Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung
Gegebene immer genauer eingeschränkt. Die Naturwissenschaft des
sechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantasien von psychi-
schen Verhältnissen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes
begannen den erfolgreichen Kampf gegen diese überlebenden Vor-
stellungen aus der metaphysischen Zeit. Und allmälig wurden
selbst Substanz, Ursache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Lösung
der methodischen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung
gegebenen Erscheinungen die Bedingungen zu suchen, unter welchen
ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen
vorausgesagt werden kann.

Diese moderne Naturwissenschaft hat allmälig die Meta-
physik der substantialen Formen zersetzt
.

Der denknothwendige Zusammenhang, den die moderne Na-
turwissenschaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit
sucht, gemäß dem in der Metaphysik entwickelten und von der-
selben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu seinem
Material die ebenfalls in der Metaphysik aus dem Erlebniß der
vollen Menschennatur abstrahirten und wissenschaftlich entwickelten
Begriffe der Substanz und der Kausalität (wirkenden Ursache). Als
die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der
Entwicklung der Metaphysik auftraten, fanden sie diese beiden
Grundvorstellungen vor, als welche das menschliche Denken vom
Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entsprechend
sehen wir die Naturforschung bemüht, das anschauliche Bild der
Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver-
kettung von Ursachen und Wirkungen aufzulösen, die Regelmäßig-
keiten in ihnen zu erfassen, durch welche sie für den Gedanken
beherrschbar werden, und als Träger dieses Vorgangs Substanzen
zu konstruiren, welche nicht wie sinnliche Objekte dem Entstehen
und Vergehen unterworfen sind. Soweit unterscheidet sich die
Gedankenarbeit der modernen Naturwissenschaft gar nicht von der
Arbeit der Griechen, die ersten Gründe des gegebenen Weltalls
aufzusuchen. Worin besteht nun das die Erforschung der Natur
bei den neueren Völkern am meisten Unterscheidende, worin der

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung
Gegebene immer genauer eingeſchränkt. Die Naturwiſſenſchaft des
ſechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantaſien von pſychi-
ſchen Verhältniſſen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes
begannen den erfolgreichen Kampf gegen dieſe überlebenden Vor-
ſtellungen aus der metaphyſiſchen Zeit. Und allmälig wurden
ſelbſt Subſtanz, Urſache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Löſung
der methodiſchen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung
gegebenen Erſcheinungen die Bedingungen zu ſuchen, unter welchen
ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen
vorausgeſagt werden kann.

Dieſe moderne Naturwiſſenſchaft hat allmälig die Meta-
phyſik der ſubſtantialen Formen zerſetzt
.

