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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Naturwissenschaft zersetzt Metaphysik der substantialen Formen.
Kunstgriff, vermittelst dessen sie das alte Lehrgebäude vom Kos-
mos zerstört haben?

Schon in der Alchemie macht sich die Richtung auf die
wahren Faktoren der Natur geltend. Die aristotelische Elementen-
lehre hatte Eigenschaften, welche sich der einfachen Wahrnehmung
darbieten, Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, zu Grunde ge-
legt. Das Stadium der Chemie, wie es Paracelsus repräsentirt,
bedient sich der chemischen Analyse, um hinter diese deskriptive Be-
trachtungsweise zu den wirklichen Faktoren, aus denen die Materie
sich zusammensetzt, zu dringen. Es unterscheidet daher drei
Grundkörper (tres primas substantias), das was brennt: Sul-
phur, das was raucht und sich sublimirt: Mercurius, das was
als unverbrennliche Asche zurückbleibt: Sal. Aus diesen Grund-
körpern, welche zwar nicht isolirt dargestellt, aber von der chemischen
Kunst am Verbrennungsvorgang unterschieden werden können,
leitet Paracelsus erst die aristotelischen Elemente ab. So war
der Weg beschritten, durch die thatsächliche Zerlegung der Materie
im Experiment sich den chemischen Elementen zu nähern; eben der
Verbrennungsprozeß, von welchem Paracelsus ausging, sollte
Lavoisier den Eintritt in die quantitative Untersuchungsweise ver-
mitteln. Jedoch lange Zeit bevor die Chemie zu einer sicheren Grund-
legung gelangte, wurde die Mechanik durch Galilei exakte Wissen-
schaft. Lagrange hat in Bezug auf diese Leistung Galileis hervorge-
hoben, es habe, um die Jupitertrabanten, Venusphasen und Sonnen-
flecken zu finden, nur des Teleskops und des Fleißes bedurft, wo-
gegen nur ein außerordentlicher Geist die Gesetze der Natur in Er-
scheinungen, welche man stets vor Augen gehabt, aber bis dahin
nicht hatte erklären können, zu entwirren vermocht habe. Die
einfachen, begrifflich wie quantitativ bestimmten Vorstellungen,
welche er zu Grunde legte, setzten eine Zerlegung des Bewegungs-
vorgangs in abstrakte Komponenten voraus, und sie ermöglichten
gerade durch die Einfachheit der fundamentalen Beziehungen die
Unterordnung der Bewegungen unter die Mathematik. Das
scheinbar so selbstverständliche Prinzip der Trägheit durchschnitt
die ganze von uns dargelegte metaphysische Theorie, nach welcher

Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen.
Kunſtgriff, vermittelſt deſſen ſie das alte Lehrgebäude vom Kos-
mos zerſtört haben?

