Keine analytische Methode und keine Kausalerkenntniß.
Von dem durch die Offenbarung vermittelten Bewußtsein des Idealgehaltes von Weltlauf und Geschichte geht nun das Licht aus, welches dieser mittelalterlichen Metaphysik der Gesellschaft den inneren Zusammenhang der Weltgeschichte erleuchtet.
Die Einheit der Weltgeschichte liegt in dem Plane Gottes. "Es ist nicht zu glauben", sagt Augustinus, "daß Gott, der nicht allein Himmel und Erde, nicht allein den Engel und den Menschen, sondern auch das Innere des kleinen so leicht miß- achteten Thieres, das Flügelchen des Vogels, die kleine Blüthe des Grases und das Blatt des Baumes ohne eine Angemessenheit ihrer Theile und gleichsam eine friedliche Harmonie nicht hat lassen wollen, die Reiche der Menschen, ihre Herrschafts- und ihre Ab- hängigkeitsverhältnisse von der Gesetzgebung seiner Providenz hätte ausschließen wollen" 1). Dieser Zusammenhang des Planes der Vorsehung ist in Anfang, Mitte und Ende durch die Offenbarung festgestellt. Der Stammvater der Menschen, in welchem alle fün- digten, Christus, in dem alle erlöst wurden, und die Wiederkunft, in der über alle gerichtet wird, sind solche feste Punkte, zwischen denen nun die Deutung der Thatsachen der Geschichte ihre Fäden zieht. Diese Deutung ist ausschließlich teleologisch. Die Glieder des geschichtlichen Verlaufs werden nicht als die einer Kausal- reihe, sondern als die eines Planes betrachtet. Die Frage, welche folgerecht an die einzelne geschichtliche Thatsache gestellt wird, ist nicht die nach ihrer ursächlichen Beziehung zu anderen Thatsachen oder allgemeineren Verhältnissen, sondern die nach ihrer Zweck- beziehung zu diesem Plan. Daher bedienen sich die mittelalter- lichen Geschichtschreiber zwar des Pragmatismus zur Erklärung der Handlungen der einzelnen Personen, aber die geschichtlichen Massenerscheinungen treten ihnen niemals in einen kau- salen Zusammenhang. Diese Metaphysik der Weltgeschichte sucht in ihr als Erklärung ihres Zusammenhanges einen Sinn, wie wir einen solchen in dem Epos eines Dichters suchen.
1) Augustinus de civ. Dei V c. 11 vgl. Origenes c. Cels. II c. 30. In Augustinus de civ. Dei kehrt dieser leitende Gedanke immer wieder z. B. IV c. 33; V c. 21.
Keine analytiſche Methode und keine Kauſalerkenntniß.
Von dem durch die Offenbarung vermittelten Bewußtſein des Idealgehaltes von Weltlauf und Geſchichte geht nun das Licht aus, welches dieſer mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft den inneren Zuſammenhang der Weltgeſchichte erleuchtet.
Die Einheit der Weltgeſchichte liegt in dem Plane Gottes. „Es iſt nicht zu glauben“, ſagt Auguſtinus, „daß Gott, der nicht allein Himmel und Erde, nicht allein den Engel und den Menſchen, ſondern auch das Innere des kleinen ſo leicht miß- achteten Thieres, das Flügelchen des Vogels, die kleine Blüthe des Graſes und das Blatt des Baumes ohne eine Angemeſſenheit ihrer Theile und gleichſam eine friedliche Harmonie nicht hat laſſen wollen, die Reiche der Menſchen, ihre Herrſchafts- und ihre Ab- hängigkeitsverhältniſſe von der Geſetzgebung ſeiner Providenz hätte ausſchließen wollen“ 1). Dieſer Zuſammenhang des Planes der Vorſehung iſt in Anfang, Mitte und Ende durch die Offenbarung feſtgeſtellt. Der Stammvater der Menſchen, in welchem alle fün- digten, Chriſtus, in dem alle erlöſt wurden, und die Wiederkunft, in der über alle gerichtet wird, ſind ſolche feſte Punkte, zwiſchen denen nun die Deutung der Thatſachen der Geſchichte ihre Fäden zieht. Dieſe Deutung iſt ausſchließlich teleologiſch. Die Glieder des geſchichtlichen Verlaufs werden nicht als die einer Kauſal- reihe, ſondern als die eines Planes betrachtet. Die Frage, welche folgerecht an die einzelne geſchichtliche Thatſache geſtellt wird, iſt nicht die nach ihrer urſächlichen Beziehung zu anderen Thatſachen oder allgemeineren Verhältniſſen, ſondern die nach ihrer Zweck- beziehung zu dieſem Plan. Daher bedienen ſich die mittelalter- lichen Geſchichtſchreiber zwar des Pragmatismus zur Erklärung der Handlungen der einzelnen Perſonen, aber die geſchichtlichen Maſſenerſcheinungen treten ihnen niemals in einen kau- ſalen Zuſammenhang. Dieſe Metaphyſik der Weltgeſchichte ſucht in ihr als Erklärung ihres Zuſammenhanges einen Sinn, wie wir einen ſolchen in dem Epos eines Dichters ſuchen.