Der denknothwendige Zuſammenhang, den die moderne Na-
turwiſſenſchaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit
ſucht, gemäß dem in der Metaphyſik entwickelten und von der-
ſelben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu ſeinem
Material die ebenfalls in der Metaphyſik aus dem Erlebniß der
vollen Menſchennatur abſtrahirten und wiſſenſchaftlich entwickelten
Begriffe der Subſtanz und der Kauſalität (wirkenden Urſache). Als
die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der
Entwicklung der Metaphyſik auftraten, fanden ſie dieſe beiden
Grundvorſtellungen vor, als welche das menſchliche Denken vom
Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entſprechend
ſehen wir die Naturforſchung bemüht, das anſchauliche Bild der
Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver-
kettung von Urſachen und Wirkungen aufzulöſen, die Regelmäßig-
keiten in ihnen zu erfaſſen, durch welche ſie für den Gedanken
beherrſchbar werden, und als Träger dieſes Vorgangs Subſtanzen
zu konſtruiren, welche nicht wie ſinnliche Objekte dem Entſtehen
und Vergehen unterworfen ſind. Soweit unterſcheidet ſich die
Gedankenarbeit der modernen Naturwiſſenſchaft gar nicht von der
Arbeit der Griechen, die erſten Gründe des gegebenen Weltalls
aufzuſuchen. Worin beſteht nun das die Erforſchung der Natur
bei den neueren Völkern am meiſten Unterſcheidende, worin der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0481" n="458"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Vierter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung<lb/>
Gegebene immer genauer einge&#x017F;chränkt. Die Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft des<lb/>
&#x017F;echzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phanta&#x017F;ien von p&#x017F;ychi-<lb/>
&#x017F;chen Verhältni&#x017F;&#x017F;en in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes<lb/>
begannen den erfolgreichen Kampf gegen die&#x017F;e überlebenden Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen aus der metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Zeit. Und allmälig wurden<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t Sub&#x017F;tanz, Ur&#x017F;ache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Lö&#x017F;ung<lb/>
der methodi&#x017F;chen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung<lb/>
gegebenen Er&#x017F;cheinungen die Bedingungen zu &#x017F;uchen, unter welchen<lb/>
ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen<lb/>
vorausge&#x017F;agt werden kann.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e moderne Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft hat allmälig die <hi rendition="#g">Meta-<lb/>
phy&#x017F;ik der &#x017F;ub&#x017F;tantialen Formen zer&#x017F;etzt</hi>.</p><lb/>
            <p>Der denknothwendige Zu&#x017F;ammenhang, den die moderne Na-<lb/>
turwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit<lb/>
&#x017F;ucht, gemäß dem in der Metaphy&#x017F;ik entwickelten und von der-<lb/>
&#x017F;elben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu &#x017F;einem<lb/>
Material die ebenfalls in der Metaphy&#x017F;ik aus dem Erlebniß der<lb/>
vollen Men&#x017F;chennatur ab&#x017F;trahirten und wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich entwickelten<lb/>
Begriffe der Sub&#x017F;tanz und der Kau&#x017F;alität (wirkenden Ur&#x017F;ache). Als<lb/>
die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der<lb/>
Entwicklung der Metaphy&#x017F;ik auftraten, fanden &#x017F;ie die&#x017F;e beiden<lb/>
Grundvor&#x017F;tellungen vor, als welche das men&#x017F;chliche Denken vom<lb/>
Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem ent&#x017F;prechend<lb/>
&#x017F;ehen wir die Naturfor&#x017F;chung bemüht, das an&#x017F;chauliche Bild der<lb/>
Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver-<lb/>
kettung von Ur&#x017F;achen und Wirkungen aufzulö&#x017F;en, die Regelmäßig-<lb/>
keiten in ihnen zu erfa&#x017F;&#x017F;en, durch welche &#x017F;ie für den Gedanken<lb/>
beherr&#x017F;chbar werden, und als Träger die&#x017F;es Vorgangs Sub&#x017F;tanzen<lb/>
zu kon&#x017F;truiren, welche nicht wie &#x017F;innliche Objekte dem Ent&#x017F;tehen<lb/>
und Vergehen unterworfen &#x017F;ind. Soweit unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich die<lb/>
Gedankenarbeit der modernen Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft gar nicht von der<lb/>
Arbeit der Griechen, die er&#x017F;ten Gründe des gegebenen Weltalls<lb/>
aufzu&#x017F;uchen. Worin be&#x017F;teht nun das die Erfor&#x017F;chung der Natur<lb/>
bei den neueren Völkern am mei&#x017F;ten Unter&#x017F;cheidende, worin der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[458/0481] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung Gegebene immer genauer eingeſchränkt. Die Naturwiſſenſchaft des ſechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantaſien von pſychi- ſchen Verhältniſſen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes begannen den erfolgreichen Kampf gegen dieſe überlebenden Vor- ſtellungen aus der metaphyſiſchen Zeit. Und allmälig wurden ſelbſt Subſtanz, Urſache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Löſung der methodiſchen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung gegebenen Erſcheinungen die Bedingungen zu ſuchen, unter welchen ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen vorausgeſagt werden kann. Dieſe moderne Naturwiſſenſchaft hat allmälig die Meta- phyſik der ſubſtantialen Formen zerſetzt. Der denknothwendige Zuſammenhang, den die moderne Na- turwiſſenſchaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit ſucht, gemäß dem in der Metaphyſik entwickelten und von der- ſelben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu ſeinem Material die ebenfalls in der Metaphyſik aus dem Erlebniß der vollen Menſchennatur abſtrahirten und wiſſenſchaftlich entwickelten Begriffe der Subſtanz und der Kauſalität (wirkenden Urſache). Als die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der Entwicklung der Metaphyſik auftraten, fanden ſie dieſe beiden Grundvorſtellungen vor, als welche das menſchliche Denken vom Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entſprechend ſehen wir die Naturforſchung bemüht, das anſchauliche Bild der Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver- kettung von Urſachen und Wirkungen aufzulöſen, die Regelmäßig- keiten in ihnen zu erfaſſen, durch welche ſie für den Gedanken beherrſchbar werden, und als Träger dieſes Vorgangs Subſtanzen zu konſtruiren, welche nicht wie ſinnliche Objekte dem Entſtehen und Vergehen unterworfen ſind. Soweit unterſcheidet ſich die Gedankenarbeit der modernen Naturwiſſenſchaft gar nicht von der Arbeit der Griechen, die erſten Gründe des gegebenen Weltalls aufzuſuchen. Worin beſteht nun das die Erforſchung der Natur bei den neueren Völkern am meiſten Unterſcheidende, worin der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/481
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/481>, abgerufen am 17.05.2024.