Schon in der Alchemie macht ſich die Richtung auf die
wahren Faktoren der Natur geltend. Die ariſtoteliſche Elementen-
lehre hatte Eigenſchaften, welche ſich der einfachen Wahrnehmung
darbieten, Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, zu Grunde ge-
legt. Das Stadium der Chemie, wie es Paracelſus repräſentirt,
bedient ſich der chemiſchen Analyſe, um hinter dieſe deſkriptive Be-
trachtungsweiſe zu den wirklichen Faktoren, aus denen die Materie
ſich zuſammenſetzt, zu dringen. Es unterſcheidet daher drei
Grundkörper (tres primas substantias), das was brennt: Sul-
phur, das was raucht und ſich ſublimirt: Mercurius, das was
als unverbrennliche Aſche zurückbleibt: Sal. Aus dieſen Grund-
körpern, welche zwar nicht iſolirt dargeſtellt, aber von der chemiſchen
Kunſt am Verbrennungsvorgang unterſchieden werden können,
leitet Paracelſus erſt die ariſtoteliſchen Elemente ab. So war
der Weg beſchritten, durch die thatſächliche Zerlegung der Materie
im Experiment ſich den chemiſchen Elementen zu nähern; eben der
Verbrennungsprozeß, von welchem Paracelſus ausging, ſollte
Lavoiſier den Eintritt in die quantitative Unterſuchungsweiſe ver-
mitteln. Jedoch lange Zeit bevor die Chemie zu einer ſicheren Grund-
legung gelangte, wurde die Mechanik durch Galilei exakte Wiſſen-
ſchaft. Lagrange hat in Bezug auf dieſe Leiſtung Galileis hervorge-
hoben, es habe, um die Jupitertrabanten, Venusphaſen und Sonnen-
flecken zu finden, nur des Teleſkops und des Fleißes bedurft, wo-
gegen nur ein außerordentlicher Geiſt die Geſetze der Natur in Er-
ſcheinungen, welche man ſtets vor Augen gehabt, aber bis dahin
nicht hatte erklären können, zu entwirren vermocht habe. Die
einfachen, begrifflich wie quantitativ beſtimmten Vorſtellungen,
welche er zu Grunde legte, ſetzten eine Zerlegung des Bewegungs-
vorgangs in abſtrakte Komponenten voraus, und ſie ermöglichten
gerade durch die Einfachheit der fundamentalen Beziehungen die
Unterordnung der Bewegungen unter die Mathematik. Das
ſcheinbar ſo ſelbſtverſtändliche Prinzip der Trägheit durchſchnitt
die ganze von uns dargelegte metaphyſiſche Theorie, nach welcher

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[459/0482] Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen. Kunſtgriff, vermittelſt deſſen ſie das alte Lehrgebäude vom Kos- mos zerſtört haben? Schon in der Alchemie macht ſich die Richtung auf die wahren Faktoren der Natur geltend. Die ariſtoteliſche Elementen- lehre hatte Eigenſchaften, welche ſich der einfachen Wahrnehmung darbieten, Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, zu Grunde ge- legt. Das Stadium der Chemie, wie es Paracelſus repräſentirt, bedient ſich der chemiſchen Analyſe, um hinter dieſe deſkriptive Be- trachtungsweiſe zu den wirklichen Faktoren, aus denen die Materie ſich zuſammenſetzt, zu dringen. Es unterſcheidet daher drei Grundkörper (tres primas substantias), das was brennt: Sul- phur, das was raucht und ſich ſublimirt: Mercurius, das was als unverbrennliche Aſche zurückbleibt: Sal. Aus dieſen Grund- körpern, welche zwar nicht iſolirt dargeſtellt, aber von der chemiſchen Kunſt am Verbrennungsvorgang unterſchieden werden können, leitet Paracelſus erſt die ariſtoteliſchen Elemente ab. So war der Weg beſchritten, durch die thatſächliche Zerlegung der Materie im Experiment ſich den chemiſchen Elementen zu nähern; eben der Verbrennungsprozeß, von welchem Paracelſus ausging, ſollte Lavoiſier den Eintritt in die quantitative Unterſuchungsweiſe ver- mitteln. Jedoch lange Zeit bevor die Chemie zu einer ſicheren Grund- legung gelangte, wurde die Mechanik durch Galilei exakte Wiſſen- ſchaft. Lagrange hat in Bezug auf dieſe Leiſtung Galileis hervorge- hoben, es habe, um die Jupitertrabanten, Venusphaſen und Sonnen- flecken zu finden, nur des Teleſkops und des Fleißes bedurft, wo- gegen nur ein außerordentlicher Geiſt die Geſetze der Natur in Er- ſcheinungen, welche man ſtets vor Augen gehabt, aber bis dahin nicht hatte erklären können, zu entwirren vermocht habe. Die einfachen, begrifflich wie quantitativ beſtimmten Vorſtellungen, welche er zu Grunde legte, ſetzten eine Zerlegung des Bewegungs- vorgangs in abſtrakte Komponenten voraus, und ſie ermöglichten gerade durch die Einfachheit der fundamentalen Beziehungen die Unterordnung der Bewegungen unter die Mathematik. Das ſcheinbar ſo ſelbſtverſtändliche Prinzip der Trägheit durchſchnitt die ganze von uns dargelegte metaphyſiſche Theorie, nach welcher

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/482>, abgerufen am 17.05.2024.