1) Auguſtinus de civ. Dei V c. 11 vgl. Origenes c. Cels. II c. 30. In Auguſtinus de civ. Dei kehrt dieſer leitende Gedanke immer wieder z. B. IV c. 33; V c. 21.
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Keine analytiſche Methode und keine Kauſalerkenntniß.
Von dem durch die Offenbarung vermittelten Bewußtſein des
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aus, welches dieſer mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft den
inneren Zuſammenhang der Weltgeſchichte erleuchtet.
Die Einheit der Weltgeſchichte liegt in dem Plane
Gottes. „Es iſt nicht zu glauben“, ſagt Auguſtinus, „daß Gott,
der nicht allein Himmel und Erde, nicht allein den Engel und
den Menſchen, ſondern auch das Innere des kleinen ſo leicht miß-
achteten Thieres, das Flügelchen des Vogels, die kleine Blüthe
des Graſes und das Blatt des Baumes ohne eine Angemeſſenheit
ihrer Theile und gleichſam eine friedliche Harmonie nicht hat laſſen
wollen, die Reiche der Menſchen, ihre Herrſchafts- und ihre Ab-
hängigkeitsverhältniſſe von der Geſetzgebung ſeiner Providenz hätte
ausſchließen wollen“ 1). Dieſer Zuſammenhang des Planes der
Vorſehung iſt in Anfang, Mitte und Ende durch die Offenbarung
feſtgeſtellt. Der Stammvater der Menſchen, in welchem alle fün-
digten, Chriſtus, in dem alle erlöſt wurden, und die Wiederkunft,
in der über alle gerichtet wird, ſind ſolche feſte Punkte, zwiſchen
denen nun die Deutung der Thatſachen der Geſchichte ihre Fäden
zieht. Dieſe Deutung iſt ausſchließlich teleologiſch. Die Glieder
des geſchichtlichen Verlaufs werden nicht als die einer Kauſal-
reihe, ſondern als die eines Planes betrachtet. Die Frage, welche
folgerecht an die einzelne geſchichtliche Thatſache geſtellt wird, iſt
nicht die nach ihrer urſächlichen Beziehung zu anderen Thatſachen
oder allgemeineren Verhältniſſen, ſondern die nach ihrer Zweck-
beziehung zu dieſem Plan. Daher bedienen ſich die mittelalter-
lichen Geſchichtſchreiber zwar des Pragmatismus zur Erklärung
der Handlungen der einzelnen Perſonen, aber die geſchichtlichen
Maſſenerſcheinungen treten ihnen niemals in einen kau-
ſalen Zuſammenhang. Dieſe Metaphyſik der Weltgeſchichte
ſucht in ihr als Erklärung ihres Zuſammenhanges einen Sinn,
wie wir einen ſolchen in dem Epos eines Dichters ſuchen.
1) Auguſtinus de civ. Dei V c. 11 vgl. Origenes c. Cels. II c. 30.
In Auguſtinus de civ. Dei kehrt dieſer leitende Gedanke immer wieder
z. B. IV c. 33; V c. 21.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/448>, abgerufen am 25.11.2024.
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