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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Naturwissenschaft zersetzt Metaphysik der substantialen Formen.
schaute. Newton suchte die Erklärung für die so ihrer Form nach
bestimmten Bewegungen. Und zwar erklärte er sie durch eine
Zerlegung in zwei Faktoren. Der eine Faktor liegt in einem
Anstoß, welchen die Planeten in der Richtung einer Tangente an
ihre gegenwärtige Bahn erhalten haben, der andere in der Gravi-
tation; so kann die Krümmung ihrer Bahnen abgeleitet werden.
Auf solche Weise tritt an die Stelle der geistigen Wesen, deren
vorstellende Kraft und innere geistige Beziehung zu einander der
Erklärungsgrund der verwickelten Formen der scheinbaren Bahnen
und ihrer mechanisch zusammenhangslosen Räderwerke gewesen
waren, nachdem einmal durch den heliocentrischen Standpunkt des
Copernicus das Problem eine einfachere, durch Kepler eine genau
präcisirte Fassung erhalten hatte, der Mechanismus, dem Triebwerk
Einer ungeheuren Uhr vergleichbar. Und das Mittel war die
Zerlegung, die auf das Zusammenwirken von Faktoren, welche
der Erklärung dienen, die Form zurückführte, während diese bis
dahin Gegenstand einer ästhetischen und teleologisch deskriptiven
Betrachtung gewesen war.

Wir verfolgen nicht die Bedeutung der fortschreitenden Chemie
und Physik für die gänzliche Veränderung der bisherigen Meta-
physik; insbesondere in der Chemie schien nun das analytische
Verfahren experimentell die Auffindung der Substanzen be-
wirken zu wollen, die im Kosmos vereinigt sind; aber die Formen
des organischen Lebens waren der zweite Hauptstützpunkt für
die Metaphysik der substantialen Formen, und auch diesen sollte
sie nun verlieren. Die Metaphysik der substantialen Formen
widerstand vermittelst des Begriffs einer Lebensseele, der anima
vegetativa,
noch eine Zeit lang der Anforderung, die organischen
Formen und Leistungen als das am meisten komplexe aller Phä-
nomene der Natur ebenfalls auf den physikalischen und chemischen
Mechanismus zurückzuführen. Dann wies die Biologie dieser Lebens-
seele wenigstens die Benutzung der chemischen und physikalischen
Kräfte zu: bis schließlich die Mehrzahl der Biologen, insbesondere in
Deutschland, den Begriff von Lebensseele, Lebenskraft als für den
Fortschritt der Forschung unfruchtbar zurückstellte und ganz zu

Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen.
ſchaute. Newton ſuchte die Erklärung für die ſo ihrer Form nach
beſtimmten Bewegungen. Und zwar erklärte er ſie durch eine
Zerlegung in zwei Faktoren. Der eine Faktor liegt in einem
Anſtoß, welchen die Planeten in der Richtung einer Tangente an
ihre gegenwärtige Bahn erhalten haben, der andere in der Gravi-
tation; ſo kann die Krümmung ihrer Bahnen abgeleitet werden.
Auf ſolche Weiſe tritt an die Stelle der geiſtigen Weſen, deren
vorſtellende Kraft und innere geiſtige Beziehung zu einander der
Erklärungsgrund der verwickelten Formen der ſcheinbaren Bahnen
und ihrer mechaniſch zuſammenhangsloſen Räderwerke geweſen
waren, nachdem einmal durch den heliocentriſchen Standpunkt des
Copernicus das Problem eine einfachere, durch Kepler eine genau
präciſirte Faſſung erhalten hatte, der Mechanismus, dem Triebwerk
Einer ungeheuren Uhr vergleichbar. Und das Mittel war die
Zerlegung, die auf das Zuſammenwirken von Faktoren, welche
der Erklärung dienen, die Form zurückführte, während dieſe bis
dahin Gegenſtand einer äſthetiſchen und teleologiſch deſkriptiven
Betrachtung geweſen war.

Wir verfolgen nicht die Bedeutung der fortſchreitenden Chemie
und Phyſik für die gänzliche Veränderung der bisherigen Meta-
phyſik; insbeſondere in der Chemie ſchien nun das analytiſche
Verfahren experimentell die Auffindung der Subſtanzen be-
wirken zu wollen, die im Kosmos vereinigt ſind; aber die Formen
des organiſchen Lebens waren der zweite Hauptſtützpunkt für
die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen, und auch dieſen ſollte
ſie nun verlieren. Die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
widerſtand vermittelſt des Begriffs einer Lebensſeele, der anima
vegetativa,
noch eine Zeit lang der Anforderung, die organiſchen
Formen und Leiſtungen als das am meiſten komplexe aller Phä-
nomene der Natur ebenfalls auf den phyſikaliſchen und chemiſchen
Mechanismus zurückzuführen. Dann wies die Biologie dieſer Lebens-
ſeele wenigſtens die Benutzung der chemiſchen und phyſikaliſchen
Kräfte zu: bis ſchließlich die Mehrzahl der Biologen, insbeſondere in
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[461/0484] Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen. ſchaute. Newton ſuchte die Erklärung für die ſo ihrer Form nach beſtimmten Bewegungen. Und zwar erklärte er ſie durch eine Zerlegung in zwei Faktoren. Der eine Faktor liegt in einem Anſtoß, welchen die Planeten in der Richtung einer Tangente an ihre gegenwärtige Bahn erhalten haben, der andere in der Gravi- tation; ſo kann die Krümmung ihrer Bahnen abgeleitet werden. Auf ſolche Weiſe tritt an die Stelle der geiſtigen Weſen, deren vorſtellende Kraft und innere geiſtige Beziehung zu einander der Erklärungsgrund der verwickelten Formen der ſcheinbaren Bahnen und ihrer mechaniſch zuſammenhangsloſen Räderwerke geweſen waren, nachdem einmal durch den heliocentriſchen Standpunkt des Copernicus das Problem eine einfachere, durch Kepler eine genau präciſirte Faſſung erhalten hatte, der Mechanismus, dem Triebwerk Einer ungeheuren Uhr vergleichbar. Und das Mittel war die Zerlegung, die auf das Zuſammenwirken von Faktoren, welche der Erklärung dienen, die Form zurückführte, während dieſe bis dahin Gegenſtand einer äſthetiſchen und teleologiſch deſkriptiven Betrachtung geweſen war. Wir verfolgen nicht die Bedeutung der fortſchreitenden Chemie und Phyſik für die gänzliche Veränderung der bisherigen Meta- phyſik; insbeſondere in der Chemie ſchien nun das analytiſche Verfahren experimentell die Auffindung der Subſtanzen be- wirken zu wollen, die im Kosmos vereinigt ſind; aber die Formen des organiſchen Lebens waren der zweite Hauptſtützpunkt für die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen, und auch dieſen ſollte ſie nun verlieren. Die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen widerſtand vermittelſt des Begriffs einer Lebensſeele, der anima vegetativa, noch eine Zeit lang der Anforderung, die organiſchen Formen und Leiſtungen als das am meiſten komplexe aller Phä- nomene der Natur ebenfalls auf den phyſikaliſchen und chemiſchen Mechanismus zurückzuführen. Dann wies die Biologie dieſer Lebens- ſeele wenigſtens die Benutzung der chemiſchen und phyſikaliſchen Kräfte zu: bis ſchließlich die Mehrzahl der Biologen, insbeſondere in Deutſchland, den Begriff von Lebensſeele, Lebenskraft als für den Fortſchritt der Forſchung unfruchtbar zurückſtellte und ganz zu

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/484>, abgerufen am 17.05.2024.