Kepler Mysterium cosmographicum c. 20.

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
eliminiren bemüht war. Auch hier war es wiederum die Zer-
legung der vordem als ein lebendiges, von Einem Pſychiſchen
aus entwickeltes Ganzes betrachteten forma naturae, was die alte
Metaphyſik ſtürzte. — So drang das analytiſche Verfahren,
nicht die bloße Zerlegung in Gedanken, ſondern die thatſäch-
lich eingreifende
, den erſten Natururſachen entgegen und löſte
pſychiſche Weſenheiten ſowie ſubſtantiale Formen auf.

Hatte die monotheiſtiſche Lehre den Mittelpunkt der biſ-
herigen Metaphyſik gebildet und beſaß ſie innerhalb der ſtrengen
Wiſſenſchaft ihren Hauptſtützpunkt an dem Schluß aus den
Thatſachen der Aſtronomie
, ſo wurde nun auch die Strin-
genz dieſes Schluſſes zerſetzt.

Noch Kepler war durch ſeine Entdeckungen nur dahin ge-
führt worden, die göttliche Kraft, welche die Bewegungen der Pla-
neten hervorbringt, in die Sonne als den Mittelpunkt aller ihrer
Bahnen zu verlegen und ſo bereits eine Centralkraft in der Sonne
anzunehmen. „Wir müſſen eins von beiden vorausſetzen: entweder,
daß die bewegenden Geiſter, je weiter ſie von der Sonne entfernt
ſind, um ſo ſchwächer werden, oder daß es Einen bewegenden
Geiſt in dem Mittelpunkte aller dieſer Bahnen, nämlich in der
Sonne, gebe, der jeden Himmelskörper in eine um ſo ſchnellere
Bewegung verſetzt, je näher ihm dieſer iſt, bei den entfernteren
aber wegen der Erſtreckung und Herabminderung der Kraft gleich-
ſam ermattet 1).“

Alsdann fiel auch noch für Newton nur Ein Erklärungs-
grund der Form der Planetenbewegungen in den Bereich der
Materie; er bedurfte neben ihm der Annahme, daß der Planet
durch einen Stoß in eine gewiſſe Richtung mit einer gewiſſen Ge-
ſchwindigkeit geworfen ſei. So war der erſte Beweger, wenn
auch zu einem untergeordneten Geſchäft, immer noch erforderlich.
Ja mehr, Newton erklärt, daß Planeten und Kometen zwar
nach den Geſetzen der Schwere in ihren Bahnen verharren, aber
die urſprüngliche und regelmäßige Lage derſelben nicht durch dieſe

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[462/0485] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. eliminiren bemüht war. Auch hier war es wiederum die Zer- legung der vordem als ein lebendiges, von Einem Pſychiſchen aus entwickeltes Ganzes betrachteten forma naturae, was die alte Metaphyſik ſtürzte. — So drang das analytiſche Verfahren, nicht die bloße Zerlegung in Gedanken, ſondern die thatſäch- lich eingreifende, den erſten Natururſachen entgegen und löſte pſychiſche Weſenheiten ſowie ſubſtantiale Formen auf. Hatte die monotheiſtiſche Lehre den Mittelpunkt der biſ- herigen Metaphyſik gebildet und beſaß ſie innerhalb der ſtrengen Wiſſenſchaft ihren Hauptſtützpunkt an dem Schluß aus den Thatſachen der Aſtronomie, ſo wurde nun auch die Strin- genz dieſes Schluſſes zerſetzt. Noch Kepler war durch ſeine Entdeckungen nur dahin ge- führt worden, die göttliche Kraft, welche die Bewegungen der Pla- neten hervorbringt, in die Sonne als den Mittelpunkt aller ihrer Bahnen zu verlegen und ſo bereits eine Centralkraft in der Sonne anzunehmen. „Wir müſſen eins von beiden vorausſetzen: entweder, daß die bewegenden Geiſter, je weiter ſie von der Sonne entfernt ſind, um ſo ſchwächer werden, oder daß es Einen bewegenden Geiſt in dem Mittelpunkte aller dieſer Bahnen, nämlich in der Sonne, gebe, der jeden Himmelskörper in eine um ſo ſchnellere Bewegung verſetzt, je näher ihm dieſer iſt, bei den entfernteren aber wegen der Erſtreckung und Herabminderung der Kraft gleich- ſam ermattet 1).“ Alsdann fiel auch noch für Newton nur Ein Erklärungs- grund der Form der Planetenbewegungen in den Bereich der Materie; er bedurfte neben ihm der Annahme, daß der Planet durch einen Stoß in eine gewiſſe Richtung mit einer gewiſſen Ge- ſchwindigkeit geworfen ſei. So war der erſte Beweger, wenn auch zu einem untergeordneten Geſchäft, immer noch erforderlich. Ja mehr, Newton erklärt, daß Planeten und Kometen zwar nach den Geſetzen der Schwere in ihren Bahnen verharren, aber die urſprüngliche und regelmäßige Lage derſelben nicht durch dieſe 1) Kepler Mysterium cosmographicum c. 20.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/485>, abgerufen am 17.05.2024.